Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~ von Enrico (Teil V) ================================================================================ Kapitel 21: ~Nach Hause~ ------------------------ Die Woche fliegt an mir vorbei, beinah die ganze Zeit verbringe ich hinter der Villa, auf der weißen Bank und beobachte das Meer. Geschlossen Räume ertrage ich mit jedem Tag weniger und bin froh, wenn ich ihnen irgendwie entfliehen kann. Nach dem Abendessen, ist mein erste Weg wieder durch die Verandatür hinaus ins Freie, doch dieses Mal bleibe ich nicht lange allein. Ich habe mich kaum auf der Bank nieder gelassen, da taucht Judy neben mir auf und setzt sich zu mir. Sie hat eine weiche Wolldecke in der Hand und legt sie sich und mir über die Beine. "Du solltest nicht immer hier draußen sitzen. Deine Atemwege sind schon angegriffen, du musst nicht noch 'ne Lungenentzündung riskieren." Ich seufze nur und gebe keine Antwort. Ihre Sorge erdrückt und nervt mich gleichermaßen. Eine Lungenentzündung ertrage ich im Moment besser, als die kleinen Räume. Wenn ich doch wenigstens wieder daheim wäre, mir fehlen die weitläufigen Fabrikhallen und die endlosen Flure. "Sag mal, wo wohnst du mit den Kindern überhaupt?", versuche ich das Thema zu wechseln. "Willst du mich los werden?" "Nein, so war es nicht gemeint. Ich kann sie nur schlecht mit zur Fabrik nehmen und wüsste gern, wo du mit ihnen hin gehst, wenn Raphael uns raus wirft. Ewig können wir hier nicht bleiben." Noch hat mein Bruder nichts gesagt und es ist für alle einfacher, wenn ich bleibe, bis Susens Behandlungen nicht mehr täglich nötig sind, doch früher oder später, wird er sein Haus wieder für sich haben wollen und dann? "Wir haben bei Sam gewohnt, aber er ist nicht mehr aufgetaucht und ohne sein Einkommen, kann ich die Wohnung nicht bezahlen. Ich denke ich werde bei meinem Vater einziehen. Er hat es mir angeboten und in seinem Haus stehen so viele Zimmer leer. Außerdem mag er es, seine Enkel um sich zu haben und nach Robins Tod, kann er etwas Ablenkung brauchen." Sicher ist Sam irgendwo im Hudson versenkt wurden, genau so wie diese Gorillas. Bei dem Gedanken muss ich unweigerlich schmunzeln. „Was sagt du dazu?“ "Find ich gut!", entgegne ich lediglich, ohne ihr wirklich zugehört zu haben. "Und was ist mit dir? Wo willst du wohnen?" "Ich hab mein Zeug in der Fabrik und fühle mich dort auch ganz wohl." Ihr seufzen verrät mir, dass sie mich lieber bei sich und den Kindern hätte, doch unter Aarons Aufsicht, fühle ich mich einfach nicht wohl. Auf Besuch ist es bei ihm ja ganz nett, aber auf Dauer ertrag ich seinen Befehlston nicht. "Willst du denn gar nicht mit mir und den Kindern zusammen wohnen?" Wenn ich ehrlich bin, nein. Ich bin ganz froh, wenn uns ein wenig Abstand trennt. Jetzt wo die Kinder alt genug sind, alles zu verstehen, ist es besser, wenn sie keinen direkten Einblick in meine Geschäfte haben. "Nein! Sie müssen nicht wissen, was ich so treibe." "Da hast du recht, aber deswegen kannst du doch trotzdem den Abend oder den Tag bei uns verbringen, wenn du gerade nichts zu tun hast." Da geht es ja schon los. Die Tage vor Tonis Verrat habe ich kaum geschlafen, weil es so vieles zu erledigen gab und ich war froh darüber, direkt vor Ort zu wohnen und nur wenige Schritte zu brauchen, um erschöpft ins Bett fallen zu können. Noch etliche Kilometer bis zu Aarons Villa zu fahren und dann noch meine Familie zu bespaßen, das hätte ich gar nicht geschafft. Ich ahne, dass es auch jetzt sehr schwer wäre, die Zeit dafür zu finden. Wenn ich sie bei mir in der Fabrik hätte, ließe sich sicher, das ein oder andere einrichten. Zwischen durch habe ich immer etwas Luft, aber erst hin und zurück zu fahren, dafür lohnt es sich nicht. "Würdest du wieder in die Fabrik ziehen wollen?", will ich wissen. "Hast du sie denn schon aufgebaut?" "Ich bin dabei." Judy überlegt, ihre Stirn legt sich in Falten, ihre Mandelaugen werden noch kleiner. Ernst sieht sie mich an, als sie wissen will: "Was für Geschäfte laufen dort denn?" Als sie mich unverändert fragend ansieht, gebe ich ihr eine kurze Zusammenfassung: "Glücksspiel, Hehlerei, Prostitution, das übliche." Judy schaut mich finster an, besonders bei dem Wort Prostitution betrachtet sie mich kritisch. "Ernsthaft? War das Geschäft mit den leichten Frauen deine Idee?" "Nein, die deines Vaters. Er glaubt ich wäre der richtige Mann dafür." Ich muss mir ein Schmunzeln verkneifen, als ich an das Clantreffen denke, bei dem Aaron mich vorgeschlagen hat und alle einstimmig dafür waren. "Und dorthin soll ich mit den Kindern ziehen? Bist du verrückt geworden? So wie ich dich kenne, reitest du die Weiber auch noch persönlich ein. Nein danke!" Bei Judys Worten wird mein Grinsen noch breiter. Das ist gar keine so schlechte Idee, ich müsste sie nicht mal dafür bezahlen und könnte mir die hübschesten heraussuchen. Doch Judys finstere Mine lässt mich sofort ein schlechtes Gewissen bekommen. Ist