Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~ von Enrico (Teil V) ================================================================================ Kapitel 11: ~Hotdogs, Drogen und ein kleiner Junge~ --------------------------------------------------- Das hat mir gefehlt, ein großer, dicker New Yorker Hotdog mit viel Senf und noch mehr Ketchup. Ich hatte schon fast vergessen, wie gut das schmeckt. Es ist bereits mein Zweiter und ich schaffe bestimmt auch noch einen Dritten. Den Verkäufer, hinter seinem kleinen Wagen, aus dem es wunderbar nach gekochten Würstchen duftet, wird es freuen, denn auch Toni isst bereits seinen dritten. Wir haben uns auf einer Parkbank im Central Park nieder gelassen, dem Hotdog-Stand direkt gegenüber. Der Verkäufer beobachtet uns zufrieden und wirft gerade neue Würstchen auf den Grill. "Raphael hat mir gar nicht gesagt, dass er das Motorrad behalten hat", beginnt Toni ein Gespräch und sieht den Weg zurück zur Straße, den wir gekommen sind. Wir haben das Motorrad am Straßenrand geparkt und können es von hier aus dort stehen sehen. Ich bin wirklich heilfroh, dass es nicht gestohlen wurde. "Susen meinte es wäre fünf Jahre unter eine Plane versteckt gewesen." "Ist doch Verschwendung." Toni schiebt sich den letzten Rest des Brötchens in den Mund, dann springt er auf. "Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?" Seine Augen strahlen voller Vorfreude. Ich bin froh, dass er wieder gute Laune hat und schaue ihn fragend an. „Auf ein Eis!", erklärt er fröhlich. Ich lächle. Wie kommt er denn jetzt darauf? Doch sein Vorschlag gefällt mir, ein Eis zum Nachtisch, dazu werde ich sicher nicht nein sagen. Ich nicke zustimmend und schlucke den letzten Bissen hinunter, dann erhebe auch ich mich. Wir folgen dem Weg und halten nach dem nächsten Eisverkäufer Ausschau. Tonis Blick verschwindet irgendwo in der Ferne, er scheint über etwas nach zu denken, etwas Schönes, denn er lächelt. „Weißt du eigentlich, dass das Eis von dir, in meinem Leben war?" Er spielt auf den Tag an, als wir uns kennen lernten. Toni hatte ganz allein auf dem großen Basketballplatz gespielt und sah dabei so einsam aus, dass ich ihn angesprochen habe. Er hat mich beim Körbe werfen haushoch geschlagen und ich Idiot habe auch noch um ein Eis gewettet. Das war auch hier im Central Park. Ich weiß noch ganz genau, dass er Schokolade haben wollte. „Ernsthaft?", frage ich. Das erklärt, warum er sich gewundert hat, dass es kalt ist. Ich habe mich damals nicht mehr ein bekommen vor Lachen. Trotzdem stimmt mich der Gedanke daran jetzt traurig. Toni war vierzehn Jahre alte und bis da hin hat es keiner für nötig gehalten, ihm mal ein Eis zu kaufen? Weder Mutter noch Vater? Andererseits, bei der Familie wundert mich nichts mehr. Tonis Vater war ein Alkoholiker und erschlug im Suff die Mutter. Alles, was ihm von ihr geblieben ist, ist das goldene Kreuz, das er immer um den Hals trägt. An diesem Tag ist er von zu Hause abgehauen und auf der Straße gelandet. Irgendwann wurde er dort von den Drachen aufgegabelt und für Botengänge eingespannt. Als sie sein Talent für Schusswaffen erkannten, bildeten sie ihn zum Auftragskiller aus. Mit 14 Jahren war er schon für den Tot von zwanzig Menschen verantwortlich. Doch für mich war er nur ein normaler Junge. Ich nahm ihn mit nach Hause, spielte im Park mit ihm, stellte Dummheiten mit ihm an. Ich habe nie etwas von seinem Job mitbekommen, bis ich ihm einmal folgte. Ich kletterte ihm nach, als er über eine Feuerleiter bis auf das Dach eines Hauses emporstieg. Damals sah ich zum ersten Mal einen Mord. Ich war so geschockt, dass ich die Flucht ergriff und einfach nur gelaufen bin. Noch am selben Abend stand ich auf der Abschussliste der Drachen. Toni sollte auch diesen Mord erledigen, aber er konnte es nicht. Damit fing alles an ... „Sag mal, hast du es eigentlich bereut, mich nicht erschossen zu haben?" Er sieht mich irritiert an und braucht einen Moment, bis er versteht, was ich meine. „Nein!", sagt er dann entschieden, „Ich hätte mir das nie verzeihen können. Und du? Hast du's bereut Denjiel erschossen zu haben?" Als Toni kam, um mich zu töten, war er nicht allein. Seine Ausbilder Michael und Butch und sein Chef Denjiel wollten sehen, ob er sich widersetzte und spionierten ihm nach. Sie wussten von unserer Freundschaft und ahnten, dass es ihrem Schützling schwer fallen würde. Als Toni es nicht über sich brachte, nahm sein Chef die Sache selbst in die Hand. Toni hatte mich noch angeschrien, ich soll weglaufen, aber ich bin nicht geflohen. