Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~ von Enrico (Teil V) ================================================================================ Kapitel 13: ~Das Rudel~ ----------------------- Nun geh endlich ran! Noch immer höre ich nur das gleichmäßig Tuten im Hörer. Toni wartet vor der Telefonzelle und beobachtet die Straße, er ist ebenso angespannt, wie ich. Obwohl Sam die Drachen unmöglich so schnell mobil gemacht haben kann, rechnen wir beide ständig mit einem unfreiwilligen Zusammentreffen. "Bei Longhard", meldet sich Aaron am anderen Ende der Leitung. Ich bin froh gleich ihn am Telefon zu haben und nicht erst Jester. "Aaron, ich bin's, Enrico." "Verflucht! Wo steckst du? Was sollte dieser ganze Aufstand? Judy ist völlig fertig und heult sich die Seele aus dem Leib. Bist du dir wirklich sicher mit Sam?" "Meine Frau ist mit gerade ziemlich egal Aaron und ja ich bin mir sicher. Der Scheißkerl hat sich schon aus dem Staub gemacht. Ich gehe jede Wette ein, dass er bereits auf dem Weg zu Michael ist, um mich ein weiteres Mal zu verraten. Hast du noch irgendjemanden, denn du auf den Kerl ansetzen kannst?" "Ja, gewiss. Aber ich bezweifle, dass meine Leute ihn schnell genug finden werden." "Das befürchte ich allerdings auch!" Wir schweigen einen Moment lang. Weder Aaron noch ich können das Unvermeidliche aufhalten. Mir bleibt nur noch eines, was ich tun kann: "Aaron, kannst du mir einen Privattrainer besorgen? Einen der nicht zimperlich ist und sein Handwerk versteht. Ich muss so schnell wie möglich wieder in Form kommen." Robin, die einst meine Ausbildung und mein Training übernommen hatte, ist noch immer in Italien, es muss also jemand anderes her. "Ich habe da tatsächlich noch bei jemandem einen Gefallen gut. Allerdings ist der Mann sehr speziell und sein Training mörderisch!" "Um so besser!" "Gut dann meld ich mich bei dir, sobald ich alles in die Wege geleitet habe." Aaron schweigt wieder und auch ich atme durch. Die Dinge stehen alles andere als gut. Die nächsten Wochen werden über Leben und Tod entscheiden. "Ist Antonio bei dir?", will Aaron schließlich wissen. Ich sehe vor die Telefonzelle. Toni steht noch immer zwei Schritte von mir entfernt und beobachtet die Menschen auf dem Bürgersteig. "Ja", entgegne ich Aaron. "Gib ihn mir bitte!" Ich lasse Toni in die Zelle und reiche den Hörer an ihn weiter. Während die beiden miteinander sprechen, schaue ich mich auf der Straße um. Jeder Passant, ob alt oder jung, erscheint mir verdächtig. Wenn das so weiter geht, werde ich noch paranoid. Die Panik in mir versuche ich schon die ganze Zeit runter zukämpfen. Ein Tag wie meinen zwanzigsten Geburtstag, will ich nie wieder erleben müssen. Toni hängt den Hörer ein und kommt mit den Händen in den Hosentaschen zu mir. Die Schultern lässt er fallen, sein Kopf ist gesenkt, er wirkt niedergeschlagen. "Was wollte Aaron von dir?" "Ich soll ein Auge auf dich haben, mehr nicht." Ist das wirklich alles gewesen? Warum schaut er dann so betrübt. "Ist das alles?" Ich betrachte ihn kritisch. "Ja, ich komm nur mit der Gesamtsituation nicht klar. Ich will nicht das sich alles wiederholt." "Das wird es nicht! Dieses Mal sind wir ja gewarnt", sage ich und versuche vergeblich meiner Stimme die nötige Willensstärke zu verleihen, doch ich kann mir selbst kaum glauben. "Wir hätten deine Identität doch länger geheim halten sollen." Ich nicke flüchtig. Wahrscheinlich hätten wir so noch etwas mehr Zeit gehabt, doch nun ist es wie es ist. Den ganzen Nachmittag sitze ich nun schon in unserem Aufenthaltsraum am Esstisch und hänge über dieser verfluchten Liste. Die Namen darauf wirbeln durch meinen Kopf und ergeben immer wieder dasselbe Bild. Beinah meine ganze Führungsspitze wurde ausradiert. Michael ist nicht wahllos vorgegangen, als er meine Leute erschießen ließ. Ich habe keine brauchbaren Führungspersönlichkeiten mehr, die ich als Geschäftsführer einsetzen oder denen ich Verantwortung übertragen