Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~ von Enrico (Teil V) ================================================================================ Kapitel 4: ~Der Pate der Locos-Familie~ --------------------------------------- Was Aaron wohl sagen wird, wenn er mich sieht? Wird er mich erkennen? Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich nicht realisiere, welchen Weg wir gehen. Ich lasse mich von Toni durch die Straßen führen. Wir erreichen das riesige Grundstück, das von einem reich verzierten Gartenzaun begrenzt wird. An der Zufahrt wölbt er sich zu einem zweiflügeligen Tor, an dem eine Gegensprechanlage angebracht ist. Ein weißer Kiesweg durchzieht das Grundstück und verschwindet rechts hinter hohen Tannen, die unseren Blick auf das Innere der Anlage verhindern. Wir halten an und ich suche das Gelände nach einem vertrauten Gesicht ab, doch auf dem Weg ist niemand zu sehen. Dafür kann ich das laute Gebell der Wachhunde hören. Es ist nicht aggressiv, sondern erwartungsvoll, fast freudig. Ich bin mir sicher, dass mich Scotch und Brandy längst erkannt haben. Mich wundert nur, dass sie nicht gleich angelaufen kommen. Neben Aaron bin ich der Einzige, dem die Dobermänner aufs Wort gehorchen, und der gefahrlos das Grundstück betreten kann, wenn sie im Garten patrouillieren. Wahrscheinlich hat Aaron sie in den Zwinger gesperrt. Ob er wohl Besuch hat? "Senke den Blick und mach keine auffälligen Bewegungen! Ich werde für uns sprechen", schärft Toni mir ein. Ich ziehe eine Augenbraue hinauf. Das soll wohl ein Scherz sein. Ich bin kein Grünschnabel, den er hier anschleppt und dem Paten vorstellt. Ich bin sein Schwiegersohn und oberster Cleaner. Böse sehe ich ihn an, doch Toni beachtet mich längst nicht mehr. Er drückt den roten Knopf unter dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. Es dauert einen Moment bis sich eine gebrechliche Stimme meldet: "Sie wünschen?" Das ist Jester, Aarons Butler. Erstaunlich, dass dieser alte Mann immer noch lebt und arbeitet. Er lief schon vor fünf Jahren stark gebeugt und verschüttete regelmäßig den teuren Scotch seines Herrn, weil seine Hände ihm nicht mehr gehorchen. Trotzdem hat Aaron nie ein schlechtes Wort über seinen Angestellten verloren. "Jester, hier ist Antonio Bandel. Ich muss mit Aaron sprechen. Ist er allein?" "Toni? Heute ist kein guter Tag. Komm ein anderes Mal wieder!" "Jester, es ist wichtig. Bitte!" "Wir erwarten Besuch." "Es dauert nicht lange." "Na schön. Aber fasse dich kurz. Der Master ist im Garten, komm rein!" Ein metallisches Klicken ist zu hören, dann öffnet sich das Tor. Toni geht vor und winkt mich zu sich. Ich folge ihm und sehe mich um. Wie ein weicher Teppich breitet sich eine tiefgrüne Wiese vor uns aus. Mein Blick folgt dem Kiesweg, der sie teilt, bis er an einem Automobil hängen bleibt, das vor dem Anwesen parkt. Ich vermute Aaron dort, doch der schwarze Wagen steht verlassen. Das Gebell der Hunde ist noch lauter geworden. Ich schaue links am Haus vorbei zum Zwinger. Sie springen gegen das Gitter und kläffen aufgebracht, weil sie nicht zur üblichen Begrüßung zu mir kommen können. In mir wächst der Drang zu ihnen zu gehen und sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Meine Schritte lenke ich in ihre Richtung, als mich eine tiefe Männerstimme innehalten lässt: "Ihr habt wohl den Verstand verloren? Macht nicht so einen Lärmen!" Die Worte sind so schroff und bestimmend, dass die Hunde augenblicklich ruhe geben und sich friedlich auf den Boden legen. Auch ich halte einen Moment lang den Atem an und verwerfe mein Vorhaben. Nur zögernd