König der Eichhörnchen von Beba ================================================================================ Kapitel 1: Landleben -------------------- Der Weg zur Arbeit war jedes Mal wie die kurzzeitige Flucht in eine andere Welt. Er führte den Hof des alten Bauernhofes hinab, auf dem er seit einiger Zeit zur Miete wohnte, den langen staubigen Weg entlang, der in die erste kleine Ortschaft führte, und dann hinaus auf die Felder. Es war Anfang August. Die meisten Bauern hatten ihre Ernte bereits eingefahren, aber trotzdem hatten die weiten Acker voller abgeschnittener Weizenhalme auch ihren Reiz. Irgendwann endeten die Felder in einem Waldstück. Das war seiner Empfindung nach der schönste Teil seines Arbeitsweges. Morgens war es kühl - besonders im Wald. Priam fröstelte. Gänsehaut überzog seine Arme. Er ließ kurz vom Steuer seines Fahrrads ab, um die hochgekrempelten Ärmel seiner Sweatjacke nach unten zu streifen und seinen Reißverschluss etwas höher zu ziehen. Es hatte Vor- und Nachteile, am Arsch der Welt zu wohnen, aber für Priam überwiegten ganz klar die positiven Aspekte. Auch wenn er damals, als er Hals über Kopf bei seinen Eltern ausgezogen war, geschworen hatte, sich nie wieder in einem Kaff niederzulassen, hatte es ihn nach einigen Jahren in der Großstadt dann doch wieder aufs Land hinaus gezogen. Jetzt, wo er den Vergleich hatte, zog er das abendliche Zirpen der Grillen den nächtlichen Geräuschen der Stadt vor - auch wenn es ihn nie gestört hatte, dass es dort laut war. Es war nett gewesen, eine Weile in der Stadt zu wohnen. Am Anfang hatte er immer wieder darüber gestaunt, welche Möglichkeiten einem die Großstadt bot. Man konnte nahezu rund um die Uhr einkaufen, und im Gegensatz zu seinem Geburtsort waren hier die Straßen nicht schon um zehn Uhr Abends wie ausgestorben. Begeistert hatte er sich in das Nachtleben gestürzt, viele interessante Menschen kennen gelernt und schnell Freunde gefunden. Das war ihm allerdings noch nie schwer gefallen, egal wo. Aber trotz der täglichen Masse an Menschen, denen er begegnet war, hatte er sich nie richtig heimisch gefühlt. Wenn man nicht gerade feiern ging, kamen einem die Menschen, die hier lebten, fast wie Zombies vor. Stumm gingen sie über die Straßen, stumm saßen sie in der S-Bahn und stumm erledigten sie ihre Einkäufe. Wenn man jemanden ansprach, einfach nur so, um sich zu unterhalten, wurde man meistens angesehen, als käme man von einer anderen Welt. Irgendwann war Priam schon genau so lustlos und leblos geworden wie sie, und als er das erkannte, hatte er sich fürchterlich erschreckt. In dem winzigen Dörfchen, in dem er jetzt lebte, kannte jeder jeden. Wenn man die Anonymität der Großstadt zu schätzen wusste, war man hier falsch. Priam wusste es zu schätzen, dass man hier noch freundlich begrüßt wurde, wenn man sich begegnete, genau wie er es zu schätzen wusste, wie selbstverständlich es war, dass man sich gegenseitig half. Man kam sich vor wie in einer sehr großen Familie, und eine Familie zu haben war trotz allem, was ihm in seiner Kindheit so widerfahren war, immer noch das, was er sich von ganzem Herzen wünschte. Zunächst war es etwas schwierig gewesen, im neuen Wohnort Kontakte zu knüpfen, denn er hatte von Anfang an kein Geheimnis daraus gemacht, dass er schwul war. Das hatte die ersten Wochen noch für aufgeregtes Getuschel gesorgt, jedes Mal, wenn er mit dem Rad durch die Straßen fuhr. Man hatte ihn angesehen wie einen Aussätzigen, was er aber später auf die einfache Tatsache zurückführte, dass hier jeder Fremde erstmal das Vertrauen der Bewohner gewinnen musste. Trotzdem waren die meisten Menschen, die hier lebten, eher konservativ erzogen. Es gab nur eine Handvoll Leute in seinem Alter. Die meisten waren weit über fünfzig, und er war gerade mal achtundzwanzig. Sie hatten viele Vorurteile und glaubten offensichtlich an jedes noch so schreckliche Schwulen-Klischee. Irgendwann aber, als sein Gesicht nicht mehr ganz so unbekannt war und auch die Nachricht seiner Homosexualität niemanden mehr schockierte, hatten die ersten Bewohner mit zaghafter Neugier angefangen, sich mit ihm zu unterhalten. Zuerst waren es vorwiegend Frauen, aber nach und nach merkten auch die Männer, dass sie er sie nicht auffraß, sobald sie sich mit ihm unterhielten. Kurze Zeit später ging es fast um wie ein Virus. Immer mehr Menschen fingen an, ihn als Teil der Gemeinde zu behandeln und als sogar der alte Herr Niehuis vom Bauernhof nebenan ihm fortan freundlich zunickte, wenn er vorbei kam, wusste er, dass er es geschafft hatte. Er gehörte jetzt dazu. Fröhlich summend steuerte Priam sein Rad über den unebenen Waldboden und sah sich um. Er hielt immer Ausschau nach Tieren, wenn er hier unterwegs war. Er hatte schon Rehe gesehen, viele verschiedene Vogelarten, Hasen und oft auch Eichhörnchen. Die Eichhörnchen waren ihm am Liebsten. Ja, er liebte es hier. Er liebte die Natur. Diese himmlische Ruhe, diese Farbenpracht und vor allem diesen unbeschreiblichen Duft. Im Wald roch es immer nach einer Mischung aus Erde, Pilzen und Moos. Einfach herrlich. Schneller als ihm lieb war, war das Waldstück zu Ende, und das hieß, dass er bald an seinem Ziel angekommen war. Der unbefestigte, steinige Boden wich einem asphaltierten Fahrradweg, und er fuhr durch den Ortseingang. Vor der ersten Ampel musste er halten. Er hatte nie gezählt, wie viele Ampeln es in der Ortschaft gab, wo er arbeitete, aber mehr als fünf waren es sicher nicht. Im Dorf wo er wohnte gab es gar keine. Aber er vermisste sie auch nicht. Das Leuchten wechselte von rot zu grün. Begleitet von einem einzigen Auto setzte er seinen Weg fort. Er blickte zur Seite, als er überholt wurde und sah das grinsende Gesicht seiner Kollegin Sarah. Lächelnd winkte er ihr zu, sie erwiderte sein Winken. Sarah war zwei Jahre älter als er und arbeitete in der Verkaufsabteilung des Baumarktes. Sie war eine der ersten Menschen gewesen, mit denen er sich angefreundet hatte, denn sie war sehr offen, immer fröhlich und er verstand sich auf Anhieb mit ihr. Meistens machten sie zusammen Mittagspause, aber auch nach der Arbeit trafen sie sich manchmal. Sarah war zur Zeit vergeben, aber Priam hatte schnell gemerkt, dass sie eigentlich viel zu sprunghaft war, um eine längere Beziehung zu führen. Oft waren ihre Eroberungen nur von kurzer Dauer, doch sie war kein Kind von Traurigkeit. Sie war hübsch und konnte nahezu jeden Mann um den Finger wickeln. Trotzdem lebte sie in der festen Überzeugung, dass sie irgendwann den “Richtigen” treffen würde. Sarah fuhr an ihm vorbei. Er sah, wie ihr knallroter Kleinwagen auf die Auffahrt ihres Arbeitsplatzes fuhr - einem Baustoffgroßhandel, der schon seit drei Generationen in diesem Ort bestand. Priam nahm den selben Weg, fuhr über den kalten Beton des Parkplatzes um das riesige, rechteckige Gebäude herum und parkte sein Rad an dem dafür vorgesehenen Platz neben dem Personaleingang. Sarah wartete schon auf ihn und hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie bot ihm erst gar keine an, denn sie wusste, dass er bekennender Nichtraucher war. “Na, schönes Wochenende gehabt?”, fragte sie lächelnd, während sie ihn umarmte. “Es geht so, und du?” Sarahs Blick wurde neugierig, denn sie wusste genau, dass Priam am Wochenende bei Leslie zu Besuch gewesen war. Leslie war ein Überbleibsel aus seiner Großstadt-Zeit. Sein Ex-Freund, um genauer zu sein. Als Priam irgendwann die Jobzusage für den Baustoffgroßhandel bekommen hatte, hatte er sich notgedrungen von ihm getrennt, denn Leslie war Stadtkind, durch und durch, und er wollte partout nicht aufs Land ziehen. Eine Fernbeziehung kam für Priam nicht in Frage. Entweder, er fing sein neues Leben mit Leslie an, oder eben ohne. Während er selbst mit der Trennung nur wenig Probleme hatte, ging es Leslie seitdem miserabel. Ständig rief er an und heulte herum, manchmal auch mitten in der Nacht. Er schickte tonnenweise Nachrichten und manchmal sogar kitschige, parfümierte Liebesbriefe. Priam hatte zunächst versucht, es zu ignorieren, doch nach mehreren Wochen hatte er dann doch so was wie Mitleid bekommen. “Oh, war es so schlimm?”, fragte Sarah mit verzogenem Gesicht. Sie ließ eine weißliche Qualmwolke aus ihrem Mund entweichen. Priam zuckte die Schultern. “Es war nicht anders, als ich es erwartet hatte”, erwiderte er, “Er hat herumgeheult und gesagt, dass er mich zurück will, weil er ohne mich nicht leben kann. Ich habe ihm gleich gesagt, dass ich den Job und mein Zuhause nicht aufgeben werde.” “Irgendwie tut er mir ja schon leid”, seufzte Sarah, “Immerhin liebt er dich doch so.” Wieder hoben sich Priams Achseln. “Wenn er mich so sehr liebt, hätte er mitkommen sollen.” “Du bist manchmal so kalt”, stellte seine brünette Kollegin mit fiesem Grinsen fest. “Aber es ist doch so.” Sarah drückte ihre Kippe im Aschenbecher aus, der draußen auf der Fensterbank stand. Dann öffnete sie die Tür des Personaleingangs und ging hinein. Während Priam ihr folgte, warf sie ihm einen schalkhaften Blick zu. “Aber gelaufen ist trotzdem etwas, habe ich recht?” Priam machte ein überraschtes Gesicht. “Woher zum Teufel weißt du das?” Sie zuckte die Schultern und grinste abermals. “Weiß nicht. Du wirkst so entspannt heute. Ich hätte es mir an deiner Stelle vermutlich