könnte. Auch sind jegliche Türsteher und Geldeintreiber getötet worden. Mit jedem Moment, den ich länger auf dieses Blatt starre, verzweifle ich ein bisschen mehr. Mir die Haare raufend, lasse ich den Kopf auf den Tisch sinken und lege meine Stirn auf dessen Platte ab. Ich habe einfach keine Lust mehr. Der Wiederaufbau des Midnightclubs erscheint mir schlichtweg unmöglich. "Was machst du da?" Ich schaue zur Seite, an den Rand des Tisches und direkt in die dunkelbraunen Augen Leandros, die mich neugierig mustern. Seine fröhliches Lächeln passt überhaupt nicht in das Chaos hier. "Verzweifeln!", entgegne ich lediglich und lasse meinen Blick noch einmal über die Tabelle schweifen, die ich erstellt habe. Die Spalte für Handlangerarbeiten und Botengänge ist gut gefüllt, auch ein paar Mechaniker, Fahrer und einen Barkeeper habe ich noch. Doch unter den Führungspersönlichkeiten steht nur ein einziger Name: Romeo Cortes Er war der Geschäftsführer des Midnightclubs und kümmerte sich um sämtliche Finanzen. Mathematisch machte ihm keiner etwas vor, zudem ist er ein hervorragender Menschenkenner und weiß sein Personal gekonnt einzusetzen. Er hatte die anfänglichen Krisen unseres Clubs immer wieder aufs Neue gemeistert und oft genug auf sein eigenes Gehalt verzichtet, um unser Personal bezahlen zu können. Das er am Leben ist, gleicht einem Wunder. Am Tag meines Geburtstages lag er mit Fieber im Bett. Er ist der einzige Trumpf, den ich noch habe, vorausgesetzt er will wieder für mich arbeiten. Sicher hat er längst ein neues Leben angefangen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er bereit ist noch einmal einen Club von Grund auf aufzubauen, wenn er bereits einen anderen übernommen hat. "Hier, trink was!" Toni stellt ein Glas Wasser vor mir auf den Tisch. Ich sehe erschrocken zu ihm auf. "Du vergisst schon wieder alles um dich herum. Du solltest auch langsam mal was Essen!" Er nimmt mir die Papiere aus der Hand und stellt stattdessen einen Teller mit Eintopf vor mir ab. Wo hat er das denn her? Wir haben gar keine Küche mehr und mir ist nicht mal aufgefallen, dass er weg war. "Iss und vergiss den Kram mal! Du wirst doch noch verrückt dabei. Außerdem wissen wir nicht mal, wer sich uns wieder anschließt. Warte doch erst mal das Treffen ab." Toni reicht mir einen Löffel. Ich nehme ihn seufzend an mich. Er hat ja recht, aber ich kann einfach nicht untätig herumsitzen. Das Warten macht mich erst recht wahnsinnig. "Wenn du unbedingt eine Aufgabe brauchst, dann lass uns den Aufenthaltsraum ausbauen. Da haben wir genug zu tun." Während ich esse, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Mein Konto hat Aaron mir inzwischen reichlich gefüllt, wir können also Baumaterial kaufen. Allerdings müssten wir uns dann erst einmal einen Lkw besorgen. Auch können wir nicht alle Arbeiten selbst machen, doch bis wir eine Baufirma finden, die gut und günstig arbeitet, vergehen auch wieder Tage. Einen Statiker sollten wir ebenfalls kommen lassen, der erst mal überprüft, wie sinnvoll ein Wiederaufbau ist. Schon wieder kreisen meine Gedanken. Das ist ja auch nicht viel besser, als sich über den Club den Kopf zu zerbrechen. "Darf ich?" Leandro greift nach den Papieren in Tonis Händen. Er überlässt sie dem Kind und setzt sich zu mir. Auch Leandro nimmt bei uns Platz und schaut konzentriert auf die Tabelle. Ob ihm wohl etwas Kluges dazu einfällt? Es ist ein Jammer, dass er nicht älter ist. Sein unbeugsamer Charakter ist genau das, was ich in diesen Zeiten brauche. Doch bis ich ihm wirklich Verantwortung übertragen kann, müssen noch etliche Jahre ins Land gehen. "Ich könnte noch ein paar Freunde fragen, ob sie bei uns mitmachen wollen", sagt der Knabe schließlich. Ich verschlucke mich augenblicklich an der Suppe und muss heftig husten. Bei Leandro klingt das so, als wenn wir ein Schulverein wären und neue Mitglieder für das Basketballteam suchen würden. Toni schmunzelt vor sich hin und sieht den Jungen belustigt