sicher keine gute Idee, mit Frau und Kindern im Haus. Ich versuche wieder ernst Gedanken zu fassen und mein Grinsen abzustellen, als ich ihr entgegne: "Ich will dich und die Kinder da auch nicht haben, aber ich weiß auch nicht, wie ich all die Arbeit und meine Familie unter einen Hut bekommen soll, wenn ich ständig von Brooklyn nach Manhattan pendeln muss." Judy steht wütend auf und wirft die Decke von unseren Beinen. Irritiert sehe ich sie an. "Ist das deine einzige Sorge, dass du einen weiten Fahrtweg hättest? Bedeuten wir dir denn gar nichts?", faucht sie. Ich wende meinen Blick von ihr ab und sehe in den Sonnenuntergang. Ihre Unterstellung ist mir nicht mal eine Antwort wert. Sie und die Kinder sind mir nicht egal, ich grüble doch schon die ganze Zeit über eine Lösung, mit der ich beides Verbinden kann - Arbeit und Familie. "Wir könnten den zweiten Stock ausbauen. Das große Geschäft läuft eh Nachts und da schlafen die Kinder bereits", schlage ich vor und gehe geistig die vielen Räume des zweiten Stockwerks durch. Daraus ließe sich eine wunderbare Wohnung zaubern, mit gigantischen Kinderzimmern. Ich könnte Schaukeln und sogar ein Klettergerüst bauen, selbst für eine Kuschelecke voller Plüschtiere und Kissen, wäre Platz. Die Wände könnten wir in knallig bunten Farben streichen. Während ich mir alles auszumalen beginne, breitet sich ein immer größer werdendes Lächeln auf meinem Gesicht aus. "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich über einem Puff wohnen will?", knurrt Judy und stemmt die Hände in die Seite, doch ich höre ihr gar nicht mehr zu. Ich plane die Räume und sehe Rene und Amys leuchtende Augen direkt vor mir. "Ich rede mit dir!", faucht Judy lauter. "Dann wohne ich mit den Kindern allein da, wenn du nicht willst", entgegne ich noch ganz in Gedanken. Meinen Plan will ich nicht verwerfen, dafür gefällt mir die Idee viel zu sehr. "Wenn du glaubst mir die Kinder wegnehmen zu können, dann hast du dich geschnitten." "Warum fragen wir nicht Amy und Rene, wo sie lieber wohnen wollen. In der staubigen Villa Aarons, oder auf einem großen Abenteuerspielplatz." "Sie wohnen da, wo es sicher ist!", schreit Judy so laut, dass ich sie wieder ansehe. Ihr Gesicht ist verbissen und kampflustig. Ich ahne, dass ich mit all meinen Argumenten nicht ihres entkräften kann. Egal was ich auch baue, bei meinen krummen Geschäften, sind sie dort nie sicher. "Wie du meinst. War 'ne blöde Idee von mir. Ich versuch hin und wieder bei Aaron vorbei zu schauen." Mehr kann ich ihr nicht versprechen. "Du bist echt unmöglich! Wie kann man nur auf so eine Idee kommen?", schimpft sie weiter. "Ich hab doch gesagt es war blöd von mir. Was willst du denn noch hören?" Sie kann sich ihre Vorwürfe sparen. Judy ist noch nie arbeiten gewesen und hat Familie und Job unter einen Hut bringen müssen. Außerdem war es ja nur eine Idee, kein Grund gleich ausfallend zu werden. "Warum habe ich dich überhaupt geheiratet?", faucht sie, wie immer, wenn ihr nichts mehr einfällt. Meine Antwort darauf ist ebenfalls die selbe wie immer. "Weil du schwanger warst und dein Vater keine unehelichen Enkelkinder wollte." "Du verdammtes Arschloch!" Wütend stampft sie zurück ins Haus und wirft die Verandatür nach sich zu. Endlich Ruhe! Ich schaue über die Schulter durch die Glastür und ihr beim Toben zu. Sie beschwert sich bei Raphael und Susen über mich, doch die Wände, Fenster und Türen dämpfen ihre Stimme so weit, dass ich nichts verstehen kann. Hin und wieder deutet sie in meine Richtung. Um sie noch weiter auf die Palme zu bringen, winke ich ihr zwischendurch und ernte ihren finsteren Blick. Warum liebe ich es nur so, sie in den Wahnsinn zu treiben? Vielleicht, weil sie mir wütend gefällt und ich den Versöhnungssex mit ihr liebe? Wobei ich zu letzterem weder die Lust, noch die Kraft habe. Trotzdem mag ich es ihr dabei zuzusehen, wie sie sich über mich aufregt. Wieder streift mich einer ihrer 'fall auf der Stelle tot um' - Blicke. Ich grinse sie fröhlich an und werfe ihr einen Handkuss zu, währen sie mir demonstrativ den Rücken zudreht. Wie schade dass ich nicht einfach zu ihr gehen und sie in unser Zimmer tragen kann. Wenn sie mich anschreit und verflucht, macht es noch viel mehr Spaß ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sie davon zu überzeugen, dass sie mir, egal was ich sage oder tue, nicht widerstehen kann. Susen und Judy diskutieren noch eine ganze Weile miteinander, während sie den Tisch abräumen und das Geschirr in die Küche bringen. Dafür kommt Raphael zu mir. Als er die Verandatür öffnet und mich ernst ansieht, vergeht mir das Grinsen. "Meinst du nicht das du's übertreibst? Nur weil du unter den Drachen zu leiden hattest, gibt dir das noch lange nicht das Recht, alle wie den letzten Dreck zu behandeln." Was hat das Eine denn mit dem Anderen zu tun? Ich benehme mich Judy gegenüber nicht anders als sonst, wir haben uns schon immer heftig gestritten und dann wieder