suche ich die Umgebung um den Zwinger nach der Gestalt Aarons ab. Schließlich tritt er aus dem Schatten einer Hecke, hinter der ein kleines Beet angelegt ist. Sein Bart ist ungepflegt und seine schwarze Stoffhose, weist an den Knien braune Flecken auf. Er trägt ein graues Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt sind. Auch dieses Kleidungsstück ist mit Erde beschmutzt. Seine Augen haben tiefe Ringe und seine Wangen sind eingefallen. Er sieht ziemlich heruntergekommen aus. In seiner Hand hält er eine kleine Schaufel. Noch nie habe ich ihn im Garten arbeiten sehen. Kann er sich etwa keinen Gärtner mehr leisten? Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke, dann sieht er an mir vorbei, als wenn es mich gar nicht geben würde. "Antonio? Ich hätte nicht gedacht, dass du dich nach unserem letzten Gespräch noch einmal hier blicken lässt. Was verschafft mir die Ehre?" Aaron nähert sich uns mit langsamen Schritten und auch Toni geht ihm entgegen. Was die beiden wohl als letztes miteinander besprochen haben? Ich beobachte sie, argwöhnisch. Aaron scheint mich nicht zu erkennen. Das ist auf eine merkwürdige Art frustrierend. Die ganze Zeit über schaue ich ihn direkt an, doch er würdigt mich keines Blickes. Jetzt komme ich mir wirklich vor, wie ein Frischling, der sich seinen Platz im Clan erst erarbeiten muss. "Wir brauchen deine Hilfe", erklärt Toni kurz. "Was du nicht sagst. Du bist noch nie wegen etwas anderem hier gewesen. Sag bloß du hast dir mein Angebot inzwischen überlegt?" Was für ein Angebot? Mein Blick wandert fragend vom Paten zu meinem besten Freund. Ich wüsste zu gern, worum es geht, doch im Moment bin ich nicht in der Postion Fragen stellen zu dürfen. Beide Männer besiegeln die Begrüßung mit einem kräftigen Händedruck, dann legt Aaron seinen Arm über Tonis Schulter und lenkt seine Schritte in Richtung Villa. "Die Bäume hier draußen haben Ohren, wir sollten alles weitere drinnen besprechen." Spätestens jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Seit wann sind die beiden so vertraut miteinander? Hat Toni etwa in meiner Abwesenheit meinen Platz eingenommen? Sonst bin ich es immer gewesen, mit dem Aaron so vertrauensvoll gesprochen und dem er den Arm um die Schulter gelegt hat. Ich kann mir den neidischen Blick auf sie nicht verkneifen. Ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, gehen sie der Villa entgegen. Ich gehöre nicht dazu, so viel habe ich inzwischen verstanden. Seufzend folge ich ihnen. Erst als sie die steinerne Treppe erreichen, die das Anwesen hinauf führt, habe ich sie eingeholt. Der Pate wendet sich um. Er sieht erst mich, dann wieder Toni an. "Sag bloß der gehört zu dir? Du hast mir doch noch nie einen Frischling angeschleppt." "Es gibt für alles ein erstes Mal. Aber ich fürchte den müssen wir noch gründlich umerziehen. Im Moment ist er zu nichts zu gebrauchen." Tonis Lippen ziert ein spöttisches Lächeln. Es macht ihm sichtlich Spaß mich so vorzuführen. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. Er soll es ja nicht übertreiben! "Bring ihn in die Bibliothek! Ich will ihn nicht dabei haben, wenn wir uns unterhalten." Ist dass Aarons ernst? Ich sehe in die Augen des alten Mannes, die sich zu kleinen Schlitzen zusammen gezogen haben. Noch nie hat er mich so abweisend gemustert. Das reicht! Ich hole Luft um etwas zu sagen, doch mein Schwiegervater wendet seinen Blick bereits ab. "Ich gehe schon mal ins Büro, ich erwarte dich dort!" Er kramt einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und schließt die Haustür auf. "Aaron warte ich ...!", versuche ich zu