an. Nur Leandro bleibt ernst und sieht irritiert zurück. "Was ist denn?" "Wie alt sind den deine Freunde?", frage ich und versuche den Jungen ernst zu nehmen, auch wenn ich mir die ganze Zeit vorstelle, demnächst einen Heim für Waisenkinder aufzumachen, wenn Leandro all seine Freunde hier anschleppt. "Ich glaube, so alt wie ihr und viele suchen schon lange einen Job." Überrascht schaue ich in die Kinderaugen. Leandro sieht in seiner altklugen Art zurück. Ich habe ihn einmal mehr unterschätzt. "Soll ich sie auch zum Treffen einladen?", fragt er mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen. Ich schaffe es nur zu nicken und ärgere mich noch einmal, dass Leandro erst zwölf Jahre alt ist. Die Woche bis zum Treffen haben wir gut genutzt: Drei Schlafzimmer sind fertig eingerichtet und komplett möbliert. Strom und Öfen sind im Aufbau, die letzten Leitungen werden in den nächsten Tagen verlegt, so müssen wir zumindest in unseren Schlafräumen nicht auf Licht und Wärme verzichten. Fließend Wasser hingegen wird noch auf sich warten lassen. Die Klempnerarbeiten kommen nur schleppend voran. Viele der Rohrleitungen sind so marode, dass sie neu verlegt werden müssen. Dafür ist der Flur vor den Zimmern frisch gestrichen und auch den Boden haben wir neu verlegt. Im Aufenthaltsraum hingegen sieht es noch genauso wüst aus wie zuvor. Lediglich in einem Viertel der riesigen Halle haben wir Parkettboden verlegt. Mehr werden wir wohl auch nicht mehr schaffen, bis die ersten Wölfe eintreffen. Dafür haben wir uns einen neuen Esstisch schreinern lassen. Er ist doppelt so lang, wie der alte, und zieht sich quer durch den halben Raum, er ist das einzige, das auf dem fertigen Teil des Bodens steht. Unzählige Stühle haben wir bereits herein getragen und immer noch sind nicht alle um den Tisch herum verteilt. Als der erste Gast eintrifft, sind wir noch immer dabei, sie vom Lastwagen zu holen. "Braucht ihr Hilfe?" Diego klettert auf die Ladefläche und noch bevor ich ihm antworten kann, hat er auch schon einen Stuhl in der Hand. Ich lächle ihn an. Er hat schon immer mit angepackt und war sich für keine Arbeit zu fein. Wenn man ihn so sieht, in seinem teuren Anzug, traut man ihm das gar nicht zu. "Was machst du denn hier?", frage ich ihn, während wir die Stühle in die Halle tragen. "Du hattest mir doch von eurem Treffen erzählt und das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Außerdem brauchte ich mal eine Ablenkung von dem Stress mit Vincents Leuten. Ganz ehrlich, bei dem herrscht keine Ordnung, weder in seinen Finanzen noch in der Aufgabenverteilung seiner Leute. Willst du vielleicht ein paar von den Spinnern abhaben?" Diego meint das scheinbar ernst, denn er sieht mich unvermittelt an. Ich hatte nur selten mit Vincents Clan zu tun und kenne seine Leute nur vom Hören. Wenn Diego sie nicht brauchen kann, sind sie sicher auch für mich wertlos, andererseits benötige ich jede helfende Hand. "Ich könnte 'fähige' Männer brauchen", sage ich und lege die Betonung auf fähig. "Na, damit kann ich nicht dienen." Diego lächelt resigniert, während wir die letzten Stühle an ihren Platz stellen. Auf dem Tisch liegt ein schneeweißes Tischtuch, über die ganze Länge sind Diegos edelste Spirituosen verteilt, die er mir am Tag zuvor vorbei gebracht hat. Bei einem guten Tropfen ließ es sich noch immer am besten übers Geschäft reden, außerdem habe ich etwas wieder gut zu machen. Immerhin habe ich meinen Clan ganze fünf Jahre sich selbst überlassen. Ich freue mich eben so sehr auf das Wiedersehen mit allen, wie ich mich davor fürchte. Im Hof kann ich die unterschiedlichsten Stimmen hören. Einige erkenne ich sofort wieder, andere kann ich nicht zuordnen. Begrüßungen werden ausgetauscht, Hände schlagen ineinander, es wird gelacht und gequatscht. Für einen kurzen Moment fühle ich mich in die Zeit vor fünf Jahren zurück versetzt. Auf einen Schlag kehrt das Leben in die alte Fabrik zurück. Schritte unzähliger Füße, sie