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, als ich die Pistole aufhob und abdrückte. Dieser Moment veränderte mein ganzes Leben. Ich erschoss nicht irgendwen, sondern Michaels besten Freund und den damaligen Paten der Red Dragons. Seitdem bin ich auf der Flucht. Ich sehe Toni ernst an, als ich antworte: „Ich hätte nicht abhauen können, während sie dich töteten, aber manchmal frage ich mich schon, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir uns nicht begegnet wären." Ich wäre sicher wie Raphael Mechaniker geworden, ich habe schon damals gern mit ihm in der Werkstatt gearbeitet. Meine Schulnoten waren ausgezeichnet und auch wenn wir kein Geld für ein College hatten, hätte ich vielleicht ein Stipendium bekommen können. Wer weiß welche Wege mir offen gestanden hätten. Mit Sicherheit wäre es nicht nötig gewesen, unter den Locos Schutz zu suchen und gemeinsam mit Toni die harte Ausbildung zum Auftragskiller zu durchlaufen, nur weil Aaron das Potential dazu in mir sah. Alles wäre viel ruhiger, vielleicht zu ruhig. "Wahrscheinlich würdest du jetzt irgendwo in einem Kontor sitzen und ein ruhiges Leben führen", entgegnet Toni. Seine Fröhlichkeit ist verschwunden, er starrt bedrückt vor sich her. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. "Hey, jetzt schau nicht so! Ich will gar kein Banker sein. Mein Leben ist gut so, wie es ist. Ich bin gern der Chef der Wölfe und würde in keinem anderen Beruf 3000 Dollar an einem Tag verdienen. Außerdem ...", ich schaue ihn wieder ernst an, " ... kann ich mir mein Leben nicht mehr ohne dich vorstellen. Ich bereue keine Minute, nicht mal die, in denen ich dich erwürgen möchte." Er lächelt wieder. Wir finden endlich einen Eisverkäufer und ich hole für uns beide dieselben Sorten, wie an jenem Tag. Für Toni Schokolade, für mich Vanille. Mit den Tüten in der Hand, gehen wir weiter. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag und das erste zarte Grün zeigt sich an den Bäumen und auf den weitflächigen Wiesen. Es tut gut, dass es endlich wieder wärmer wird. Ich hasse die Kälte des Winters und auch der Frühling ist mir noch nicht warm genug. "Du hattest heute Morgen von einem Auftrag erzählt. Um was geht's da?", unterbricht Toni unser Schweigen und leckt über sein Eis. Ich werde von seiner Frage unsanft aus meinen Gedanken gerissen. Vincent habe ich bereits erfolgreich verdrängt. Ich schaue mich um. Niemand zu sehen, nur ein alter Mann, der seinen Hund ausführt. Er ist nicht mal in Hörweite, also wage ich es offen zu sprechen: "Wir sollen Vincent umlegen." Toni sieht mich erschüttert an. "Vincent Sivori?", versichert er sich, dass wir über denselben Vincent sprechen. Ich nicke. "Er scheint Aaron schon seit längerem Geld zu unterschlagen", füge ich erklärend hinzu. Toni schweigt, sein Blick verliert sich in der Ferne. "Ich glaube nicht, dass es nur daran liegt." Was gibt es denn noch für Gründe? Aaron hatte mir nur den Einen angedeutet. Ich betrachte meinen Freund fragen. "Einmal hat sein Drogenkonsum ganz schön überhand genommen. Er vernachlässigt seine Pflichten und sein Verschleiß an Knaben lässt sich nicht ewig decken. Er hat mehrere Verfahren laufen. Als Geschäftsmann ist der zu nichts mehr zu gebrauchen." Das leuchtet mir ein. Es gibt nichts schädlicheres für den Ruf eines Mannes, als ein Kinderschänder zu sein. Doch sein übermäßiger Drogenkonsum bringt mich auf eine Idee. "Wie wäre es, wenn wir ihm einfach ne Überdosis setzen? Um auf Nummer sicher zu gehen, könnten wir ihm auch noch ein bisschen Luft mit in die Adern jagen. Das merkt bei einem Junkie eh kein Mensch." "Dann müssten wir aber in sein Apartment", gibt Toni zu bedenken. "Schon, aber reizt dich nicht der Gedanke noch mal mit ihm zu sprechen? Es gibt da so einiges, das ich ihm sagen will, bevor wir ihn umlegen." Toni schweigt, während er die letzten Reste seines Eises aus dem Hörnchen leckt, scheint er seine Gedanken dazu geordnet zu haben, denn er sieht mich wieder an. "Ich fände es zwar besser, wir legen ihn aus der Entfernung um, aber ich hätte auch noch das ein oder andere Hühnchen mit ihm zu rupfen und ich muss gestehen, ihn an seinem eigenen Dreck krepieren zu sehen, fände ich äußerst reizvoll." Um ihn gefügig zu machen, hat Vincent Toni damals unter Drogen gesetzt. Wäre ich nicht zufällig dazu gekommen, wer weiß was geschehen wäre. "Dann brauchen wir nur noch einen Ort und Zeitpunkt", gebe ich zu bedenken. "Soviel ich weiß, hat er in Harlem ein Apartment gemietet, in das er sich die Knaben schicken lässt und sich mit ihnen und einem Schuss den Tag versüßt." In der Gegend kümmert sich kein Mensch um den anderen, der perfekte Ort für ein Verbrechen. Einziges Problem stellen das Kind dar, die eventuell im Apartment sind. "Und was machen wir mit dem Kind, wenn er eines da hat?" "Denen setzt er doch meistens schon ne riesen Dosis, um sie gefügig zu machen. Ich hab damals auch kaum noch was mitbekommen." "Was solls, notfalls müssen wir es eben auch umlegen." Toni sieht mich kritisch an, es ist derselbe Blick, wie bei dem jungen Wolf, den wir in der Lagerhalle an den Docks zurückließen. "Jetzt schau nicht so! Vincent tötet die doch so oder so und wir können keine Zeugen brauchen." Toni seufzt schwer und wirft seine leere Tüte in einen der Mülleimer. "Na schön!", stimmt er zu, doch ich bin mir sicher, dass ich wieder derjenige sein werde, der die Drecksarbeit erledigen muss. Eine ganze