sagen, doch Toni legt mir seine Hand über den Mund. Der alte Mann hält inne, er sieht über die Schulter zurück, sein Gesicht ist verkrampft. Ich habe ihn beim Vornamen genannt, etwas das nur seine engsten Vertrauten wagen. Doch sein Vorwurf gilt nicht mir, sondern Toni: "Was immer du mit dem zu schaffen hast, werde ihn los!" "Wenn das nur so einfach wäre", brummt Toni und wirft mir einen mahnenden Blick zu. In mir brodelt es. Ich will die Situation aufklären, doch unter Aarons finsterem Blick gebe ich schließlich nach und sehe, wie es von einem Neuling erwartet wird, gen Boden. Das wird mir Toni so was von büßen. Gedanklich drehe ich ihm schon den Hals um, als Aaron schließlich die Tür für uns öffnet und uns ins Haus lässt. "Ich erwarte dich in fünf Minuten im Büro!", ordnet er an und geht voraus. Wir folgen ihm in gebührendem Abstand durch den langen Flur. Sofort fallen mir die hellen Flecken an der Tapete auf. Hier haben einmal Bilder bekannter Künstler gehangen. Auch der Schuhschrank mit den vergoldeten Griffen ist nicht mehr an seinem Platz. Lediglich der versilberte Spiegel hängt noch dort, wo ich ihn in Erinnerung habe. Seltsam! Wir erreichen eine große Treppe mit geschwungenem Geländer, die in den ersten Stock führt. Ihre Stufen sind blank, der rote Samtteppich, der sie sonst vor den Tritten der Bewohner geschützt hat, ist verschwunden. Hat Aaron Geldsorgen, oder warum ist es hier so leer? Auch die Sammlung antiker Gewehre, die sonst die Wand auf halber Höher der Treppe schmückte, ist nicht mehr da. Dort wo sie sich teilt und sich nach rechts und links verzweigt, ist alles kahl. Fragend sehe ich Toni an. "Ich habe dir doch erzählt, dass die Locos pleite sind. Den Drachen gehört jetzt unser Gebiet." Stimmt, davon hatte er mir berichtet, allerdings habe ich ihn damals nicht ernst genommen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass unser Clan seinen Einfluss verloren hat. Während wir die Stufen der Treppe erklimmen, wendet sich der Pate nach rechts, während Toni und ich der Treppe in den Westflügel folgen. "Was willst du ihm erzählen?", frage ich, als wir die Tür zur Bibliothek erreichen. "Nichts! Ich bitte ihn lediglich um einen Job." Toni öffnet die Tür und geht voraus. Ich weigere mich ihm zu folgen. Als er sich zu mir umdreht, schaue ich ihn unvermittelt an. "Enrico! Michael hat seine Ohren überall. Ich sehe nicht noch einmal zu, wie er dich umbringt. Wir müssen jetzt die Füße stillhalten." Ich rolle mit den Augen. Ist das seine einzige Sorge? Was ist mit allem, was wir uns über die Jahre aufgebaut haben? Erwartet er wirklich von mir, dass ich wieder bei Null anfange? "Jetzt komm!", knurrt er und zieht mich am Handgelenk in die Bibliothek. Ich stolpere über die Türschwelle und kann mich gerade noch so abfangen, um nicht zu stürzen. "Tu wenigstens ein mal, was ich dir sage!", befiehlt er, bevor er den Raum wieder verlässt. Er schließt die Tür nach sich und dreht einen Schlüssel im Schloss. Schließt mich dieser Mistkerl etwa hier ein? Ich seufze schwer und stecke die Hände in die Taschen meiner Hose. Irgendwie habe ich mir das alles ganz anders vorgestellt. Nie habe ich damit gerechnet, dass Aaron mich nicht erkennt. Auch kommen mir so langsam Zweifel, ob er uns finanziell unterstützen kann, wenn er selbst schon damit begonnen hat, seine Habseligkeiten zu verkaufen. In den etlichen Regalen der Bibliothek klaffen große Lücken. Auf den ersten Blick scheinen vor allem die teuren Erstausgaben zu fehlen. Ich hätte nie gedacht dass der Pate der Locos in so eine Notlage geraden kann. Immer wieder entdecke ich neue Stellen, an