Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~ von Enrico (Teil V) ================================================================================ Kapitel 12: ~Clantreffen~ ------------------------- Wenn wir nicht gerade Vincent überwachten, waren Toni und ich mit dem Wiederaufbau der Fabrik beschäftigt. Da Anette ihn aus ihrem gemeinsamen Apartment rausgeworfen hatte und er auch bei Raphael nicht mehr erwünscht war, blieb uns nichts anderes übrig, als in die verwüstete Ruine zu ziehen. Unsere alten Schlafzimmer haben wir inzwischen vom Schutt befreit, doch für neue Möbel war noch kein Geld übrig. Lediglich zwei Matratzen und Bettzeug konnte ich uns organisieren. Unser erster Lohn bei Erik wird wohl vollständig für Lebensmittel, Kleidung und neue Möbel draufgehen. Wahrscheinlich wird das nicht einmal reichen, jetzt wo wir auch noch Leandro mitversorgen müssen. Ich seufze, als ich den Jungen durch den verbrannten Aufenthaltsraum trage. Er schläft inzwischen tief und fest und lässt sich nicht mal von dem lauten Knarren der Eisentür wecken, die Toni für sie uns öffnet. Während Toni in seinem Zimmer verschwindet, bringe ich Leandro in den Raum daneben zu meinem provisorischen Nachtlager. Als ich ihn auf die Matratze lege und zudecke, öffnet er nur kurz die Augen. Er scheint mich zu erkennen, denn er lächelt, als er sich die Decke bis zum Kinn zieht und rasch wieder einschläft. Noch immer spukt mir das verdreckte Apartment durch den Kopf und ich werde den Gedanken nicht los, was Leandro dort erlebt haben mag. Ihn schnell und schmerzlos zu töten ist das eine, aber ihn wochenlang festzuhalten und zu ... Ich verbanne diese Gedanken aus meinem Kopf. Unter der Decke schaut nur noch ein schwarzer Haarschopf heraus. Es ist sicher eine Ewigkeit her, dass der Junge ein solches Nachtlager genossen hat. Für Heute werde ich es ihm überlassen, für alle kommenden Nächte, sollten wir ihm einen anderen Raum fertig machen. Eine alte Matratze werde ich sicher auftreiben können. Ich würde ja auch bei Toni schlafen, aber seit der Sache mit Anette, spinnt er diesbezüglich rum. Es muss wohl so irgendwie gehen. Ich betrachte den Jungen noch eine Weile, sein Schlaf ist friedlich, doch ich kann mir vorstellen, dass es nach all diesen schrecklichen Erlebnissen nicht so bleibt. Selbst mich plagen noch regelmäßig Alpträume, dabei ist der Anschlag schon fünf Jahre her. Ich entschließe mich die Nacht im Zimmer zu bleiben und ihn zu wecken, sollte er sich im Schlaf hin und her werfen. "Du überlässt ihm dein Bett?" Ich fahre zusammen. Toni steht in der Tür und betrachtet den Jungen unter der Decke. "Erschreck mich nicht so", klage ich, doch er lächelt nur versöhnlich. Mein Freund kommt zu mir und legt mir seine Hand auf die Schulter. "Du bist gar kein so schlechter Mensch, wie du immer denkst." "Ach findest du?" Ich kann ihm nicht zustimmen. "Ich denke du täuschst dich. Wir brauchen neue Mitglieder, wenn wir die Wölfe wieder aufbauen wollen, das ist der einzige Grund, warum ich ihn am Leben lasse." "Erzähl keinen Mist. Du magst ihn. Das ist der Grund." Ich brumme in mich hinein und schweige. Er würde mir sowieso die Worte im Mund umdrehen und eigentlich hat er ja auch Recht. Toni streckt sich und gähnt ausgiebig. "Also ich weiß nicht wies dir geht, aber ich bin hundemüde. Ich hau mich aufs Ohr." Er geht zur Tür, doch noch bevor er den Raum verlässt, dreht er sich noch einmal zu mir. "Und Enrico!" Ich schaue fragend. "Glaub ja nicht, nur weil der Kurze jetzt da ist, dass du bei mir pennen kannst." "Leck mich!" Das braucht er mir nicht jeden Tag sagen. Als er geht, folge ich ihm und werfe ich die Tür schwungvoll nach ihm zu. Seit wir seine Sachen bei Anette abgeholt haben, geht er auf Abstand und das nur, weil sie ihm noch einmal ordentlich die Meinung gesagt und bei der Gelegenheit auch gleich den Umgang mit seiner Tochter verboten hat. Seit Tagen versucht er sich mit geklauten Blumen oder anderen Dingen bei ihr wieder einzuschleimen. Mich nervt sein rückgratloses Verhalten. Ich renne meiner Frau doch auch nicht hinterher, obwohl ich seit dem Besuch bei Aaron nichts mehr von ihr gehört habe. Wir könnten es hier so schön haben, Anette müsste nicht mal etwas davon erfahren. Ich durchquere das Zimmer und lasse mich auf dem Fensterbrett nieder. Der Vollmond ist so hell, dass er den ganzen Raum ausleuchtet. Der Jung schläft friedlich, scheinbar fühlt er sich wirklich wohl in unserer Mitte, oder er ist einfach nur erschöpft? Etwas Gutes hat es, dass er hier ist. Meine Gedanken hören auf sich nur um Toni und unsere Frauen zu drehen. "Guten Morgen!", spricht mich eine fröhliche Kinderstimme an. Ich blinzle in das grelle Tageslicht und kann zwei dunkelbraune Augen erkennen, die mich hilfesuchend ansehen. Leandro ist also schon wach? Wie lange habe ich denn geschlafen? "Guten Morgen!", antworte ich mit einem langgezogenen Gähnen und muss mich erst mal strecken. Nach der Nacht auf dem Fensterbrett sind alle meine Muskeln verspannt. Leandro tritt unterdessen nervös von einem Bein auf das andere. "Wo ist denn hier das Klo?", will er von mir wissen. Ich lächle verstehend, doch muss ich den Jungen enttäuschen. Unsere sanitären Einrichtungen funktionieren noch nicht, ein Baum oder Busch muss ihm vorerst genügen. Ich rutsche vom Fensterbrett und lege meinen Arm um die Schulter des Jungen. "Wir haben noch kein