Woche stellten wir Vincent jetzt schon nach und so langsam bekommen ich ein Gefühl für seinen Tagesrhythmus. Den Vormittag verbringt er mit geschäftlichen Unternehmungen, zu Mittag isst er stets im selben Restaurant. Er bestellt immer ein Steak und zwei Flaschen Rotwein dazu. Er nutzt gründlich aus, das die Prohibition seit einem Monat außer Kraft gesetzt wurde. Wenn er keine Termine hat, verbringt er die Nachmittage bei Erik mit Glücksspiel und einer Flasche Scotch. Es gibt kaum einen Moment, in dem wir ihn nüchtern erleben. Scheinbar sind die Drogen nicht sein einziges Problem. Wenn er dann Abends zu seinem zweiten Apartment nach Harlem fährt, ist er bereits so betrunken, dass er laut singend durch die Straßen taumelt. Es dürfte wirklich kein Problem sein, ihn in diesem Zustand zu überwältigen. Das Haus in dem Vincent sich einquartiert hat, um in Ruhe seinem Hobby nachgehen zu können, ist der perfekte Schauplatz für ein Attentat. Von den zwanzig Apartments, sind fünfzehn belegt. Vincents Wohnung ist im ersten Stock, auf seiner Etage sind alle Apartments leer. Die restlichen Mieter verteilen sich auf das Erdgeschoss und die drei oberen Stockwerke. Trotzdem haben Toni und ich so gut wie nie eine Menschenseele zu Gesicht bekommen und wenn uns im Haus doch einmal jemand begegnete, hastete er nur schnell die Treppen hinauf. Die Türen hier werden zügig geschlossen, Kindergeschrei und wilde Beleidigungen sind ein ständiger Geräuschpegel. Bei diesen Zuständen ist es kein Wunder das Vincent auf seiner Etage schalten und walten, wie er will. Was für ein Pech für ihn, denn wir können das dort ebenso. Am letzten Abend vor dem Clantreffen bin ich der Meinung, dass wir genug Informationen zusammen haben. Uns läuft auch langsam die Zeit davon, doch der Auftrag ist mir zu heiß, als dass ich etwas dem Zufall überlassen möchte. Wie die letzten Abende warten Toni und ich auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses auf Vincent. Ich spähe durch ein Fernglas und kann seinen Gesang schon hören, bevor ich seine groß gewachsene Gestalt ausmachen kann. Er taumelt aus einer Seitenstraße heraus. Unter dem Arm hat er eine leere Weinflasche geklemmt, in den Händen hält er einen Schlüssel. Er sucht nach dem passenden für die Haustür und läuft einen weiten Bogen. Um die Kurve zu schaffen, nutzt er die ganze Straße aus. Ich schüttle mit dem Kopf und sehe ihm belustigt dabei zu, wie er bis zur Tür schwankt. Er braucht ganze vier Versuche um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Wir können uns mit dem Abstieg über die Feuerleiter Zeit lassen. Bis wir unten sind, hat er wahrscheinlich gerade mal sein Apartment erreicht. Vielleicht pennt er auch wieder auf der Treppe ein. Ein ziemlich ungünstiger Ort um ihn umzulegen. Ich hoffe inständig, dass er es heute wenigstens bis in seine Wohnung schafft. Ich verstaue das Fernglas in meinem Rucksack und gebe Toni mit einem Schwenk meines Kopfes zu verstehen, dass wir uns auf den Weg machen. Er nickt mir zu und zieht sich schwarze Lederhandschuhe über die Finger. Als er damit fertig ist, wirft er mir ein zweites Paar zu. Auch ich streife sie mir über und balle meine rechte Hand zur Faust. "Bis in den Tod ...", gebe ich dieses mal den Satz vor und strecke die Faust in Tonis Richtung. Er legt seine Faust an meine. "... und wieder zurück!" Gemeinsam steigen wir die Feuerleiter hinab. Als wir unten ankommen, ist Vincent nicht mehr zu sehen. Er hat es scheinbar geschafft die Tür aufzuschließen. Ich krame ebenfalls einen Schlüssel aus meiner Jackentasche. Gestern ist es mir gelungen Vincents Schlüssel für einen Moment in die Finger zu bekommen, als er bei Erik pokerte. Er hatte seine Jacke an der Garderobe abgegeben, dort fiel sie mir in die Hände. Mit dem Abdruck, war es ein leichtes, ihn bei einem Schlosser nachmachen zu lassen. Keine Einbruchsspuren werden darauf hinweisen, dass wir in seinem Apartment waren. Ich öffne die Tür und spähe in den Hausflur. Alles ist still. Das Licht im Treppenhaus ist noch an, doch ich höre keine Schritte. Entweder hat Vincent auf der Treppe das Saufkoma ereilt oder er ist bereits in seinem Apartment. Ich hoffe auf letzteres und winke Toni zu, dass die Luft rein ist. Wir folgen der Treppe in den ersten Stock. Von Vincent fehlt jede Spur und ich bin erleichtert, ihn nicht erst in seine Wohnung schleppen zu müssen. Vor dem neunten Apartment bleiben wir stehen und ich lausche an der Tür. Alles ist still, nur das Rauschen von Wasser ist zu hören. Wie jeden Abend ist Vincents erster Gang der unter die Dusche. Perfekt! Bisher läuft alles nach Plan. Ich schiebe den Schlüssel geräuschlos ins Schloss und drehe ihn vorsichtig. Die Tür springt auf und ich öffne sie einen Spalt, gerade weit genug, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Das Zimmer ist in ein schwaches Licht gehüllt, das von einer kleinen Lampe auf einem zerkratzen Nachttisch stammt. Die Fenster sind mit dunklen Vorhängen zugezogen, die jegliche neugierige