Welcome to our Breakdown von Drachenprinz (The Carnival has closed...) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Disclaimer: Die Geschichte entstammt meinem eigenen komischen Hirn, die Charaktere habe ich mir lediglich von Mr. Cooper geliehen. Welcome to our Breakdown Noch war es still. Keine Stimmen, keine Menschenseele - nichts. Einzig das Rauschen des Windes und das leise Knarren der Gondel eines alten Kettenkarussells waren zu vernehmen. Ein Vergnügungspark. Allerdings war niemand hier, um sich zu vergnügen. Es wäre wohl auch ein wenig merkwürdig gewesen, hier und jetzt Menschen vorzufinden - schließlich war es mitten in der Nacht. Aber warum war er hier, nachts alleine in einem verlassenen Vergnügungspark? Natürlich mochte er es, sich bei Sonnenschein und Wärme an einem Ort wie diesem zu amüsieren. In der Finsternis der Nacht, ohne jegliche Leute, die fröhlich lachend sämtliche Fahrgeschäfte ausprobierten, wirkte der Park jedoch bloß leer und trostlos. Auch die grinsenden Gesichter, die irgendwann einmal in bunten Farben an die Wände geschmiert worden waren und ihn nun aus allen Richtungen anstarrten, änderten nichts daran. Im Gegenteil - sie sahen sogar bedrohlich aus. Als wären sie nur aus dem Grund dort, um ihn genau jetzt in diesem Moment mit ihren funkelnden Augen zu verspotten. Zu allem Übel musste er, als er sich nach hinten umdrehte, auch noch feststellen, dass er direkt vor einer Geisterbahn stand. War er etwa vorher dort drin gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Er hatte Geisterbahnen schon immer gehasst. Warum gab es Menschen, denen es Spaß machte, sich von bösen Ungeheuern durch die Gegend scheuchen zu lassen? Er hatte es nie verstanden. Langsam trat er ein paar Schritte nach vorn, in der Absicht, einen Ausgang zu finden. Zu solch einer späten Stunde ganz allein in einem Vergnügungspark herumzulaufen, war absurd - und doch war es ein vertrautes Gefühl. Als wäre er bereits viele Male hier gewesen... Was gab es hier? Was gab es hier, weshalb er immer wieder herkam? Ein Pferdekarussell, hübsch anzusehen, voll still stehender Pferde. Ein Schießstand, der eine große Menge an verschiedenen Preisen bot. Ein gigantisches Riesenrad, das in der Ferne über dem Park aufragte. Und alles, all die Gerätschaften um ihn herum, so still und dunkel, als wären sie niemals benutzt worden. Unbehagen breitete sich in ihm aus. Er wollte hier nicht sein. Er wollte es nicht und gleichzeitig wollte er es, musste er es, um endlich herauszufinden, was ihn jedes Mal aufs Neue hierher lockte. Es war, als würde ein Teil von ihm es verbieten und es gar nicht erst zulassen, dass er diesen Ort verließ. Und kaum, dass er weitergegangen war, um sich ein bisschen umzuschauen, begann alles um ihn herum zum Leben zu erwachen. Lichter. Leuchtende Lichter. Musik. Eine simple Melodie. Das Riesenrad. Die Karussells. Sie fingen auf einen Schlag an, sich zu bewegen, ganz von selbst. Immer wieder und wieder spielte die Melodie erneut, laut, während nach und nach jeder noch so kleinste Winkel des dunklen Parks in Gang kam. Alles. Laut, bunt, schrill. Und von weit weg, versunken in der schrägen Geräuschkulisse, hörte er es. Die Stimme. „... ven...! Steven...! Steven!“ Beinahe kläglich rief sie nach ihm; die Stimme, die ihn jede Nacht in seinen Träumen verfolgte. Doch noch nie war sie so klar gewesen wie jetzt, so klar und deutlich. Er wusste nicht, warum, aber er lief. Er lief immer weiter der Stimme entgegen, bis sie Stück für Stück lauter wurde, klarer und deutlicher. Eine Ewigkeit musste er umhergeirrt sein, und dann sah er ihn. Zwischen einem Karussell und einem Stand saß er zusammengekauert auf dem Boden, angelehnt an eine kleine Mauer - der, von dem die Stimme gekommen war. Die schwarzen Haare fielen ihm durcheinander in die Stirn, seine Hände bedeckten sein Gesicht. „... Was ist los mit dir?“, fragte er ihn zögerlich. Ihn, der ihm so bekannt vorkam und doch nur ein Fremder war. „Mit... mir?“ Es verging eine Weile bis sein Gegenüber leise, kaum hörbar, das Wort ergriff. Weitere endlos scheinende Sekunden verstrichen, bis er die Hände von seinem Gesicht nahm. Blutverschmierte Hände; so blutrot, dass es ihm die Kehle zuschnürte. „Was ist denn mit mir?“ Er starrte ihn an, seine Augen waren nichts als leere, schwarze Höhlen. Tiefschwarz. Das Schwarz wollte ihn verschlingen, es war ein solch grausamer Anblick. Aber das Grausamste war: Es war sein Gesicht. Er war es, der sich selbst von unten herauf wie ein lebendiger Schatten ansah. Er selbst. Steven. „Das... kann nicht sein...!