König der Eichhörnchen von Beba ================================================================================ Kapitel 1: Landleben -------------------- Der Weg zur Arbeit war jedes Mal wie die kurzzeitige Flucht in eine andere Welt. Er führte den Hof des alten Bauernhofes hinab, auf dem er seit einiger Zeit zur Miete wohnte, den langen staubigen Weg entlang, der in die erste kleine Ortschaft führte, und dann hinaus auf die Felder. Es war Anfang August. Die meisten Bauern hatten ihre Ernte bereits eingefahren, aber trotzdem hatten die weiten Acker voller abgeschnittener Weizenhalme auch ihren Reiz. Irgendwann endeten die Felder in einem Waldstück. Das war seiner Empfindung nach der schönste Teil seines Arbeitsweges. Morgens war es kühl - besonders im Wald. Priam fröstelte. Gänsehaut überzog seine Arme. Er ließ kurz vom Steuer seines Fahrrads ab, um die hochgekrempelten Ärmel seiner Sweatjacke nach unten zu streifen und seinen Reißverschluss etwas höher zu ziehen. Es hatte Vor- und Nachteile, am Arsch der Welt zu wohnen, aber für Priam überwiegten ganz klar die positiven Aspekte. Auch wenn er damals, als er Hals über Kopf bei seinen Eltern ausgezogen war, geschworen hatte, sich nie wieder in einem Kaff niederzulassen, hatte es ihn nach einigen Jahren in der Großstadt dann doch wieder aufs Land hinaus gezogen. Jetzt, wo er den Vergleich hatte, zog er das abendliche Zirpen der Grillen den nächtlichen Geräuschen der Stadt vor - auch wenn es ihn nie gestört hatte, dass es dort laut war. Es war nett gewesen, eine Weile in der Stadt zu wohnen. Am Anfang hatte er immer wieder darüber gestaunt, welche Möglichkeiten einem die Großstadt bot. Man konnte nahezu rund um die Uhr einkaufen, und im Gegensatz zu seinem Geburtsort waren hier die Straßen nicht schon um zehn Uhr Abends wie ausgestorben. Begeistert hatte er sich in das Nachtleben gestürzt, viele interessante Menschen kennen gelernt und schnell Freunde gefunden. Das war ihm allerdings noch nie schwer gefallen, egal wo. Aber trotz der täglichen Masse an Menschen, denen er begegnet war, hatte er sich nie richtig heimisch gefühlt. Wenn man nicht gerade feiern ging, kamen einem die Menschen, die hier lebten, fast wie Zombies vor. Stumm gingen sie über die Straßen, stumm saßen sie in der S-Bahn und stumm erledigten sie ihre Einkäufe. Wenn man jemanden ansprach, einfach nur so, um sich zu unterhalten, wurde man meistens angesehen, als käme man von einer anderen Welt. Irgendwann war Priam schon genau so lustlos und leblos geworden wie sie, und als er das erkannte, hatte er sich fürchterlich erschreckt. In dem winzigen Dörfchen, in dem er jetzt lebte, kannte jeder jeden. Wenn man die Anonymität der Großstadt zu schätzen wusste, war man hier falsch. Priam wusste es zu schätzen, dass man hier noch freundlich begrüßt wurde, wenn man sich begegnete, genau wie er es zu schätzen wusste, wie selbstverständlich es war, dass man sich gegenseitig half. Man kam sich vor wie in einer sehr großen Familie, und eine Familie zu haben war trotz allem, was ihm in seiner Kindheit so widerfahren war, immer noch das, was er sich von ganzem Herzen wünschte. Zunächst war es etwas schwierig gewesen, im neuen Wohnort Kontakte zu knüpfen, denn er hatte von Anfang an kein Geheimnis daraus gemacht, dass er schwul war. Das hatte die ersten Wochen noch für aufgeregtes Getuschel gesorgt, jedes Mal, wenn er mit dem Rad durch die Straßen fuhr. Man hatte ihn angesehen wie einen Aussätzigen, was er aber später auf die einfache Tatsache zurückführte, dass hier jeder Fremde erstmal