kommen über den Korridor in die Halle. Ich stehe ihnen mit dem Rücken zugewandt und umklammere krampfhaft die Lehne des Stuhls vor mir. Mir stockt der Atem, während sich die Schritte in der Halle verteilen und schließlich ersterben. Ich spüre die Blicke all dieser Leute auf mir, all der Freunde, Verbündeten, Mitarbeiter, der Menschen, die mir vertrauten und die auf mich bauten. Ich zwinge mich zum Durchatmen und drehe mich um. So viele vertraute Gesichter, so lange ist es her. Es sind sehr viel mehr, als auf Tonis Liste stand. Die Nachricht muss sich von selbst verbreitet haben und wirklich jeder lebende Wolf scheint gekommen zu sein. Viele von ihnen habe ich von Kugeln getroffen zu Boden gehen sehen und doch sind sie jetzt hier. Sie alle wohlauf zu sehen, rührt mich zu Tränen. Mir wird erst in diesem Moment wirklich bewusst, wie sehr mir mein Rudel gefehlt hat. Schuld und Reue überkommt mich, nicht früher zurück gekommen zu sein und zwingt mich vor all diesen Menschen, die mir einmal untergeben waren, auf die Knie. Mit ausgebreiteten Armen rufe ich ihnen zu: "Willkommen zu Hause!" Für einen Moment wird es ganz still, dann setzten sich die ersten in Bewegung, alle anderen folgen. Bevor ich weiß wie mir geschieht, werde ich zurück auf meine Beine gezogen. Ich muss in so viele Umarmungen einfallen, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wem ich gerade begrüßt habe. In vielen Augen stehen die Tränen, doch alle haben ein Lächeln auf den Lippen. Nach der überschwänglichen Begrüßung verteilen wir uns alle am Tisch. Ich nehme in einem neuen Sessel an der Stirnseite Platz und lasse meinen Blick über all die Menschen schweifen, die gekommen sind. Vergeblich suche ich nach Romeos Gesicht. Das er nicht gekommen ist enttäuscht mich maßlos, doch ich habe ja schon geahnt, dass er inzwischen einen neuen Job gefunden hat. "Enrico, jetzt musst du uns aber ganz genau erklären, wo du warst und wieso du für tot erklärt wurdest!", ruft einer der Männer in meine Richtung, die restlichen stimmen ihm zu. Ein wildes Durcheinander an Stimmen entsteht, doch als ich zu sprechen beginne, wird es ganz still. Ich erzähle ihnen von den Anschlägen im Krankenhaus, von Robins Plan meinen Tod vorzutäuschen, den zwei Jahren im Koma und der Amnesie danach. Selbst von meiner Zeit in Italien erfahren sie das meiste, lediglich die Selbstmordversuche lasse ich aus. Hin und wieder wird eine Frage gestellt, doch bis ich die Geschichte zu Ende gebracht habe, bleibt es ruhig am Tisch. "Und jetzt bin ich seit gut drei Wochen wieder hier und, wie ihr sehen könnt, dabei unsere Heim und den Club wieder aufzubauen. Ihr habt sicher alle schon längst ein neues Leben angefangen, trotzdem möchte ich euch um eure Mithilfe bitten. Ihr seht ja, wie es hier nach all den Jahren aussieht, ohne euch ist dieses Mammut-Projekt einfach nicht zu stemmen." Wilde Diskussionen entflammen und es bilden sich zwei Lager bei Tisch. Die einen, die ihre Leben ohne große Nachfrage sofort wieder in meine Dienste stellen wollen und jene die sich bereits ein neues Leben aufgebaut haben. Still beobachte ich die Gespräche, die mal energisch, mal melancholisch sind. Ich brauche gar nicht viel tun, die Wölfe die sofort wieder in den Clan einsteigen wollen, leisten von sich aus Überzeugungsarbeit. Sie erinnern die anderen daran, wie gut es ihnen hier ging, wie hoch die Bezahlung und eng der Zusammenhalt war. Für jene die kein anständiges Dach über dem Kopf hatten, gab es die Möglichkeit in die Fabrik einzuziehen. Da ich viele meiner Leute auf der Straße aufgegabelt hatte, haben dieses Angebot etliche von ihnen in Anspruch genommen. Somit hatten sie neben ihrem Lohn auch freie Kost und Logis. Das ist mehr als die allermeisten von ihnen jetzt haben. Es dauert nicht lange bis gut drei Viertel von ihnen bereit sind, sich den Wölfen wieder anzuschließen, während das letzte Viertel noch immer bearbeitet wird. Bei der Wahl meiner Leute habe ich immer viel Wert