“ Die fröhliche Melodie schien mit jeder Sekunde lauter zu werden, das Licht des Karussells neben ihm wurde greller. Er wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Der Andere, der wie ein Abbild seiner Selbst aussah, sackte in sich zusammen, als die Kulisse, der gesamte Park, in dem sie waren, verschwamm. „Steven...!“ „Nein... Lass mich in Ruhe!“ „Beruhige dich. Ich bin es nur“, sagte eine vertraute Stimme und er blickte in das dazugehörige Gesicht. „Spider...!“ Er verspürte eine gewisse Erleichterung, als er denjenigen erkannte, der mit ihm sprach, ebenso wie den Raum, in dem er sich befand. Es war kein Vergnügungspark und dort war auch kein anderer Steven, kein falscher Steven. Es war nur Spider, der über ihn gebeugt dastand und ihn mit einem seltsamen Blick musterte. Seit drei Tagen war er jetzt bei ihm, in der Wohnung eines völlig Fremden. Zuerst war es beängstigend gewesen, hatte er schließlich alles, was er bisher gekannt hatte, mit einem Mal hinter sich gelassen; und wofür? Um bei einem eigenartigen Spinnen-Freak unterzukommen, der auf ihn noch dazu einen ziemlich unzurechnungsfähigen Eindruck machte. Und doch hatte Spider ihm, seit er ihn bei sich aufgenommen hatte, nichts getan. Er kümmerte sich sogar um ihn, als wäre es vollkommen normal, dass er bei ihm wohnte. Davon abgesehen, dass er ein kaltblütiger Mörder war, der manchmal ganz schön unheimlich sein konnte, hatte Steven sich fast an ihn gewöhnt - und in diesem Moment war er wirklich froh, ihn zu sehen. „Meine Güte, siehst du fertig aus...“, bemerkte sein Gegenüber beinahe mitleidig. „... Ich hatte einen schrecklichen Traum“, erklärte er leise. „Das war nicht zu übersehen. Darum habe ich dich geweckt.“ Spider kniete neben dem Schlafplatz, den er ihm kürzlich auf seiner Couch eingerichtet hatte, und hielt etwas in der Hand, das er in der Dunkelheit nicht definieren konnte. Steven fragte sich, wie lange er wohl schon dort war. Vage erkannte er, dass Spider noch immer dieselben Sachen trug, die er den ganzen letzten Tag über getragen hatte. „Was machst du eigentlich um diese Zeit hier? Schläfst du gar nicht...?“, fragte er vorsichtig. Nicht weit von seinem Platz sah er die Umrisse des Esstisches und eines Stuhles, wo ein kleines Licht brannte. „Ich lese“, antwortete Spider und zeigte auf den Gegenstand, den er festhielt - offenbar ein Buch. „Außerdem passe ich auf dich auf. Irgendwer muss das ja tun.“ Eine Weile lang starrte Steven auf seine Decke und dachte nach, dann wandte er sich wieder um und blickte zu Boden. „Du hast gesagt, ich würde meine Albträume loswerden, wenn ich mit dir mitkomme. Du hast es mir versprochen, Spider...“ „Ja... Das habe ich. Was hast du eigentlich geträumt? Waren es wieder böse Geister und Dämonen, die dich verfolgt haben?“ Er schwieg für einen Moment. „Nein. Diesmal war es anders“, flüsterte Steven. Allein bei der Erinnerung daran fühlte er das gleiche Unbehagen, das er in seinem Traum verspürt hatte. „Es waren keine Geister, Dämonen oder Monster... Es war... ich selbst.“ „Du selbst? Wie soll ich das verstehen?“ „Ich weiß es auch nicht. Er hat nach mir gerufen und dann habe ich ihn gesehen. Er sah so furchtbar aus... Aber er war ich. Ich habe mich selbst gesehen...“ Einige Sekunden lang war es still, bis Spider wieder das Wort ergriff. „Du sagtest doch, dieser Jemand hätte 'so furchtbar ausgesehen'. Willst du damit sagen, du findest dein eigenes Aussehen so furchtbar?“ Mit einem scheinbar leicht belustigten Ausdruck in den Augen sah er Steven an, während er auf dessen Antwort wartete. „Er... Ich weiß, dass er ich war! Und trotzdem sah er anders aus als ich... Ich kann es nicht erklären. Es war alles so wirr...“ Natürlich hatte er anders ausgesehen. Seine Hände waren voller Blut und seine Augen so leer gewesen, als wäre er bloß eine willenlose Hülle, die soeben ohne jegliche Emotionen jemanden getötet hatte. Doch das konnte er Spider unmöglich sagen. Er würde ihn für einen Irren halten, dass er so etwas träumte. Er würde ihn für einen Mörder halten, so wie auch er einer war. Aber so war es nicht. Er war kein Mörder. Er war doch nur Steven. Einfach nur Steven. „Ich verstehe“, hörte er den Anderen plötzlich sagen. „Was verstehst du...?“ „Jeder hat vor irgendetwas Angst. Manchmal glauben wir, unsere größten Ängste zu kennen, doch in Wirklichkeit sind unsere schlimmsten Ängste so tief in uns verankert, dass wir sie gar nicht bemerken. Wir haben Angst vor dem Unbekannten, vor dem Bösen. Aber jeder von uns trägt das Böse und das Unbekannte in sich, das solltest du dir merken. Manche mehr und andere weniger.“ Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu „Es bringt nichts, vor seinen Ängsten davonzulaufen. Man muss sich ihnen stellen. Auch wenn deine größte Angst du selbst bist“. Mit diesen Worten war er aufgestanden und ließ Steven ratlos in seinem Wohnzimmer zurück. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Spider das kleine Licht am Tisch löschte. „Kann ich dich jetzt allein lassen oder soll ich dir noch was vorlesen?“, hörte er ihn noch von weitem fragen. „Ich glaube, das ist nicht nötig“, gab er verlegen zur Antwort. Dann lauschte er, ob Spider nun wirklich weg war, wälzte sich ein paar Mal auf seinem Kissen hin und her und schloss schließlich die Augen. Schlaf. Ein wenig Schlaf war alles, was er wollte. Ein bescheidener Wunsch, und doch hatte er schon seit Langem die Hoffnung darauf aufgegeben. Natürlich schlief er die meisten Nächte über, doch es war bei Weitem nicht die Art von Schlaf, die einen morgens ausgeruht und ausgeglichen aufwachen und den Tag beginnen ließ. Er wusste bereits nicht mehr, wie ein solcher Morgen sich anfühlte. Wie lange war es jetzt her? Wann hatten die Nächte angefangen, für ihn zur Qual zu werden? Es war wie ein immer wiederkehrender Horrorfilm, in dem er die Hauptrolle spielte, ohne es zu wollen. Jede Nacht suchten sie ihn heim, als würden sie ihn für etwas bestrafen, das er nicht getan hatte. Jede Nacht riefen sie nach ihm, ohne dass er wusste, was sie von ihm wollten. Jede verdammte Nacht... Es sei denn, er schaffte es, dem Schlaf zu entkommen. Manche Nächte verbrachte er allein und traumlos, und ihm war jedes Mittel recht, um sich wach zu halten. Heute schien eine solche Nacht zu sein. 'Du musst dich deinen Ängsten stellen, auch wenn deine größte Angst du selbst bist', das hatte Spider gesagt. Er sollte sich seinem anderen Ich also stellen. Aber wie sollte er das machen? Er müsste wieder in seinen Traum von eben zurückkehren. Dazu müsste er erst einmal wieder einschlafen. Aber das konnte und wollte er nicht. Nicht jetzt. Steven setzte sich auf, streifte sich die Decke vom Körper und schleppte sich durch die Dunkelheit in die Küche, nach einem Lichtschalter tastend. Es war ein seltsames Gefühl, allein in einer Küche zu sein, die nicht ihm gehörte. Wahrscheinlich hätte es ihn eher beunruhigen sollen, wem sie gehörte. Doch er konnte nicht behaupten, dass ihm unwohl zumute war, wenn er daran dachte. Der Gedanke an Spider machte ihm keine Angst mehr. Ein komischer Typ war er zwar schon... „Aber ich will nicht mehr von hier weg. Ich will nicht mehr zurück“, dachte er still für sich und ignorierte dabei die Tatsache, dass er eigentlich nicht einmal aus freien Stücken hierher gekommen war. Jemand anderes hätte es vielleicht sogar eine Entführung genannt. Er betrachtete es allerdings auf eine andere Weise. Es gab einen Grund, aus dem er hier war, nur musste er diesen erst noch herausfinden. Spider war nicht böse. Er konnte nicht böse sein. Zu vertraut schien er ihm; die Art, wie er mit ihm sprach und wie er sich um ihn sorgte. Es war, als würde er ihn ewig kennen. '3:04' zeigte die Wanduhr. Leise sah er sich in der Küche um. Er brauchte Kaffee - so schnell wie möglich. In diesem Moment verfluchte er sich dafür, den Besitzer dieser Küche nicht eher danach gefragt zu haben, wo bestimmte Dinge sich hier finden ließen. Seine Wohnung war nicht gerade das, was man ordentlich oder übersichtlich nennen konnte... Und stören wollte er ihn um diese Zeit nicht mehr. Gerade als er sich entschlossen hatte, falls nötig, den gesamten Raum auf den Kopf zu stellen, zog der Kühlschrank seine Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl er dort mit Sicherheit nicht finden würde, wonach er suchte, konnte er nicht anders als einen Blick hineinzuwerfen. Ein nur allzu bekanntes Gefühl überkam ihn, als er nach der Flasche griff, die ihm sofort ins Auge gesprungen war. Whiskey. Eiskalt und noch kaum angerührt. Einige Augenblicke lang starrte er die Flasche in seiner Hand an, bevor er sich entschied, sich später um den Kaffee zu kümmern. Spider hatte sicher nichts dagegen, wenn er sich ein wenig bei ihm bediente, schließlich war er doch immer so sehr um sein Wohl bemüht. Fürs Erste zufrieden mit seinem Fund ließ er sich wieder im Wohnzimmer nieder, an dem Tisch, an dem Spider scheinbar vorher gelesen hatte. Sein Buch lag noch dort - selbstverständlich ein Buch über Spinnen - und er besah es sich etwas genauer. Jedoch kam er recht schnell zu dem Schluss, dass er es so genau gar nicht wissen wollte. Spider... Wie wohl sein richtiger Name war? Eigentlich