vertragen. Mir würde direkt etwas fehlen, wenn ich sie nicht zur Weißglut treiben könnte. "Misch dich doch nicht immer in meine Sachen ein", sage ich nur und wende mich genervt ab. "Du bist hier in meinem Haus zu Gast und hier gelten meine Regeln." "Keine Sorge, ich bleib nicht mehr lange", entgegne ich stur. "Hörst du dir mal selbst zu? Du bist einfach ekelhaft im Moment." Ich zucke mit den Schultern. Mir ist ganz egal, was er und die Anderen von mir denken. Ich will auch gar nicht weiter über mein Verhalten diskutieren und wechsle einfach das Thema. "Hast du mal wieder was von Toni gehört?" Diese Frage habe ich die letzten Tage schon oft gestellt, doch ich bekomme jedes Mal die selbe Antwort: "Ist das alles, was dich interessiert?" "Du bist doch schuld daran, dass er abgehauen ist", fahre ich ihn an, doch Raphael stört sich nicht daran. Er schlägt mir auf die Schulter und erhebt sich. "Komm über ihn hinweg!", sagt er nur und geht. Ich hasse es, wenn er mich so stehen lässt und sehe ihm grimmig nach. Seit er sich aus dem Staub gemacht hat, habe ich nichts mehr von Toni gehört, ich habe nicht mal eine Adresse, geschweige denn eine Telefonnummer. Ich begreife nicht, wie er es so lange aushalten kann, nichts von mir zu hören. Ob er je wieder kommt? Der Gedanke daran, nicht zu wissen, wo er ist und wie es ihm geht, macht mich verrückt. Ich muss mich unbedingt davon ablenken, bevor ich was dummes mache. Sobald die Sonne aufgeht und sie alle fest schlafen, mache ich mich aus dem Staub und fahre nach Hause. Mein Motorrad steht bei Raphael in der Garage. Das letzte Mal, als ich ihn besuchte, habe ich es da gelassen. Es hat in strömen geregnet und so fuhr ich lieber in Tonis Automobil mit. Ein Glücklicher Zufall. Ich fühle nach dem Schlüsselbund in meiner Hosentasche, mein Entschluss steht fest: Morgen früh bin ich hier weg! Ich bin noch lange nicht fit und Susen, Raphael, Jan und Judy werden alles daran setzen mich hier so lange wie möglich festzuhalten, doch mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich brauche etwas zu tun, um mich von all den Erlebnissen abzulenken. Ab Morgen werde ich mich einfach in die Arbeit stürzen. Zufrieden mit meinem Plan hebe ich die Decke vom Boden auf und wickle mich darin ein, dann mache ich es mir auf der Bank gemütlich. Es regnet nicht, also werde ich die Nacht draußen verbringen. Vielleicht finde ich hier ja wenigstens ein paar Stunden Schlaf, bevor ich aufbreche. Pünktlich mit dem Sonnenaufgang werde ich wach und blinzle in das erste Licht des Tages. Unter meinem Kopf spüre ich ein Kissen, das zuvor noch nicht dagewesen ist. Sie können es einfach nicht lassen, ganz gleich, wie scheußlich ich mich auch benehme. Nach der Nacht auf der harten Bank sind all meine Muskeln verspannt, als ich aufstehe, muss ich mich erst mal zaghaft strecken. Ein Stechen im Brustkorb lässt mich zusammen zucken. Zu viel Bewegung, verdammt! Ich lasse die Arme sinken und sehe gähnend hinaus aufs Meer. Es wird Zeit zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Hoffentlich ist nicht alles im Chaos versunken. Ich taste meinen Brustkorb ab, der Schmerz ist erträglicher geworden, die Brüche heilen langsam. Wenigstens über meine Wundheilung habe ich mir nie Sorgen machen brauchen. Die Decke falte ich zusammen und trage sie mit dem Kissen ins Haus, auf dem Sofa lasse ich beides fallen, dann laufe ich weiter bis zur Küche. Ob noch etwas vom Abendbrot übrig geblieben ist? Ich sehe in den Schränken nach, kann allerdings nichts weiter finden, als eine angebrochene Packung Kekse. Meine Familie hat Raphaels Vorräte aufgebraucht, ein Wunder das die Kekse überlebt haben. Ich zucke mit den Schultern und nehme die Packung aus dem Schrank. Als Wegzehrung wird sie reichen. Noch im Laufen schiebe ich mir den ersten Keks in den Mund. Bis ich die Tür zur Garage erreiche, habe ich schon den dritten vertilgt. Mit einem vierten im Mund greife ich nach der Klinke, als ich Schritte hören kann. "Haust du etwa schon wieder ab?", schimpft Rene. Erschrocken wende ich mich nach der kindlichen Stimme um und kann den Jungen, keine zwei Schritte von mir entfernt, sehen. Er schaut mich grimmig an und hat die Hände in die Hüften gestemmt. Verdammt, und ich hatte gehofft ohne schlechtes Gewissen verschwinden zu können. Was nun? Spontan reiche ich die Packung in seiner Richtung und frage nuschelnd, mit dem Keks im Mund: "Keks?" Renes Gesichtszüge entspannen sich nicht, er kneift die Augenbrauen zusammen. Was für ein seltsames Kind, dass man nicht mit Süßigkeiten bestechen kann. "Wo willst du hin?", fragt er ohne auch nur einen Moment weg zusehen. Seufzend nehme ich den Keks aus dem Mund, um antworten zu können: "Ich fahre zur Fabrik." Wir schweigen beide und ich kann die Enttäuschung in den Augen meines Sohnes lesen. "Willst du mitkommen?", füge ich schnell hinzu. Renes Augen weiten sich, er sieht mich erst überrascht dann fragend an, doch am Ende blickt er wieder