funktionierendes Klo. Ich hoffe ein Baum wird es auch tun?" Leandro sieht mich breit grinsend an, als er mir entgegnet: "Wenn ich mir den Baum aussuchen darf." War das etwa eine Anspielung auf den gestrigen Abend? Ich muss über den Jungen schmunzeln und wuschle ihm durch die zerzausten Haare. Frech kann er also auch noch sein, mit ihm werde ich sicher noch meine liebe Not haben. Ich begleite Leandro nach draußen. Während wir uns gemeinsam erleichtern, fängt er wieder an zu sprechen: "Mein Bruder hat mir ganz viel von der alten Fabrik erzählt und auch von den Wölfen. Es soll immer lustig hier gewesen sein. Ihr habt hier ganz viele Spiele gespielt und gefeiert. Warum ist denn jetzt keiner mehr hier?" Ich sehe von Leandro über den zugewucherten Innenhof. Das Gelände ist so weitläufig, dass man ohne Probleme zwanzig Lkws unterbringen kann und noch immer genug Platz wäre, damit sie rangieren können. Auf den zugewachsenen Bodenplatten kann man noch dunkle Reifenspuren erkennen. Zum Zeitvertreib und um die schnellsten und besten Fahrer zu ermitteln, sind wir hier oft Rennen gefahren. Die ersten drei haben an illegalen Straßenrennen teilgenommen, auch Toni und ich sind oft mitgefahren. Die Wölfe hatten einen gefährlichen Ruf in dieser Szene, wir haben beinah jedes Rennen gewonnen und auch etliche selbst veranstaltet. Mein Blick wandert zu dem leerstehenden Fabrikgebäude. Etliche Fensterscheiben sind eingeschlagen und zwei Birken ranken sich über den Backstein der Sonne entgegen. Es ist kaum zu glauben, dass wir hier während der Prohibition, mal ein gut besuchtes Lokal führten. Neben den Teestuben gab es etliche Hinterzimmer, mit den unterschiedlichsten Glücksspielen. Mal von den Auftragsmorden für Aaron und den gelegentlichen Diebstählen abgesehen, war das unsere größte Einnahmequelle. Hier war immer etwas los, selbst früh am Morgen konnte man die verschiedensten Stimmen hören, die miteinander scherzten, sich stritten oder grölten. Ich hatte ständig irgendetwas zu tun. Ob es nun galt ein paar Streithähne zu trennen oder die Aufgaben für den Tag zu verteilen. Hier habe ich Millionengeschäfte abgewickelt, Waffen vertickt, reiche Geschäftspartner mit kurzweiligen Glücksspielen und Partys für unsere Sache gewonnen. Und jetzt? Es ist so unnatürlich still geworden. Nur das Zwitschern der Vögel begleitet meine Gedanken. Ich schließe den Hosenstall, dann versuche ich mich an einer Antwort: "Die Wölfe gibt es nicht mehr." Meine Stimme klingt bitter. Ich habe so lange den Gedanken an meinen Clan vor mir her geschoben, dass mir erst jetzt klar wird, wie sehr mich der Verlust schmerzt. "Viele meiner Leute sind getötet worden und ich selbst bin auch erst seit ein paar Wochen zurück." Viel weiter will ich vor dem Knaben nicht ins Detail gehen. Leandro hört aufmerksam zu, seine dunkelbraunen Augen mustern mich durchdringend. "Sind denn wirklich alle tot?" Die Frage des Kindes lässt mir den Atem stocken. Genau das habe ich nie gewagt in Erfahrung zu bringen. Ich seufze gequält, bevor ich zugebe: "Ich weiß es nicht." "Dann sollten wir es vielleicht herausfinden?" Leandros unschuldiger Blick und seine einfache unbeschwerte Art die Dinge zu sehen, verschlägt mir einmal mehr die Sprache. Ich denke darüber nach. Eigentlich hat er Recht, es wird langsam Zeit, mich der Vergangenheit zu stellen und die unausweichliche Wahrheit heraus zu finden. "Da hast du Recht, das sollten wir." Der Versuch zu lächeln missglückt mir. Ich weiß noch nicht mal, wo ich mit der Suche anfangen soll. Fünf Jahre sind einfach eine viel zu lange Zeit. Ich hätte schon hier sein müssen, um zu wissen, wohin sich die Überlebenden zerschlagen haben. Toni ist der Einzige, den ich fragen kann. Bei seinem guten Gedächtnis, weiß er mit Sicherheit, wer wohin gezogen ist. Das Beste wird sein, ich beauftrage ihn damit, mir eine Liste zu erstellen und die besagten Personen zu einem Treffen zusammen zu rufen. So hat er wenigstens was zu tun, wenn ich heute zum Clantreffen fahre, denn mitnehmen werde ich ihn nicht. Ich bin ganz froh ihn mal für eine Weile los zu sein. Mein Blick wandert auf die Uhr an meinem Handgelenk. Es ist schon Neun? Ich habe nicht mal mehr eine Stunde. Verflucht, ich habe viel zu lange geschlafen. Eilig wende ich meine Schritte zurück zur Fabrik. Leandro läuft mir nach, seine Kinderaugen sehen mich aufgeregt an. "Was machen wir jetzt?" "Ich schicke dich und Toni auf die Suche nach den überlebenden Wölfen." "Ehrlich? Ich darf helfen!" "Sicher! Sieh es als deine erste Aufgabe als richtiger Wolf an." Leandros Augen bekommen einen strahlenden Glanz. Ihm scheint wirklich viel daran zu liegen, wie sein großer Bruder, ein Teil meines Clans zu werden. Verrückter Junge! Aus meinem Zimmer hole ich Stift und Notziblock und gehe zu Toni. Ohne anzuklopfen öffne ich die Tür. Er schläft friedlich und tief vergraben unter seiner Decke. Dieser elende Faulpelz! "Toni aufstehen! Ich hab nen Job für dich!", schreie ich. Meine laute Stimme wird noch durch das Echo des leeren Raumes verstärkt. Neben der Matratze und seinem Gitarrenkoffer am Boden, liegen nur seine Klamotten ordentlich zusammengelegt und aufgereiht auf dem Fensterbrett. Erschrocken fährt Toni aus dem Schlaf. "Boar! Spinnst du?", knurrt er und sieht mich schlaftrunken an. Ich werfe ihm Block und Stift in den Schoß. "Während ich auf dem Clantreffen bin, wirst du mit Leandro eine