wusste er überhaupt nichts von ihm. Er trank einen Schluck und erschauderte kurz. Es musste eine Ewigkeit her sein, dass er sich das letzte Mal etwas derart Gutes zu Gemüte geführt hatte. Steven blickte zum Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, wie sie es für gewöhnlich bei Nacht waren. Er wusste nicht, weshalb, aber er verspürte das plötzliche Bedürfnis, den Sternenhimmel zu sehen. Langsam stand er auf, schlenderte dort hinüber und zog mit seiner freien Hand die Gardine zur Seite. Nur wenige Sterne waren zu erkennen, Wolken bedeckten den Himmel und zogen schleichend vorbei. Mit einem Mal fühlte er sich traurig. Einsam und traurig, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, gefangen in einem Loch zwischen Leben und Unendlichkeit. Einer unantastbaren Unendlichkeit wie der des Himmels. Ob gerade jetzt noch jemand aus dem Fenster schaute und in die Unendlichkeit blickte? Ein weiterer Schluck und er hoffte, sich leichter zu fühlen, sich von seinen Gefühlen zu befreien. Es reichte nicht. Noch nicht. Warum fand er keine Antworten auf seine Fragen? Warum war alles so wie es war? Frustriert wandte er sich von dem Fenster ab, wütend über sich selbst und über die Sterne, weil offenbar nicht einmal sie ihre Zeit an ihn verschwenden wollten, und tat sein Bestes, um seine Wut abzutöten - sie gnadenlos zu ertränken, dass sie bloß niemals wiederkommen würde. „Warum...“, murmelte er, schloss die Augen und sank auf den Boden. Niemand würde seine Fragen beantworten. Weil niemand sich um ihn scherte. Warum sollte sich auch jemand für einen Schwächling interessieren, der sich selbst nicht in den Griff bekam und vor seinen eigenen Albträumen flüchtete, wie ein Feigling? Wer interessierte sich schon für Steven? „Niemand! Niemand!“, hallte es von den Wänden wider. Schrecklich schrilles Gelächter ertönte von allen Seiten und ließ ihn zusammenzucken. Er öffnete die Augen. Langsam, weil er fürchtete, die kleinste zu schnelle Bewegung könnte ihn umbringen. Und er sah, woher das Gelächter kam. Gesichter. Bunte, hässliche Gesichter überall um ihn herum prangten an den steinigen Wänden, und sie lachten. Sie lachten über ihn. Bunte Farben und grelle Lichter drängten sich eng aneinander und zogen ihn mit sich wie ein Strudel aus vorgetäuschter Fröhlichkeit. Dazu diese grausame Melodie, die viel zu laut durch sämtliche Gassen hallte. Er war wieder hier. Er war wohl doch eingeschlafen ohne es zu merken und nun war er wieder hier, am Ort des Ursprungs. Alles schien sich zu wiederholen. „Na, los!“, rief er. „Komm raus aus deinem Versteck! Ich weiß, dass du hier bist!“ Keine Antwort. Er lief ein Stückchen, vorbei an dem Pferdekarussell und vorbei an dem Riesenrad, versuchte, die Stelle wiederzufinden, an der er ihn zuletzt gesehen hatte. Den, der ihm vormachen wollte, er selbst zu sein. Als er glaubte, ganz in der Nähe sein zu müssen, sah er genau hin, durchsuchte jeden Winkel nach irgendeinem Anzeichen eines weiteren Anwesenden. Doch er fand nichts. Die Ecke war leer. „Was ist los mit dir? Komm schon her, oder traust du dich auf einmal nicht mehr?!“ „Meinst du... mich?“ Ruckartig drehte Steven sich um, verlor dabei fast sein Gleichgewicht und fand sich Auge in Auge mit seinem Ebenbild wieder. Endlich. Endlich konnte er sich ihm stellen, wie Spider es ihm gesagt hatte. Ein triumphales Grinsen umspielte seine Lippen. „Du...! Du hältst dich wohl für was ganz Großes, weil... weil du aussiehst wie ich! So ist es doch, oder? Du willst mir Angst machen und denkst, das schaffst du, indem du in einem lächerlichen Vergnügungspark auf mich lauerst und meinen Namen rufst...? Dann hast du dich geirrt! Ich habe nämlich keine Angst vor dir!“ Irritiert, fast schon eingeschüchtert, könnte man meinen, sah der Andere ihn an. Sein Aussehen war nicht mehr dasselbe, wie in seinem letzten Traum. An seinen Augen war nichts Außergewöhnliches mehr, er glich ihm vollkommen. Stattdessen trug er jetzt einen kleinen rosa Stoffhasen bei sich. „Warum glaubst du, dass ich dir Angst machen will...?“, fragte er kleinlaut. „Ich habe doch nur nach dir gerufen, weil... ich nicht alleine sein wollte...“ Überrascht starrte Steven den Anderen an. Für einen Moment empfand er beinahe so etwas wie Mitleid - bis er sich selbst ins Gedächtnis rief, dass dieses Ding kein Mitleid verdiente. Er war es, der ihn ständig in seinen Träumen verfolgte und der dafür verantwortlich war, dass er keine Ruhe fand. „Oh nein“, sagte er. „Deine Masche zieht bei mir nicht. Ich glaube dir kein Wort.“ „Wieso? Warum bist du so gemein zu mir...? Ich bin du. Glaubst du dir etwa selbst nicht? Das ist... komisch.