auf Selbständigkeit und Motivation gelegt, das macht sich jetzt bezahlbar. Stolz sehe ich über den Tisch und betrachte jeden Wolf einzeln. Gedanklich teile ich ihnen schon Aufgaben zu. Drei Barkeeper sind unter ihnen, die sich in Schichten ablösen können, etliche gute Diebe, Mechaniker und Fahrer für Botengänge und Aufträge von Giovanni. Selbst einige fähige Dealer für die Kartenspiele sind unter ihnen. Nur an einem mangelt es mir nach wie vor: Führungskräfte. Trotz der guten Stimmung am Tisch drückt diese Tatsache meine Laune. Wenn ich doch wenigstens einen Geschäftsführer für das Midnights hätte. Ich werde mit der Koordination der ganzen Geschäfte und dem Gewinn neuer Kunden genug um die Ohren haben. Ich kann mich nicht auch noch um den ganzen Papierkram und das Personal des Clubs kümmern. Noch einmal schaue ich in die Runde, doch es ist keine Person dabei, der ich so viel Verantwortung anvertrauen kann. Eine Hand legt sich auf meine Schulter, irritiert sehe ich zu dem Mann auf. Toni steht neben mir, er beugt sich zu mir hinab und flüstert mir zu: "Komm mit raus! Wir haben noch einen Gast, der aber nicht reinkommen will." Ich stutze und runzle die Stirn. Wer soll das denn sein? Alle Wölfe sitzen doch hier. "Entschuldigt mich", verabschiede ich mich kurz von den anderen, doch die allermeisten sind so in ihre Gespräche vertieft, das sie mein Verschwinden nicht bemerken. Toni führt mich in den Innenhof. Ein junger Mann Anfang dreißig zündet sich gerade ein Zigarette an und tritt eine aufgerauchte am Boden aus. Ich muss zweimal hinsehen, um ihn zu erkennen. Romeo ist gealtert, seine Augen umrahmen tiefe Ringe, sein Kinn und die Oberlippe werden von dichtem Bartwuchs überwuchert, die Haare hängen ihm strähnig im Gesicht, als wenn er sie schon eine ganze Weile nicht mehr gewaschen hätte. Der graue Anzug hat etliche kleine Brandlöcher, er ist abgetragen und fleckig. Das ist nicht mehr der tüchtige Geschäftsmann, der etwas auf sich hielt. Was ist nur aus ihm geworden? Kein Wunder, dass er nicht reinkommen wollte. Kritisch betrachte ich ihn, als ich zu ihm gehe. Er sieht nur flüchtig zurück und unter meinem Blick hinweg, nervös zieht er an seiner Zigarette. Als ich ihn erreiche schlägt mir ein derber Geruch nach abgestandenem Schweiß und Alkohol entgegen, der billige Tabak seiner Zigarette rundet das verwahrloste Bild gänzlich ab. Ich reiche ihm dennoch die Hand und ziehe ihn zu einer herzlichen Umarmung an mich. Er schaut erst erschrocken, doch dann schlägt er mir eben so freundschaftlich auf den Rücken, wie ich ihm. Als wir uns voneinander lösen, kann ich in seinen müden Augen ein funken Zuversicht aufblitzen sehen. „Es stimmt also, du lebst!“, beginnt er mit zitternder Stimme. „Du siehst scheiße aus, was ist passiert?“, will ich wissen und umgehe absichtlich das langatmige Prozedere meiner Rückkehr. Romeos Zustand ist mir gerade wichtiger. Seine Lebensumstände scheinen sich dramatisch verschlechtert zu haben. „Das ist eine lange Geschichte.“ „Ich hab Zeit.“ Romeo brauch gar nicht erst versuchen sich zu drücken, ich will alles wissen und im Anschluss dafür sorgen, dass er wieder auf die Beine kommt. Ich brauche ihn dringender als je zuvor. Er sieht von Toni zu mir und zieht mit zitternden Händen an der Zigarette. Romeo sagt kein Wort, er fühlt sich sichtlich unwohl unter Tonis kritischem Blick, der ihn mit gerunzelter Stirn von oben bis unten abschätzig mustert. Wenn ich etwas erfahren will, muss ich Toni loswerden. „Ich kümmere mich schon um ihn. Geh du wieder rein und hab ein Auge auf die anderen!