Liste aller noch lebenden Wölfe aufstellen. Dann sucht ihr euch ne Telefonzelle und ruft alle an oder fahrt vorbei. Nächstes Wochenende halten wir hier ein Treffen ab. Wird Zeit dass ich das Rudel zusammenrufe." Toni sieht mich irritiert an, er zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe. "Wer bist du und was hast du mit Enrico gemacht?" Ich schenke ihm nur ein amüsiertes Lächeln, dann schiebe ich Leandro in den Raum. "Nimm den Kurzen mit, bei der Gelegenheit kannst du ihm gleich erklären, wie es hier bei uns läuft." Mein Blick wandert auf die Uhr an meinem Handgelenk. Mir bleiben noch 45 Minuten, um bei Aaron aufzuschlagen. Besser ich mache mich sofort auf den Weg. "He Enrico! Soll ich dich wirklich nicht begleiten?" "Nicht nötig. Mit Aaron und den anderen Beiden, werde ich schon allein fertig." Ich werfe die Tür nach mir zu und mache mich auf den Weg. Das Tor steht bereits offen, als ich Aarons Anwesen erreiche. Im Garten ist niemand zu sehen, nur Scotch und Brandy bellen heiser aus ihrem Zwinger. Ich fahre über den Kiesweg bis zum Anwesen hinauf und stelle mein Motorrad neben der Steintreppe ab, die zur Eingangstür führt. Mir fallen zwei Automobile auf, die etwas abseits neben Aarons Wagen parken. Die anderen sind also schon da. Na super, ich bin der Letzte, dass sieht mir mal wieder ähnlich. Ich nehme rasch die Brille ab und steige vom Motorrad. Als ich die Treppen hinauf eile, ruft eine bekannte Stimme nach mir: "Enrico!? Verflucht! Es stimmt also? Und ich hab es für ein Gerücht gehalten." Ich drehe mich auf der Suche nach dem jungen Mann um. Aus einem der Autos steigt Diego. Mir ist gar nicht bewusst geworden, dass dort noch jemand saß. Er wirft die Autotür nach sich zu und kommt zu mir. Diego hat sich kein Stück verändert, sein Sakko ist aus teurer Seide, ebenso das weiße Hemd darunter. Die Designerschuhe an seinen Füßen sind auf Hochglanz poliert. Obwohl er straff auf die Dreißig zugeht, ist er um keinen Tag gealtert. Ich freue mich riesig, dass er in so guter Verfassung ist. Das letzte Mal, als wir uns sahen, fiel er mir blutüberströmt in die Arme. Sein Leibwächter hatte ihn aus der Schusslinie bringen müssen, während Toni und ich zurückblieben, um ihnen und den anderen Überlebenden den Rücken zu decken. Er ist also durch gekommen und führt noch immer seine Clan, dann wird dieses Treffen vielleicht nicht ganz so steif, wie ich befürchtet hatte. Ich gehe ihm für eine Begrüßung entgegen, wir fallen uns in die Arme und geben uns gegenseitig einen kräftigen Schlag auf den Rücken. "Du siehst gut aus", freue ich mich und gebe ihn frei. "Das macht der teure Anzug." Er lacht und zieht sein Sakko zurecht, dann mustert er mich von oben bis unten. "Aber du siehst echt scheiße aus." Dass er immer so gnadenlos ehrlich sein muss. "Die vergangenen fünf Jahre waren hart und die letzte Nacht habe ich kaum geschlafen", entgegne ich lediglich. "Du musst mir alles darüber erzählen! Wo du gewesen bist und so weiter." Der Bandenchef legt mir seinen Arm freundschaftlich über die Schulter. Seine Stimme überschlägt sich und noch bevor ich etwas entgegnen kann, spricht er weiter: "Wenn du jetzt wieder da bist, heißt das, wir können bald wieder ein paar bei dir heben und ein bisschen zocken?" Er ist unmöglich! Ist das wirklich sein einziger Gedanke, wenn er mich sieht, die Partys und das Glücksspiel in meinem Lokal? "Wenn du das Geld für den Wiederaufbau hast, gern", entgegne ich belustigt. "Ach komm mir bloß nicht mit Geld! Wer kam eigentlich auf die hirnverbrannte Idee die Prohibition aufzuheben? Du ahnst nicht, wie viele Firmen sich in mein Geschäft reindrängen. Wenn das so weiter geht, kann ich mir bald ein neues Standbein suchen." Gemeinsam laufen wir die Stufen zum Anwesen hinauf. Ich öffne uns die Tür und wir treten ein. Diego redet noch immer wie ein Wasserfall: "Ich hatte eigentlich vermutet Aaron will mich wegen dem Ende der Prohibition sehen. Ich habe mich schon auf einen langweiligen Tag eingestellt." "Das ging mir genauso. Ich bin heil froh, dass du noch die Luca führst. Mit dir kann man wenigstens anständige Geschäfte machen, im Gegensatz zu Gio ..." Der Name des vierten Clanchefs bleibt mir im Halse stecken, als er direkt vor uns auftaucht. Der stattliche Italiener ist Mitte fünfzig, er trägt einen Bart über Kinn und Unterlippe und zieht seine buschigen Augenbrauen tief ins Gesicht. Ich kann den Kerl nicht ausstehen und sehe ebenso grimmig zurück. Seit ich mit meinem Clan zu einem der großen vier aufgestiegen bin, versucht er mir das Leben schwer zu machen und mich bei jeder Gelegenheit vor Aaron bloß zustellen. Auch gegen Diego wettert er nur all zu gern. Wir sind ihm zu jung und er traut uns diese hohe Position einfach nicht zu. Sollte ich jemals die Adoptionsurkunde unterzeichnen, wird er mein größtes Problem sein. "Dann bist du also der Grund für das Treffen?", raunt er und macht auf mich einen genervten Eindruck. Er hasst es vor zehn Uhr auf den Beinen sein zu müssen. "Sieht so aus!", entgegne ich ihm schnippisch. "Dass du es wagst hier aufzukreuzen, nach so vielen Jahren. Was willst du überhaupt hier? Du hast nicht mal mehr nen Clan, den du vertreten könntest." Ich gehe an ihm vorbei, während ich ihm entgegne: "Stell keine so dummen Fragen, wenn du die Antwort schon kennst!" Ich habe keine Lust mit ihm zu diskutieren. Die Wölfe baue ich schon wieder auf, da