auch nicht entgehen lassen.” Er kommentierte ihre Antwort mit einem unzufriedenen Brummen. Eigentlich hatte er gar nicht mit Leslie schlafen wollen. Eigentlich wollte er keine Fernbeziehung, aber so wie es aussah hatte er nach diesem Wochenende offenbar doch eine. Zuerst war er hart geblieben, hatte sich ganz cool gegeben und noch nicht mal mit der Wimper gezuckt, als Leslie vor seinen Augen in Tränen ausgebrochen war. Die Nacht von Freitag auf Samstag hatte er alleine im Gästezimmer verbracht. Er hatte sogar vorsorglich die Tür abgeschlossen, weil er damit rechnete, dass er sonst Besuch bekommen könnte. Am nächsten Tag waren sie zusammen durch die Innenstadt gepilgert, und die Stimmung hätte schlimmer kaum sein können. Abends waren sie dann zusammen in eine Bar gegangen und er hatte - natürlich ermuntert von Leslie - viel zu tief ins Glas geschaut. Im Nachhinein war er sich sicher, dass sein Ex es von Anfang an so geplant hatte. Leslie hatte ihn nach allen Regeln der Kunst verführt. Er kannte Priams Schwachstellen in- und auswendig, und das hatte er schamlos zu seinem Vorteil genutzt. Anfänglich hatte Priam sich noch gegen die Annäherungsversuche gewehrt, doch schließlich war er schwach geworden. Sie hatten eine unfassbar heiße Nacht miteinander verbracht, aber das änderte nichts daran, dass er am Sonntag mit einem unguten Gefühl nach Hause gefahren war. “Mach dir nichts draus”, tröstete Sarah ihn fröhlich, “Vielleicht überlegt er es sich ja wirklich noch anders und zieht hierher.” “Das glaube ich kaum”, erwiderte Priam. Und wenn er ganz ehrlich war, wollte er das auch gar nicht mehr. Er hatte zwar nichts Neues in Aussicht, aber je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass er es sich gar nicht vorstellen konnte, mit Leslie hier zu leben. Eigentlich hätte er selbst nicht erwartet, dass ihm das Aus ihrer Beziehung so wenig ausmachen würde, denn er hatte die Zeit mit dem gutaussehenden Blonden immer genossen. Aber jetzt, da es vorbei war, fand er seinen Ex plötzlich ziemlich nervtötend. Der Sex war nach wie vor der Wahnsinn, aber alles andere war nur noch anstrengend. “Ich würde ihm noch eine Chance geben, wenn ich du wäre”, meinte Sarah mit hochgezogener Augenbraue. “Du weißt genau wie ich, dass du hier wohl kaum jemanden kennen lernst, der…” “ - schwul ist?”, vervollständigte er ihren Satz lächelnd. Sie nickte. “Ja, genau.” “Wir werden sehen”, erwiderte er gelassen. Er legte momentan keinen Wert darauf, sich gleich in etwas Neues zu stürzen. Jetzt, wo er sowieso wieder mit Leslie vögeln würde, war es ihm auch egal. Er überprüfte sein Aussehen in dem einfachen Spiegel, der an der kahlen grauen Wand im Aufenthaltsraum hing. Tiefbraune Augen erwiderten seinen Blick. Seine haselnussfarbenen Locken hatten sich durch die Fahrradfahrt etwas in einander verknotet. Er fuhr mit der Hand durch die kinnlange Mähne, um sie wieder in Form zu bringen. “Wenn du nicht schwul wärst, würden die Mädels im Ort sicher Schlange stehen”, glaubte Sarah, “Mich mit eingeschlossen. Du bist mit Abstand der attraktivste Mann weit und breit.” Priam grinste nur. “Bringt mir allerdings herzlich wenig.” “Tja…” Sie verließen den Personalraum. Kurz vor dem noch verschlossenen Kundeneingang trennten sich ihre Wege. Sarah arbeitete als Verkäuferin im Baumarkt, Priam musste nach oben ins Büro. Er arbeitete im Großhandel, genau genommen in der Tiefbau-Abteilung. Im Gegensatz zu Sarah bediente er seine Kunden hauptsächlich telefonisch und bearbeitete Preisanfragen für Baufirmen. Er teilte sich einen Büroraum mit seinem Kollegen Matthias, den alle nur Matti nannten. Matti war dreiundvierzig, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er war umgänglich und zuverlässig, ein sehr angenehmer Kollege. Ab und zu hatten sie nach Feierabend schon mal ein Bier mit einander getrunken. Allerdings war Priam sehr früh heute, und Matti war sicher noch nicht da. Auf dem Weg ins Büro grüßte er mehrere andere Kolleginnen und Kollegen, holte sich eine Tasse Kaffee und begab sich dann an seinen Schreibtisch, um den Computer hochzufahren. Priam war nach seinem Abitur eher zufällig im Baustoffbereich gelandet. Studieren wollte er nicht, das war einfach nicht sein Ding. Als er damals nach einer Ausbildung suchte, wollte er gern etwas Kaufmännisches lernen. Er hatte die Ausbildungsstelle angenommen, für die er als Erstes eine Zusage erhalten hatte, und war dadurch zu seinem Beruf gekommen. Auch wenn es nicht unbedingt sein Traumberuf war, machte es ihm Spaß. Er fühlte sich auch in seiner neuen Firma sehr wohl. Seine Kollegen waren alle sehr freundlich und sein Chef im Grunde genommen genauso. Auch, wenn ich im Vergleich zu seiner früheren Arbeitsstätte kleine Abstriche machen musste, was sein Gehalt anging, konnte er jetzt zumindest endlich so leben, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Fehlte eigentlich nur noch der richtige Partner. Kapitel 2: Fremder ------------------ “Moin, Sunny.” Priam sah von seinem Schreibtisch hoch und entdeckte seinen Kollegen Matthias, der gerade den Büroraum betreten hatte und sich zu seinem Schreibtisch begab. “Hey, Matti.” Matthias saß ihm genau gegenüber, weshalb Priam nicht entging, wie furchtbar blass und erschöpft sein Kollege an diesem Morgen aussah. Ihm war auch nicht entgangen, dass er außerdem viel zu spät gekommen war. Das sah ihm gar nicht ähnlich. “Was ist denn mit dir los?”, fragte er verwundert, “Du siehst aus, als hättest du das ganze Wochenende durchgefeiert.” Während der Ältere unter seinem Schreibtisch verschwand, um den orangefarbenen Sicherheitsschalter an der Steckdosenleise umzulegen, seufzte er gequält. “Schön wär’s.” Er kam unter seinem Schreibtisch hervor, setzte sich auf seinen quietschenden Bürostuhl und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die geröteten Augen. “Ist alles etwas kompliziert daheim, momentan”, erklärte er dann fast hauchend. Mitleidsvoll legte Priam die Stirn in Falten. “Oh… Ich hoffe, es ist nichts Ernstes”, entgegnete der dem braunhaarigen Mann besorgt. Matti hob mit verzweifeltem Blick die Achseln. “Ehrlich gesagt weiß ich das grad selbst nicht”, gestand er mit brüchiger Stimme. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Priam erhob sich aus seinem Stuhl, um sich neben ihm auf den Schreibtisch zu setzen und ihn tröstend an der Schulter zu berühren. Matthias war sonst immer sehr gefasst und abgeklärt. Den erwachsenen Mann so am Boden zerstört zu sehen, bereitete Priam Unbehagen. “Meinst du nicht, dass du lieber nach Hause gehen solltest?”, fragte er vorsichtig. “Momentan bin ich froh, wenn ich nicht daheim sein muss.” “Willst du darüber sprechen?” Matti sah zu ihm auf und lächelte dankbar, was angesichts der tränengefüllten Augen etwas merkwürdig aussah. “Danke, Sunny. Lieb von dir. Vielleicht reden wir die Tage mal bei ‘nem kühlen Bier darüber”, schlug er vor. Priam erwiderte sein Lächeln. “Klar, jederzeit!” Den Spitznamen ‘Sunny’ hatte Priam schon ziemlich am Anfang bekommen, als er gerade erst in der Firma angefangen hatte und noch in der Probezeit war. Wer damit angefangen hatte, wusste er gar nicht mehr so genau. Irgend jemand hatte ihn mal als Sunnyboy bezeichnet, weil er mit seiner Hautfarbe, seinen sonnengebleichten braunen Locken und seinem ungezwungenen Kleidungsstil fast wie ein Surfer aussah, der gerade vom Strand kam. Matti hatte ihn dann kurzerhand ‘Sunny’ getauft, was sich bisher hartnäckig gehalten hatte. Priam selbst fand es nicht schlimm - ganz im Gegenteil. Irgendwie fand er es nett, seinen eigenen Spitznamen zu haben. Priam war stolz auf sein exotisches Aussehen. Seine etwas dunklere Hautfarbe und seine dichte Lockenmähne hatte er von seiner Mutter. Sie war Brasilianerin. Sein Vater war Deutscher. Von ihm hatte er die kantigen Kieferknochen und den muskulösen Körperbau. Priams Eltern lebten schon lange nicht mehr zusammen. Seinen Vater hatte er schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte noch mal geheiratet, diesmal eine Deutsche, und lebte mit ihr und seinen zwei neuen Kindern irgendwo auf Rügen. Er hatte weder die neue Frau seines Vaters, noch seine Geschwister jemals kennen gelernt. Priams Mutter hatte ebenfalls einen neuen Partner, aber er verstand sich überhaupt nicht mit ihm und besuchte sie deshalb nur selten. Geschwister hatte er - abgesehen von seinen unbekannten Halbgeschwistern - nicht. “Wie wäre es denn mit heute Abend? Oder ist dir das zu spontan?”, fragte er, als er sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt hatte. Matti überlegte kurz. “Warum eigentlich nicht”, meinte er nach einer Weile, “Ich hatte zwar eigentlich vor, mir mal so richtig die Kante zu geben, aber das kann ja noch warten.” “Wir können es auch auf Freitag verschieben, dann brauchen wir uns beide nicht zurück zu halten”, grinste Priam amüsiert. Matthias hielt ihm einen aufwärts gerichteten Daumen hin. “Super Idee. Also am Freitag. Nur wir zwei. Das wird lustig!” Während Priam zustimmend nickte, rieb er sich innerlich schadenfreudig die Hände. Wenn er Freitag Abend etwas trinken gehen würde, hatte er eine super Ausrede, um nicht zu Leslie fahren zu müssen. Denn nur für ein paar Stunden lohnte sich die Zugfahrt ja auch nicht. Zumindest sah er das so. Zur Mittagszeit traf er