“, weise ich ihn an. Es ist sicher nicht nötig, den Clan zu beaufsichtigen, doch Toni begreift, dass ich mit Romeo unter vier Augen sprechen will. Er nickt und geht zurück in die Fabrik. „Lass uns ein Stück laufen“, schlage ich vor, als er weg ist und gehe los. Beim Laufen lässt es sich leichter sprechen. Romeo folgt mir eine Weile stumm und zieht immer wieder an seiner Zigarette, an der er sich krampfhaft festhält. „Ich hätte da sein müssen“, meint er irgendwann. Ich begreife nicht sofort, was er meint und sehe ihn fragend an. „Am Tag deines Geburtstages“, fügt er hinzu. Noch immer verstehe ich nicht, was er mir damit sagen will. Macht er sich etwa Vorwürfe? Glaubt er seine Anwesenheit hätte die Katastrophe verhindern können? „Ich hätte nicht nur Angelo als Türsteher einteilen sollen und …“ „Wir sind verraten worden“, werfe ich dazwischen. Romeo sieht mich verwirrt an. Bisher habe ich den anderen Wölfen noch nichts davon erzählt. Romeo ist der Erste. „Selbst wenn alle Türsteher Dienst gehabt hätten, wir hätten es nicht verhindern können.“ „Aber wer sollte so etwas tun?“ „Sam Hunter“, erkläre ich nur kurz. „Diese feige Spinner?“ Ich nicke. „Nach dem er mich los geworden ist, hatte er bei Judy freie Bahn.“ „Ja, ich hab gehört, dass die beiden nach deinem Tod zusammen gekommen sind. Hast du ihn schon ...“ Romeo spricht nicht weiter, er hat einen Mord noch nie ausgesprochen. „Nein, er ist mir entwischt“, gebe ich seufzend zu und verdränge den Gedanken an die Konsequenzen. Wir laufen eine Weile schweigend nebeneinander über den großen Innenhof. Romeo betrachtet durch die Fenster die bekannten Gesichter am Tisch. Sein Blick wird wehmütig. „Ich habe den Club nach deinem Tod schließen müssen“, beginnt er zu berichten. Ich sehe ihn schweigend an und warte darauf, dass er von allein weiter spricht, „Alles ging seit dem den Bach runter und die Wirtschaftskrise macht alles noch schlimmer. Niemand brauchte einen Mann der 'nen Club leiten kann. Hier und da habe ich mich als Buchhalter durchgeschlagen, doch der Lohn reichte oft nur für das Nötigste. Letztes Jahr hat die Firma schließen müssen, für die ich gearbeitet habe, wie so viele andere zur Zeit auch. Nun was soll ich dir sagen? Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen und seit dem sitze ich auf der Straße und schlag mich mit betteln durch.“ Das ist bitter! „Um das auszuhalten trinkst du oder?“, frage ich vorsichtig nach. Seine Fahne kann ich bis zu mir riechen und das obwohl uns gut eine Schrittlänge trennt. „Nun es ist einfacher geworden an den Fusel ran zukommen, seit die Prohibition aufgehoben wurde. Da kann sich sogar ein armer Schlucker wie ich, 'ne Flasche billigen Wein leisten.“ „Hör auf mit dem Scheiß, so kann ich dich nicht gebrauchen!“, sage ich streng. Romeos Augen weiten sich, er sieht mich ungläubig an. „Du willst mich einstellen? So wie ich jetzt bin und aussehe?“ Ich schüttle den Kopf und rümpfe die Nase. „Nein, so nicht.“ Aus meiner Hosentasche ziehe ich meine Geldbörse und hole einen zwanzig und einen zehn Doller Schein heraus. „Hier nimm! Werde nüchtern, geh irgendwo duschen, kauf dir was Anständiges zum Anziehen und komm wieder her. Ich brauch dich als Geschäftsführer, nicht als Bettler.“ Romeo wagt es nicht nach den Scheinen zu greifen. Seine Augen werden nur immer größer, während sein Mund ihm offen stehen bleibt. „So viel? Bist du verrückt geworden? Das kann ich nicht annehmen.“ Er wird es annehmen müssen. Ich drücke ihm das Geld einfach in die Hand. „Wenn's dir so schwer fällt, dann sehe es als ersten Lohn an. Ich kann wirklich nicht auf dich verzichten. Komm wieder auf die Bein, verstanden?!“ Er atmet tief durch und blinzelt die Tränen weg, die ihm in die Augen steigen. Dann umarmt er mich innig. „Danke, danke! Ich werde dich sicher nicht enttäuschen.“ Ich rümpfe angewidert die Nase. Sein Geruch ist wirklich nichts für schwache Nerven. Ich schiebe ihn rasch von mir und sehe ihn dabei streng an. „Boar Romeo geh dich waschen und zieh dir frische Klamotten an. Ehrlich! Du stinkst wie ein ganzer Schnapsladen.