finster drein. "Und Mama und Amy?" Schlimm genug, das mir Rene auf die Schliche gekommen ist. Amy und vor allem Judy kann ich jetzt nicht brauchen. Meine Frau würde mir nur einreden, dass ich mit den Rippenbrüchen nicht Motorrad fahren soll und das ich mich ausruhen muss. Wenn sie von meinem Vorhaben erfährt, komme ich hier nie mehr weg. "Ich habe aber nur dich gefragt. Willst du nicht mal was mit mir allein machen?" "Du willst mich doch nur mitnehmen, damit ich Mama nichts sage!" Das Kind durchschaut mich schnell, faszinierend. "Bis du bei ihr bist, bin ich zwei mal verschwunden. Such es dir aus, komm mit oder langweile dich hier. Mir egal. Ich werde auf jeden Fall fahren." Rene sieht mich unschlüssig an und blickt dann über die Schulter in den langen Flur, wo sich die Gästezimmer befinden. Er hat flinke Beine und ich werde nicht mal das Garagentor geöffnet haben, bis er mit Judy zurück ist. Ich nutze seine Unentschlossenheit und öffne die Tür. Ohne noch einmal zurück zu sehen betrete ich die Garage und stelle die Kekse auf dem Regal rechts ab, dann gehe zum Tor. Ich lege den Arm über meinen Brustkorb, um ihn zu stützen, dann schiebe ich das Rolltor nach oben. Es gelingt mir, ohne große Schmerzen, hoffentlich ist es bei der Fahrt nach Brooklyn auch so. Als ich zu meinem Motorrad gehe, sitzt Rene schon auf dem Ledersitz. Überrascht sehe ich meinen Jungen an, während er streng zurück schaut. Er will also doch mit? Ich habe fest damit gerechnet, dass er zu seiner Mutter rennt. "Jemand muss ja auf dich aufpassen", sagt er ernst. Ich kann einfach nicht anders, ich muss über seine Worte schmunzeln. Wirke ich den so schutzbedürftig auf ihn? "Das trifft sich gut, jetzt wo sich mein Leibwächter aus dem Staub gemacht hat", entgegne ich belustigt, doch Rene scheint die Vorstellung zu gefallen, mich beschützen zu dürfen, denn ein flüchtiges Lächeln huscht über seine Lippen. Ich steige hinter dem Kind auf das Motorrad, noch immer meinen Brustkorb abstützend. Ob es auch ohne geht? Ich trete den Ständer zurück und lehne mich nach vorn, um den Lenker zu greifen. Es zieht und sticht, aber bis zur Fabrik halte ich das aus. Schritte sind zu hören, reflexartig sehe ich durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Im Morgenmantel taumelt Judy durch den Raum. Unsere Blicke treffen sich, sie schaut verwundert von mir zu Rene, schließlich werden ihre Schritte schneller. Ich werfe ihr ein versöhnliches Lächeln zu, während ich den Schlüssel ins Schloss schiebe und Gas gebe. Nichts wie weg, bevor sie munter genug ist, um zu begreifen, was ich hier tue. Das Motorrad rollt los und nimmt Fahrt auf. Noch bevor Judy die Garage erreicht hat, sind wir von der Insel runter und verschwinden über den Strand zur nahen Straße. "Ich pass schon auf ihn auf und haue ihn, wenn er was dummes macht!", ruft Rene seiner Mutter zu, die ins Freie gelaufen kommt. Ich beobachte sie im rechten Rückspiegel, wie sie über den Steg läuft und schließlich stehen bleibt. Die Arme eng um den Morgenmantel geschlungen, der vom raune Wind durchweht wird. Das wird sicher einen rissen Krach geben, wenn wir uns das nächste mal sehen, aber meine Freiheit ist mir das wert. Ohne größere Zwischenfälle erreichen wird die Fabrik. Das Tor ist weit geöffnet, keine Menschenseele ist auf dem Gelände zu sehen, es ist verdächtig ruhig. Liegt das nur an der Urzeit oder haben sich alle Wölfe in meiner Abwesenheit aus dem Staub gemacht? Ich parke das Motorrad im Innenhof und auch dort ist es verdächtig still. Nur der frisch gemähte Rasen und die vom Unkraut befreiten Bodenplatten, lassen vermuten, dass in den letzten Wochen etwas getan wurde. "Was willst du denn hier?", fragt Rene, als ich vom Motorrad steige und erst einmal durchatmen muss. Meinen Arm schlinge ich wieder um meinen Oberkörper. Mir ist, als wenn sich ein tonnenschwerer Felsbrocken drauf gelegt hätte. Ich sollte in nächste Zeit besser ein Auto nehmen, aber bei Raphael gab es nur das Motorrad, den Schlüssel für sein Automobil hat er vorsorglich vor mir versteckt. "Nach dem Rechten sehen", entgegne ich meinem Sohn und schaue durch die Fenster ins Innere der Fabrik. Auch dort ist alles verwaist. Rene steigt nach mir vom Motorrad und sieht sich ebenfalls suchend um. "Aber hier ist doch seit Jahren nichts mehr los", sagt er und nimmt meine Hand. Erstaunt betrachte ich seine kleine Finger und anschließend sein Gesicht. Ist das Furcht in seinen Augen? Die Stille scheint ihm nicht zu behagen und auch ich habe ein ungutes Gefühl. Ich drücke seine kleine Hand und bereue fast ihn mitgenommen zu haben, als sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Bäume löst. "Enrico?" Die kindliche Stimme erkenne ich sofort wieder. Leandro! Er kommt langsam näher. Als er sich ganz sicher ist, dass ich es bin, wird er mit jedem Schritt schneller. Ich ahne das er mich umrennen will und halte die Hände weit nach vorn, um ihn abzubremsen. An den Schultern bekomme ich