braucht er sich keine Sorgen machen. Während ich Giovanni hinter mir lasse, eilt Diego mir nach, er hat ein breites Grinsen auf den Lippen und dreht sich beim Laufen nach Giovanni um. "Jetzt schaust du dumm aus der Wäsche was? Damit kannst du deinen Platz als Aarons Liebling ein für alle Mal vergessen." Warum muss er unbedingt damit anfangen? Es ist ein offenes Geheimnis, das Aaron mich den anderen dreien vorgezogen hat. Diego kommt damit klar, doch Giovanni hat sich stets Chancen für sich selbst ausgemalt, einmal der Pate der Locos zu werden. "Übertreib's nicht! Er hasst mich schon genug", mahne ich, doch der Chef der Luca lässt sich den Mund nicht so einfach verbieten. "Ach lass mir den Spaß! Endlich habe ich mal wieder etwas Verstärkung. Du ahnst ja nicht, wie schwierig es mit Vincent und Giovanni allein war." Doch ich kann es mir sehr gut vorstellen. Die beiden sind gut doppelt so alt wie wir und haben schon immer auf uns herab gesehen. Gemeinsam war es kein Problem, ihnen die Stirn zu bieten, aber ganz allein hat sich Diego sicher nur schwer behaupten können. Giovanni folgt uns mit langsamen Schritten. Dass er nichts erwidert, macht mir Sorgen. Sicher wird er erst richtig loslegen, wenn wir mit Aaron zusammen sitzen. Ich stelle mich besser auf eine offene Konfrontation mit ihm ein. Wir folgen der Treppe hinauf in den ersten Stock. Aaron wartet auf der letzten Stufe auf uns, er begrüßt zuerst Giovanni und dann Diego mit einer herzlichen Umarmung und bedeutet ihnen dann, dass sie ins Besprechungszimmer vorgehen sollen. Mich hingegen nimmt er ohne Begrüßung zur Seite. Die Beiden sehen noch einige Male zurück, bevor sie schließlich hinter einer der Türen verschwinden. Erst als sie nicht mehr zu sehen sind, legt Aaron sein Hand auf meine Schulter und beginnt zu sprechen: "Das war eine reife Leistung. Die Polizei geht davon aus, dass er sich die Überdosis selbst gesetzt hat. Besser hätte es nicht laufen können. Deinen Lohn bekommst du nach der Besprechung, wenn die anderen beiden weg sind." "Das trifft sich gut. Ich bin sowieso gerade pleite." Aaron schweigt einen Moment, er sieht mich durchdringend an. "Und du bist dir sicher, nicht Vincents Geschäfte übernehmen zu wollen?" Ich nicke. Drogenhandel war noch nie mein Ding, außerdem fühle ich mich nicht wohl dabei, den Clan zu übernehmen, dessen Boss ich auf dem Gewissen habe. "Nimm doch Diego an Vincents Stelle. Das Ende der Prohibition versaut ihm früher oder später eh das Geschäft und mit Tabakwaren dealt er schon lange. In den Drogenhandel arbeitet er sich schnell ein, er ist noch jung und kennt sich in der Szene aus." "Na schön, er wäre ohnehin meine zweite Wahl gewesen. Wie sieht es eigentlich mit deinen Geschäften aus? Hast du schon einen Plan, wie es mit den Wölfen weitergehen soll?" Ich schweige, um mir die Zeit zu verschaffen, darüber nachzudenken. Bisher hatte ich so viel um die Ohren, dass ich noch nicht dazu gekommen bin. Am liebsten würde ich ja an all das anknüpfen, was ich schon vor fünf Jahren aufgebaut hatte, nur dass ich mir nun keine Gedanken mehr um die Tarnung des Alkoholkonsums machen muss. "Ich würde gern meinen Club wieder aufbauen und das Glücksspiel zum Laufen bringen. Außerdem stelle ich dir meinen Clan wieder als Cleanertrupp und Geldeintreiber zur Verfügung." Aaron folgt meinen Überlegungen, während ein verstecktes Lächeln seine Mundwinkel umspielt. "Du hast noch eine andere Aufgabe für mich, oder?", frage ich gerade heraus. "Lass dich überraschen", schmunzelt er und setzt sich in Bewegung. Zufrieden lächelnd folgt er Giovanni und Diego ins Besprechungszimmer. Ich hasse Überraschungen, besonders bei einem Clantreffen, seufzend gehe ich ihm nach. Da sitzen wir also seit fünf Jahren mal wieder an einem Tisch. Giovanni Salvatore hat mir direkt gegenüber Platz genommen, sein Blick geht ständig von seiner Armbanduhr zur Tür. Er wartet auf Vincent. Die beiden haben oft geschäftlich miteinander zu tun gehabt. Eines von Giovannis Standbeinen ist der Menschenhandel und da Vincent ständig neue Jungen verbrauchte, war er bei ihm Stammkunde. Ich gehe jede Wette ein, dass Leandro von einem seiner Männer an Vincent verkauft wurde. Leider kam auch ich nicht umhin, ständig mit Giovanni zu tun zu haben. Neben dem Menschenhandel, stützt sich sein Clan auf den Vertrieb und die Beschaffung von Automobilen. In diesem Rahmen kam er oft mit einem Auftrag zu mir. Er spannte mich für Diebstähle ein, oder suchte in meinen Reihen nach einer Transportmöglichkeit. Ich besaß mehrere LKWs und Lastzüge und zudem die schnellsten Fahrer der ganzen Stadt. In meinem Bruder fand er zusätzlich einen fähigen Mechaniker, der die ein oder andere geklaute Karre umbaute oder Reparaturen vornahm. Zu Freunden hat uns das trotzdem nicht gemacht. Ich musste ihm mehr als einmal wegen der Bezahlung unserer Dienste hinterher laufen. Ohne Druck auf ihn auszuüben, nimmt er mich nicht für voll. Mit Diego De Luca hingegen, war ich von Anfang an auf einer Wellenlänge. Während der Prohibition leitete er mehrere illegale Brennereien und vertrieb so ziemlich alle Spirituosen, die es unter der Hand zu bekommen waren. In meinen Teestuben setzte ich ein Viertel seiner Ware um. Wir hatten beinahe täglich miteinander zu tun, allerdings weniger wegen den Geschäften, die meist von allein liefen, sondern weil er die Atmosphäre in meinem Club genoss. Diego