“ „Du bist nicht ich!! Du bist nichts als ein elender Nachmacher! Hast du nichts Besseres zu tun, als mir dauernd hinterherzulaufen?!“ „Du bist so fies...! Ich dachte, du wärst anders als die Anderen! Ich dachte, wenigstens du verstehst mich...“ Mit einem verletzten Ausdruck im Gesicht drehte er sich von ihm weg, drückte seinen Stoffhasen fest an sich und sah zu Boden. „Eine verdammte Heulsuse bist du auch noch! Flennst hier rum wie ein kleines Kind... Soll ich dir vielleicht einen Lolli kaufen?“ „Hör auf!“, schrie sein Ebenbild plötzlich so laut, dass es ihn vor Schreck ein paar Schritte zurücktaumeln ließ. „Willst du dich ewig vor dir selbst verstecken?! Du bist derjenige, der mir hinterher läuft! Und jedes Mal, wenn du mir gegenüberstehst, bist du zu feige, dich der Wahrheit zu stellen!“ „Das... Das stimmt nicht! Du verdrehst ja total die Tatsachen, du Psycho!“ „Mich nennst du einen Psycho?“ „Wer hat denn beim letzten Mal mit blutverschmierten Händen hier in der Ecke gesessen und auf mich gewartet? Das warst ja wohl du und niemand sonst! Woher kam denn das ganze Blut, erzähl' mir das doch mal?“ Langsam näherte er sich dem Anderen, der krampfhaft versuchte, seinem Blick auszuweichen. „Wen hast du umgebracht, na? Sag schon!“ „Hör... Hör auf damit! Ich weiß nicht, wovon du redest...“, war alles, was er zu sagen hatte, ehe er sich gänzlich von ihm abwandte, offensichtlich zu schwach, seinem Anblick länger standzuhalten. „Du weißt genau, wovon ich rede! Du weißt es ganz genau! Weißt du was? Ich werde dem Ganzen jetzt ein Ende bereiten, ein für allemal!“ „Was hast du vor...?“ „Etwas, das ich schon längst hätte tun sollen...“ Steven ging ein Stück zurück, zu einem der zahlreichen Stände, die überall im Park verstreut waren. Er erinnerte sich, dort etwas liegen gesehen zu haben, das ihm jetzt von großem Nutzen sein würde. Und tatsächlich lag es noch dort, verborgen im Schatten der Spielzeuge, die dort als Preise zur Schau gestellt waren, auf dem Tresen. Ein Messer. Ein schmales Lächeln formte sich in seinem Gesicht, als er es in die Hand nahm und sich wieder dorthin begab, wo sein Doppelgänger auf ihn wartete. Wie naiv von ihm, dass er nicht weggelaufen war, dachte Steven. Anscheinend wollte er es nicht anders. Dies war der Moment, in dem er sich seiner größten Angst - sich selbst - stellte; der Moment, in dem er die Chance hatte, seine Albträume endlich loszuwerden und mit ihnen abzuschließen, sie allesamt auszulöschen... Und mit ihnen den, der für das alles verantwortlich war. „Wo... warst du?“, fragte die Stimme des falschen Steven ihn verwirrt. Er konnte das Messer nicht sehen; er hielt es hinter seinem Rücken, voller Vorfreude auf das, was er mit diesem Wunderwerkzeug vollbringen würde. „Was hast du getan...? Was hältst du da in der Hand?“, fragte er ihn noch einmal leise. „Eine Überraschung!“, antwortete er und zog seinen Fund in einer langsamen Bewegung hinter seinem Rücken hervor. Amüsiert betrachtete er den Anderen, wie er mit seinem Stofftier dastand, das er augenblicklich fallen ließ und mit vor Angst geweiteten Augen das Messer fixierte. „Nein... Bitte nicht...!“ „Jetzt hast du nicht mehr so eine große Klappe, was?“ Die Tatsache, dass sein Gegenüber noch immer keine Anstalten machte, davonzulaufen, erleichterte ihm sein Vorhaben ungemein. Vielleicht war er auch vor Angst erstarrt, weil er ihn in die Enge getrieben hatte. Was auch immer es war, das ihn davon abhielt, das Weite zu suchen - es spielte keine Rolle. Die Arme abwehrend vor dem Gesicht verschränkt stand er dicht vor ihm, nichts weiter als ein wimmernder Schwächling, bedeutungslos für diese Welt. „Das kannst du nicht machen... bitte...!“ Die Worte brachten ihn zum Lachen. „Haha, natürlich kann ich das! Das hier ist mein Traum, also kann ich alles tun, was ich will! Und du bist nur eine leere Hülle, die versucht, mir meinen Traum zu stehlen.“ Er stützte eine Hand neben seinem Ebenbild an der Wand ab, um ihm auch den letzten übrigen Freiraum zu nehmen, während er mit der anderen drohend das Messer auf ihn richtete. „Aber vielleicht habe ich ja Gnade mit dir, wenn du ein bisschen bettelst... armer, kleiner Junge.“ „Siehst du nicht, wer ich bin...? Bist du blind?!“, schrie der Andere; ein verzweifelter Versuch, sich doch noch irgendwie zu retten. „Was macht es für einen Sinn, dich selbst zu töten? Es macht keinen Sinn! Das ist krank!“ „Halt den Mund!