ihn zu packen und schaffe es gerade noch so, ihn von meinen Oberkörper fernzuhalten. Leandro schlingt trotzdem seine dünnen Arme um meine Hüfte und drückt mich eng an sich. Hat er mich denn so vermisst? Seine freudige Begrüßung lässt mich lächeln. "Ich dachte schon, du kommst nie wieder. Die anderen haben erzählt, dir wäre was schlimmes zugestoßen", schluchzt er. Also hat es sich herumgesprochen? Ich habe bisher nur mit Aaron telefoniert, da es in der Fabrik noch keinen Telefonanschluss gibt, aber er hat es sicher weitergeleitet. Ob es deswegen so still hier ist? "Unkraut vergeht nicht", entgegne ich Leandro und streiche ihm beruhigend über den Rücken. Rene weicht einige Schritte von uns zurück und betrachtet uns skeptisch. Seine eisblauen Augen mustern Leandro wild und anklagend. "Wer ist das?", will er in herablassendem Ton wissen. Ich schiebe Leandro von mir und stelle die Kinder einander vor: "Leandro, dass ist mein Sohn Rene. Rene, das ist Leandro." "Hallo, freut mich!" Mit ausgestreckter Hand geht Leandro auf meinen Sohn zu doch Rene sieht ihn auch weiterhin skeptisch an. Als dunkelhäutige Junge vor ihm stehen bleibt, weicht er einen Schritt zurück und macht keine Anstalten die Begrüßung zu erwidern. "Nimm deine dreckigen Pfoten weg, du Niger!", knurrt er. Spinnt er? Finster sehe ich meinen Sohn an. Leandro zieht seine Hand zurück, doch bevor er etwas sagen kann, mische ich mich ein: "Was soll der Mist Rene? Du wirst dich auf der Stelle entschuldigen!" "Nein! Ich denke gar nicht daran. Ich hasse alle schwarzen Menschen, die sind schlecht und widerlicher!" Jetzt reicht es mir aber. Ohne groß darüber nachzudenken hole ich aus und verpasse meinem Sohn eine Ohrfeige. Die Augen des Kindes weiten sich, während seine Hand an die getroffene Wange wandert. "So etwas will ich nie wieder von dir hören", schreie ich ihn an. In den eisblauen Augen sammeln sich Tränen. "Ich hasse dich!", schreit er zurück und läuft los. Seufzend sehe ich ihm nach. Warum hat dieses Kind nur einen so verdorbenen Charakter? Ob das meine Schuld ist? "Ist er immer so scheiße?", will Leandro von mir wissen. "Ja", entgegne ich und muss wieder seufzen. Ich weiß mir keinen Rat mehr mit dem Jungen. "Warte hier auf mich, ich geh ihm nach!" Weise ich Leandro an und setzte mich langsam in Bewegung. Rene ist bis zur anderen Seite des Innenhofes gerannt und setzt sich dort auf die Treppe. Er weint noch bitterlicher und reibt sich die Augen. Auf seiner Wange leuchtet rot mein Handabdruck. Als ich ihn erreiche, sieht er nicht auf. Ich setzte mich zu ihm und will in ruhigem Ton von ihm wissen: "Was hast du denn gegen schwarze Menschen?" "Geh weg!", schnieft er. Ich lege meine Arm über seine Schulter und ziehe ihn zu mir. Er drückt sich erst dagegen, doch als ich nicht nachgebe, vergräbt er seinen Kopf in meinem Schoss und weint bitterlich. Sacht streiche ich durch seine wuscheligen Haare. "Ich habe dich liebe, aber ich verstehe dich einfach nicht", seufze ich. Rene sieht auf und schaut mich fragend an. "Du hasst mich und du hasst die ganze Welt, aber warum? Du kennst Leandro gar nicht und trotzdem hältst du ihn für einen schlechten Menschen." Der Junge wischt sich mit dem Handrücken über die laufende Nase. "Ich mag die schwarzen Menschen nicht. So einer hat Amy weh getan und der Mann, der Lui erschossen hat und uns mitgenommen hat, war auch schwarz." So langsam beginne ich zu verstehen. "Hör mal Rene, es gibt auch genug schlechte Menschen, die eine weiße Hautfarbe haben. Leandro ist ein netter Kerl, lerne ihn doch erst mal kennen, bevor du dir ein Urteil bildest. Wenn du ihm ne Chance gibst, werdet ihr sicher Freunde." Renes eisblaue Augen mustern mich eindringlich, ich kann sehen, wie es in seinem Kopf arbeitet. Ob ich wenigstens einmal etwas in ihm bewegen kann? Während mein Sohn vor sich hin sieht, kommt Leandro zu uns. Das Warten ist ihm offensichtlich zu langweilig geworden. Mit den Händen in den Hosentaschen bleibt er vor uns stehen. Scheu sieht Rene zu ihm auf. "Entschuldige dich und sag ihm anständig guten Tag. Er beißt schon nicht", flüstere ich meinem Sohn zu. Der Junge löst sich von mir und reibt sich die letzten Tränen aus den Augen, dann steht er auf. "Tut mir leid!", stammelt er zaghaft und reicht Leandro die Hand. "Nenn mich ja nie wieder Nigger, sonst hau ich das nächste Mal zu", entgegnet der streng, doch mit einem Lächeln im Gesicht. "Das ist doch das Motorrad vom Chef!" "Stimmt, aber er kann doch unmöglich schon wieder auf den Beinen sein." Das hört sich nach meinen Leuten an. Ein Automobil parkt neben meinem Motorrad, während zwei Lastwagen gerade auf den Innenhof fahren. Aus dem Wagen sind zwei Männer gestiegen. In einem der beiden glaube ich Romeo zu erkennen. Sie schauen sich das Motorrad an und auch die Männer, die aus den Lastwagen steigen, versammeln sich darum. Ich freue mich riesig, sie alle wohl auf zu sehen. Ich stehe auf und gehe ihnen entgegen. "Ihr wisst