“ Er sieht mich verlegen an und kratzt sich am Hinterkopf. „Tut mir leid“, stammelt er. Romeo verschwindet wenig später, um meiner Anweisung nachzukommen. Ich schaue ihm noch eine Weile hinterher. So schnell konnte es mit einem Menschen bergab gehen. Bisher hatte ich immer das Glück von Menschen umgeben zu sein, die mich in Notsituationen auffingen. Romeo hatte niemanden. Die letzten Jahre waren sicher hart für ihn. Nie hätte ich damit gerechnet, dass jemand wie er keine Anstellung finden würde. Doch umso besser für mich. Hoffentlich fängt er sich rasch, dann ist zumindest das Problem um die Geschäftsführung des Clubs gelöst. Zufrieden kehre ich zu den anderen zurück. Den Abend und die ganze Nacht hindurch, stoßen wir auf die alten Zeiten an und diskutieren über die Zukunft. Als die letzten Wölfe den Heimweg antreten, ist es weit nach sechs Uhr morgens und wir drei wanken mehr schlecht als recht in unsere Betten. Selbst Leandro hat zu viel getrunken und läuft in Schlangenlinien seinem Zimmer entgegen. Bei der ganzen Aufregung haben weder Toni noch ich darauf geachtet, was er tut. Ich sehe dem Kind kopfschüttelnd hinter, als er mehrere Male vergeblich nach der Klinke greift. In ein paar Stunden wird er das mächtig bereuen. Schmunzelnd wanke ich in mein Zimmer und ahne, dass es mir auch nicht viel besser gehen wird. Zwei Wochen sind vergangen und die Fabrik ist wieder voller Leben. Neben Romeo sind auch noch zwanzig andere Clanmitglieder bei uns eingezogen. Die Aufräumarbeiten gehen langsam voran. Fließendes Wasser gibt es inzwischen wieder und auch der Aufenthaltsraum nimmt Gestalt an. Der Boden ist komplett verlegt und die Wände neu verputzt worden. Dafür hängen noch überall offene Verkabelungen herum. Die Elektriker werden noch etliche Wochen beschäftigt sein, bis es in der ganzen Fabrik wieder Strom gibt. Ich bin heilfroh, dass wir viele Dinge selbst machen können. Aarons Geld wird nicht ewig reichen und mit dem Ausbau des Clubs im ersten Stock haben wir noch nicht einmal begonnen. Um wenigstens ein paar Einnahmen in dieser Übergangsphase zu haben, ließ ich im späteren Club etliche Spieltische aufstellen. Gegen die künftigen Dealer spielte ich selbst, um zu sehen, ob sie ihr Handwerk noch verstanden. Verluste können wir uns jetzt nicht leisten. Neben dem Glücksspiel bin ich auch immer öfter gezwungen für Giovanni Aufträge zu erledigen. Er besorgte uns drei neue Lastwagen und einen Lastzug, im Austausch dagegen verlangte er etliche ausgesuchte Automobile, die wir nicht nur klauen sondern auch gleich umbauen sollten. Doch all unsere Einnahm decken noch lange nicht die laufenden Kosten. Ohne Romeos Rechenkünste und seinen alten Kontakten zu Bau und Rohstofffirmen, wäre ich schnell mittellos gewesen. Trotzdem geht es voran, wenn auch nur langsam. Neben dem ganzen Stress des Wiederaufbaus, bleibt nur wenig Zeit, mich um meine Fitness zu kümmern. Meine verletzte Schulter brauchte die letzten Wochen, um auszuheilen und so entschieden Aaron und ich, dass es erst jetzt Sinn machen würde, mit dem Training zu beginnen. Er hatte einen Termin für mich bei seinem Bekannten gemacht. Morgen soll ich das erste mal zu ihm gehen. Um nicht gänzlich unvorbereitet dort aufzutauchen, stehle ich mich schon den ganzen Tag von meinen Aufgaben davon und versuche mich an Klimmzügen und Liegestützen. Doch meine Bemühungen sind lächerlich. Mehr als zehn Liegestütze und fünf Klimmzüge am Stück bekomme ich nicht mehr hin. Ich hasse mich dafür und versuche es immer wieder aufs Neue, selbst als meine Muskeln schon zittern und mich meine Kräfte bei jedem einzelnen Liegestütz verlassen. Das mörderische Training, von dem Aaron gesprochen hat, werde ich niemals durchhalten. Völlig außer Atem bleibe ich schweißüberströmt am Boden liegen. Ein leises Klopfen ist an der Tür zu hören, ich nehme es kaum war. In meinen Ohren rauscht das Blut und mir wird immer wieder schwarz vor Augen. Ich habe es eindeutig übertrieben. Morgen werde ich mich vor Muskelkater nicht mehr rühren können und vor meinem neuen Trainer eine noch schlechtere Figur machen. Die Tür öffnet sich und Leandros dunkle Gestalt schaut durch den Schlitz ins Zimmer. Ich versuche mich wieder aufzurichten, doch meine Arme zittern so sehr, dass ich gleich wieder zusammen sacke. „Was machst du denn da?