sich wie immer mit Sarah unten im Personalraum. Sie wartete schon auf ihn. “Wo möchtest du heute hin?”, fragte sie ihn, als sie zu Zweit auf den Parkplatz liefen. “Ich hätte Lust auf ne fette Thunfischpizza mit extra viel Käse”, erwiderte Priam lächelnd. “Klingt fantastisch! Auf geht’s.” Sie stiegen in Sarahs Golf und fuhren zur einzigen Pizzeria im Ort. Auch wenn die Dörfchen hier in der Gegend nicht viele Einwohner hatten, waren die Grundstücke größer als in der Stadt und die Entfernung zum Lokal ihrer Wahl war zu groß, um zu Fuß zu gehen. Bis sie dort ankommen würden, wäre schon über die Hälfte ihrer Mittagspause verstrichen. Noch während sie unterwegs waren, erklang ein dumpfes Klingeln, das aus Priams Tasche kam. Er seufzte vorahnungsvoll, fischte sein Smartphone hervor und sah auf das Display. “Wer hätte das gedacht”, brummte er zynisch. Sarah sah zur Seite. “Lass mich raten. Leslie?” “Natürlich. Wer sonst.” Nur widerwillig nahm er das Gespräch entgegen. “Ja, hallo?” Priam machte sich keine Mühe, den genervten Unterton in seiner Stimme zu verstecken, was Sarah ungewollt kichern ließ. Erschrocken hielt sie sich die Hand vor dem Mund und kicherte im Stillen weiter. “Hey, Priam”, ertönte es in schüchternem Ton vom anderen Ende der Leitung. “Was gibt es, Lez?” “Ich dachte, ich rufe dich mal an… Du hast doch Mittagspause, oder?” “Ja, habe ich.” “Ist etwas nicht in Ordnung? Du klingst so sauer.” Die Unsicherheit in Leslies Stimme nahm spürbar zu. “Nein, alles gut”, sprach Priam knapp, “Was ist denn los? Ich wollte gerade etwas essen.” Mit anderen Worten: Beeil dich und lass mich in Ruhe. “I-Ich dachte nur, na ja… Vielleicht hast du ja Lust, am Wochenende mit mir in die Sauna zu gehen”, erklang es zögernd. Sauna. Oh, wie berechnend Leslie doch war… Sofort kamen Bilder in Priam hoch. Dinge, die er in der Umkleidekabine des Thermalbades mit dem zwei Jahre jüngeren Bottom getrieben hatte. Er sah Leslies schlanken Körper vor sich, seine durchtrainierten Muskeln und seinen perfekten Hintern. Er konnte sich noch genau in Erinnerung rufen, wie schwer es ihnen gefallen war, ihr Stöhnen zu unterdrücken, um die anderen Badegäste nicht auf sich aufmerksam zu machen. In seiner Leistengegend zuckte es verräterisch. “Du kommst doch wieder am Wochenende, oder?”, hakte Leslie jetzt nach und riss ihn damit wieder in die Realität zurück. “Tut mir leid, aber ich bin schon verabredet”, gab Priam kühl zurück. “Verabredet?” Leslie klang entsetzt. “Ja, mit einem Arbeitskollegen. Er hat Stress daheim und ich habe versprochen, ihn ein bisschen abzulenken.” Rechtfertigte er sich etwa gerade? “Er ist aber nicht…” “ - nein, er ist Hetero, Lez”, unterbrach Priam seinen Freund, jetzt mit offenkundiger Missmut. Inzwischen hatte Sarah auf dem Parkplatz vor der Pizzeria angehalten und den Motor abgestellt. Sie hatte ihre Unterarme auf das Lenkrad gelegt und verfolgte das Gespräch gespannt. “Ich wollte nicht… Also…” Leslie holte tief Luft, um sich zu sammeln. “Du kommst also nicht, dieses Wochenende?” “Nein, tut mir leid. Vielleicht nächstes Wochenende.” “Okay…” Priam hörte es genau heraus: Leslie war am Boden zerstört und zutiefst enttäuscht. Aber er wollte ihm keine all zu großen Hoffnungen machen, bloß weil sie wieder mit einander geschlafen hatten. Er hatte Schluss gemacht und so sollte es auch bleiben. Basta. Als er das Telefonat beendet hatte sah er zu Sarah, die mit schmerzvollem Blick ihr Gesicht verzog. “Autsch. Das hat gesessen.” “Ich will ihm nichts vormachen”, brummte Priam, während er sein Smartphone wegsteckte und die Beifahrertür öffnete. “Keine Sorge, das hast du definitiv nicht. Du warst kalt wie ein Eisblock”, lachte sie. Später, als sie im kleinen Restaurant vor ihrer dampfend heißen Pizza saßen und schon angefangen hatten zu essen, kam Sarah auf seine Ausrede für das Wochenende zu sprechen. “Stimmt es denn wirklich, dass du mit ‘nem Kollegen weggehst?” Priam, der gerade den Mund voll hatte, nickte nur. “Und mit wem?”, fragte seine Kollegin neugierig, bevor sie erneut in ihre Mahlzeit biss. “Matti”, erwiderte Priam nur kauend. Als er sein Essen herunter geschluckt hatte, fügte er hinzu: “Er hat wohl ziemlichen Ärger daheim, so wie ich das verstanden hab.” Auch wenn er Sarah erst wenige Monate kannte, betrachtete er sie als gute Freundin - vielleicht sogar als seine Beste. Er vertraute ihr und wusste, dass sie die Information über Matthias nicht weiter tratschen würde. Was solche Dinge anging war sie überaus gewissenhaft. “So was ist mir vor einiger Zeit auch schon zu Ohren gekommen”, gestand die Brünette mit mitfühlendem Blick. “Muss schlimm sein. Immerhin hat er doch zwei Kinder im Teenageralter.” “Er wirkt ganz schön mitgenommen”, bestätigte Priam nickend. “Gut, dass du dich ein bisschen um ihn kümmerst”, fand Sarah, “Ich glaube, Matti hat nicht wirklich viele Kumpels. Er geht nicht so viel raus.” “Er hat ja auch seine Familie.” “Tja, normalerweise schon.” Die junge Frau zuckte die Schultern. “Aber anscheinend läuft da gerade trotzdem etwas schief.” Als sie gegessen hatten, mussten sie sich beeilen, um wieder rechtzeitig in der Firma zu sein. Der Rest des Nachmittags verlief eher ereignislos, Matthias’ Stimmung hatte sich etwas verbessert und als Priam ihm nach Feierabend viel Glück wünschte, bedankte er sich lächelnd. Dadurch, dass er um sieben anfing zu arbeiten statt um acht, konnte er bereits um sechzehn Uhr aufhören. Der Großhandel war bis siebzehn Uhr geöffnet und die letzte Stunde schaffte Matti auch alleine. Zur Not gab es im Büro nebenan noch zwei weitere Tiefbau-Kollegen, die ihm weiterhelfen konnten. Priam lief noch kurz in den Baumarkt, um sich von Sarah zu verabschieden. Sie war noch mit einem Kunden beschäftigt, deshalb winkten sie sich nur flüchtig zu. Er lief zu seinem Spind im Mitarbeiterraum, räumte seine Tasche heraus und warf sie über seine Schulter. Draußen vor der Tür traf er noch ein paar Jungs vom Lager, doch er unterhielt sich nicht lange mit ihnen, denn es wartete bereits Kundschaft auf sie. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, als er sich auf den Sattel seines Mountainbikes setzte und endlich losfuhr. Dicke graue Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Es sah nach Regen aus. Zum Glück machte es Priam nur selten etwas aus, im Regen zu fahren. Er hätte sich ein Auto durchaus leisten können, aber er wollte keins. Überall, wo er hin musste, kam er locker mit dem Rad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln hin. Außerdem gab er das Geld, das er sonst in Versicherung, Benzin und Instandhaltungskosten hätte investieren müssen, lieber für andere Dinge aus. Er steuerte den Wald an, als bereits erste Regentropfen seine Haut berührten. Dabei hatte er doch extra nachgesehen, ob es heute regnen würde. Seine Wetter-App war wirklich nicht sehr zuverlässig. Aber gut, wann war das eine Wettervorhersage schon. Im Wald war er vor dem Regen vorerst geschützt, aber wenn er danach durch die Felder musste, würde er sicher nass werden. Er hatte heute auch gar keine Regenkleidung dabei. Plötzlich musste er hart auf die Bremse treten. Während er seinen Tagträumen nachgegangen war, hatte er das herrenlose Rad, das mitten auf dem schmalen Waldweg lag, fast übersehen. Seine Räder drehten durch als er bremste, denn auf dem unebenen Untergrund hatten sie nur wenig Haftung. Holpernd und mit schleifendem Geräusch kam er zum Stillstand. Gerade noch rechtzeitig. Sofort sah er sich suchend nach dem Idioten um, der einfach so sein Rad hatte liegen lassen. Es war ein Männerrad, also musste es ja ein Idiot sein, keine Idiotin. Gar nicht zu denken, was alles hätte passieren können, wenn er nicht noch im letzten Moment gebremst hätte. Im schlimmsten Fall hätte er sich das Genick gebrochen! “Hey!”, schrie er wütend in den Wald hinein, bewirkte damit aber lediglich, dass eine Amsel erschrocken die Flucht ergriff. Er stieg von seinem Mountainbike, stellte es gegen einen Baum und lief ins Dickicht. Da auf der rechten Seite des Weges nach kurzer Zeit schon eine Straße kam, konnte der ungehobelte Fahrrad-Vandalist ja nur auf der anderen Seite des Waldes unterwegs sein. Mit forschen Schritten machte Priam sich auf die Suche. Er wurde nicht schnell wütend, aber aus irgend einem Grund hatte der Schock des Beinahe-Unfalls sich direkt in blankem Zorn umgewandelt. Es war aber auch wirklich rücksichtslos, den Weg so zu blockieren. Wer so was tat, hatte sicher nicht die Spur von Erziehung genossen. Er hielt an, als er jemanden reden hörte. Es war eine sanfte, fast schon melodiöse Stimme. Sie redete ununterbrochen und es klang, als würde sie jemanden trösten. Plötzlich war Priam nicht mehr wütend, denn ihn beschlich der Gedanke, dass sich auf dem Waldweg womöglich auch ein Unfall ereignet haben könnte. Er kam sich ziemlich mies vor bei dem Gedanken, dass er wutschnaubend wie ein Stier in den Wald gerast war, obwohl vielleicht jemand seine Hilfe benötigen könnte. Also lief er weiter, folgte dem Geräusch und war sich ziemlich sicher, dass es ein junger Mann sein musste, den er da reden hörte. Bald schon bemerkte er eine Person. Offensichtlich ein Mann. Er hockte direkt unter einem Baum auf dem Boden, saß nach vorn gebeugt und murmelte immer noch leise vor sich hin. Mit