Blicke verhindern. Auch wir hatten bisher nicht sehen können, was sich im Inneren dieses Apartments abspielt und den Schlüssel habe ich erst seit ein paar Minuten. Schnell versuche ich mir einen Überblick zu verschaffen. Mir direkt gegenüber steht ein schmutziges Sofa, dass allerhand Flecken übersät ist. Bei den braunen tippe ich auf getrocknetes Blut, über die weißen versuche ich nicht nachzudenken. Vor dem Sofa steht ein Tisch, auf dem eine benutzte und etliche aufgezogene Spritzen liegen, daneben verteilt liegen Tütchen mit weißem Pulver. Unsere Mordwaffe hat er uns also schon vorbereitet, wie praktisch. Auf Boden und Tisch stehen Wein- und Schnapsflaschen, einige leer die anderen halbvoll. Mein Blick wandert zum Heizkörper, an ihm sind Handschellen befestigt und davor stehen zwei Hundenäpfe, einer gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, der andere mit undefinierbaren brauen Brocken. Ich ahne wofür dass alles gut ist und schiebe die Tür weiter auf, um mich im ganzen Raum umsehen zu können. Er ist leer! Nirgends hockt ein Kind. Das erleichtert mich. Vielleicht komme ich ja doch um den Mord herum, der uns bei einem Zeugen nicht erspart bliebe. Neben einem Schreibtisch und einem Holzstuhl davor, gibt es keine weiteren Möbel. Was für ein trostloses Verließ! ich schaffe es nicht den Gedanken gänzlich zu verdrängen, wie es wohl für ein entführtes Kind sein muss, hier eingesperrt zu sein. Als wir eintreten kleben unsere Schuhsohlen auf dem Parkettboden, große Flecken zieren ihn wie ein Muster und verteilen sich durch den ganzen Raum. Ich will gar nicht wissen, was hier alles verschüttet oder ausgeschieden wurde. Es stinkt nach Urin, Kot und Erbrochenem. Besonders der Boden vor der Heizung, ist stark verunreinigt. Er lässt seinen Opfern scheinbar nicht mal pissen gehen. Was für ein kranker Psychopat! Hinter der Tür in der linken Hälfte des Zimmers kann man deutlich das laufende Wasser der Dusche hören. Sicher ist Vincent noch eine ganze Weile dort beschäftigt. Ich schließe die Tür ab und versuche nicht durch die Nase zu atmen. Der Gestank treibt mir die Tränen in die Augen und lässt mich würgen. Hier kann man es tatsächlich nur besoffen aushalten. Ich möchte die Fenster aufreißen um wenigstens etwas Frischluft hereinzulassen, aber dann würde jeder Laut ungehindert nach draußen dringen. Wir werden das aushalten müssen. Auch Toni rümpft die Nase und hält sich die Hand vors Gesicht. Er sieht sich ebenso angeekelt um, wie ich. "Widerlich!", empört er sich leise. Auch ihm fällt sofort die Stelle vor dem Heizkörper auf. Sein Blick wird finster. "Ich leg den Wixer dort in die Scheiße während er stirbt, ehrlich." Ich grinse. Die Idee finde ich gut, warum soll er nicht genau so elendig sterben, wie seine minderjährigen Opfer. "Willst du ihn in der Dusche überwältigen oder hier auf ihn warten?", will mein Leibwähter schließlich wissen. Ich sehe mich noch einmal um, dann entscheide ich: "Wir warten! Ich will, dass er den Schock seinen Lebens bekommt, wenn er da rauswankt." Ich hole mir den Stuhl vor dem Schreibtisch und stelle ihn gut drei Schritte vor der Badezimmertür ab. Mit der Lehne voran, setze ich mich. Ich freu mich jetzt schon auf sein dummes Gesicht. Toni setzt sich auf die Lehne des Sofas, die als einzige keine Flecken aufweist und winkelt sein rechtes Bein an. Er zieht seine Pistole und hält sie griffbereit. Er hat sicher nicht die Absicht hier, mitten in einem Wohnhaus, zu schießen, aber als Druckmittel kann eine Waffe nie schaden. Hinter der Tür tut sich etwas, das Wasser der Dusche wird abgedreht. Seltsame Laute sind zu hören, wie als wenn jemand versucht, mit einem Knebel im Mund zu sprechen. Ich sehe fragend zu Toni, der mir einen ähnlichen Blick zuwirft. Verdammt! Ich hatte so gehofft Vincent hätte heute mal keinen Jungen hier, aber dann wäre er sicher nicht in diese Loch gekommen. Die Klinke der Tür bewegt sich, sie wird geöffnet und eine kleine, dunkelhäutige Person fällt heraus. Sie landet direkt neben mir. Ich sehe in die großen braunen Augen, die wild erschrocken zurückblicken. Sie sind gerötet und mit Tränen überflutet. Im Mund des Jungen, der kaum älter als 12 Jahre sein dürfte, steckt ein Tuch, seine Hände sind mit Seilen auf seinem Rücken fixiert und zwischen seinen Fingern steckt eine rote Rose, die bereits verwelkt und ihre Blätter verliert. Bis auf seine Fesseln ist er nackt. Ich wende mich kopfschüttelnd von ihm ab, doch seine ängstlichen Augen haben sich längst in mein Gedächtnis gebrannt. Vincent tritt nur einen Moment später durch die Tür, doch als er uns in seinem Wohnzimmer sitzen sieht, weicht er einen Schritt zurück. Ich lächle verschwörerisch, als ich ihn anspreche: "Guten Abend Vincent! Lange nicht gesehen!" Der große Mann mit den schwarzen kurzen Haaren und dem Dreitagebart, atmet tief durch. Er trägt lediglich ein Handtuch um die Hüften. Seine Gesichtszüge glätten sich, den anfänglichen Schrecken hat er rasch überwunden. Er bemüht sich gerade