“, will der Junge von mir wissen. „Ich versuche zu trainieren“, sage ich belustigt und schaffe es mich wenigstens hinzusetzen und mich an die Rückwand des Bettes zu lehnen. „Da machst du irgendetwas falsch“ Klugscheißer! Ich schmunzle über Leandros Worte und atme einige Male tief durch, bis sich mein Atem allmählich beruhigt. Leandro steht noch immer in der Tür und sieht sich suchend in meinem Zimmer um. „Was willst du?“, frage ich ihn, als er nicht von allein den Grund seines Kommens nennt. „Hast du Toni gesehen? Er wollte mit mir schießen üben, aber das war schon vor zwei Tagen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.“ „Ich weiß auch nicht wo er steckt.“ Er war einfach verschwunden. In all dem Trubel um den Wiederaufbau, habe ich nicht mal gemerkt, dass er gegangen ist. Ich bin mir zwar sicher, dass er mir gesagt hat, wo er hin wollte, aber ich habe ihm nicht wirklich zugehört. Seitdem ist er verschwunden. Es ist zwar nichts ungewöhnliches, dass er sich mal für ein zwei Tage davonstielt und seinen eigenen Geschäften und familiären Verpflichtungen nach geht, aber so langsam mache auch ich mir Sorgen. „Wenn er bis morgen früh nicht zurück ist, sollten wir ihn suchen“, schlage ich vor. Leandro nickt verstehend und wendet sich zum Gehen. „Wenn er wieder auftauchen sollte, sag mir Bescheid!“, rufe ich ihm nach. „Mach ich!“, kommt zurück. Dann bin ich wieder allein. Toni kann auf sich aufpassen, rede ich mir ein und versuche mich krampfhaft an das Gespräch zu erinnern, kurz bevor er verschwunden ist. Mir will einfach nicht einfallen, was er gesagt hat. Zu viele andere Wölfe standen bei uns und haben mich mit Fragen und Informationen bombardiert, dass ich völlig überhört habe, was er mir sagen wollte. Ich muss mir angewöhnen besser zuzuhören, jetzt habe ich nicht mal einen Anhaltspunkt, wo ich mit der Suche anfangen soll. Um mir nicht weiter den Kopf zu zerbrechen trainiere ich weiter, bis mich auch meine letzte Kraft verlässt. Mehr schlecht als recht schleppe ich mich im Anschluss in mein Bett. Ich nehme mir vor nach Toni zu suchen, sobald die Sonne wieder aufgeht und schließe die Augen. Es ist nicht die Sonne, die mich aus meinem traumlosen Schlaf reißt, sondern zwei starke Arme, die sich um mich schlingen. Erschrocken öffne ich die Augen und sehe mich um. Es ist Toni, der hinter mich aufs Bett gestiegen ist und sich an mich schmiegt. Ich bin erleichtert ihn zu sehen, doch sein finsterer Blick irritiert mich. Ist irgendetwas passiert? „Was ist los?“, will ich von ihm wissen, doch er antwortet mir nicht. Seine Umarmung wird nur immer fester, während er nicht wagt mich anzusehen. Er gibt mich nicht einmal frei, damit ich mich zu ihm umdrehen kann. Was ist nur los mit ihm? Seit Wochen darf ich sein Zimmer nicht betreten und nun kommt er zum Kuscheln zu mir? „Was hast du?“, versuche ich es noch einmal. „Nichts, ich will nur bei dir sein“, sagt er emotionslos. Ich glaube ihm kein Wort. Etwas belastet ihn, etwas das ich nicht wissen soll. Vergeblich versuche ich mich aus seinem festen Griff zu befreien, um ihn ansehen und ihn zur Rede stellen zu können, doch ich schaffe es kaum den Kopf zu heben. Ich habe es mit dem Training eindeutig übertrieben. Mir tut alles weh. Seufzend lasse ich mich zurück ins Kopfkissen fallen. Wenn Toni nicht reden will, dann bringe nicht mal ich etwas aus ihm heraus. „Es tut mir leid“, flüstert er und ich glaube ein leises Schluchzen zu hören. „Was tut dir leid?“, will ich wissen, doch ich bekomme keine Antwort mehr. Wo auch immer Toni war und was er dort gemacht hat, es muss ihn seine ganze Kraft gekostet haben, denn er schläft bereits. Sein Brustkorb hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen und hin und wieder höre ich ihn leise schnarchen. Super! Was hat er wohl gemeint mit 'es tut ihm leid' und warum will er auf einmal bei mir sein? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)