doch, dass ich es nicht aushalte, untätig im Bett zu liegen!", rufe ich ihnen zu. Alle Blicke drehen sich mir zu, erst schauen sie erstaunt, dann schleicht sich in jedes Gesicht ein freudiges Lächeln. Sie kommen mir auf halbem Wege entgegen und verteilen sich um mich. "Wie geht's dir?" "Man, du hast echt mehr Leben, als eine Katze!" "Willkommen zu Hause!" "Schön das du wieder da bist!" Sie rufen alle wild durcheinander, jeder will mir die Hand reichen und mich einmal freundschaftlich drücken. Ich muss sie immer wieder bremsen, damit ihre Begrüßung nicht zu fest wird. Es tut unendlich gut ihre fröhlichen Stimmen zu hören und so herzlich begrüßt zu werden. Hier fühle ich mich hundert mal wohler, als in der Trauerstimmung bei Raphael und Susen. In die allgemeine Wiedersehensfreude mischt sich irgendwann die Hand meines Sohnes, mit der er nach meiner sucht. Sie zittert und greift meine fest und hilfesuchend. Von den vielen fremden Männern verunsichert, hält er sich stets im Schatten meiner Beine auf. Ich schmunzeln über ihn. Sonst hat er immer so eine große Klappe, aber jetzt ist er einfach nur das kleine Kind, dass er auch sein soll. Ich drücke seine Hand und sehe ihn aufmunternd an. So grob und gefährlich meine Leute auch aussehen mögen, zu meinen Kindern sind sie stets hilfsbereit und freundlich gewesen. Ob sie den Jungen wiedererkennen? Auch Leandro ist zu und gekommen. Mit den Händen in den Taschen seiner Hose beobachtet er uns. "Meinst du nicht, dass der etwas zu jung ist, um ein Wolf zu werden?" "Ja, Leandro ist ja schon ein halbes Hemd, aber der?" "Erzählt nicht so einen Mist. Seht doch mal richtig hin! Der ist seinem Vater doch, wie aus dem Gesicht geschnitten." "Ist das Rene?", will Romeo wissen. Ich nicke und ziehe den Jungen am Arm vor mich. Meine Hände lege ich auf seine Schultern. Scheu sieht das Kind in die vielen Gesichter, an die es sich unmöglich erinnern kann. "Die sind alle ganz nett, wenn man sie nicht ärgert. Sag Hallo!", schlage ich meinem Jungen vor, doch Rene schüttelt mit dem Kopf und dreht sich um. Schutzsuchend vergräbt er seinen Kopf in meiner Hose. Ich muss über ihn lachen und reibe ihm beruhigend über den Rücken. Das dieses freche und ungehorsame Kind, auch eine schüchterne Seite hat, gefällt mir. "Den kannst du wirklich nicht leugnen!" "Stimmt, der sieht aus, wie Enrico in klein." "Man ist der groß geworden." Romeo geht vor Rene in die Hocke. "Hey Kleiner, erinnerst du dich nicht mehr an mich? Wir haben zusammen Ball gespielt und du hast Bilder auf meine Rechnungen gezeichnet." Rene flüchtet sich wieder hinter mich und schaut misstrauisch in die Runde. Besser ich erlöse ihn von der allgemeinen Aufmerksamkeit und schneide eine neues Thema an: "Wie sieht's mit dem Wiederaufbau aus? Wie weit seid ihr gekommen?" "Du wirst es nicht glauben, aber das Lokal steht. Ich hab ein paar meiner Beziehungen spielen lassen und fast die komplette Einrichtung für nen Apfel und ein Ei bekommen. Ein Lokal in Manhattan hat dicht gemacht und alles verschleudert, die letzten Möbel haben wir gerade geholt." Meine Augen werden immer größer. In nur drei Wochen haben sie hier schon so viel erreicht? Und ich Dummkopf habe geglaubt, sie haben sich aus dem Staub gemacht. "Eigentlich wollten wir es komplett eingerichtet haben, bis du wieder kommst." "Konnte ja keiner Ahnen, dass du schon so schnell zurück bist." So viel Einsatz rührt mich. Ich habe mit Abstand den besten Clan der ganzen Stadt. "Ihr seid unglaublich! Ich will alles sehen! Lasst uns rein gehen!" Romeo geht voraus und schließt die große Eisentür für uns auf. Mit Rene an der Hand, folgen wir den Männern in die Fabrik. Romeo zieht seine Jacke aus und hängt sie über einen der etlichen Barhocker, die vor der mahagonifarbenen Theke stehen. Sie ist auf Hochglanz poliert, in den etlichen Regalen dahinter, stehen unzählige Gläser und Spirituosen. Diego hat seine edelsten Tropfen herbringen lassen, ich bekomme Lust mich quer durch das Sortiment zu trinken, so einladen wirken die unterschiedlichen Flaschen. Einige Tische sind schon fest mit dem Boden verschraubt und stehen verteilt in der Halle. Eine rote Ledercouch rahmt einen dieser Tische ein, die Anderen sind sicher noch auf den Lastwagen. Der Boden ist mit einem weichen Teppich ausgeschlagen, über den Tische hängen rote Lampen von der Decke, die den Raum bei Nacht sicher in eine angenehm warmes Licht tauchen werden. Es fehlt noch Deko und die restlichen Möbel, aber es hängen keine Verkabelungen mehr von der Decke, alles ist sauber verputzt, die Wände sind Tapeziert, nichts erinnert mehr an das Chaos, dass hier noch vor ein paar Wochen tobte. Meine Leute verteilen sich auf den Barhockern, währen Romeo hinter dem Tresen verschwindet und Getränke ausschenkt. Die Zapfanlage funktioniert also auch schon? "Jetzt musst du uns aber erzählen, was genau passiert ist. Aaron wollte mit den Einzelheiten nicht rausrücken", fordert Romeo und stellt ein Wiskyglas mit Scotch und Eiswürfeln vor mir ab. Er weiß noch immer, was ich am liebsten trinke. Es ist zwar noch früh am Morgen, aber bei dem Thema betrinke ich mich gern. Doch zuvor muss ich meinen Sohn loswerden. Diese Geschichte ist nicht für seine Ohren bestimmt. "Leandro, kannst du Rene die Fabrik zeigen?