das Vertrauen der Bewohner gewinnen musste. Trotzdem waren die meisten Menschen, die hier lebten, eher konservativ erzogen. Es gab nur eine Handvoll Leute in seinem Alter. Die meisten waren weit über fünfzig, und er war gerade mal achtundzwanzig. Sie hatten viele Vorurteile und glaubten offensichtlich an jedes noch so schreckliche Schwulen-Klischee. Irgendwann aber, als sein Gesicht nicht mehr ganz so unbekannt war und auch die Nachricht seiner Homosexualität niemanden mehr schockierte, hatten die ersten Bewohner mit zaghafter Neugier angefangen, sich mit ihm zu unterhalten. Zuerst waren es vorwiegend Frauen, aber nach und nach merkten auch die Männer, dass sie er sie nicht auffraß, sobald sie sich mit ihm unterhielten. Kurze Zeit später ging es fast um wie ein Virus. Immer mehr Menschen fingen an, ihn als Teil der Gemeinde zu behandeln und als sogar der alte Herr Niehuis vom Bauernhof nebenan ihm fortan freundlich zunickte, wenn er vorbei kam, wusste er, dass er es geschafft hatte. Er gehörte jetzt dazu. Fröhlich summend steuerte Priam sein Rad über den unebenen Waldboden und sah sich um. Er hielt immer Ausschau nach Tieren, wenn er hier unterwegs war. Er hatte schon Rehe gesehen, viele verschiedene Vogelarten, Hasen und oft auch Eichhörnchen. Die Eichhörnchen waren ihm am Liebsten. Ja, er liebte es hier. Er liebte die Natur. Diese himmlische Ruhe, diese Farbenpracht und vor allem diesen unbeschreiblichen Duft. Im Wald roch es immer nach einer Mischung aus Erde, Pilzen und Moos. Einfach herrlich. Schneller als ihm lieb war, war das Waldstück zu Ende, und das hieß, dass er bald an seinem Ziel angekommen war. Der unbefestigte, steinige Boden wich einem asphaltierten Fahrradweg, und er fuhr durch den Ortseingang. Vor der ersten Ampel musste er halten. Er hatte nie gezählt, wie viele Ampeln es in der Ortschaft gab, wo er arbeitete, aber mehr als fünf waren es sicher nicht. Im Dorf wo er wohnte gab es gar keine. Aber er vermisste sie auch nicht. Das Leuchten wechselte von rot zu grün. Begleitet von einem einzigen Auto setzte er seinen Weg fort. Er blickte zur Seite, als er überholt wurde und sah das grinsende Gesicht seiner Kollegin Sarah. Lächelnd winkte er ihr zu, sie erwiderte sein Winken. Sarah war zwei Jahre älter als er und arbeitete in der Verkaufsabteilung des Baumarktes. Sie war eine der ersten Menschen gewesen, mit denen er sich angefreundet hatte, denn sie war sehr offen, immer fröhlich und er verstand sich auf Anhieb mit ihr. Meistens machten sie zusammen Mittagspause, aber auch nach der Arbeit trafen sie sich manchmal. Sarah war zur Zeit vergeben, aber Priam hatte schnell gemerkt, dass sie eigentlich viel zu sprunghaft war, um eine längere Beziehung zu führen. Oft waren ihre Eroberungen nur von kurzer Dauer, doch sie war kein Kind von Traurigkeit. Sie war hübsch und konnte nahezu jeden Mann um den Finger wickeln. Trotzdem lebte sie in der festen Überzeugung, dass sie irgendwann den “Richtigen” treffen würde. Sarah fuhr an ihm vorbei. Er sah, wie ihr knallroter Kleinwagen auf die Auffahrt ihres Arbeitsplatzes fuhr - einem Baustoffgroßhandel, der schon seit drei Generationen in diesem Ort bestand. Priam nahm den selben Weg, fuhr über den kalten Beton des Parkplatzes um das riesige, rechteckige Gebäude herum und parkte sein Rad an dem dafür vorgesehenen Platz neben dem Personaleingang. Sarah wartete schon auf ihn und hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie bot ihm erst gar keine an, denn sie wusste, dass er bekennender Nichtraucher war. “Na, schönes Wochenende