hochgezogener Augenbraue blieb Priam stehen und beobachtete ihn, auch wenn er lediglich Rückseite des Mannes sehen konnte. Kurzes schwarzes Haar, leicht gewellt, bedeckte seinen Kopf. Er trug einen grün-blau gestreiften Kapuzenpullover, eine graue, etwas zerrissene Jeans und schwarz-weiße Sneaker. Seinem Kleidungsstil nach zu urteilen war er noch jung und auch seine Statur ließ erahnen, dass es sich eher um einen Teenager handelte. Priam beschloss, sich bemerkbar zu machen. Er räusperte sich, was den Fremden ruckartig herumfahren ließ. Jetzt konnte er sehen, mit wem er es zu tun hatte. Er erblickte ein schmales, blasses Gesicht hinter einer viel zu großen, dunklen Brille. Wohlgeformte, dünne Lippen versuchten überrumpelt, Worte zu bilden, schafften es aber nicht. Und dann trafen sich ihre Blicke. Diese Augen… Große, hellblaue, ängstliche Augen. Überwältigt hielt Priam die Luft ein. Sekunden später sah er auch, mit wem der Junge so liebevoll geredet hatte: In seinen schlanken Händen hielt er zwei kleine, rotbraune Fellknäuel. Eichhörnchen. Kapitel 3: Henning ------------------ “Was machst du da?” Sekunden nach der ersten, lähmenden Verblüffung hatte Priam seine Sprache wiedergefunden und musterte den fremden Jungen, der wie zur Salzsäule erstarrt vor ihm stand. “Ich, ich…” Mehr als ein hilfloses Stammeln brachte der Schwarzhaarige jedoch nicht hervor. Er sah zu Priam, dann zu den zwei winzigen Eichhörnchen in seinen Händen und anschließend wieder hoch. Auch wenn Priam ihn nicht kannte, konnte er doch relativ schnell ausschließen, dass der schmale Teenager Böses mit den Tierchen im Sinn hatte, denn sonst hätte er wohl kaum so liebevoll mit ihnen geredet. Also trat er näher, beugte sich vor und betrachtete die zwei Jungtiere. Er legte besorgt die Stirn in Falten. “Die sehen aber nicht sehr gut aus”, stellte er mit ernster Stimme fest. Der schwarzhaarige Junge nickte eifrig. “Sie brauchen dringend Wärme”, fing er zögernd an, “Sonst überleben sie nicht lange.” “Wo hast du sie gefunden?”, fragte Priam. Sein Gegenüber streckte schweigend die Hand aus. Er folgte der Richtung des Zeigefingers mit den Augen und entdeckte einen zerstörten Kobel, der auf dem Waldboden lag. “So ein Mist”, brummte er verärgert, “Wie ist das denn passiert?” “Keine Ahnung…” Priam sah sich um. Vom Muttertier war weit und breit nichts zu sehen. “Sie ist tot”, hauchte der Junge in traurigem Ton, so als hätte er geahnt, dass der unbekannte Mann Ausschau nach der Mutter hielt. “Ich habe sie am Wegrand liegen sehen.” “Verdammt…” “Ich wusste, dass sie hier ein Nest hat. Ich habe sie schon öfter beobachtet die letzten Tage, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie Junge hat”, fuhr der Teenager fort. Priam sah auf die zwei kleinen Eichhörnchen, die zwar schon einige Wochen alt waren, aber ohne den Schutz ihrer Mutter sicher keine Chance haben würden. Sie hatten gerade mal ihre Augen geöffnet und wirkten völlig schutzlos. “Wir können sie nicht einfach hierlassen”, beschloss Priam. Er sah den Jungen an, der seinen Blick hilflos erwiderte. “Ich kann sie unmöglich mitnehmen”, beteuerte er kopfschüttelnd, “Meine Tante macht mir sicher die Hölle heiß, wenn sie das herausfindet!” “Dann nehme ich sie eben”, seufzte Priam, “Irgend jemand muss sich um sie kümmern. Sobald ich daheim bin, werde ich mich mal erkundigen, ob es irgendwo eine Auffangstation für die Kleinen gibt.” Sein Gegenüber nickte erleichtert. Doch wie sollte Priam die Jungtiere transportieren? Er überlegte kurz, hob dann seine Tasche von den Schultern und ging in die Hocke. Zuerst räumte er seine wenigen Habseligkeiten in eins der Nebenfächer, dann sammelte er etwas trockenes Laub ein. “Wie heißt du?”, erklang es in neugierigem Ton von oben. “Priam”, erwiderte er, ohne aufzusehen, “Und du?” “Henning.” Als Priam genug Blätter beisammen hatte, stopfte er sie in das ausgeräumte Fach und nahm dann den zerstörten Kobel an sich. Er musste ein Stück davon abtrennen, damit er in die Tasche passte, aber schlussendlich hatte er alles so eingerichtet, dass er mit dem Ergebnis zufrieden war. “Wohnst du hier in der Gegend?”, fragte Henning interessiert, als Priam sich vom Waldboden erhob. “Ja, aber erst seit Kurzem”, antwortete der Ältere mit einem Lächeln. Er hielt seine Tasche auf. Henning legte die zwei Eichhörnchen behutsam hinein. Sie schlossen zwar sicherheitshalber den Reißverschluss, ließen ihn aber ein kleines Stückchen offen, damit noch genügend Sauerstoff hinein kam. Dann liefen sie gemeinsam zurück zu ihren Rädern. Man hörte, wie der Regen die Blätter der Bäume berührte, aber zum Glück schien es mehr ein Nieseln zu sein. “Ich habe mich schon gewundert, warum dein Rad mitten auf dem Weg liegt”, gestand Priam, während sie aufstiegen. Er hatte sich seine Tasche vorsichtig wieder umgehängt und achtete peinlichst genau darauf, dass er sich nicht zu wild bewegte. “Tut mir leid”, entschuldigte Henning sich beschämt, “Ich hätte nicht gedacht, dass hier jemand vorbei kommt.” “Ist schon gut, du hattest ja einen guten Grund”, beruhigte Priam ihn mit beschwichtigender Geste. “In welche Richtung musst du?”, wollte der Teenager wissen, als sie beide auf ihrem Rad saßen. Priam zeigte den Weg entlang, der durch den Wald führte. “Ich wohne in der übernächsten Ortschaft”, erklärte er. “Oh, das liegt auch auf meinem Weg”, stellte Henning fest und lächelte. “Wollen wir gemeinsam fahren?” Das Lächeln des Schwarzhaarigen war zwar zurückhaltend, doch es löste etwas in Priams Innerem aus, das ihn zutiefst überraschte. Ein merkwürdiges Gefühl füllte seinen Magen. Verflucht, der Kleine war doch höchstens zwanzig Jahre alt… Wieso fühlte er sich so zu ihm hingezogen?! “Klar, gerne”, erwiderte er etwas verunsichert. Hennings Lächeln verbreiterte sich. “Okay, dann los.” Die Beiden setzten sich in Bewegung. Priam fuhr zunächst voraus, denn der schmale Waldweg ließ es nicht zu, dass sie neben einander radelten. Als sie den Wald verlassen hatten und auf den Fahrradweg wechselten, hatten sie jedoch reichlich Platz. Henning holte etwas auf und manövrierte sich direkt neben Priam, der zur Seite sah. “Ich habe dich hier noch nie gesehen”, stellte der Lockenkopf verwundert fest, “Dabei dachte ich eigentlich, ich kenne jeden, der hier so im Umkreis wohnt.” “Du kannst mich auch nicht kennen”, gab Henning zu und grinste, “Ich bin auch erst vor kurzem hergezogen. Man glaubt es kaum, aber ich fange in einer Woche eine Ausbildung im Nachbarort an. Bin am Wochenende zu meiner Tante gezogen. Ich wohne so lange bei ihr.” “So ist das also.” Priam erwiderte das Grinsen des Teenagers. Inzwischen hatte es aufgehört zu nieseln, was ihn sehr erleichterte. Er hatte kurzzeitig Angst gehabt, dass die kostbare Fracht in seiner Tasche hätte nass werden können. “Da hast du dir aber eine nette Gegend ausgesucht, um eine Ausbildung zu machen.” “Meinst du das ernst?” “Na klar. Es ist doch schön hier.” “Ich dachte schon, du meinst das ironisch, weil es hier so ausgestorben ist”, meinte Henning. Er rückte mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht, die durch ein Schlagloch im Weg vor ihrem Platz gerutscht war. Dann fuhr er fort: “Meine Mitschüler haben mich für verrückt erklärt, weil ich hierher ziehe.” “Für jemanden in deinem Alter ist das auch wirklich etwas ungewöhnlich”, gab Priam zu. “Du tust ja grad so, als wärst du viel älter als ich!”, lachte Henning amüsiert. “Das bin ich mit Sicherheit.” “Ach ja?” Henning legte einen prüfenden Blick auf. “Wie alt bist du?” “Achtundzwanzig.” Priam konnte genau am Gesicht des Teenagers ablesen, dass seine Antwort überraschend war. “Ehrlich? Dann bist du ja zehn Jahre älter als ich!” “Du bist achtzehn?” “Ja.” Zehn Jahre Altersunterschied… Auch wenn Priam sich über so was sonst nie den Kopf zerbrochen hatte, fand er die Differenz doch etwas groß. Leslie war gerade mal zwei Jahre jünger als er und sein erster Verflossener war sogar fünf Jahre älter gewesen. Es war eigentlich sehr untypisch für ihn, auf so junge Dinger abzufahren. Trotzdem waren seine Körpersignale eindeutig: Henning faszinierte ihn schon von Anfang an. Dabei hatte der Schwarzhaarige nichts, was Priam sonst anziehend an Männern fand. Die Typen, auf die er sonst stand, waren meistens blond, durchtrainiert und legten viel Wert auf ihr Äußeres. Henning entsprach nichts von all dem. Er war dürr wie eine Bohnenstange, sah etwas aus wie die Nerds, die Priam früher in der Schule immer belächelt hatte und schien sich auch sonst nicht so sehr darum zu kümmern, wie er aussah. Aber gerade dieses Unschuldige übte einen unglaublichen Reiz auf den Älteren aus. Henning war kein Typ, der ins Solarium oder ins Fitness-Studio ging. Er sah eher aus wie einer, der sich in einer Bibliothek verschanzen würde. Priam wusste, dass er gerade viel zu sehr in Schubladen dachte, doch es war einfach zu offensichtlich. Und irgendwie fand er es auch nett, denn alle Männer für die er sich sonst interessierte, waren sehr egozentrisch und eitel gewesen. Aber was dachte er da denn überhaupt? Er hatte Henning eben erst kennen gelernt und hoffte schon darauf, dass er vielleicht schwul war. Der arme Junge. Innerhalb weniger Minuten schon zum potenziellen Opfer degradiert... War er schon so verzweifelt? “Fällt es dir nicht