auf seinen schwankenden Beinen zu stehen und eine stolze Haltung zu bewahren. Hat er etwa mit uns gerechnet? "Ichhhhh wusste ihr wür ... würdet früher oder ssscchpäter kommen", lallt er. Jetzt bin ich es, der überrascht ist. Hat er sich deswegen die ganze Woche so zulaufen lassen, weil er geahnt hat, dass seine Tage gezählt sind? Woran hat er es denn gemerkt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Toni und ich unauffällig verhalten haben. "Ach wirklich? Woher?", frage ich. "Man erhält nur am Ende schheeines Lebens eine rote Roschee von Aaron." Vincents Blick fällt auf die Rose, die er dem Jungen zwischen die Finger geschoben hat. Wie geschmacklos! "Aber ichhhh hätte nicchhht gedacht, das er einen Geist schicken würde", lallt er weiter und scheint das ernst zu meinen. Ist er high? Die Pupillen seiner Augen sind geweitet, ich erinnere mich an die benutzte Spritze auf dem Tisch. Er hat sich also schon einen Schuss gesetzt? "Ich bin kein Geist, aber du wirst gleich einer sein!", lasse ich ihn ruhig wissen. Vincents Lippen umspielt ein seltsames Lächeln. Er macht nicht den Eindruck, als wolle er sich kampflos ergeben und das trotz seines zugedröhnten Zustandes. Er sieht mich noch einen Moment lang an, dann greift er nach etwas, dass sich hinter der halb geöffneten Badezimmertür befindet. Ich drücke mich vom Stuhl hoch, in Erwartung eines Angriffes. Im Augenwinkel kann ich schon das Rasiermesser sehen, mit dem er sich auf mich stürzen will. Als er über die Türschwelle tritt, stolpert er über die Beine des Jungen, der sie ihm in den Weg gelegt hat. Zeit zum Nachdenken, dass das Absicht von dem Knaben war, habe ich nicht mehr. Ich stehe auf, packe seinen Arm mit dem Messer und werfe ihn zu Boden. Mit eiserner Faust hält er es auch dort noch fest umschlugen und schlägt damit nach mir. Ich trete auf seine Hand und verlagere mein ganzes Gewicht auf sie, bis seine Finger das Messer freigeben. Er knurrt wütend und strampelt wild mit den Armen und Beinen, doch seine Koordination ist schlecht, er schlägt immer wieder ins leere. Ich nehme ihm das Messer ab und werfe es zurück ins Badezimmer. Toni kommt zu mir, gemeinsam packen wir ihn unter den Armen und ziehen ihn zum Heizkörper. Dieses Mal sind es Vincents Hände, die mit den Handschellen fixiert werden. Er sieht uns wütend an und spuckt. "Ihr Missgeburten! Meine Leute werden euch dafür die Kehle aufschlitzen!" Ich muss über seine Drohung schmunzeln. "Wie sagst du immer so schön, es ist alles erlaubt, solange keiner etwas davon erfährt. Und keine Sorge, wir sagen es Niemandem." Toni ist zum Tisch gegangen, er holt zwei Spritzen. Vincents Augen weiten sich, erst jetzt scheint sein vernebelter Geist zu begreifen, was ihm blüht. Mit den Füßen tritt er nach mir, doch seine Kraft ist lächerlich, ich nicht schwer, sie mit beiden Händen festzuhalten. "Was hältst du davon, wenn wir beide jetzt mal ein bisschen Spaß miteinander haben?", wiederholt Toni den Wortlaut, mit dem Vincent ihm damals die Drogen verabreicht hat. "Das werdet ihr noch bereuen!", knurrt er und klingt dabei erstaunlich nüchtern. Die Todesangst scheint ihn noch einmal zur Besinnung kommen zu lassen. "Das glaube ich nicht. Die Welt kann auf jemanden, wie dich gut verzichten. Für das Vergnügen dir beim Sterben zuzusehen, geh ich auch gern in den Knast." Toni setzt die zwei Spritzen an dieselbe Stelle, die Vincent zuvor schon selbst benutzt hat. Er stöhnt gequält auf und beginnt am ganzen Körper zu zittern. Seine Gesichtsmuskulatur verzieht sich zu einer wilden Fratze, er will noch etwas sagen, doch es gelingt ihm nicht mehr. Ich gebe seine Beine frei und löse auch seine Arme, bevor die Handschellen rote Striemen an seinen Handgelenken bilden können. Sich vor Schmerzen windend und von Muskelkrämpfen gepeinigt, kippt der große Mann zur Seit und bleibt mit dem Kopf in einem der Näpfe liegen. Ich sehe ihm noch eine Weile dabei zu, wie er sich von einer auf die andere Seite wälzt und sich sein Körper mit dem Dreck des Bodens besudelt. Wie gern würde ich ihm noch eine Kugel in den Kopf jagen. "Stirb schneller!", knurre ich ihn an. Die letzte Spritze steckt noch in seinem Arm, sie wippt in seinem Todeskampf auf und ab, die andere legt Toni zurück auf den Tisch. Unter den starken Krämpfen setzt schließlich Vincents Atmung aus, sein Brustkorb hebt und senkt sich noch zweimal, dann erstarrt er. Ein Schwein weniger! Mein Blick wandert zu dem Jungen am Boden, die großen dunkelbraunen Augen mustern uns hoffnungsvoll und mit stiller Bewunderung. Irgendetwas an seinem Gesicht kommt mir bekannt vor, doch ich bin mir sicher, ihm noch nie begegnet zu sein. Seine dunkelbrauenen Augen musstern mich, ohne einmal zu blinzeln. Ob er uns wohl für seine Retter hält? Wie dumm von ihm! "Was wird jetzt aus dem da?", will mein Begleiter wissen. Ich wende meinen Blick von dem Jungen ab, als ich kalt antworte: "Lass ihn uns schnell umlegen und dann von hier verschwinden, bevor ich mich bei dem Gestank hier