“ Der dunkelhäutige Junge nickt zustimmend, er winkt meine Sohn zu sich, doch der gibt meine Hand nicht frei. "Ich muss doch auf dich aufpassen", stammelt er unsicher. Ich gehe vor dem Kind in die Knie und schaue ihn eindringlich an. "Mir passiert schon nichts. Ich werde auch die ganze Zeit hier sein. Ihr amüsiert euch eine Weile und heute Abend fahre ich dich zu deiner Mutter." Rene ist nicht begeistert, aber er gibt meine Hand frei. Noch einmal betrachtet er mich zweifelnd, dann läuft er zu Leandro, der schon in der Tür steht und auf ihn wartet. Ich sehe den Beiden nach, bis sie im Innenhof verschwunden sind. Später werde ich mir noch Zeit für den Jungen nehmen. Als die Kinder verschwunden sind, setze ich mich an den Tresen und erzählen von der Entführung der Kinder, von Tonis Verrat und von den drei Tagen unter den Drachen. Sie alle lauschen so angespannt, dass man eine Stecknadel fallen hören kann. Hin und wieder wird ein Glas klangvoll auf dem Tresen abgestellt oder ein Fluch ausgesprochen. "Seltsam war nur, dass wir ungehindert entkommen sind. Ich bin mir sicher Michael hat uns absichtlich laufen lassen", beende ich die Erzählung. Die Männer sehen betreten auf den Tresen, jeder hängt einen Moment lang seinen Gedanken nach. "Und, was hast du jetzt vor?" "Ungeschoren lässt du sie doch nicht davon kommen, oder?" "Dieses ganze Pack gehört aufgehangen!" "Als Michael mich folterte habe ich ihm geschworen, ihn zu töten und den Schwur halte ich auch. Jeden anderen Drachen, der sich in unser Revier wagt, könnt ihr von mir aus umlegen, aber das Schwein gehört mir!" Klangvoll stelle ich mein Glas auf dem Tresen ab und deute Romeo an, dass ich noch einen Drink will. Er füllt mein Glas bis zur Hälfte. "Glaubst du wirklich, dass Sam das alles allein eingefädelt hat? So ein kleiner Fisch kommt doch nie an den Chef der Drachen ran. Schon gar nicht, wenn er aus unseren Reihen ist. Die knall'n ihn doch schon am Empfang ab." Romeo hat recht, obwohl ich bisher nur Sam im Verdacht hatte, weil sein Verrat der offensichtlichste war, macht das alles keinen Sinn. Er ist nicht der Typ, der so eine Intrige ganz alleine Spinnen und durchführen kann. Jemand zieht im Hintergrund die Fäden. "Ich glaube auch, das er nur Mittel zum Zweck war." Nachdenklich betrachte ich die braune Flüssigkeit im Glas und schwenke sie hin und her. Doch wer würde sonst noch von meinem Tod profitieren? "Hat sich Giovanni in meiner Abwesenheit hier blicken lassen?", frage ich in die Runde. Er ist der Einzige, der genug Einfluss und ein Motiv hat. "Ja, er hat versucht den Chef heraushängen zu lassen und wollte uns ständig in die Karten schauen. Hast du ihn etwa im Verdacht?", erklärt Romeo und schenkt sich selbst ein Glas ein. "Ja, ich bin ihm schon vom ersten Tag an ein Dorn im Auge. Er will Arons Nachfolger werden." "Soll er doch!", ruft einer der Männer dazwischen. Ich schaue den jungen Mann ernst an: "Aaron will mich dafür. Ich hatte die Adoptionspapiere schon in der Hand." Erschrocken und gleichermaßen erstaunt, werde ich von allen gemustert. "Du sollst der nächste Pate werde?" "Das erklärt einiges." "Hast du unterschrieben?" Romeo sieht mich besorgt an. "Nein, noch nicht!" "Wenn du's tust, was wird dann aus den Wölfen?" "Ich werde auch als Pate noch die Fäden hier ziehen, aber so langsam bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich mir wirklich noch mehr Feinde machen will." "Giovanni will aber auch keiner an der Spitze der Locos haben!", meint Romeo und trinkt sein Glas leer. "Stimmt, mit Enrico käme vielleicht endlich mal frischer Wind in den alten Laden. Bei der Wirtschaftslage, können wir unkonventionelle Ideen brauchen." "Außerdem darf Giovanni damit nicht durchkommen." Erstaunt sehe ich meine Leute an. Mit so viel Zuspruch habe ich nicht gerechnet. Nach allem, was passiert ist, tut mir ihr Vertrauen in mich einfach nur gut. "Na schön, was Giovanni kann, können wir besser. Er hat sich mit dem falschen Clan angelegt. Der Kerl kommt mir hier nicht mehr rein! Ich schließe mich mit Erik kurz, an Schlampen kommen wir auch ohne Giovannis dreckigen Menschenhandel. Damit konnte ich mich sowieso nie anfreunden und die geklauten Autos können wir auch allein verticken. Mal sehen, wie der alte Mann mit Konkurrenz zurecht kommt." Den ganze Tag schmieden wir Pläne und ich teile meinen Clan neu auf. Anstatt ständig Aufträge von Giovanni entgegen zu nehmen, werden wir selbst einen Handel mit Automobilen aufbauen, die Mechaniker, Fahrer und Diebe dafür habe ich, wozu also noch einen Zwischenhändler wie Giovanni mit durchfüttern. Ich tu ihm auch keine Gefälligkeiten mehr, ich lasse ihn