schwer, so ganz allein hierher zu ziehen?”, fragte Priam, um sich abzulenken. Henning hob die Achseln. “Nicht wirklich.” “Keine Familie, Freunde oder sonstige Verpflichtungen?” “Familie schon, aber da läuft momentan alles drüber und drunter”, erwiderte der Schwarzhaarige in gleichgültigem Ton. “Ich bin eigentlich sogar froh, dass ich bei meiner Tante unterkommen kann, denn sie ist mit Abstand die Coolste in unserer Familie. Und Freunde…” Er lächelte dünn. “Freunde habe ich nicht so wirklich. Einen oder zwei vielleicht, aber sie sind zu sehr mit sich selbst oder ihren Freundinnen beschäftigt.” “Ist doch auch nicht schlecht, dann brauchst du dich auch nicht darum zu scheren, dass jemand beleidigt sein könnte weil du dich nicht meldest”, entgegnete Priam ihm mit einem Zwinkern. Henning lachte. “Da hast du recht”, stimmte er dem Älteren zu. “Und du? Was machst du hier, am Arsch der Welt?” “Ich flüchte vor der Großstadt”, scherzte Priam. “Im Ernst?” “Jup. Hatte mein altes Leben satt. Ich bin auf dem Land groß geworden, und irgendwie hat es mich hierher gezogen.” Er neigte mit fragendem Blick den Kopf. “Klingt sicher seltsam, oder?” Henning schüttelte den Kopf. “Ganz und gar nicht”, beteuerte er freundlich, “Bei mir ist es doch ähnlich.” Sie erreichten das erste Dörfchen auf Priams Heimweg. Henning drosselte seine Geschwindigkeit, und als Priam das bemerkte, tat er es ihm gleich. “Wohnst du hier irgendwo?”, fragte er. Der Teenager nickte. “Ja, ich muss da vorn abbiegen.” “Oh”, entfuhr es Priams Mund, und wenn er es sich recht überlegte, klang er viel zu enttäuscht als ihm lieb war. “Ich muss geradeaus weiter, denn ich wohne im Nachbardorf.” Henning hielt an. Priam ebenfalls. “Hättest du… Also…” Stammelnd sah Henning auf den staubigen Fahrradweg, der mit dunklen Regentropfen gespickt war. “Ich dachte, wir könnten vielleicht Nummern tauschen.” Priam jubelte innerlich. Er hatte Mühe damit, nicht wie ein Idiot zu grinsen. “Sicher, gerne doch”, erwiderte er heiter. “Ich würd gern wissen, was aus den Eichhörnchen wird, weißt du”, begründete Henning und verpasste seinem Gegenüber damit unbeabsichtigt einen Dämpfer, der es in sich hatte. “Oh, achso. Ja klar.” “Außerdem finde ich dich echt sympathisch”, fuhr der Teenager unerwartet fort. “Vielleicht könnten wir uns mal treffen. Natürlich nur, wenn du Lust hast.” “Ja klar!” Verdammt. Das war schon wieder viel zu viel Begeisterung. Priam grinste ertappt, als Henning nach seinem Ausruf mit verwundertem Blick aufsah. “Ich mag dich auch”, gab er zu, “Und außerdem ist es schön, mal mit jemandem zu reden, der jünger ist als ich. Hier in der Gegend ist das wirklich eine Seltenheit.” “Das habe ich auch schon gemerkt”, lachte der Schwarzhaarige. “Hast du was zu schreiben?” “Einen Kulli habe ich, aber leider kein Papier.” “Nicht schlimm. Schreib einfach auf meinen Unterarm. Ich bin ja auch bald daheim, dann lasse ich bei dir durchklingeln, damit du auch meine Nummer hast.” “In Ordnung.” Priam streifte den Ärmel seines linken Arms hoch und hielt ihn Henning hin, der seine Brille zurechtrückte und dann anfing, Nummern auf die haselnussbraune Haut seiner neuen Bekanntschaft zu kritzeln. Zwischendrin hielt er kurz inne, um angestrengt zu überlegen, weil er nach eigenen Angaben erst seit kurzem eine neue Nummer bekommen hatte. Priam störte das nicht, ganz im Gegenteil. Er hörte dem Jungen auch gar nicht richtig zu. Er merkte nur, wie sein Herz raste, weil Hennings rechte Hand noch immer seinen Arm umklammerte. Seine schlanken Finger waren eiskalt, aber der Schauder, der über Priams Rücken lief, war nicht etwa deswegen. Als Henning fertig war, streifte Priam seinen Ärmel wieder herunter. “Okay, dann hören wir von einander”, meinte er freundlich. Henning nickte. “Ja, das wäre super. Kümmere dich gut um die beiden Kleinen.” “Darauf kannst du dich verlassen!” Sie schenkten sich ein letztes Lächeln, dann gingen sie getrennte Wege. Das letzte Stück seines Heimweges ging stetig bergauf, aber Priam fühlte sich, als könne er Bäume ausreißen. Wo er sonst ordentlich strampeln musste, fühlte er sich jetzt federleicht. “Oh Mann, Sunny”, ermahnte er sich selbst, “Der Kleine ist gerade mal achtzehn, und so wie er aussieht, hat er noch nie in seinem Leben Sex gehabt. Vergiss das am Besten gleich wieder.” Aber egal, was sein Kopf noch so alles an Argumenten auffuhr: Sein Herz wollte einfach nicht aufhören zu rasen. . Kapitel 4: Grinsen ------------------ Als Sarah von der Arbeit nach Hause kam und die Eingangstür aufschloss, strömte ihr ein verführerischer Duft entgegen. Schwelgerisch streckte sie die Nase in die Luft und versuchte zu erraten, was Henning diesmal gekocht hatte. Es roch ganz unverkennbar nach Gorgonzola… Mein Gott, hatte der Kleine tatsächlich die berühmte Gorgonzola-Sauce seiner Mutter zubereitet? Sarah lobte sich innerlich zum wiederholten Mal dafür, sich ihren Neffen ins Haus geholt zu haben. Sie lebte zwar gerne allein, aber der Junge erwies sich als wahrer Meisterkoch, war nahezu unsichtbar und beteiligte sich auch noch ohne Murren oder Meckern am Haushalt. Gerade Letzteres war ein Segen, denn Sarah war stinkend faul wenn es darum ging, aufzuräumen oder zu putzen. Henning dagegen schien diese Aufgaben mit Leichtigkeit zu erfüllen und trotzdem noch genügend Zeit zu haben, sich um das Abendessen zu kümmern. “Wenn du so weiter machst, lasse ich dich hier nie wieder ausziehen”, drohte die Brünette mit erhobenem Zeigefinger, als sie in die Küche gelaufen kam. Henning stand gegen die Küchentheke gelehnt, pustete gegen eine Gabel dampfender Spaghetti und lächelte, als er sie sah. Er hatte eine schwarze Jogginghose und ein viel zu großes T-Shirt an, auf dem das Maskottchen eines sehr bekannten Videospiels abgebildet war. Seine Brillengläser waren durch den Wasserdampf der brodelnden Töpfe leicht beschlagen. “Hallo Tantchen”, grüßte er sie freundlich. Sarah beugte sich über den Kochtopf mit der Gorgonzolasauce und stöhnte angetan. “Ich werde noch fett, wenn du ab jetzt jeden Tag für mich kochst.” “Ach was, soweit wird es sicher nicht kommen. Außerdem koche ich gerne. Es macht mir Spaß.” Vorsichtig biss Henning ein Stück von der Spaghetti ab, die er aus dem kochenden Wasser gezogen hatte, um zu überprüfen, ob sie schon gar war. “Sie brauchen noch ein bisschen”, stellte er kauend fest. “Fein, dann kann ich ja schnell einen Salat dazu machen”, erwiderte Sarah fröhlich. Sie holte einen Eisbergsalat aus dem Kühlschrank und fing an, die Blätter abzuzupfen. “Wie war es auf der Arbeit?”, wollte Henning wissen, während er ihr dabei zusah. “Wie immer”, seufzte seine Tante und hob die Achseln, “Haufenweise Rentner, die ihr Haus in Eigenarbeit sanieren möchten und sich wundern, wenn ich ihnen davon abrate.” Henning lachte vergnügt. “Das Übliche also.” “Sozusagen”, meinte Sarah lächelnd. “Und bei dir? Hast du die Radtour gemacht um die Gegend zu erkunden, wie du es eigentlich vor hattest?” Das Gesicht des Schwarzhaarigen hellte augenblicklich auf. “Oh ja, und ich habe wirklich viel erlebt!” “Tatsächlich?” Sarah öffnete den Wasserhahn und wusch die abgetrennten Salatblätter. “Ja”, entgegnete Henning ihr begeistert, “Ich habe zwei Eichhörnchen-Waisen im Wald entdeckt, der ganz in der Nähe des Baumarktes liegt. Eigentlich wollte ich dich ja mal besuchen, aber das hat dann natürlich meine ganze Planung durcheinander gebracht.” “Verwaiste Eichhörnchen? Ohje...” Sarah machte ein trauriges Gesicht. “Haben sie noch gelebt?” “Ja, aber ihre Mutter habe ich etwas weiter entfernt gefunden. Sie lebte leider nicht mehr”, erzählte Henning betrübt. “Du hast sie doch nicht etwa mutterseelenallein da liegen lassen, oder?”, erkundigte sich seine Tante mit großen Augen. Sofort schüttelte der Junge den Kopf. “Nein, natürlich nicht! Es tauchte plötzlich ein total netter Typ auf, der sie dann mitgenommen hat. Er wollte sich um sie kümmern.” Sarah schien verwundert. “Ein total netter Typ? Weißt du denn, wie er hieß?” “Ja, er sagte er heißt Priam.” Jetzt schien Sarahs Erstaunen gar kein Ende mehr zu nehmen. Mit offenem Mund sah sie zu Henning herüber. “Priam?!” Sie ließ von der Salatschüssel ab, drehte sich zu Henning um und verschränkte grinsend die Arme. “Das darf ja wohl nicht wahr sein! Dieser Schlingel! Dabei kann er mit Tieren doch überhaupt nichts anfangen!” Etwas irritiert über die Reaktion seiner Tante kratzte Henning sich den Kopf. “Du kennst ihn also?” “Natürlich kenne ich ihn!”, brachte Sarah amüsiert hervor, “Er ist mein Kollege, und zufälligerweise auch noch mein bester Freund!” Jetzt war es Henning, der vor Verwunderung zu lächeln anfing. “Echt? So ein Zufall.” “Das kann man wohl sagen”, stimmte Sarah ihm zu. Sie griff wieder nach dem halb fertigen Salat und packte ihn in die Salatschleuder. “Und er kümmert sich jetzt allen Ernstes um ein paar Eichhörnchen?” “Ja”, bestätigte Henning und wollte dann mit besorgtem Blick wissen: “Wieso? Meinst du etwa, er kriegt das nicht hin?” “Doch, bestimmt”, entgegnete die brünette Frau, während sie den Salat trocknete, “Ich wusste nur nicht, dass er so ein großes Herz für Tiere hat. Soweit ich weiß hatte er noch nie irgend ein Haustier.” “Ich denke, er wollte nur helfen”, vermutete Henning. Sarah hob grinsend eine Augenbraue. “Oh ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen.” Auch während sie aßen, blieben Priam und die Eichhörnchen das Hauptgesprächsthema. Zuerst erzählte Henning alles, was seit dem Fund der Tierchen passiert war, dann berichtete Sarah darüber, wie sie sich vor einigen Monaten mit Priam angefreundet hatte. Sie musste sich immer wieder ein Schmunzeln verkneifen, wenn Henning Fragen über den lebensfrohen Mann stellte, und sie konnte sich nur zu gut vorstellen, warum Priam sich als Retter angeboten hatte. Zwingend tauchte in ihr die Frage auf, ob Henning etwas von seiner sexuellen Ausrichtung ahnte. Ob Henning selbst etwa auch…? Sie verfiel ins Grübeln. Hatte Henning schon mal eine Freundin gehabt? Meine Güte, hatte ein Typ wie er überhaupt eine Chance bei Frauen? Er sah ja schon irgendwie süß aus, sofern sie das beurteilen konnte. Aber sie glaubte kaum, dass die Mädels in seinem Alter auf Videospiele, Star Trek und Comics abfuhren. “Tantchen?” Sarah schrak aus ihren Gedanken auf und sah in das fragende Gesicht ihres Neffen. Verdutzt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Henning sie etwas gefragt hatte. “Wie bitte?” “Ich habe gefragt, ob du mit dem Essen fertig bist”, wiederholte der junge Mann und deutete mit amüsiertem Lächeln auf ihren Teller. “Oh. Ja, ich bin fertig”, antwortete Sarah eilig. Sie stand auf, um Henning beim Abräumen zu helfen. Nachdem sie das dreckige Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, schaltete sie den Fernseher ein und machte es sich auf der Couch bequem. Henning leistete ihr noch eine Weile Gesellschaft und sie bemerkte ziemlich schnell, dass er andauernd auf sein Smartphone sah. “Sag bloß, ihr habt Nummern getauscht?”, fragte sie grinsend, als der Schwarzhaarige sein Telefon zum bestimmt hundertsten Mal mit enttäuschtem Blick auf den Couchtisch zurück legte. Ihre Frage schien Henning in Verlegenheit zu bringen. Sofort bildete sich eine zarte rötliche Färbung auf der Haut unterhalb seines Brillengestells. “Ja”, gestand er zögernd, “Ich wollte schließlich wissen, was aus den Eichhörnchen wird. Aber bisher hat er sich noch überhaupt nicht gemeldet. Dabei wollte er eigentlich durchklingeln lassen, sobald er daheim ist.” “Er hat jetzt bestimmt erstmal alle Hände voll zu tun”, vermutete Sarah. “Immerhin ist er Tiere nicht gewöhnt.” Henning schwieg, was erneut ein Grinsen auf Sarahs Gesicht zauberte. Soso, da wartete ihr süßer kleiner Neffe also voller Ungeduld darauf, dass Priam sich bei ihm melden würde... Sie nahm sich vor, ihrem Besten gleich morgen früh mal auf den Zahn zu fühlen. Nachdem Henning noch eine Zeit lang mit seiner Tante fern gesehen hatte, verdrückte er sich in sein Zimmer. Wenn Sarah ihre abendlichen Serien guckte, war sie sowieso wie gelähmt, also konnte er sich auch um andere Dinge kümmern. Er legte sein Smartphone auf seinen Schreibtisch ab und fing an, noch ein paar Umzugskartons auszuräumen. Zum Glück hatte er nicht viele Möbel, die er sein Eigen nennen konnte, was ihm den Auszug aus seinem Elternhaus einfach gemacht hatte. Trotzdem war einiges zusammengekommen, was jetzt ausgepackt werden musste. Filme, Videospiele für tausend unterschiedliche Konsolen und Bücher en masse. Henning las nahezu alles. Thriller, Horror, Krimis, Erotisches, lustiges, Sci-Fi und nicht zu vergessen: Comics. Allein seine Manga-Sammlung füllte einen kompletten Umzugskarton. Irgendwann vor ein paar Jahren hatte er durch eine Freundin mal angefangen, die Dinger zu lesen, und seitdem war er süchtig danach. Nachdem er die Bücher alle ordentlich weggeräumt hatte, betrachtete er stolz seine beachtliche Kollektion und entschied dann, es für heute gut sein zu lassen. Er hatte keine Lust mehr, Kartons auszuräumen, und morgen war ja auch noch ein Tag. Bis er nächsten Montag seine Ausbildung anfangen würde, hatte er noch genügend Zeit, sich hier häuslich einzurichten. Sarah hatte ihm ein richtig schönes Zimmer überlassen. Es war wirklich groß und grenzte direkt an den hauseigenen Garten. Auch wenn der Raum nur zum Garten hin ein einziges, riesiges Fenster hatte, ging dieses fast zum Boden und ließ viel Licht hinein. Die Fensterbank war auf Kniehöhe und so breit, dass man darin sitzen konnte. Henning hatte sie jetzt schon zu seinem Lieblingsplatz auserkoren. Er freute sich schon darauf, ein Kissen auf das helle Holz zu legen und sich mit einem guten Buch oder seiner Handheld-Konsole zu entspannen. Henning erschrak, als etwas seine Beine streifte. “Atilla!” Mit verärgertem Blick sah er den fetten, grauschwarz getigerten Kater an, der sich mit unschuldigem Miauen an seinen Waden rieb. “Musst du mich so erschrecken?” Nachsichtig ging er in die Hocke, um dem Koloss über den Kopf zu kraulen. “Priam ist nicht der Einzige, der Haustiere nicht gewohnt ist”, meinte er entschuldigend, was Atilla nur mit genießerischem Schnurren kommentierte. Als Henning sich wieder erhob, flüchtete der Kater aus dem Zimmer, was der Schwarzhaarige nutzte, um die Zimmertür zu schließen. Der Schlüssel zur Tür war schon vor einiger Zeit verloren gegangen, weswegen man sie nicht mehr abschließen konnte. Henning fand es nicht weiter schlimm. Er hatte ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Tante und wusste, dass sie im Zweifelsfall immer anklopfte, bevor sie in sein Zimmer kam. Trotzdem gab es gewisse Dinge, die er lieber nicht erledigte, wenn er wusste, dass Sarah in der Nähe war. Die tägliche Befriedigung seiner Lust war eine dieser Dinge. Henning lief ins Badezimmer, das glücklicherweise nicht ohne ein funktionsfähiges Schloss auskommen musste. Er zog den Duschvorhang zur Seite, drehte den Wasserhahn auf und zog sich aus, während das Wasser die richtige Temperatur erreichte. Ein Schaudern durchzog seinen schlanken Körper, als er unter das angenehm heiße Wasser stieg. Es rauschte über seinen Kopf, prasselte auf seine schmalen Schultern nieder und floss an ihm herab. Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. Zuhause hatte er immer lieber im Bett masturbiert, aber er hatte keine Probleme damit, dieses Ritual ab jetzt in der Dusche zu zelebrieren. Es ersparte ihm die Taschentücher, und die nötige Fantasie um in Stimmung zu kommen hatte er zur Genüge. Er griff nach dem Duschgel, seifte sich ein und konzentrierte die massierenden Bewegungen schon bald nur noch auf den härter werdenden Punkt zwischen seinen Beinen. Er brauchte es, jeden Tag, denn wenn er es nicht tat, war er schrecklich schlecht gelaunt und regte sich über alles und jeden auf. Natürlich wäre es ihm lieber, wenn er sich nicht selbst zum Höhepunkt bringen musste, aber sich einen runter zu holen hatte durchaus auch seinen Reiz. Schwer atmend stützte er sich mit einer Hand an den kalten Fliesen der Badezimmerwand ab, während das warme Wasser weiter über seinen Körper strömte. Die andere Hand nutzte er, um sein Glied mit viel Feingefühl zu stimulieren. Die Bewegungen wurden schon bald kraftvoller und schneller. Sein Daumen streifte bei jeder Aufwärtsbewegung über die pralle Eichel. Als er kam, biss er keuchend die Zähne zusammen. Es war erstaunlich schnell gegangen. Leise wimmernd sah er zu, wie sein Erguss vom Wasser erfasst und davon gespült wurde. Er musste sich beherrschen, denn er wusste genau, dass die dünnen Mauern des Hauses jedes noch so verräterische Geräusch durchließen. Es war unschön, sich so zurückhalten zu müssen, aber er kannte es bereits, denn bei seinen Eltern daheim war es nicht anders gewesen. Morgen früh, wenn seine Tante zur Arbeit gegangen war, würde er sich ganz ungeniert aufs Neue befriedigen. Wenn sie weg war, konnte er schließlich so laut sein wie er wollte. Die Nachbarhäuser waren alle so weit entfernt, dass ihn niemand hören würde. Er verließ mit zittrigen Beinen die Dusche, band ein Handtuch um seine Hüften und lief in sein Zimmer zurück. Gerade als er anfing, seinen blassen Körper abzutrocknen, piepste sein Smartphone. Mit verdutztem Blick sah er auf, lief zum Schreibtisch und berührte den Bildschirm. Er hatte eine Nachricht bekommen. Die Nummer war nicht eingespeichert, aber Henning ahnte bereits, wer ihm geschrieben hatte. Eilig fuhr er mit seinem Finger über den Touchscreen um die Nachricht zu öffnen. “Hey Henning! Sorry, dass ich mich jetzt erst melde. Hab ne gefühlte Ewigkeit mit dem Eichhörnchen-Notruf telefoniert und musste dann noch alles mögliche an Zeug besorgen, damit die Kleinen mir nicht verhungern. Du glaubst nicht, wie viel Arbeit die machen! Und was man da alles beachten muss… Jetzt sind sie jedenfalls satt und werden von Minute zu Minute agiler. Du solltest mal sehen, wie sie hier herumrennen! Und dann schlafen sie plötzlich mittendrin ein, hahaha.” Es folgte ein etwas verschwommenes Foto, das die beiden Tiere zeigte. Sie lagen auf einem hellen Handtuch, offenbar auf Priams Schoß. Eins von ihnen schien tief und fest zu schlafen. Ein Lächeln überflog Hennings Gesicht. Anscheinend waren seine Sorgen völlig unbegründet gewesen. Er freute sich sehr darüber, dass Priam ihn doch nicht vergessen hatte, denn für einen kurzen Moment hatte er schon geglaubt, der Ältere würde sich nicht mehr melden. Dabei hatte er sich wirklich gefreut, den Mann kennen gelernt zu haben. Henning fand ihn irgendwie cool. Eilig wischte er seine noch feuchten Finger an seinem Handtuch