denen etwas fehlt, bis mein Blick schließlich von einem schwarzen Konzertflügel eingefangen wird. Na, zumindest hat er den noch nicht verkauft. Es scheint mir fast eine Ewigkeit her zu sein, dass ich einmal an ihm gesessen und gespielt habe. Ob ich es nach all den Jahren noch kann? Mit langsamen Schritten gehe ich auf ihn zu. Eine dicke Staubschicht bedeckt den Deckel über den Tasten und den Hocker davor. Scheinbar hat hier nach mir keiner mehr Lust auf Musik verspürt. Mit der flachen Hand streiche ich den Dreck vom weichen Leder des Hockers, dann klappe ich den Deckel auf. Die schwarz weißen Tasten wirken wie eine Einladung. Aaron wird sicher nicht begeistert sein, wenn ein Neuling sich einfach an seinen Sachen vergreift, aber er hat momentan sowieso keine hohe Meinung von mir und ich nichts besseres zu tun. Ich lasse mich auf den Hocker nieder und lege meine Finger auf die Tastatur. Ein vorfreudiges Kribbeln durchzuckt meine Hände. Ich spiele zwei Tasten an, zwei schiefe Töne folgen, die so gar nicht zusammen passen wollen. Scheinbar ist der Flügel genau so lange nicht mehr gestimmt wurden, wie er hier unter einer Staubschicht vor sich hin gammelt. Verständnislos schüttle ich mit dem Kopf. Aaron hat doch sonst selbst so gern gespielt. Er hat es mir beigebracht. Warum nur hat er den Flügel so verkommen lassen? Ich gäbe was darum so einen zu besitzen und er? Irgendwie hat Aaron sich verändert. Aber nicht nur er. Ohne das es mir wirklich bewusst wird, beginne ich zu spielen. Meine Finger tanzen über die Tasten, währen meine Gedanken Flügel bekommen: Aaron ist nicht der Einzige, der sich verändert hat. Ich bin auch nicht mehr der Selbe. Ob er mich deswegen nicht erkannt hat? Meine Haltung ist längst nicht mehr so selbstbewusst und lebensfroh, wie vor dem Überfall. Wenn ich die Zeit doch nur zurück drehen könnte. Zu jenen Tagen, als ich noch der Chef der Wölfe und oberster Cleaner der Locos war. Ich hatte meinen Platz im Clan gefunden, ich wusste wo ich hin gehörte. Seit dem treibe ich halt und ziellos von einem Tag zum nächsten. Die Zeit vergeht, ich spüre es kaum. Meine Finger schmerzen bereits und verkrampfen immer wieder. Ich hebe die Hände von den Tasten, öffne und schließe die Fäuste, die einzelnen Fingerglieder sind total verspannt. Es ist einfach zu lange her, ich bin aus der Übung. Schritte nähern sich der Tür und lassen mich aufhorchen. Sind die beiden endlich fertig? "Antonio, du kannst Enrico nicht mit so einem dahergelaufen Vagabunden ersetzen, auch wenn er ihm noch so ähnlich sieht." Ersetzen? Ist das alles, ich sehe mir nur ähnlich? "Das versuche ich doch gar nicht", protestiert mein Leibwächter. "Ach komm schon. Seit seinem Tod, ist Rache das Einzige, was dich antreibt. Wir versuchen alle irgendwie damit klar zu kommen, aber das geht zu weit. Werde den Kerl los!" "Du täuschst dich in ihm. Ich bürge dir für seine Loyalität. Gib ihm ne Chance!" Toni setzt sich für mich ein? Das sind ja mal ganz neue Töne. Der Schlüssel wird im Schloss gedreht, die Klinke heruntergedrückt. Erwartungsvoll sehe ich auf die Tür, doch noch bleibt sie verschlossen. Eine lange Atempause folgt. Ob Aaron ihm wohl nachgibt? "Na schön, um deinetwillen. Aber nur wenn du ihm Manieren beibringst." Manieren? Da hat er seit Jahren vergeblich versucht. Der Pate betritt den Raum, suchend sieht er sich um. Als er mich am Flügel vorfindet, verfinstert sich sein Blick schlagartig. So viel zu meinen Manieren. Ich schaue nur schelmisch grinsend zurück, bevor ich schließlich schuldbewusst den Blick senke und mich erhebe. Wie beiläufig schließe ich den