braucht immer Action um sich herum und lässt keine Gelegenheit aus Geld auf den Kopf zu hauen und Partys zu feiern. Vincent Sivori hingegen hatte sich auf Drogen und Tabakwaren spezialisiert. Dabei war er selbst sein bester Kunde. Ein Teil seiner Zigarren und Zigaretten landete auch bei mir im Club, doch mit seinen Drogengeschäften hatte ich wenig am Hut. Die verwahrlosten Junkies wollte ich bei mir nicht haben. Ich duldete nicht mal betrunkene Gäste, wenn sie sich nicht benehmen konnten. Dabei war mir egal, um wen es sich dabei handelte. Wer zweimal für Ärger sorgte bekam zudem Hausverbot. Randalierende und ungepflegte Gäste waren einfach kein gutes Aushängeschild, schon gar nicht, wenn ich hochrangige Personen aus Wirtschaft und Politik zu Besuch hatte und das war beinahe täglich der Fall. Aaron ist der einzige von uns, der stehen geblieben ist. Er nimmt eine Tageszeitung vom Schreibtisch und wirft sie in die Mitte des Tisches. Wir alle lassen unseren Blick über die aufgeschlagene Schlagzeile schweifen. Es geht um Vincent und seinem vermeintlich, selbst gesetzten, goldenen Schuss. Er ist wirklich erstaunlich schnell gefunden worden und die Presse scheint auch nicht geschlafen zu haben. Es steht zwar nicht auf dem Titelblatt, aber der Artikel nimmt immerhin eine halbe Seite ein. Als wir uns alle einen groben Überblick über den Inhalt verschafft haben, sieht Giovanni mich vorwurfsvoll an. Auch wenn er unmöglich Beweise dafür haben kann, so bin ich mir sicher, dass er ahnt, was ich getan habe. Immerhin bin ich hier der einzige am Tisch, dessen Clan offiziell für Auftragsmorde zuständig ist. "Was schaust du mich so an? Vielleicht hat er sich ja einfach mit dem falschen Strichjungen eingelassen", komme ich seinem Vorwurf zuvor. "Tu nicht so unschuldig! Vincent würde nie ..." "Keiner von uns bedauert diesen Verlust, nicht mal du, Giovanni!", fährt Aaron dazwischen. Ernsthaft? Die beiden waren doch immer so dicke miteinander. Ich schaue fragend in die Runde, doch nur Diego nimmt meinen Blick war. Er beugt sich zu mir und flüstert mir zu: "Vincent stand mit mehreren tausend Dollar bei Giovanni in der Kreide." Ich nicke verstehend. Dann hatte dieser Scheißkerl also nicht mal die Kinder bezahlt, die er sich kommen ließ? "Wie auch immer. Sein Platz ist nun frei geworden und damit dem Ende der Prohibition die Geschäfte mit dem Alkohol schlechter laufen, wird von nun an Diego Vincents Aufgaben übernehmen." Diego schaut entsetzt, ihm ist sichtlich unwohl in diese Geschäfte verwickelt zu werden. Der Drogenhandel in New York ist hart umkämpft. Beinah 80 Prozent werden von den Red Dragons kontrolliert und die lassen sich nur ungern in ihre Geschäfte pfuschen. "Na dann, viel Spaß Kleiner!", meint Giovanni spöttisch. Diego schluckt schwer und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als er mich leise fragt: "Habe ich das dir zu verdanken?" Ich lächle entschuldigend. "Tut mir leid, aber ich stehe bei den Drachen auch so schon ganz oben auf der Abschussliste." "Dann wäre es darauf doch auch nicht mehr angekommen." "Gibt es irgendwelche Probleme damit?", will Aaron streng wissen. Diego holt Luft für einen Einspruch, doch Aaron spricht unvermittelt weiter: "Nein, gut! Dann weiter im Text. Dass Enrico mittlerweile wieder da ist, brauche ich euch ja nicht mehr sagen. Die Umstände seines Verschwindens haben mit seiner Genesung zu tun und sind hier nicht weiter von Belang." "Du hattest wohl zu viel Schiss Heim zu kommen, was?", bellt Giovanni in meine Richtung. Wie ich diesen Kerl hasse! "Ich kann dich ja mal ins Koma schießen, mal sehen, wie schnell du wieder auf die Beine kommst!", kläffe ich zurück. "Versuchs doch! Ich lass mich nicht so leicht töten wie Vincent!" "Ruhe! Herr Gott! Sind wir hier im Kindergarten?", ruft Aaron laut dazwischen. Er sieht mich und Giovanni warnend an. Ich schaue unter seinem strengen Blick hinweg und auch Giovanni wendet sich ab. Warum lasse ich mich auch immer von dem Kerl provozieren. Ich ärgere mich über mich selbst, so langsam müsste ich doch gelernt haben, dass es besser ist ihn einfach zu ignorieren. "Genau das ist unser Problem! Diese ständigen internen Streitereien machen uns schwach. Was auch immer ihr für ein Problem miteinander habt, kommt darüber hinweg. Ihr seid meine fähigsten Männer und alt genug zu verstehen, was auf dem Spiel steht." Giovanni und ich sehen uns schuldbewusst an. Stumm schließen wir vorerst einen Waffenstillstand, doch ich bin mir sicher, dass er nicht lange halten wird. Aaron erkennt an unserem Schweigen, dass wir uns von nun an zusammen reißen werden. Seine finstere Mine hellt sich etwas auf und er spricht weiter: "Ich will zwei neue Zweige ausbauen, in denen vor allem ihr beide noch enger als bisher zusammen arbeiten werdet." Er sieht von mir zu Giovanni. Er und ich tauschen unwillige Blicke aus. Mir hatte es schon gereicht, dass er ständig wegen irgendwelchen geklauten Karren zu mir kam. Ich habe keine Lust ihn auch noch wegen anderen Geschäften regelmäßig um mich zu wissen. Aaron bemerkt unsere kritischen Blicke, stört sich aber nicht weiter daran und erklärt uns seine Ideen: "Enrico, ich will, dass du in Eriks Waffenhandel einsteigst und dafür sorgst, dass kein Bordell der Stadt ohne unsere ausdrückliche Genehmigung arbeitet." "Ja, das passt zu dir! Du treibst dich doch sowieso ständig in seinem Bordell rum", lacht Giovanni süffisant. So viel zum eben geschlossenen Waffenstillstand. Ich will ihm gerade etwas erwidern, als Aaron mir zuvor kommt: "Genau deswegen ist er ja der richtige Mann dafür." "Wo sie Recht haben ...", stimmt Diego zu. Ich atme durch und schlucke meinen Protest hinunter. Zu meiner Schande muss ich mir eingestehen, dass ich mich in diesen Kreisen tatsächlich sehr gut auskenne. Trotzdem gebe ich eine Sache zu bedenken: "Erik ist neutral." "Dann ändere das! Wenn seine Waffen nur noch an uns fließen, bleiben weniger für unsere Feinde. Damit schwächen wir sie und stärken zugleich unsere eigenen Reihen." Ich bin mir nicht sicher, ob es so einfach funktioniert, aber wenn Aaron einmal etwas beschlossen hat, muss es umgesetzt werden. Erik wird alles andere als begeistert sein. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich ihn dazu überreden soll, aber Aaron wird keine Widerworte dulden. "Na schön und was stellst du dir mit den Nutten vor? Soll ich ein eigenes Bordell aufmachen?" Meine letzten Worte sind als Scherz gedacht, doch Aaron bleibt ernst, als er mich wissen lässt: "Ja, du funktionierst die Teestuben um und siehst zu, dass du die anderen Bordelle unter deine Kontrolle bekommst. Giovanni wird dafür sorgen dass du immer an ausreichend fleißige Mädel kommst." Na super, nun steige ich auch noch in seinen dreckigen Menschhandel ein. "Die finde ich auch ohne seine Hilfe!", werfe ich dazwischen und sehe Giovanni finster an, dieser verschränkt die Arme vor der Brust und will etwas erwidern, doch wieder kommt Aaron ihm zuvor: "Ihr werdet lernen müssen miteinander auszukommen", beschließt er. Wir diskutieren noch lange über alle Einzelheiten und je mehr ich über die Geschäfte der anderen erfahre, umso deutlicher erscheint mir meine Position in Aarons Plan. Sobald mein Club wieder aufgebaut ist, laufen dort alle Fäden zusammen. Neben dem Menschenhandel, der sich vor allem auf Prostitution spezialisieren wird, bleibt wie gehabt der Vertrieb von Automobilen und anderen Fahrzeugen. Die riesige Fabrik wird wie zuvor als Lager und Umschlagplatz dienen. Auch Fahrer, Diebe und Mechaniker werde ich stellen dürfen. Diego soll sein Spirituosengeschäft auf offizieller Basis und als Deckmantel weiter betreiben. Meine kompletten alkoholischen Getränke und Tabakwaren werden von ihm kommen. Damit hat Aaron uns einmal mehr geschäftlich aneinander gebunden und was noch schlimmer ist, die meisten organisatorischen Dinge bleiben an mir hängen. Ich habe keinen Schimmer, wie ich das alles auf die Beine stellen soll. Der Chef der Locos ist wahrlich ein Sklaventreiber. Mir qualmt der Kopf, als wir die Besprechung endlich beenden und alle wieder getrennte Wege gehen. Diego verabschiedet sich mit einer Umarmung und dem Versprechen mir beim Wiederaufbau des Clubs zu helfen, während Giovanni kommentarlos verschwindet. Als sie weg sind, lege ich meinen Kopf in die Hände und versuche all die neuen Aufgaben und Informationen zu verdauen. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst anfangen soll. Aaron hat mir zwar großzügige, finanzielle Mittel zugesichert, aber woher ich die Männer nehme, die alles umsetzen sollen, weiß ich nicht. Hoffentlich ist die Liste von Toni lang genug und unter den Namen auch verlässliche Mitglieder, mit denen ich etwas anfangen kann. Wenn ich daran denke ein Bordell aus dem Club zu machen, trauere ich jetzt schon um Angelo Fernandes. Einen so fähigen Türsteher wie ihn, werde ich nie wieder finden. Seufzend, lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Ich fühle mich wie erschlagen. Aarons legt mir seine Hand auf die Schulter. Als ich aufsehe, sieht er mich mit einem aufmunternden Lächeln an. "Du hast dich besser geschlagen als ich dachte. Jetzt schlafe erst mal ne Nacht darüber und mach dir nicht so einen Kopf. Du bist schon immer an neuen Aufgaben gewachsen und wirst deinen Wert einmal mehr beweisen, auch vor Giovanni." Ich lächle dankbar und stehe auf. Er hat recht, ich sollte nicht so viel Grübeln. Wenn ich wieder in der Fabrik bin, werde ich Toni in die Pläne einweihen und mich mit ihm beraten. Zusammen ist uns immer etwas eingefallen. Nach dem langen Sitzen muss ich mich erst mal strecken und recken. Ich habe total das Zeitgefühl verloren und sehe auf meine Armbanduhr. Es ist bereits vier Uhr am Nachmittag. Ich erschrecke. Haben wir wirklich sechs Stunden diskutiert? "Was hältst du von einem guten Glas Scotch, um auf deine Rückkehr anzustoßen, während Jester uns was zu essen macht?", schlägt der Pate vor. Dazu kann ich nicht nein sagen, mir hängt der Magen schon in den Kniekehlen. "Sehr gern!", erwiedere ich zustimmend. Gemeinsam verlassen wir das Besprechungszimmer und folgen dem Flur zur Treppe. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Tapeten gewechselt wurden und auch der Staub von den Möbeln und dem Geländer der Treppe verschwunden ist. Auf den Stufen liegt wieder ein samtener Teppich und ein blutjunges Dienstmädchen, das kaum älter als 19 sein dürfte, stellt gerade rote Rosen in eine Vase und zupft sie in Form. Aaron hat also meinen Rat befolgt und neues Dienstpersonal eingestellt. Ich will ihn gerade darauf ansprechen, als er schon von selbst erzählt: "Das mit dem Dienstmädchen war eine gute Idee. So knackige junge Dinger, bringen richtig Leben in die alten Wände." Elender Lustmolch! Aaron beobachtet die junge Frau und studiert eingehend ihre straffen Hüften und den großen Busen. Mir ist augenblicklich klar, nach welchen Kriterien er bei der Einstellung vorgegangen ist, denn der Strauß sieht aus, wie ein chaotisches Bild von Picasso, dafür quellt der Vorbau der jungen Frau aus ihrem knappen Dekoltee. Kein Wunder, dass er nie etwas zu meinem verschwenderischen Umgang mit Frauen sagt. Er ist selbst nicht viel besser. Ich muss über ihn schmunzeln und steige die erste Treppenstufe hinab. Auf halber Höhe kommen uns zwei Personen entgegen, die sich in einer angeregten Unterhaltung befinden: "Danke, dass du extra deine Geschäftsreise unterbrochen hast." Die glockenhelle Stimme lässt mich aufsehen. Es ist Judy, die in Begleitung eines Mannes die Treppe hinaufkommt. "Hey, ich bin doch immer für dich da, wenn du mich brauchst. Um was geht es denn jetzt, was du mir nicht am Telefon sagen konntest?" "Nun ..." Die beiden halten an, als sie uns kommen sehen. Der Blick des jungen Mannes bleibt an meinem hängen. Wir schauen uns stumm an. Sam, schießt mir seine Name in den Kopf, dicht gefolgt von einem stechenden Schmerz. Sams Augen weiten sich, er sieht mich entsetzt an und ich begreife im selben Moment auch warum. Es war sein Platz der leer wurde, am Tisch meiner Geburtstagsfeier. Er kam zu mir und lockte mich von der Tafel weg. Er war es, der mich und den ganzen Clan unseren Feinden auslieferte. "Enrico, aber das kann nicht ...", sagt er leise und erstickt fast an den Worten. Mein Blick verfinstert sich, mit jedem Moment, in dem diese Erinnerung in mir weiter aufkeimt, werde ich wütender. Er scheint zu ahnen, was ihm blüht, denn er zögert nicht länger und ergreift die Flucht. Ich brauche einen Augenblick länger als er, um zu reagieren. Als ich ihm nacheile, ist er schon die Treppe hinunter gerannt und läuft in den Flur, der Haustür entgegen. Er ist so schnell, dass sich der Abstand zwischen uns immer weiter vergrößert. Im Weglaufen war er schon immer gut. Sam reist die Haustür auf und verschwindet im Garten. Als ich die Tür erreiche, sehe ich ihn mit quietschenden Reifen in seinem Auto davon brettern. Dieser Hurensohn! Ich will zu meinem Motorrad rennen und ihm nachjagen, doch jemand hält mich am Arm fest. Wütend sehe ich zurück. "Was ist denn in dich gefahren?", Judy sieht mich erbost an. Ich reiße mich aus ihrem Griff los. Dafür habe ich jetzt keine Zeit! Als ich meinen Blick, auf die Straße vor dem Anwesen richte, ist dort kein Automobil mehr zu sehen. Ich weiß nicht mal, ob er nach links oder rechts abgebogen ist. Verdammt! Meine ganze Wut richte ich nun gegen meine Frau. Ich packe sie an den Armen und schüttle sie durch, als ich wissen will: "Warum hast du mich aufgehalten, verdammt! Wo wohnt dieser elende Hurensohn?" Judy sieht mich entsetzt an. Sie begreift nicht, was ich von ihr will, also werde ich lauter: "Sag mir sofort, wo er wohnt!" "79 North 11th Street in Brooklyn Apartment 3", stammelt sie eine Adresse. Ich gebe sie wieder frei und laufe die ersten Stufen hinunter, die letzten drei überspringe ich. "Enrico, was soll der Aufruhr?", fragt Aaron. Als ich auf mein Motorrad steige, tritt er neben seine Tochte, die sich ihre schmerzenden Arme reibt. "Setz Sam auf die schwarze Liste! Er war es, der uns an die Drachen verraten hat!", erkläre ich kurz und starte den Motor. Ungläubig schauen mich beide an. Judy eilt mir entgegen, sie ist völlig aufgelöst und panisch. Macht sie sich etwa Sorgen um den Scheißkerl? "Enrico warte, das kann gar nicht sein ... er!", versucht sie mich zu beschwichtigen, doch ich stoße sie von mir und fahre los. Er war es, da bin ich mir ganz sicher! Je länger ich über die Straßen heize, umso mehr Puzzleteile fügen sich in meinem Kopf zu einem Ganzen zusammen: Obwohl er stets einen auf guter Freund gemacht hat, habe ich seinen abgrundtiefen Hass immer gespürt. Er kam nicht darauf klar, dass sich Judy für mich entschieden hat. Was liegt also näher, als mich aus dem Weg zu räumen und die trauernde Witwe zu trösten. Schlimm genug, dass er sich auf diese Weise an mir rächen wollte, aber das er wissentlich so viele Unschuldige in den Tod gerissen hat, dafür knüpfe ich ihn auf und trenne ihm die Eingeweide einzeln aus dem Körper. Je länger ich fahre, umso weiter sortieren sich meine Gedanken. Ein Tier, das man in die Enge treibt, kann durchaus gefährlich werden. Sam wird wissen, was ich mit ihm mache, wenn ich ihn in die Finger bekomme. Er kennt mich gut genug. Ich sollte ihn in seiner Panik nicht unterschätzen. Anstatt nach Brooklyn zu fahren, rase ich zurück zur Fabrik. Ich werde mir von Toni helfen lassen und einen unauffälligeren Tod wählen, als den Blutigen, nach dem es mir so dürstete. Wegen dem Hurensohn gehe ich ganz bestimmt nicht in den Knast! Das Tor steht offen, so fahre ich ohne anzuhalten auf das Fabrikgelände. Ich hoffe inständig, Toni und Leandro haben ihre Aufgabe schon erledigt und sind wieder zurück. Je mehr Zeit vergeht, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Sam bereits aus dem Staub gemacht hat. Ein lauter Knall wird von den Wänden der Fabrik zurückgeworfen und verhalt in dutzende Echos. Ein zweiter und dritter folgen. Mir gefriert das Blut in den Adern. Das sind eindeutig Pistolenschüsse. Ich gebe Gas und greife nach der Neun-Millimeter an meinem Oberschenkel. Die Schüsse kommen vom Innenhof, also biege ich um die Kurve rechts am Fabrikgebäude