trocken und schrieb eine Antwort: “Eichhörnchen-Notruf? Sowas gibt’s echt? xD Wieder was dazu gelernt! Es freut mich total, dass es den Zweien jetzt besser geht. Tut mir übrigens sehr leid, dass ich dir das eingebrockt habe. Ich würde dir gern irgendwie helfen. Brauchst du noch etwas?” Auch wenn Henning nicht versuchte, auf den Bildschirm zu starren, tat er es doch. Er sah, dass Priam bereits dabei war, seine Nachricht zu beantworten. “Du hast mir doch nichts eingebrockt! War ja schließlich meine Entscheidung. Aber wenn ich ehrlich bin, könnte ich wirklich deine Hilfe gebrauchen… Ich muss morgen zur Arbeit, aber die Hörnchen brauchen alle 4-5 Stunden was zu futtern. Das schaff ich nicht in meiner Mittagspause, denn ich hab kein Auto. Und mitnehmen kann ich die Kleinen ja auch schlecht. Du hast nicht zufällig Zeit und Lust, bis zum Wochenende die Mittags-Fütterung zu übernehmen?” Henning grinste bis über beide Ohren, als er seine Antwort schrieb. “Doch, habe ich!” Er wusste nicht genau, wieso, aber sein Grinsen wollte einfach nicht mehr verschwinden. Kapitel 5: Grinsen (zensiert) ----------------------------- Als Sarah von der Arbeit nach Hause kam und die Eingangstür aufschloss, strömte ihr ein verführerischer Duft entgegen. Schwelgerisch streckte sie die Nase in die Luft und versuchte zu erraten, was Henning diesmal gekocht hatte. Es roch ganz unverkennbar nach Gorgonzola… Mein Gott, hatte der Kleine tatsächlich die berühmte Gorgonzola-Sauce seiner Mutter zubereitet? Sarah lobte sich innerlich zum wiederholten Mal dafür, sich ihren Neffen ins Haus geholt zu haben. Sie lebte zwar gerne allein, aber der Junge erwies sich als wahrer Meisterkoch, war nahezu unsichtbar und beteiligte sich auch noch ohne Murren oder Meckern am Haushalt. Gerade Letzteres war ein Segen, denn Sarah war stinkend faul wenn es darum ging, aufzuräumen oder zu putzen. Henning dagegen schien diese Aufgaben mit Leichtigkeit zu erfüllen und trotzdem noch genügend Zeit zu haben, sich um das Abendessen zu kümmern. “Wenn du so weiter machst, lasse ich dich hier nie wieder ausziehen”, drohte die Brünette mit erhobenem Zeigefinger, als sie in die Küche gelaufen kam. Henning stand gegen die Küchentheke gelehnt, pustete gegen eine Gabel dampfender Spaghetti und lächelte, als er sie sah. Er hatte eine schwarze Jogginghose und ein viel zu großes T-Shirt an, auf dem das Maskottchen eines sehr bekannten Videospiels abgebildet war. Seine Brillengläser waren durch den Wasserdampf der brodelnden Töpfe leicht beschlagen. “Hallo Tantchen”, grüßte er sie freundlich. Sarah beugte sich über den Kochtopf mit der Gorgonzolasauce und stöhnte angetan. “Ich werde noch fett, wenn du ab jetzt jeden Tag für mich kochst.” “Ach was, soweit wird es sicher nicht kommen. Außerdem koche ich gerne. Es macht mir Spaß.” Vorsichtig biss Henning ein Stück von der Spaghetti ab, die er aus dem kochenden Wasser gezogen hatte, um zu überprüfen, ob sie schon gar war. “Sie brauchen noch ein bisschen”, stellte er kauend fest. “Fein, dann kann ich ja schnell einen Salat dazu machen”, erwiderte Sarah fröhlich. Sie holte einen Eisbergsalat aus dem Kühlschrank und fing an, die Blätter abzuzupfen. “Wie war es auf der Arbeit?”, wollte Henning wissen, während er ihr dabei zusah. “Wie immer”, seufzte seine Tante und hob die Achseln, “Haufenweise Rentner, die ihr Haus in Eigenarbeit sanieren möchten und sich wundern, wenn ich ihnen davon abrate.” Henning lachte vergnügt. “Das Übliche also.” “Sozusagen”, meinte Sarah lächelnd. “Und bei dir? Hast du die Radtour gemacht um die Gegend zu erkunden, wie du es eigentlich vor hattest?” Das Gesicht des Schwarzhaarigen hellte augenblicklich auf. “Oh ja, und ich habe wirklich viel erlebt!” “Tatsächlich?” Sarah öffnete den Wasserhahn und wusch die abgetrennten Salatblätter. “Ja”, entgegnete Henning ihr begeistert, “Ich habe zwei Eichhörnchen-Waisen im Wald entdeckt, der ganz in der Nähe des Baumarktes liegt. Eigentlich wollte ich dich ja mal besuchen, aber das hat dann natürlich meine ganze Planung durcheinander gebracht.” “Verwaiste Eichhörnchen? Ohje...” Sarah machte ein trauriges Gesicht. “Haben sie noch gelebt?” “Ja, aber ihre Mutter habe ich etwas weiter entfernt gefunden. Sie lebte leider nicht mehr”, erzählte Henning betrübt. “Du hast sie doch nicht etwa mutterseelenallein da liegen lassen, oder?”, erkundigte sich seine Tante mit großen Augen. Sofort schüttelte der Junge den Kopf. “Nein, natürlich nicht! Es tauchte plötzlich ein total netter Typ auf, der sie dann mitgenommen hat. Er wollte sich um sie kümmern.” Sarah schien verwundert. “Ein total netter Typ? Weißt du denn, wie er hieß?” “Ja, er sagte er heißt Priam.” Jetzt schien Sarahs Erstaunen gar kein Ende mehr zu nehmen. Mit offenem Mund sah sie zu Henning herüber. “Priam?!” Sie ließ von der Salatschüssel ab, drehte sich zu Henning um und verschränkte grinsend die Arme. “Das darf ja wohl nicht wahr sein! Dieser Schlingel! Dabei kann er mit Tieren doch überhaupt nichts anfangen!” Etwas irritiert über die Reaktion seiner Tante kratzte Henning sich den Kopf. “Du kennst ihn also?” “Natürlich kenne ich ihn!”, brachte Sarah amüsiert hervor, “Er ist mein Kollege, und zufälligerweise auch noch mein bester Freund!” Jetzt war es Henning, der vor Verwunderung zu lächeln anfing. “Echt? So ein Zufall.” “Das kann man wohl sagen”, stimmte Sarah ihm zu. Sie griff wieder nach dem halb fertigen Salat und packte ihn in die Salatschleuder. “Und er kümmert sich jetzt allen Ernstes um ein paar Eichhörnchen?” “Ja”, bestätigte Henning und wollte dann mit besorgtem Blick wissen: “Wieso? Meinst du etwa, er kriegt das nicht hin?” “Doch, bestimmt”, entgegnete die brünette Frau, während sie den Salat trocknete, “Ich wusste nur nicht, dass er so ein großes Herz für Tiere hat. Soweit ich weiß hatte er noch nie irgend ein Haustier.” “Ich denke, er wollte nur helfen”, vermutete Henning. Sarah hob grinsend eine Augenbraue. “Oh ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen.” Auch während sie aßen, blieben Priam und die Eichhörnchen das Hauptgesprächsthema. Zuerst erzählte Henning alles, was seit dem Fund der Tierchen passiert war, dann berichtete Sarah darüber, wie sie sich vor einigen Monaten mit Priam angefreundet hatte. Sie musste sich immer wieder ein Schmunzeln verkneifen, wenn Henning Fragen über den lebensfrohen Mann stellte, und sie konnte sich nur zu gut vorstellen, warum Priam sich als Retter angeboten hatte. Zwingend tauchte in ihr die Frage auf, ob Henning etwas von seiner sexuellen Ausrichtung ahnte. Ob Henning selbst etwa auch…? Sie verfiel ins Grübeln. Hatte Henning schon mal eine Freundin gehabt? Meine Güte, hatte ein Typ wie er überhaupt eine Chance bei Frauen? Er sah ja schon irgendwie süß aus, sofern sie das beurteilen konnte. Aber sie glaubte kaum, dass die Mädels in seinem Alter auf Videospiele, Star Trek und Comics abfuhren. “Tantchen?” Sarah schrak aus ihren Gedanken auf und sah in das fragende Gesicht ihres Neffen. Verdutzt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Henning sie etwas gefragt hatte. “Wie bitte?” “Ich habe gefragt, ob du mit dem Essen fertig bist”, wiederholte der junge Mann und deutete mit amüsiertem Lächeln auf ihren Teller. “Oh. Ja, ich bin fertig”, antwortete Sarah eilig. Sie stand auf, um Henning beim Abräumen zu helfen. Nachdem sie das dreckige Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, schaltete sie den Fernseher ein und machte es sich auf der Couch bequem. Henning leistete ihr noch eine Weile Gesellschaft und sie bemerkte ziemlich schnell, dass er andauernd auf sein Smartphone sah. “Sag bloß, ihr habt Nummern getauscht?”, fragte sie grinsend, als der Schwarzhaarige sein Telefon zum bestimmt hundertsten Mal mit enttäuschtem Blick auf den Couchtisch zurück legte. Ihre Frage schien Henning in Verlegenheit zu bringen. Sofort bildete sich eine zarte rötliche Färbung auf der Haut unterhalb seines Brillengestells. “Ja”, gestand er zögernd, “Ich wollte schließlich wissen, was aus den Eichhörnchen wird. Aber bisher hat er sich noch überhaupt nicht gemeldet. Dabei wollte er eigentlich durchklingeln lassen, sobald er daheim ist.” “Er hat jetzt bestimmt erstmal alle Hände voll zu tun”, vermutete Sarah. “Immerhin ist er Tiere nicht gewöhnt.” Henning schwieg, was erneut ein Grinsen auf Sarahs Gesicht zauberte. Soso, da wartete ihr süßer kleiner Neffe also voller Ungeduld darauf, dass Priam sich bei ihm melden würde... Sie nahm sich vor, ihrem Besten gleich morgen früh mal auf den Zahn zu fühlen. Nachdem Henning noch eine Zeit lang mit seiner Tante fern gesehen hatte, verdrückte er sich in sein Zimmer. Wenn Sarah ihre abendlichen Serien guckte, war sie sowieso wie gelähmt, also konnte er sich auch um andere Dinge kümmern. Er legte sein Smartphone auf seinen Schreibtisch ab und fing an, noch ein paar Umzugskartons auszuräumen. Zum Glück hatte er nicht viele Möbel, die er sein Eigen nennen konnte, was ihm den Auszug aus seinem Elternhaus einfach gemacht hatte. Trotzdem war einiges zusammengekommen, was jetzt ausgepackt werden musste. Filme, Videospiele für tausend unterschiedliche Konsolen und Bücher en masse. Henning las nahezu alles. Thriller, Horror, Krimis, Erotisches, lustiges, Sci-Fi und nicht zu vergessen: Comics. Allein