“ Bevor er wusste, was er tat, steckte das Messer, dessen Griff er so angestrengt umklammerte, dass seine Hand schmerzte, bereits in seinem Gegenüber, zwischen dessen Brust und Schulter. Ohne es loszulassen wurde er mitgerissen, als sein Ebenbild den Halt verlor und zu Boden ging. Sekunden vollkommener Leere verstrichen bis er seinem flehenden Blick begegnete. „Ste...ven“, keuchte er atemlos und handelte sich damit lediglich noch größere Qualen ein, als Steven den Griff verstärkte und die Klinge tiefer in seine Wunde stieß. „Wage es nicht, noch ein einziges Mal meinen Namen zu sagen!“ Seine Stimme war nur ein angespanntes Flüstern, das jedoch in kürzester Zeit zu einem Schreien wurde. „Nie wieder sagst du meinen Namen! Nie wieder, hörst du, NIE WIEDER!!“ Blut tropfte von seiner Hand, lief an der Kleidung seines Gegenübers herunter und bedeckte das rosa Fell des Hasen vor seinen Füßen mit dunkelroter Farbe. Blut, überall war Blut, und plötzlich war da noch etwas anderes. Eine Stimme. Die Stimme eines Mädchens, nein, einer Frau. Leise, aber deutlich konnte er sie hören. Anfangs erstickt in der sich immer wiederholenden Melodie des Vergnügungsparks wurde sie zunehmend lauter und mischte sich mit anderen Stimmen zu einem unerträglichen, nicht aufhörenden Gewirr. Vorwurfsvolle, gehässige Stimmen schrien ihn durcheinander an, und sie alle riefen dasselbe: „STEVEN! STEVEN! MÖRDER!“ Unruhig lag Spider in seinem Bett und fand seinen Blick mit einem Mal an die Decke gerichtet. Wieso war er wach? Etwas hatte seinen Schlaf gestört, nur wusste er nicht, was es war. Es kam eher selten vor, dass er mitten in der Nacht wach wurde und nicht einmal wusste, woran es lag. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es erst ungefähr eineinhalb Stunden her war, dass er sich von Steven verabschiedet hatte und in sein eigenes Schlafzimmer gegangen war. Steven... So lange hatte er davon geträumt, ihm gegenüberzustehen. Eine Ewigkeit hatte er auf ihn gewartet und jetzt war er bei ihm. Wie lange es wohl dauern würde, bis er genug von ihm hatte und wieder irgendwohin verschwand, weg von ihm? Nein, dachte er, ich werde ihn nicht wieder gehen lassen. Seine Mühen sollten nicht umsonst gewesen sein. Jetzt, wo er ihn bei sich hatte, würde er auch bleiben und irgendwann würde er überhaupt nicht mehr gehen wollen. Eigentlich war er das Einzige, wofür er noch lebte. „Hm?“ Ein Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es schien aus seinem Wohnzimmer gekommen zu sein... und es hatte sich angehört, als wäre etwas Schweres auf den Boden gefallen. Etwas- oder jemand? Ein wütender Schrei, dann hörte er vorerst nichts mehr. Länger konnte er hier nicht liegen bleiben, das stand fest. Mit einem Schwung war Spider aufgestanden und begab sich mit einem unguten Gefühl in Richtung der eigenartigen Geräusche. Definitiv stimmte hier etwas nicht. Im Türrahmen des Wohnzimmers stehend bemerkte er als erstes, dass das Licht brannte, dann die umgekippte Flasche Whiskey vor seinem Fenster, deren Inhalt sich in einer großen Pfütze auf dem Boden ausgebreitet hatte. Dann erst entdeckte er Steven in der hintersten Ecke des Raumes und der Anblick ließ seinen Herzschlag einen Moment lang aussetzen. Er hatte sich zwar bereits gedacht, dass mit seinem Gast irgendetwas los war, doch damit gerechnet, ihn blutüberströmt und zusammengekrümmt vor seinem Spiegel kauernd vorzufinden, hatte er wirklich nicht. Das weiße Shirt, dass er ihm zum Schlafen geliehen hatte, war nun teilweise rot gefleckt, ausgehend von seiner Schulter, wo er einen schmalen Riss im Stoff erkennen konnte. In einer Hand hielt er ein Küchenmesser mit zittrigem Griff umklammert. „Steven...“ Er schien ihn nicht gehört zu haben, denn anstatt einer Antwort hörte er ihn nur immer wieder mit völlig aufgelöster Stimme etwas zu sich selbst murmeln. „Esist... allesmeineSchuld... Ichbinnan... allem... schuld...“ „Steven...!“, sagte er noch einmal etwas lauter, woraufhin der Angesprochene heftig zusammenzuckte und das Messer fallen ließ. „Lassstmichin... Ruhe... Lass...stmich endlichh... in Ruhe...“, stammelte er, ohne seinen Blick vom Boden zu richten. Seine Sprache war ohne Zweifel gezeichnet von dem Whiskey, den er sich offenbar vor Kurzem genehmigt hatte. Spider betrachtete das Bild vor seinen Augen halb mitleidig halb schockiert und ihm drängte sich unweigerlich die Frage auf, wie zum Teufel es in so kurzer Zeit so weit kommen konnte. Bei genauerem Überlegen jedoch glaubte er, es sich ungefähr denken zu können. Leisen Schrittes ging er auf den Anderen zu, der ihn, obwohl er ihm in seiner resignierten Position seitlich zugewandt war, noch immer nicht bemerkt zu haben schien. Erst als er sich neben ihn kniete und ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte, über der Stelle, an der er sich die Wunde zugefügt hatte, bekam er eine Reaktion; Steven gab einen erschrockenen Laut von sich und hob langsam seinen Blick, verstört und schwer atmend. Wenn er daran dachte, dass er vorhin, als er ihn aus seinem Albtraum geweckt hatte, noch zu ihm gesagt hatte, er würde 'fertig aussehen', fragte er sich, wie man den Zustand nennen sollte, in dem er sich jetzt befand. „Keine Angst. Ich bin es nur... Spider“, sagte er und versuchte dabei, so beruhigend wie möglich zu klingen. „Spider...?