gehabt?”, fragte sie lächelnd, während sie ihn umarmte. “Es geht so, und du?” Sarahs Blick wurde neugierig, denn sie wusste genau, dass Priam am Wochenende bei Leslie zu Besuch gewesen war. Leslie war ein Überbleibsel aus seiner Großstadt-Zeit. Sein Ex-Freund, um genauer zu sein. Als Priam irgendwann die Jobzusage für den Baustoffgroßhandel bekommen hatte, hatte er sich notgedrungen von ihm getrennt, denn Leslie war Stadtkind, durch und durch, und er wollte partout nicht aufs Land ziehen. Eine Fernbeziehung kam für Priam nicht in Frage. Entweder, er fing sein neues Leben mit Leslie an, oder eben ohne. Während er selbst mit der Trennung nur wenig Probleme hatte, ging es Leslie seitdem miserabel. Ständig rief er an und heulte herum, manchmal auch mitten in der Nacht. Er schickte tonnenweise Nachrichten und manchmal sogar kitschige, parfümierte Liebesbriefe. Priam hatte zunächst versucht, es zu ignorieren, doch nach mehreren Wochen hatte er dann doch so was wie Mitleid bekommen. “Oh, war es so schlimm?”, fragte Sarah mit verzogenem Gesicht. Sie ließ eine weißliche Qualmwolke aus ihrem Mund entweichen. Priam zuckte die Schultern. “Es war nicht anders, als ich es erwartet hatte”, erwiderte er, “Er hat herumgeheult und gesagt, dass er mich zurück will, weil er ohne mich nicht leben kann. Ich habe ihm gleich gesagt, dass ich den Job und mein Zuhause nicht aufgeben werde.” “Irgendwie tut er mir ja schon leid”, seufzte Sarah, “Immerhin liebt er dich doch so.” Wieder hoben sich Priams Achseln. “Wenn er mich so sehr liebt, hätte er mitkommen sollen.” “Du bist manchmal so kalt”, stellte seine brünette Kollegin mit fiesem Grinsen fest. “Aber es ist doch so.” Sarah drückte ihre Kippe im Aschenbecher aus, der draußen auf der Fensterbank stand. Dann öffnete sie die Tür des Personaleingangs und ging hinein. Während Priam ihr folgte, warf sie ihm einen schalkhaften Blick zu. “Aber gelaufen ist trotzdem etwas, habe ich recht?” Priam machte ein überraschtes Gesicht. “Woher zum Teufel weißt du das?” Sie zuckte die Schultern und grinste abermals. “Weiß nicht. Du wirkst so entspannt heute. Ich hätte es mir an deiner Stelle vermutlich auch nicht entgehen lassen.” Er kommentierte ihre Antwort mit einem unzufriedenen Brummen. Eigentlich hatte er gar nicht mit Leslie schlafen wollen. Eigentlich wollte er keine Fernbeziehung, aber so wie es aussah hatte er nach diesem Wochenende offenbar doch eine. Zuerst war er hart geblieben, hatte sich ganz cool gegeben und noch nicht mal mit der Wimper gezuckt, als Leslie vor seinen Augen in Tränen ausgebrochen war. Die Nacht von Freitag auf Samstag hatte er alleine im Gästezimmer verbracht. Er hatte sogar vorsorglich die Tür abgeschlossen, weil er damit rechnete, dass er sonst Besuch bekommen könnte. Am nächsten Tag waren sie zusammen durch die Innenstadt gepilgert, und die Stimmung hätte schlimmer kaum sein können. Abends waren sie dann zusammen in eine Bar gegangen und er hatte - natürlich ermuntert von Leslie - viel zu tief ins Glas geschaut. Im Nachhinein war er sich sicher, dass sein Ex es von Anfang an so geplant hatte. Leslie hatte ihn nach allen Regeln der Kunst verführt. Er kannte Priams Schwachstellen in- und auswendig, und das hatte er schamlos zu seinem Vorteil genutzt. Anfänglich hatte Priam sich noch gegen die Annäherungsversuche gewehrt, doch schließlich war er schwach geworden. Sie hatten eine unfassbar heiße Nacht miteinander verbracht, aber das änderte nichts daran, dass er am Sonntag mit einem unguten Gefühl nach Hause gefahren war. “Mach dir nichts