wirklich noch übergeben muss." Ich spüre den entsetzten Blick des Kindes auf mir, auch wenn ich nicht hinsehe. Jetzt sind wir wohl nicht mehr seine Helden. Toni kniet sich zu dem Jungen, seine Worte richtet er an mich: "Weißt du noch, dass wir uns mal geschworen haben, keine unschuldigen Kinder und keine Frauen?" Ich rolle mit den Augen. Das ist Jahre her und inzwischen hat sich meine Einstellung dazu völlig verändert. "Das war bevor Frauen und Kinder versucht haben mich umzulegen. Glaub mir, niemand ist unschuldig." "Mag sein", seufzt Toni und sieht wehmütig auf den Jungen hinab, "Aber trotzdem." "Ich kann arbeiten!", ruft die helle Stimme des Jungen dazwischen. Erst jetzt sehe ich ihn wieder an. Der Knebel in seinem Mund hat sich gelöst, er sieht uns eindringlich an, ich kann keine Angst in seinen Augen erkennen. Dieser entschlossene Blick imponiert mir. Er glaubt also wirklich uns von Nutzen sein zu können? "Tatsächlich?", entgegne ich ihm amüsiert, "Wer glaubst du denn, wer wir sind, dass wir ein Kind wie dich brauchen könnten?" Er hockt sich auf die Knie und richtet seinen Oberkörper schwerfällig auf. Seine dunkle Hautfarbe verbirgt die meisten blauen Flecke, doch ich bin mir sicher, dass Vincent nicht zimperlich mit ihm war. Trotzdem hat seine Haltung etwas Stolzes. "Ihr seid Wölfe!", sagt er standhaft. Ich wundere mich einmal mehr über ihn. Woher weiß das Kind etwas von uns, obwohl es die Wölfe seit fünf Jahren nicht mehr gibt? "Du bist Enrico River, der weiße Wolf." Ich fühle mich wie vor den Kopf gestoßen und kann mir dieses Wissen nicht erklären. Der Junge lächelt freundschaftlich und verwirrt mich damit nur noch mehr. "Der Kurze hat was, lass ihn uns mitnehmen", höre ich Toni sagen, doch in meinem Geist kommen seine Worte nicht an. Krampfhaft überlege ich, warum mir die Gesichtszüge dieses Jungen so bekannt vorkommen. Als ich ihm nicht antworte, löst Toni die Fesseln des Kindes. Der Junge reibt sich die wunden Handgelenke und steht auf. Seine Haut ist noch ganz nass vom Duschen, er zittert am ganzen Körper und umfasst seine Schultern um sich wenigstens etwas warm zu halten. Als mich seine dunkelbrauen Augen erwartungsvoll mustern, fällt es mir wieder ein. Der Knabe ist viel jünger und schmächtiger, aber er sieht Angelo Fernandes zum Verwechseln ähnlich. Der Zwei-Meter-Schrank, den ich fast verblutet in einer Gasse aufgelesen habe und der daraufhin bei mir als Türsteher und Bodyguard angeheuert hat. Er war ein stattlicher Mann, der schon durch seine Statur Respekt einflößte, eigentlich aber ein sehr sanftmütiges Wesen besaß. Angelo hat nie viel über seine Vergangenheit oder Familie gesprochen, ich kann mich aber dunkel erinnern, dass er mal einen kleinen Bruder erwähnt hat. Doch noch bevor ich den Jungen danach fragen kann, beginnt er von allein zu erzählen: "Mein großer Bruder hat für dich gearbeitet. Er ist bei dem Anschlag vor fünf Jahren getötet worden." Ich seufze schwer und sehe einen Moment lang unter dem festen Blick des Kindes hinweg. Ich habe bisher noch nicht gewagt, nach den Namen der Opfer zu fragen. Angelo ist der Erste, den ich ganz offiziell höre. Ich habe nicht gesehen, wie er getötet wurde. Er hatte auch an diesem Tag Dienst als Türsteher vor dem Tor der Fabrik. Er sollte die Geburtstagsgäste auf Schuss und Stichwaffen kontrollieren. Sicher ist er als einer der Ersten getötet wurden. Es tut weh zu wissen, dass er nicht überlebt hat. Ich bin wirklich ein schrecklicher Mensch geworden, um ein Haar hätte ich seinen kleinen Bruder geopfert. Ganz gleich welches Risiko ein Zeuge auch darstellt, ich bin es Angelo schuldig, mich um den Kleinen zu kümmern. Ich hebe den Blick und sehe dem Jungen wieder ins Gesicht. Die großen Augen schauen mich noch immer mit diesem festen Blick an, so wie es Angelo auch immer getan hat, wenn er mich auf einen Fehler aufmerksam machen wollte. Ich streife mir meine Jacke von den Armen und lege sie dem Kind über die nackten Schultern. Sie ist ihm so groß, dass sie bis zu seinen Knien reicht. Er lächelt dankbar und zieht sie eng um seinen frierenden Körper. "Wie ist dein Name?", will ich wissen. "Leandro Fernandes!", erwidert er mit zitternden Lippen, die sich bereits blau gefärbt haben. "Nun dann Leandro Fernandes, du hast gesagt du könntest arbeiten. Ich könnte helfende Hände beim Aufbau meiner Fabrik brauchen. Willst du für mich arbeiten?" Ein düsterer Blick legt sich auf das kindliche Gesicht. "Nur, wenn ich mich an den Mördern meines Bruders rächen darf." Toni muss lachen, er wuschelt dem Jungen durch die kurzen schwarzen Haare und meint fröhlich: "Der Kurze gefällt mir." Der Blick des Jungen ändert sich nicht, er schaut noch immer zu allem entschlossen. Auch ich kann mich nicht dagegen wehren ihn gern zu haben. "Du wirst deine Gelegenheit bekommen, dafür sorge ich." Ein Lächeln stiehlt sich auf das Gesicht des Kindes, doch es hält sich nicht lange dort. Jetzt wo er sein Ziel erreicht hat, weicht die Willenskraft aus seiner