vorbei. Von Weitem kann ich Toni und Leandro sehen. Mein Leibwähter führt die Hände des Kindes und zielt gemeinsam mit ihm auf eine leere Coladose. Sie drücken ab, wieder halt ein lauter Knall durch den Innenhof. Ich schüttle mit dem Kopf und atme erleichtert durch. Verdammt, was müssen die mich so erschrecken? Ich habe mir schon die schlimmsten Situationen ausgemalt. Meine Waffe lasse ich stecken und halte weiter auf die Beiden zu. Direkt neben Toni ziehe ich das Motorrad herum und hinterlasse eine lange Schleifspur auf dem Boden. Erschrocken weichen beide einen Schritt zurück und starren mich mit aufgerissenen Augen an. Ich lasse ihnen keine Zeit Fragen zu stellen, sondern fordere eindringlich: "Lad nach und steig auf!" Mein ernster Blick gilt Toni, der mich verwirrt mustert. Leandro sieht von ihm zu mir, er begreift genau so wenig, was los. "Jetzt mach schon! Ich erklär dir alles auf dem Weg." Erst nach meiner zweiten Aufforderung, lädt Toni seine Pistole nach und steigt zu mir aufs Motorrad. "Und was ist mit mir?" Leandro kann ich bei dieser Sache nun wirklich nicht gebrauchen, am besten ich gebe ihm eine Aufgabe, bis wir wieder zurück sind. "Du bewachst die Fabrik!", sage ich schnell. Etwas besseres fällt mir gerade nicht ein. Diese Anweisung wird ihn zumindest an die Fabrik binden, damit ich ihn später nicht suchen muss. Ohne weiter auf Leandros fragenden Blick einzugehen, gebe ich wieder Gas und verlasse das Gelände. "Warum bringst du dem Jungen das Schießen bei?", will ich auf unserem Weg wissen. Ich habe weder die Anweisung dazu gegeben, noch will ich das der Kurze den Umgang damit erlernt. "Er muss lernen sich zu verteidigen, wenn er bei uns überleben will! Wir werden nicht immer da sein, um ihm den Arsch zu retten!", brüllt Toni gegen den Fahrtwind an. Ich bin zwar noch immer nicht begeistert davon, kann aber sein Argument verstehen. Selbstverteidigung war stets das Erste, was ein neues Mitglied bei uns lernte. Leandro wird da keine Ausnahme bilden, nur müssen es unbedingt gleich Schusswaffen sein? "Wohin fahren wir überhaupt?", unterbricht Toni meine Gedanken. "Wir statten Sam einen Besuch ab!" "Wir fahren zu Hunter? Aber wieso?" "Als ich ihn heute bei Aaron gesehen habe, habe ich mich endlich wieder erinnert. Er ist die Ratte!" "Ernsthaft? Aber er hat doch gar kein Motiv!" "Ach nein? Ich hab ihm seine Verlobte ausgespannt, reicht das nicht als Motiv?", knurre ich. Zugetraut hätte ich ihm das damals auch nicht. Sam ist ein riesen Feigling, der sich vor jeder Konfrontation scheut. In einem offenen Kampf gegen mich anzutreten, hätte er nie gewagt, aber sich hinter meinem Rücken mit unseren Feinden zu verbünden, das passt zu ihm. "Willst du ihn umlegen?" "Worauf du einen lassen kannst!" "Warum fährst du dann nach Brooklyn?" Ich stutze. Hatte Judy nicht behauptet er würde in Brooklyn wohnen? Hat mich dieses Miststück etwa angelogen? Sie wusste das ich Sam nicht aus Spaß hinterher jage. Verdammt! "Dann sag mir den Weg, wenn du ihn weißt!" "Bieg hier ab!" Toni führt mich in den hintersten Winkel von Manhattan, in ein gehobene Wohngegend mit schmucken Apartments. Die Mieten hier würden meinen ganzen Monatslohn von Erik verschlingen. Wie kann es sich dieser Drecksack leisten, hier zu wohnen? Ich parke vor dem Wohnhaus, auf das Toni deutet, und sehe mich in der Straße um. Das Auto, mit dem Sam geflohen ist, ist nirgendwo zu sehen. "Bist du dir sicher, dass er hier her kommt?", fragt mich mein Begleiter. Ich steige vom Motorrad und setze die Brille ab. Sicher bin ich mir nicht, aber es ist der einzige Anhaltspunkt, den wir im Moment haben. "Nein, aber wenn er untertauchen will, wird er noch mal her kommen müssen." Geld und Klamotten braucht er auf jeden Fall. Toni geht voraus und führt mich durch das leere Treppenhaus, bis in den dritten Stock. Alle Appartementtür sind verschlossen, bis auf Eines. Seltsam! Kein Laut ist zu hören, weder aus dieser noch aus den anderen Wohnungen. Toni wird langsamer, er zieht seine Pistole und ich tue es ihm gleich. Er hält auf die offene Tür zu und späht vorsichtig in den Raum dahinter. Noch bevor ich ihn eingeholt habe, betritt er mit der Waffe voraus das Apartment. Auch ich werfe erst einen Blick in den Raum, bevor ich ihm folge. Alle Schränke stehen weit offen, Kleidung und wichtige Papiere liegen auf dem Boden verstreut. Während Toni die restlichen zwei Räume durchsucht, ahne ich bereits, dass wir zu spät gekommen sind. "Er ist schon weg!", bestätigt Toni meine Vermutung. "Verdammt!" Mit der Faust schlage ich hart gegen den Türrahmen. Sam ist nicht auf den Kopf gefallen. Ich gehe jede Wette ein, dass er bereits auf dem Weg zu den Drachen ist, um mich ein weiteres Mal zu verraten und seine eigene Haut damit zu retten. Eine dunkle Vorahnung überkommt mich. "Was machen wir jetzt?", will Toni von mir wissen und kommt zu mir. Ich schaue ihn ratlos an. Die Stadt ist viel zu groß, um einen einzelnen Mann zu finden, der nicht gefunden werden will. Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als von jetzt an doppelt und dreifach so vorsichtig zu sein und unser Augen und Ohren überall zu haben. "Von jetzt an, wirst du mir nicht mehr von der Seite weichen!", weise ich meinen Leibwähter streng an. Ohne ihn werde mich von nun an besser nicht mehr auf die Straße wagen. "Einverstanden!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)