“ Nur kurz sah Steven ihn direkt an, dann schaute er zur Seite. „Ichhab'mich ihmgstellt... wie du'ssmir gsagt hast... Dem andernn Stevn... Unntrotzzdem geht'smir nichh besser.“ Eine kurze Pause, dann fügte er flüsternd hinzu „Ichhabe... sie umgebracht...“, bevor sich der Ausdruck in seinen Augen veränderte und er anscheinend wieder mit seiner ohnehin schon kaum vorhandenen Fassung rang. „Ganz ruhig... Wen hast du umgebracht?“, fragte Spider, bemüht, selbst die Ruhe zu bewahren. Sein Blick haftete an Stevens Schulter, die unaufhörlich Blut vergoss. Steven selbst schien gedanklich ganz woanders zu sein. Er antwortete ihm nicht. Irgendwann hatte er seine Frage schon fast wieder vergessen, als sein Gegenüber mit ausdruckslosem Gesicht etwas murmelte, das ihm leider auch nicht viel weiter half. „Ich... kannnie wieder... zzurück...“ Er seufzte verzweifelt. „Nniewieder, Spider...“ Langsam aber sicher konnte er es nicht mehr mit ansehen. Spider stand auf, entfernte sich ein paar Schritte von Steven und ließ ihn dabei nicht aus den Augen - momentan war es besser, sehr genau auf ihn Acht zu geben. Mit den Worten „Warte hier, ich bin gleich wieder da“ verließ er den Raum. Wo hatte er bloß sein Verbandszeug? Es konnte nie schaden, welches zu besitzen, aber jetzt, wo er es brauchte, dauerte es zu lange, danach zu suchen. Jede Sekunde, die er Steven alleine dort sitzen ließ, war zu viel. Der Gedanke daran, dass das Messer noch immer auf dem Boden in seiner Nähe lag, machte es nur noch schlimmer und er hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, dass er es nicht mitgenommen hatte. Daran hatte er natürlich nicht gedacht. Wenigstens war es ein sauberes Messer gewesen, versuchte er irgendetwas ansatzweise Positives an der Sache zu finden. Als er endlich einen Verband gefunden hatte, kehrte er so schnell wie möglich an seinen Platz zu Steven zurück, der -Gott sei Dank- in seiner Abwesenheit nichts weiter angestellt hatte, wie es aussah. „Zieh das Shirt aus“, sagte er und fügte, als der Andere ihn fragend anschaute, erklärend hinzu: „Ich muss deine Wunde verbinden.“ Er war sich nicht sicher, ob Steven sich überhaupt darüber bewusst war, was er getan hatte. Er schien nicht wirklich klar bei Sinnen zu sein. Trotzdem tat er, wie geheißen, und befreite sich von dem Shirt, das inzwischen alles andere als bequem und einladend aussah. Seine unsicher wankenden Bewegungen weckten in ihm das Bedürfnis, ihn festzuhalten, und er war froh, als er ihm den Verband anlegen konnte. Zwar hatte er nicht viel Erfahrung mit solchen Dingen - er hatte sich noch nie in der Lage befunden, jemand anderen verbinden zu müssen -, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein und er machte damit sicher nichts falsch. Er spürte, dass Steven zitterte, und wünschte sich, ihm irgendwie besser helfen zu können, aber er hatte lange niemandem mehr geholfen und wusste nicht, was er tun sollte. Für einen Augenblick kam ihm alles, diese Situation, sein Leben, er selbst, schrecklich absurd vor. „Spider...“, hörte er Steven auf einmal leise sagen. „Warum tust du das...?“ „Warum ich das tue?“, gab er verständnislos zurück. „Sieh dich mal an! Das ist doch wohl selbstverständlich.“ „Aber... wir kennen uns kaum... Ich weiß noch nicht einmal wirklich... warum ich eigentlich hier bin. Und trotzdem... bist du so nett zu mir...“ Wir kennen uns besser, als du denkst, dachte er still, während er kurz innehielt und seinen Gast unwillkürlich beäugte. „Du bist hier, weil... weil du hierher gehörst. Ich will, dass es dir gut geht, Steven. Du hast genug durchgemacht, findest du nicht?“ „Als du mich hierher verschleppt hast, habe ich zwischendurch gedacht, du... du würdest mich umbringen...“ Er brachte die Worte noch immer etwas schwerfällig heraus, doch es war mehr ihr Inhalt, der Spider entsetzte. „Ich hatte nie vor, dich zu töten, ehrlich...!