Haltung. Er senkt den Blick und schaut müde und ermattet vor sich hin. "Können ... können wir weg von hier gehen ... bitte?", fragt er zaghaft. Mir wird erst in diesem Moment wieder bewusst, was er hier durchgestanden hat. Mitleid erfüllt mich und ich spüre noch mehr das Verlangen, mich seiner anzunehmen. "Nichts lieber, als das", sage ich und werfe einen letzten Blick auf Vincent. Er liegt mit dem Kopf in einem Haufen Fäkalien. Ein würdiges Ende, für jemanden wie ihn. Leandro hat meine Jacke geschlossen und folgt uns auf seinen nackten Füßen, mit gesenktem Kopf. Er sieht schrecklich aus, nichts ist mehr übrig, von der Stärke, die mich so beeindruckt hat. "Wie viel hast du noch einstecken?", will ich von Toni wissen. Er sieht zu dem Kind, das mit zwei Schrittlängen Abstand hinter uns her schleicht. Er versteht, worauf ich hinaus will und sieht in seiner Geldbörse nach. "Zwei Dollar und ein paar Pennys." Er zeigt mir die letzten beiden Schein, die er einstecken hat. "Nur? Was ist mit dem Geld von den Docks?", frage ich entsetzt. "Ich hab meine Schulden damit getilgt." Ich seufze und ziehe meine eigene Geldbörse. Als ich alle Scheine durchgesehen habe, kommen nicht mehr als zehn Dollar zusammen. Zwölf also zusammen. Ich schaue über die Schulter zurück zu Leandro und seufze. Es hilft alles nichts. Der Kurze braucht was zum Anziehen und wir alle drei was zu Essen. Dann muss ich mir eben was einfallen lassen, bis wir unseren ersten Lohn von Erik erhalten. "Leandro, was hältst du von ein paar Klamotten, die passen?", rufe ich dem Jungen zu. Er braucht einen Moment, um zu reagieren. Scheinbar war er tief in seinen Gedanken versunken. "Ehrlich? Ich darf mir was aussuchen?" Ein flüchtiges Strahlen legt sich in die müden Augen, die von tiefen Augenringen umrahmt sind. Er holt zu uns auf und läuft neben mir. Ich schaue ihn kritisch an. "Du darfst anziehen, was ich dir kaufe!", entgegne ich streng. Das Strahlen schwindet aus dem kindlichen Gesicht, er nickt verstehend. "Du hörst dich schon an wie Aaron", mahnt Toni. Ernsthaft? Bin ich schon genauso spießig, wie er? Ist ja schrecklich! Das muss ich mir dringend abgewöhnen. Wir kommen an einem Geschäft für Kinderbekleidung vorbei. Ich bleibe stehen, Leandro und Toni tun es mir gleich. Aus meiner Geldbörse ziehe ich fünf Dollar Scheine und reiche sie dem Kind. "Geh und such dir dafür was aus!" Leandros Augen werden wieder größer, er sieht mich fragend an und wagt es nicht, nach den Scheinen zu greifen. "Nun nimm und geh! Die Leute bleiben schon stehen, weil du in meiner Jacke so lächerlich aussiehst." Der Junge nickt, er nimmt das Geld und verschwindet im Geschäft. Tatsächlich sind einige Passanten stehen geblieben, die uns verwirrt mustern, doch als ich jedem von ihnen einen finsteren Blick zuwerfe, gehen sie alle weiter. Zwei weiße und ein schwarzes halbnacktes Kind. Ich will gar nicht wissen, was die denken. "Du hättest den Kurzen wirklich umgelegt, oder?", will Toni plötzlich von mir wissen. Ich brauche einen Moment, bis ich über seine Frage nachgedacht habe und ihm bitter antworte: "Ja!" Toni tritt neben mich, gemeinsam beobachten wir Leandro durch das Schaufenster, wie er die Kleiderständer durchsucht und von der Bedienung argwöhnisch beobachtet wird. "Seit dem Anschlag hast du dich ganz schön verändert", fährt mein Freund fort ohne mich anzusehen. Seine Hände stecken in den Taschen seines Jacketts, seine Augen beobachten den Jungen. Ich schweige. "Du vertraust keinem mehr, oder?" Da hat er Recht. Seit ich weiß, dass wir eine Ratte unter uns hatten, bin ich vorsichtig geworden. Ich habe noch immer keine Ahnung, wem der leere Platz an meinem Geburtstag gehört hat, somit ist jeder verdächtig. Jeder, bis auf einen. "Ich vertraue dir! Das muss reichen!" Leandro ist fündig geworden. Mit einer Unterhose, einer Jeans, einer dünnen Jacke und einem langen Pullover verschwindet er in der Umkleidekabine. Er zieht sich rasch um und kommt mit meiner Jacke unter dem Arm wieder heraus. Für alles zusammen hat er nicht mal fünf Minuten gebraucht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er so schnell Entscheidungen fällen kann. Eigentlich ist es viel zu schade um ihn, als dass ich ihn in meine Geschäfte verwickeln sollte. Er ist ein kluger Junge mit einem erstaunlich festen Charakter, er sollte zur Schule gehen und ein anständiges Leben führen. Leandro wechselt ein paar Worte mit der Verkäuferin und bezahlt die Kleidungsstücke, dann kommt er zu uns. Kommentarlos reicht er mir das Wechselgeld. Es sind noch 2 Dollar und ein paar Pennys übrig. Wieder sehe ich den Knirps überrascht an. Ich habe damit gerechnet, dass er alles ausgibt. Die Sachen, die er sich ausgesucht hat sind einfach und aus billigem Stoff. Er ist bescheiden, eine Eigenschaft, die mir in den letzten Tagen selten untergekommen ist. Ich nehme Leandro meine Jacke ab und lasse ihm das Geld. "Behalte den Rest. Kauf dir davon was zu essen und geh dann heim, deine Familie macht sich sicher schon