ausbluten. Alles, was wir für ihn tun, wird er mir teuer bezahlen dürfen. Auch das Lokal baue ich ohne ihn auf. Erik hat genug Kontakte, ich muss ihn nur von meiner Sache überzeugen. Der Einzige der mir jetzt noch im Weg steht, ist Aaron. Wenn ich doch nur was gegen Giovanni in der Hand hätte, um den Paten zu überzeugen, aber ich kann nicht beweisen, das er der Drahtzieher hinter allem ist. "Solange ich nichts gegen Giovanni in der Hand habe, verhalten wir uns ruhig. Sammelt Informationen aus allen Ecken, bis wir seine Machenschaften beweisen können. Alles, was wir heute besprochen haben, läuft im Verborgenen, bis wir den Scheißkerl ans Messer liefern können." Diego für meinen Plan zu gewinnen, dürfte keine große Sache sein und jetzt, wo Vincent tot ist, steht Giovanni ganz allein da. Er wird noch bereuen sich je mit mir angelegt zu haben. Bis spät Abends sitzen wir zusammen. Als es dunkel wird, kommen immer mehr Mitglieder ins Lager zurück und jeder Neuankömmling muss erst einmal in die Pläne eingeweiht werden. Trotz allem ist die Stimmung ausgelassen und auch das Lokal ist inzwischen mit den restlichen Möbeln bestückt worden. Obwohl die Themen ernst bleiben, fühle ich mich sicher im Schutz des Clans. Rene und Leandro verstehen sich mit jeder Stunde besser. Als es noch hell war, spielten sie im Innenhof mit Stöcken und Steinen und kamen nur hin und wieder herein, wenn sie hungrig wurden oder Durst bekamen. Doch mit Einbruch der Dunkelheit sitzen sie bei uns und lernen die Kartenspiele, die es später auch in unseren Hinterzimmern geben wird. Im Laufe des Abends taut Rene auf und lässt sich beim Spielen Geschichten erzählen, von der Zeit, als er mit seine Schwester, seiner Mutter und mir hier wohnte. Die meisten Wölfe, die sich noch an meine Kinder erinnern können, staunen darüber, wie groß er geworden ist. Keiner von ihnen verliert in Anwesenheit meines Sohnes ein raues Wort, alle sind freundlich und zuvorkommend. Niemand würde jetzt noch die Mörder und Schläger, Diebe und Gesetzlosen in ihnen erkennen. Jeden von ihnen könnte ich ohne schlechtes Gewissen, das Leben meines Sohnes anvertrauen und wüsste sicher, dass sie ihn bis aufs Blut verteidigen werden. Für diese wenigen Stunden, ist alles wieder so, wie vor dem Überfall. Wie schade das Judy nicht hier einziehen will. Ganz gleich, was auch hinter den Kulissen abläuft, diese Männer und Frauen, sind wie eine große Familie. Ich kann mir kaum noch einen Grund vorstellen, warum es Rene und Amy hier nicht gut gehen sollte. Die Zeit vergeht so schnell, dass es längst zu spät ist, Rene zu seiner Mutter zu bringen. Mit dem Kopf auf meinem Schoss und meiner Jacke über sich, ist er bereits eingeschlafen. Diese eine Nacht kann er ruhig hier verbringen, immerhin gibt es in meinem Zimmer ein Bett und dort ist es auch ruhig genug, das er ungestört durchschlafen kann. Im Laufe des Abends, fallen auch mir irgendwann die Augen zu. Die letzten schlaflosen Nächte fordern ihren Preis, der Kopf fällt mir in den Nacken und ich eindöse ein. Eine warme Hand legt sich auf meiner Schulter. Erschrocken sehe ich auf. Romeo lächelt mich an, als er mir rät: "Geh doch ins Bett. Ich halt die Saubande auch allein auf Trapp. Soll ich dir mit Rene helfen?" Ich lächle ihn dankbar an und nicke. Es wäre gemein den Jungen jetzt zu wecken, aber ins Bett kann ich ihn nicht tragen. Romeo tut das für mich. Er nimmt den Jungen vorsichtig von meinem Schoss und hebt ihn in seine Arme. Rene bewegt sich, öffnet aber nicht mal die Augen. Die Aufregung war auch für ihn zu viel, er wird sicher bis zum Morgen durchschlafen. Gähnend erhebe ich mich und verabschiede mich von meinem Clan. Die meisten sind so in Gespräche vertieft, dass sie gar nicht merken, dass ich gehe. Ich werfe noch einen letzten glücklichen Blick in die Runde, dann folge ich Romeo. Er trägt Rene in mein Zimmer und legt ihn in mein Bett. Auch jetzt wird das Kind nicht wach. Um diesen festen Schlaf, kann ich ihn nur beneiden. Ich nicke Romeo dankend zu, als er zurück zur Tür geht. Im Vorbeigehen legt er mir seine Hand auf die Schulter. "Übertreibe es nicht. Du musst hier niemanden etwas beweisen. Wir wissen alle, was für ein zäher Knochen du bist, aber keiner hat etwas davon, wenn du in zwei Tagen wieder flach liegst. Gehe es langsam an!" Ich nicke müde. Er hat ja recht, ich bin noch lange nicht fit und hätte mich schon längst hinlegen sollen, aber ich habe mich unter meinen Leuten so wohl und sicher gefühlt. Als Romeo das Zimmer verlässt, verschwindet auch diese Gefühl. Übrig blieben nur vier viel zu enge Wände. Seufzend ziehe ich mir die Schuhe von den Füßen und lege mich zu Rene. Ich fühle mich wie erschlagen und trotzdem tobt eine undefinierbare Unruhe in mir, als es still wird. Ich rolle mich in der Decke ein und Hoffe, dass die Erschöpfung groß genug ist, damit ich wenigstens ein paar Stunden schlafen kann. Hosted by Animexx e.V. 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