draus”, tröstete Sarah ihn fröhlich, “Vielleicht überlegt er es sich ja wirklich noch anders und zieht hierher.” “Das glaube ich kaum”, erwiderte Priam. Und wenn er ganz ehrlich war, wollte er das auch gar nicht mehr. Er hatte zwar nichts Neues in Aussicht, aber je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass er es sich gar nicht vorstellen konnte, mit Leslie hier zu leben. Eigentlich hätte er selbst nicht erwartet, dass ihm das Aus ihrer Beziehung so wenig ausmachen würde, denn er hatte die Zeit mit dem gutaussehenden Blonden immer genossen. Aber jetzt, da es vorbei war, fand er seinen Ex plötzlich ziemlich nervtötend. Der Sex war nach wie vor der Wahnsinn, aber alles andere war nur noch anstrengend. “Ich würde ihm noch eine Chance geben, wenn ich du wäre”, meinte Sarah mit hochgezogener Augenbraue. “Du weißt genau wie ich, dass du hier wohl kaum jemanden kennen lernst, der…” “ - schwul ist?”, vervollständigte er ihren Satz lächelnd. Sie nickte. “Ja, genau.” “Wir werden sehen”, erwiderte er gelassen. Er legte momentan keinen Wert darauf, sich gleich in etwas Neues zu stürzen. Jetzt, wo er sowieso wieder mit Leslie vögeln würde, war es ihm auch egal. Er überprüfte sein Aussehen in dem einfachen Spiegel, der an der kahlen grauen Wand im Aufenthaltsraum hing. Tiefbraune Augen erwiderten seinen Blick. Seine haselnussfarbenen Locken hatten sich durch die Fahrradfahrt etwas in einander verknotet. Er fuhr mit der Hand durch die kinnlange Mähne, um sie wieder in Form zu bringen. “Wenn du nicht schwul wärst, würden die Mädels im Ort sicher Schlange stehen”, glaubte Sarah, “Mich mit eingeschlossen. Du bist mit Abstand der attraktivste Mann weit und breit.” Priam grinste nur. “Bringt mir allerdings herzlich wenig.” “Tja…” Sie verließen den Personalraum. Kurz vor dem noch verschlossenen Kundeneingang trennten sich ihre Wege. Sarah arbeitete als Verkäuferin im Baumarkt, Priam musste nach oben ins Büro. Er arbeitete im Großhandel, genau genommen in der Tiefbau-Abteilung. Im Gegensatz zu Sarah bediente er seine Kunden hauptsächlich telefonisch und bearbeitete Preisanfragen für Baufirmen. Er teilte sich einen Büroraum mit seinem Kollegen Matthias, den alle nur Matti nannten. Matti war dreiundvierzig, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er war umgänglich und zuverlässig, ein sehr angenehmer Kollege. Ab und zu hatten sie nach Feierabend schon mal ein Bier mit einander getrunken. Allerdings war Priam sehr früh heute, und Matti war sicher noch nicht da. Auf dem Weg ins Büro grüßte er mehrere andere Kolleginnen und Kollegen, holte sich eine Tasse Kaffee und begab sich dann an seinen Schreibtisch, um den Computer hochzufahren. Priam war nach seinem Abitur eher zufällig im Baustoffbereich gelandet. Studieren wollte er nicht, das war einfach nicht sein Ding. Als er damals nach einer Ausbildung suchte, wollte er gern etwas Kaufmännisches lernen. Er hatte die Ausbildungsstelle angenommen, für die er als Erstes eine Zusage erhalten hatte, und war dadurch zu seinem Beruf gekommen. Auch wenn es nicht unbedingt sein Traumberuf war, machte es ihm Spaß. Er fühlte sich auch in seiner neuen Firma sehr wohl. Seine Kollegen waren alle sehr freundlich und sein Chef im Grunde genommen genauso. Auch, wenn ich im Vergleich zu seiner früheren Arbeitsstätte kleine Abstriche machen musste, was sein Gehalt anging, konnte er jetzt zumindest endlich so leben, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Fehlte eigentlich nur noch der richtige Partner. 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