Sorgen um dich." Der Junge sieht mich mit großen Augen an. Ich wende mich von ihm ab und gehe weiter. Diese Entscheidung werde ich sicher noch bereuen, spätestens wenn die Bullen nach mir suchen, aber er hat noch eine Zukunft, bei Toni und mir ist es längst zu spät. "Wir lassen ihn laufen?", ruft Toni mir nach. Er folgt mir mit schnellen Schritten. Doch noch bevor ich ihm antworten kann, hat Leandro uns eingeholt. Er stellt sich mir in den Weg und sieht mich mit diesem festen Blick an, den ich so an ihm mag. "Ich dachte ich darf mit euch kommen und meinen Bruder rächen?" Ich laufe einen Bogen um das Kind und lasse ihn stehen. "Geh nach Hause Kleiner und freu dich darüber, dass du noch am Leben bist. Rache wird dich weder ernähren, noch dir ein Dach über dem Kopf geben, es bringt dich nur früher oder später um." "Ich habe keine Familie und kein zu Hause und wenn ich bei dem Versuch meinen Bruder zu rächen sterbe, ist mir das egal! Ihr habt mich gerettet, jetzt seid ihr auch für mich verantwortlich!", schreit Leandro uns hinterher. Ich bleibe seufzend stehen und drehe mich zu ihm um. Mit gesenkten Armen, die Fäuste geballt und die Beine weit auseinander gespreizt, sieht Leandro uns stur an. Diese Kind ist gerade erst der Hölle entkommen, woher nimmt er nur diesen Mut, sich mit zwei Mördern, wie uns, anzulegen? "Ich hätte ihn umlegen soll'n, als es noch einfach war", flüstere ich Toni zu. "Wie würde Aaron jetzt sagen: Aus dem wird mal was Großes", lacht er. "Halt die Klappe!", belle ich. Es nervt mich schon die ganze Zeit, dass er dieses Kind am liebsten adoptieren will. "Ach komm schon! Lass ihn uns zu einem Wolf machen." "Wenn du nen Haustier willst, dann kauf dir nen Hund!" "Was ist denn dein Problem?", schreit Toni. "Ich will nicht, dass er so endet wie wir!" Kleine Hände packen meinem Hosenbein, ich sehe an mir hinab. Leandro klammert sich an mich und sieht mich mit nassen Augen an. "Bitte, ich will mit euch kommen. Ich will ein Wolf werden, wie mein großer Bruder." "Nein, das willst du ganz bestimmt nicht." Ich greife die Schultern des Kindes und knie mich zu ihm hinab. Dieses Mal sehe ich ihm fest in die Augen. "Du bist noch ein Kind, du gehörst in die Schule und in eine Familie, die sich um dich kümmert. Dein Bruder war ein starker Mann und ist trotzdem getötet worden. Was glaubst du, wie lange du in meiner Welt überleben würdest?" "Ich sterbe auch so, wenn ihr mich allein lasst." Tränen überfluten sein Gesicht, er schluchzt herzzerreißend und schlingt seine dünnen Arme um meinen Hals. "Bitte lasst mich nicht allein! Diese Männer werden mich finden und dann verkaufen sie mich an einen anderen brutalen Kerl. Bitte, ich will das nicht mehr ... ich hab so große Angst! Lasst mich nicht allein!" Leandros Stimme wird immer brüchiger, ganz langsam weicht die Kraft aus seinem geschundenen Körper und er sinkt mir gänzlich in die Arme. "Ich will nicht mehr allein sein", schnieft er verzweifelt. Ich atme schwer durch und versuche vergeblich die Gedanken daran zu verdrängen, was das Kind in den letzten Tagen ertragen musste. Aus seinen Worten werde ich zwar nicht ganz schlau, aber ich ahne, dass er einem Kinderhänderring in die Hände gefallen ist. Wenn Vincent gefunden wird und bei ihm kein Kind ist, wird das in diesen Kreisen schnell die Runde machen. Leandro ist jetzt nicht nur Zeuge eines Mordes, sondern kennt auch die Männer, die ihn an Vincent verkauft haben. Ich hebe den Jungen hoch und stehe auf. Seine Arme sind noch immer fest um meinen Hals geschlungen, seine heißen Tränen laufen mir in den Nacken, mein Hemdkragen ist schon ganz nass. Was mach ich denn jetzt nur mit ihm? Leandros Schluchzen wird leiser, seine Arme verlieren an Spannung. Was für ein verrücktes Kind, schläft einfach in den Armen eines Mörders, ein. Ich seufze resigniert. Warum habe ich ihn nicht einfach umgelegt? Jetzt ist er mir bereits viel zu sehr ans Herz gewachsen. Besser ich denke nicht darüber nach, was ich mir da für Probleme aufhalse. Mit dem Kind auf den Armen laufe ich weiter. Toni folgt mir mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Er legt die Arme hinter den Kopf und stolziert fröhlich neben uns her. "Soll ich ihm ne Hundehütte bauen, wenn wir im Lager sind?", will er irgendwann lachend wissen. Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Ich mache mit Leandro gerade dasselbe, was man mir als Kind zugemutet hat. "Halt die klappe Toni, das ist nicht lustig! Wir zerstören hier ein Leben!" "Und das stört dich auf einmal? Seid wir in New York sind haben wir schon sieben Leben ausgelöscht." "Das waren keine unschuldigen Kinder." Toni klopft mir auf die Schulter. "Na das klingt doch endlich wieder nach dir. Ich wusste von Anfang an dass du den Kurzen nicht sich selbst überlässt." Ich murre in mich hinein. Als wenn wir hier etwas Heldenhaftes tun würden. Wir sind nicht die Guten in Leandros Geschichte, nur weil wir sein Leben gerettet haben! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)