Deckel über den Tasten und versuche dabei nach Möglichkeit kein Geräusch zu verursachen. "Wie ist dein Name Junge?", faucht er ernst. Ich sehe wieder auf und an Aaron vorbei zu Toni. Auch dessen Blick hat sich mahnend verzogen. Ich zögere. "Leon!", antwortet er für mich. "Nun Leon!", spricht Aaron den Namen mit Verachtung aus, "Wenn du für mich arbeiten und trotzdem am Leben bleiben willst, sollst du ein paar Dinge beherzigen. Du hast hier nichts anzufassen und in meiner Gegenwart spricht man nur, wenn man von mir aufgefordert wird und dann erwarte ich kurze und präzise Antworten ..." Der folgenden Predigt höre ich schon gar nicht mehr zu. Stattdessen sehe ich immer wieder hilfesuchend zu Toni. Können wir das hier wirklich nicht auflösen? Ich habe mir den Mist schon als Kind hundert mal angehört und dachte, das endlich hinter mir zu haben. Doch Tonis Blick bleibt eisern. "Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!", befiehlt Aaron. Ich schaue ihn an. Im Augenwinkel kann ich sehen, wie sich Toni das Lachen verkneifen muss. Es reicht, beschließe ich und atme tief ein. Mein Schwiegervater setzt erneut zu einem Redeschwall an. Gegen seine laute Stimme werde ich nicht ankommen, also wende ich mich demonstrativ von ihm ab. Ich klappe den Deckel des Klaviers wieder auf. Aaron verstummt. Dass ich mich ihm so deutlich widersetze, scheint ihm die Sprache zu verschlagen. Ungeniert setze ich mich auf den Hocker. Wenn er mich schon nicht an meinem Aussehen erkennt, dann wird er das hier auf jeden Fall wiedererkennen. Ich lege die Finger auf die Tasten und beginne zu spielen. Das erste Lied, dass ich für meine Tochter komponiert habe, als sie Zähne bekommen und den ganzen Tag nur geschrien hat. Es ist ihr Einschlaflied geworden, wenn wir bei Aaron zu Besuch waren. Er hat es bestimmt schon hundert Mal gehört und mindestens genau so oft selbst gespielt. Ich spiele es langsamer, weil meine krampfenden Finger nicht mehr schnell genug sind und die schiefen Töne klingen unangenehm, aber die Melodie ist zu erkennen. Aaron bleibt der Mund offen stehen. Er schwankt einen Schritt zurück und reist die Augen weit auf. "Was soll das?", haucht er fast tonlos, bis er seine Stimme wieder findet, "Hast du ihm das beigebracht?" Aaron dreht sich zu Toni. Dieser ist dabei die Tür zu schließen, dann kommt er zu uns. Im Vorbeigehen legt er Aaron seine Hand auf die Schulter. "Das musste ich nicht", sagt er lediglich. Dann kommt er zu mir und bleibt hinter mir stehen. "Er ist der Grund, warum ich dein Angebot ablehne." Welches Angebot? Ich nehme die Finger von den Tasten und sehe Toni fragend an, doch er achtet nicht auf mich. "Ich bin doch nur deine zweite Wahl." Zweite Wahl? Wofür? Ich verstehe kein Wort. "Wovon redest du überhaupt?", will ich von ihm wissen. Aarons wird bleich, seine Gesichtszüge verhärten, sein Blick wandert zwischen Toni und mir hin und her. Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, für eine Reaktion. "Ihr wagt es ...", leise fast tonlos kommen ihm die Worte über die bebenden Lippen, doch mit jeder neuen Silbe wird er lauter und kraftvoller, "Ihr wagt es nach all den Jahren? Raus! Verschwindet von hier! Auf der Stelle!" Aaron wirft einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. "Raus aus meinem Haus! Sofort!", schreit er und richtet den ausgestreckten Arm auf die Tür. Irgendwas ist hier faul. Er wirft uns nicht raus, weil er wütend ist. Die Falten in seiner Stirn sind sorgenvoll. "Aber ...", versucht Toni die Situation zu retten, doch ich falle ihm ins Wort. "Okay!" "Was?" Toni sieht mich fragend an. "Wir gehen!", antworte ich bestimmt und stehe auf. Ich packe Toni am Arm und ziehe ihn mit mir. Auf unserem Weg, bleibe ich einen Moment neben Aaron stehen. "Wir müssen wirklich reden", lasse ich ihn wissen, dann laufe ich weiter bis zur Tür. Der Blick des alten Mannes folgt uns, doch ich sehe nicht mehr zurück. Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns hier der Tod erwartet, wenn wir bleiben. Wer auch immer Aarons Besuch für heute ist, er hat sicher seine Gründe, dass wir nicht mit ihm zusammentreffen sollen. Wir verlassen die Villa auf dem selben Weg, den wir gekommen sind. Toni hat sich inzwischen aus meinem Griff befreit und tritt nun vor mich. Er sieht mich mahnend an. "Wieso verschwinden wir? Wir haben doch noch gar nichts erreicht." Ich laufe an ihm vorbei und verlasse ohne eine Antwort das Grundstück. Es dauert nicht lange, bis er mir folgt, um weiter nachzubohren. "Hey, ich hab dich was gefragt!", ruft er mir nach, doch auch jetzt kann ich mich nicht zu einer Antwort durchringen. In mir wächst eine dunkle Vorahnung. Es wäre nicht das erste Mal, dass uns meine Intuition den Arsch rettet. Je schneller wir von hier verschwunden sind, um so besser. Wenn ich nur wüsste, vor wem Aaron uns warnen wollte, sofern es tatsächlich eine Warnung war. Könnte es auch sein, dass er wirklich sauer auf uns ist? Ich habe immerhin fünf Jahre lang nichts von mir hören lassen? Nein, dann hätte er nicht auf die Uhr gesehen! Während ich versuche Ordnung in meine chaotischen Gedanken zu bringen, baut sich vor mir eine riesige Gestalt auf. Ich erschrecke fürchterlich, als ich nicht mehr abbremsen kann und gegen das Hindernis stoße. Ich sehe auf und setze schon zu einer Entschuldigung an, als mir das Blut in den Adern gefriert. Dieser finstere Blick, das fiese Grinsen. Ich weiche augenblicklich zurück und stoße mit den Rücken gegen Toni. Michael, flutet der Name des großen Mannes, im schwarzen Stoffmantel, meine Sinne und betäubt alle anderen Gedanken. Meine Glieder werden Steif, kalter Schweiß läuft mir den Rücken hinab. Die Hand des Hünen verschwindet in seinem Mantel. Sucht er etwa nach einer Waffe? Ich atme ruckartig. Michaels Blick streift mich nur beiläufig, sein Interesse gilt Toni. "Bandel! Was für eine Überraschung." Er grinst süffisant. „Das wagst du nicht auf offener Straße", entgegnet Toni ihm ruhig aber bestimmt. Unauffällig drängt er sich zwischen mich und Michael. "Sachte, sachte! Wer wird denn gleich so schreckhaft sein? Ich bin geschäftlich hier. Für so grobe Handlangerarbeiten habe ich meine Männer", meint Michael lässig und zieht eine Schachtel Zigarette und ein Feuerzeug aus seiner Manteltasche. Fast gelangweilt nimmt er sich eine und zündet sie sich an, dann setzt er seinen Weg mit festem Schritt fort. Er wirft uns noch einen amüsierten Blick zu, bevor er sich der Villa Aarons nähert. Ich sehe ihm wie gelähmt nach, bis mir schließlich klar wird, dass er auf dem besten Weg zum Paten ist. Er will ihn doch nicht etwa in seinem eigenen Haus ermorden? Nicht mal die Hunde sind im Garten und das Tor steht noch offen. In unserer Eile haben wir ganz vergessen es zu schließen. Wir müssen ihn aufhalten! Als ich dem Hünen nachsetzen will, legt sich Tonis Hand fest um meinen Oberarm. "Er hat dich nicht erkannt. Vordere unser Glück nicht noch einmal heraus!", flüstert er mir zu. "Aber Aaron!", protestiere ich und versuche mich zu befreien. "Ich habe dir doch gesagt, die beiden sind Geschäftspartner. Michael geht bei ihm ein und aus." So langsam beginne ich zu begreifen. Der Chef der Red Dragons, ist also der Grund für unseren Rauswurf. Aaron wollte verhindern, dass wir mit ihm zusammenstoßen. Ich verstehe nur nicht, warum ihm das erst wichtig war, als er mich erkannt hat. Wäre ein Zusammentreffen mit Toni in Ordnung gewesen? Oder ist es einfach normal geworden, dass sich Toni in Aarons Haus aufhält? Während wir dabei zusehen, wie Michael im Vorgarten des Anwesens, hinter den hohen Tannen verschwindet, fällt mir das seltsame Gesprächsthema zwischen dem Paten und meinem Leibwächter ein. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe meinen Begleiter argwöhnisch an, als ich ihn frage: "Was hast du damit gemeint, du wärst nur die zweite Wahl?" "Lass uns von hier verschwinden!" Er setzt sich in Bewegung, jetzt ist er es, der es eilig hat. Wenn ich eine Antwort auf meine Frage haben will, muss ich ihm wohl oder übel folgen. "Ich habe dich etwas gefragt!", harke ich nach, als ich ihn eingeholt habe. "Wäre der Überfall vor fünf Jahren nicht gewesen, hätte Aaron dich inzwischen adoptiert. Die Papieren waren alle schon fertig. Es hat nur noch deine Unterschrift gefehlt." Was? Ich verstehe kein Wort. Wieso denn adoptieren? Aaron hat doch genug eigene Kinder. Reichen ihm seine drei Töchter nicht? "Wozu?", frage ich verwirrt. "Jetzt denk doch mal nach. Aaron hat keinen männlichen Erben, der seine Nachfolge antreten kann. Wer also soll die Locos nach seinem Tod führen?" Die Tragweite dieser Nachricht verschlägt mir den Atem. Ich sollte Aarons Nachfolger werden? Ist der alte Mann verrückt geworden? Ich hatte schon alle Hände voll damit zu tun, meine eigene Gang zu führen, aber ein ganzes Syndikat? Das ist gleich drei Nummern zu groß für mich. Kann es denn wirklich sein, dass Aaron so großes Vertrauen in mich gesetzt hat? "Nach deinem Tod, gab es große Diskussionen, wer deinen Platz einnehmen sollte", fährt Toni fort. Ich tue mich schwer seinen Worten zu folgen, muss ich doch erst mal die Sache mit der Nachfolge verdauen. "Aaron hat keinen neuen Nachfolger bestimmt, also kam es zu immer neuen Streitereien unter den Emporkömmlingen, die meinten sie hätten das Zeug zum Paten. Es ist nicht nur Michaels Verdienst, dass die Locos heute so schlecht da stehen. Es herrscht keine Einigkeit mehr im Clan. Jeder kämpft gegen jeden und als Aaron sich endlich wieder von deinem Tod erholt hatte und mich zum Nachfolger machen wollte, habe ich dankend abgelehnt." "Hast du? Aber warum?" Toni hätte sicher einen eben so guten Paten abgegeben, vielleicht sogar einen noch besseren als ich. Er wurde schon als Kind unter den Red Dragons ausgebildet, er ist sehr viel länger dabei. Je mehr Gedanken ich mir darüber mache, um so mehr überrascht es mich, dass Aarons erste Wahl auf mich fiel. "Als meine Tochter geboren wurde, wollte Anette, dass ich aus der ganzen Scheiße hier aussteige und auf ehrliche Weise mein Geld verdiene. Aber das war nur ein Grund. Ich hab kein Bock in der Schusslinie zu stehen. Außerdem, wer würde mich schon an der Spitze akzeptieren? Ich bin immerhin mal ein Drache gewesen." "Ach und mich würde man dort dulden?", werfe ich spöttisch lachend ein. Doch Toni bleibt ernst, als er mich ansieht und meint: "Du bist in alle Machenschaften des Paten involviert gewesen. Er hat dir freie Hand bei all unseren Aufträgen gelassen. Du hast die Geschäfte mit seinen Partnern abgewickelt, hast die Preise ausgehandelt. Du hast die alten Kontakte gepflegt und neue dazu gewonnen, hast du ihn da einmal um Erlaubnis fragen müssen? Ist dir überhaupt nicht aufgefallen, dass du seinen Platz schon längst eingenommen hattest, noch bevor es offiziell war?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)