“, sagte er schnell. „Ich gebe ja zu, dass ich ein schräger Typ bin... und vielleicht nicht unbedingt jemand, dem man blind vertrauen sollte... Aber dir würde ich niemals etwas tun. Du bist ein Teil von mir, Steven. Ich bin da, um dich zu beschützen. Auch wenn ich heute wohl kläglich daran gescheitert bin...“ „Ein... Teil von mir? Wie meinst du das...?“, fragte er irritiert. „Du wirst schon noch selbst herausfinden, wie ich das meine“, flüsterte er, während er den Verband vorsichtig festzog. „Du sagst, wir kennen uns kaum. Vielleicht hast du Recht, aber das können wir ja ändern.“ Steven sah ihn lange an, und die Art, wie er das tat, sagte ihm, dass er ihm vertraute - und das war alles, was zählte. Was auch immer irgendwelche anderen von ihm dachten, war egal. Eine Weile lang herrschte Schweigen bis Steven dieses auf eine eher unerwartete Weise unterbrach. „Mir... ist kalt“, sagte er verlegen. „Oh...“, gab er zur Antwort, mehr wollte ihm nicht einfallen. Er hätte aufstehen und ihm eine Jacke holen können, aber die Vorstellung, ihn noch einmal alleine zu lassen, gefiel ihm nicht recht. Nicht jetzt. Also vergaß er für diesen Moment, wer er war, und schloss den Anderen, als ob er es nicht besser wüsste, in seine Arme. Steven ließ sich in seine Umarmung ziehen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und in diesem Augenblick überkam ihn ein Gefühl, dass er seit seiner Kindheit nicht mehr verspürt hatte - das Gefühl, er selbst zu sein und das Richtige zu tun. Stille umgab ihn und ein unangenehmes Zwielicht erhellte den Raum als Steven die Augen aufschlug. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, stellte er schnell fest, dass es keine sonderlich gute Idee war, ruckartige Bewegungen zu machen. Er schien nur aus Schmerzen zu bestehen, alles war verschwommen und er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster herein schien, ließ darauf schließen, dass es eindeutig zu spät war, hier herumzuliegen, und er fühlte sich, als hätte er ewig geschlafen. Nicht einmal an einen Traum konnte er sich erinnern. Oder doch? Er erinnerte sich an etwas, doch es fühlte sich anders an als für gewöhnlich wenn er morgens aufwachte. Trotzdem blieb er liegen und ließ das seltsame Gefühl einer unglaublich anstrengenden und gleichzeitig erholsamen vergangenen Nacht auf sich wirken bis seine Sicht sich verbessert hatte und er wieder einigermaßen scharfe Konturen erkennen konnte. Allmählich stellte sich ihm die Frage, was er überhaupt auf dem Boden des Wohnzimmers tat, und noch mehr verwirrte ihn der Anblick von Spider, der schlafend auf selbigem Boden lag, ganz in seiner Nähe. Angestrengt überlegte er, was das letzte war, an das er sich erinnerte und er brauchte nicht lange, bis es ihm einfiel. Spider hatte ihn gerettet. Er wusste nicht, warum, aber er war bei ihm gewesen, als er ihn brauchte. Er war einfach bei ihm gewesen und hatte ihm gezeigt, dass er nicht ganz allein war. Langsam fiel ihm alles wieder ein und plötzlich überkam ihn eine Mischung aus Tausenden von Gefühlen und Gedanken. Er hatte sich todesmutig in die Abgründe seiner eigenen Albträume gestürzt und war fest davon überzeugt gewesen, diese mit Gewalt selbst regeln zu können. Dass er sich selbst dabei nicht völlig zerstört hatte, hatte er nur Spider zu verdanken. Wäre er nicht gewesen, wäre er jetzt tot. Wie aus Reflex glitt sein Blick zu der Stelle, an der er das Messer hatte fallen lassen. Es lag nicht mehr dort, genauso wenig wie das blutbefleckte Shirt, das er sich hier ausgezogen hatte. Wieder ging sein Blick zu Spider und er dachte unweigerlich an seine Worte. „Ich bin hier, weil... ich hierher gehöre“, sagte er leise zu sich selbst. „Und du bist da, um mich zu beschützen...“ Als er ihn ansah, wie er zwischen all dem Chaos auf dem Boden lag und schlief, war es nicht mehr, als würde er einen Fremden ansehen. Es war als würde er jemanden ansehen, den er lang, viel zu lang vermisst hatte. Manches von dem, was er gesagt hatte, stellte ihn immer noch vor ein Rätsel. Außerdem fühlte er sich alles andere als gut; seine Schulter tat höllisch weh und er verspürte ein dumpfes Dröhnen, wann immer er sich auch nur ein kleines bisschen bewegte. Trotz allem legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, das ehrlicher war als alles, was er in all der Zeit gesehen, gehört und gefühlt hatte, während er so sehr damit beschäftigt gewesen war, nach der Wahrheit zu suchen. Dabei war die Wahrheit niemals wirklich weit entfernt gewesen. „Irgendwann werde ich es verstehen“, sagte er leise zu Spider, auch, wenn er ihn jetzt nicht hören konnte. „... Und bis dahin werden wir uns kennenlernen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)