seine Manga-Sammlung füllte einen kompletten Umzugskarton. Irgendwann vor ein paar Jahren hatte er durch eine Freundin mal angefangen, die Dinger zu lesen, und seitdem war er süchtig danach. Nachdem er die Bücher alle ordentlich weggeräumt hatte, betrachtete er stolz seine beachtliche Kollektion und entschied dann, es für heute gut sein zu lassen. Er hatte keine Lust mehr, Kartons auszuräumen, und morgen war ja auch noch ein Tag. Bis er nächsten Montag seine Ausbildung anfangen würde, hatte er noch genügend Zeit, sich hier häuslich einzurichten. Sarah hatte ihm ein richtig schönes Zimmer überlassen. Es war wirklich groß und grenzte direkt an den hauseigenen Garten. Auch wenn der Raum nur zum Garten hin ein einziges, riesiges Fenster hatte, ging dieses fast zum Boden und ließ viel Licht hinein. Die Fensterbank war auf Kniehöhe und so breit, dass man darin sitzen konnte. Henning hatte sie jetzt schon zu seinem Lieblingsplatz auserkoren. Er freute sich schon darauf, ein Kissen auf das helle Holz zu legen und sich mit einem guten Buch oder seiner Handheld-Konsole zu entspannen. Henning erschrak, als etwas seine Beine streifte. “Atilla!” Mit verärgertem Blick sah er den fetten, grauschwarz getigerten Kater an, der sich mit unschuldigem Miauen an seinen Waden rieb. “Musst du mich so erschrecken?” Nachsichtig ging er in die Hocke, um dem Koloss über den Kopf zu kraulen. “Priam ist nicht der Einzige, der Haustiere nicht gewohnt ist”, meinte er entschuldigend, was Atilla nur mit genießerischem Schnurren kommentierte. Als Henning sich wieder erhob, flüchtete der Kater aus dem Zimmer, was der Schwarzhaarige nutzte, um die Zimmertür zu schließen. Der Schlüssel zur Tür war schon vor einiger Zeit verloren gegangen, weswegen man sie nicht mehr abschließen konnte. Henning fand es nicht weiter schlimm. Er hatte ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Tante und wusste, dass sie im Zweifelsfall immer anklopfte, bevor sie in sein Zimmer kam. Trotzdem gab es gewisse Dinge, die er lieber nicht erledigte, wenn er wusste, dass Sarah in der Nähe war. Die tägliche Befriedigung seiner Lust war eine dieser Dinge. Henning lief ins Badezimmer, das glücklicherweise nicht ohne ein funktionsfähiges Schloss auskommen musste. Er zog den Duschvorhang zur Seite, drehte den Wasserhahn auf und zog sich aus, während das Wasser die richtige Temperatur erreichte. Ein Schaudern durchzog seinen schlanken Körper, als er unter das angenehm heiße Wasser stieg. Es rauschte über seinen Kopf, prasselte auf seine schmalen Schultern nieder und floss an ihm herab. Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. [...] Er verließ mit zittrigen Beinen die Dusche, band ein Handtuch um seine Hüften und lief in sein Zimmer zurück. Gerade als er anfing, seinen blassen Körper abzutrocknen, piepste sein Smartphone. Mit verdutztem Blick sah er auf, lief zum Schreibtisch und berührte den Bildschirm. Er hatte eine Nachricht bekommen. Die Nummer war nicht eingespeichert, aber Henning ahnte bereits, wer ihm geschrieben hatte. Eilig fuhr er mit seinem Finger über den Touchscreen um die Nachricht zu öffnen. “Hey Henning! Sorry, dass ich mich jetzt erst melde. Hab ne gefühlte Ewigkeit mit dem Eichhörnchen-Notruf telefoniert und musste dann noch alles mögliche an Zeug besorgen, damit die Kleinen mir nicht verhungern. Du glaubst nicht, wie viel Arbeit die machen! Und was man da alles beachten muss… Jetzt sind sie jedenfalls satt und werden von Minute zu Minute agiler. Du solltest mal sehen, wie sie hier herumrennen! Und dann schlafen sie plötzlich mittendrin ein, hahaha.” Es folgte ein etwas verschwommenes Foto, das die beiden Tiere zeigte. Sie lagen auf einem hellen Handtuch, offenbar auf Priams Schoß. Eins von ihnen schien tief und fest zu schlafen. Ein Lächeln überflog Hennings Gesicht. Anscheinend waren seine Sorgen völlig unbegründet gewesen. Er freute sich sehr darüber, dass Priam ihn doch nicht vergessen hatte, denn für einen kurzen Moment hatte er schon geglaubt, der Ältere würde sich nicht mehr melden. Dabei hatte er sich wirklich gefreut, den Mann kennen gelernt zu haben. Henning fand ihn irgendwie cool. Eilig wischte er seine noch feuchten Finger an seinem Handtuch trocken und schrieb eine Antwort: “Eichhörnchen-Notruf? Sowas gibt’s echt? xD Wieder was dazu gelernt! Es freut mich total, dass es den Zweien jetzt besser geht. Tut mir übrigens sehr leid, dass ich dir das eingebrockt habe. Ich würde dir gern irgendwie helfen. Brauchst du noch etwas?” Auch wenn Henning nicht versuchte, auf den Bildschirm zu starren, tat er es doch. Er sah, dass Priam bereits dabei war, seine Nachricht zu beantworten. “Du hast mir doch nichts eingebrockt! War ja schließlich meine Entscheidung. Aber wenn ich ehrlich bin, könnte ich wirklich deine Hilfe gebrauchen… Ich muss morgen zur Arbeit, aber die Hörnchen brauchen alle 4-5 Stunden was zu futtern. Das schaff ich nicht in meiner Mittagspause, denn ich hab kein Auto. Und mitnehmen kann ich die Kleinen ja auch schlecht. Du hast nicht zufällig Zeit und Lust, bis zum Wochenende die Mittags-Fütterung zu übernehmen?” Henning grinste bis über beide Ohren, als er seine Antwort schrieb. “Doch, habe ich!” Er wusste nicht genau, wieso, aber sein Grinsen wollte einfach nicht mehr verschwinden. Kapitel 6: Musik ---------------- Als Priams Wecker in der Frühe klingelte, kam er nur schwer aus dem Bett. Auch wenn er es gewohnt war, früh aufzustehen, hatte die letzte Nacht ihm viel abverlangt. Er hatte noch bis tief in die Nacht mit Henning geschrieben. Es hatte sich irgendwie spontan so ergeben und es hatte ihn sehr gefreut. Das war auch nicht der Grund, weshalb er so fertig war, denn er brauchte eigentlich nur wenig Schlaf und ging generell spät ins Bett. Grund für seine Müdigkeit war zum Einen die nächtliche Fütterungsaktion seiner zwei Schützlinge, die er zusätzlich hatte verrichten müssen, und zum Zweiten sein Ex-Freund, der plötzlich mitten in der Nacht auf die Idee gekommen war, ihm mehrere verzweifelte Nachrichten zu schicken. Normalerweise stellte Priam sein Smartphone auf lautlos wenn er zu Bett ging, aber weil er zuvor noch mit Henning geschrieben hatte, hatte er das diesmal vergessen. Das hatte zur Folge, dass er gleich zwei Mal in seinem Schlaf unterbrochen worden war. Stöhnend rieb der junge Mann sich die Augen, ließ sich aus dem Bett rollen und schleppte sich in die Küche. Er schaltete die Kaffeemaschine ein. Das war das Erste, was er jeden Morgen machte. Auch wenn er kaum frühstückte, kam er ohne Kaffee nicht aus. Gähnend griff er nach der Thermoskanne mit abgekochtem Wasser, die er gestern Abend abgefüllt hatte. Inzwischen hatte er bei der Zubereitung der Eichhörnchen-Milch schon etwas Routine. Trotzdem sah er vorsichtshalber auf dem Zettel nach, den er geschrieben hatte. Der Mann vom Eichhörnchen-Notruf, mit dem er gestern telefoniert hatte, hatte ihm haufenweise Tipps gegeben, die er sich alle notiert hatte. Er hatte seine Liste zusätzlich noch mit Infos aus den Hilfeseiten im Internet ergänzt, damit er auch ja nichts falsch machen würde. Als sein Kaffee durchgelaufen war, hatte er auch die Aufzuchtsmilch fertig. Wie ferngesteuert tigerte er ins Wohnzimmer. Er hatte gestern Abend notdürftig eine kleine Box zusammengezimmert, um die Eichhörnchen unter zu bringen und sie mit einer Wärmflasche und einem alten Pulli ausgelegt. Heute würde er zusehen, dass er auf der Arbeit alles auftreiben konnte was er brauchte, um im Garten eine artgerechte Voliere zu bauen. Zum Glück war er handwerklich sehr geschickt, also würde ihm ein kleines Gehege schon keine Schwierigkeiten machen. Nachdem er die Tierchen gefüttert hatte, massierte er ihnen den Bauch, damit sie Urin und Kot absetzten konnten. Da sie erst wenige Wochen alt waren, konnten sie das noch nicht selbständig. Normalerweise übernahm die Eichhörnchenmutter diese Aufgabe, doch da die Kleinen nun mal keine Mutter mehr hatten, musste Priam sich jetzt darum kümmern. Er war nicht gerade begeistert darüber, dass ihm diese Ehre zuteil wurde, aber es war wirklich wichtig, dass er es tat - das hatte der nette Herr vom Notdienst ihm gleich mehrmals ans Herz gelegt. So viel Arbeit sie auch machten - eigentlich waren die Tierchen ja verdammt niedlich. Als Priam endlich alle Aufgaben erfüllt hatte, setzte er die Eichhörnchen vorsichtig zurück, kippte seinen Kaffee herunter und ging ins Bad, um sich zu rasieren und sich frisch zu machen. Er schlüpfte in seine Anziehsachen - eine lässige Baggy Jeans, ein enges schwarzes T-Shirt und die bequeme dunkelblaue Sweatjacke, die er eigentlich so gut wie immer anhatte. Dann schnappte er sich seine Umhängetasche, nahm sich noch etwas Obst mit und verließ die Wohnung. Er fröstelte, als er auf sein Rad stieg. Kurz überblickte er den Bauernhof. Ganz am anderen Ende des riesigen Hofs entdeckte er Ole, den Sohn seines Vermieters. Er trug wie immer eine dunkle Jeans und ein braunes Shirt mit gleichfarbiger Weste. Priam hob die Hand um ihn zu grüßen, und obwohl er sich sicher war, dass der etwa Gleichaltrige ihn gesehen hatte, ignorierte der dunkelblonde Mann ihn gekonnt und sah schweigend in eine andere Richtung. Priam rümpfte die Nase. Etwas so homophobes wie Ole hatte er nur selten erlebt. Dabei waren seine Eltern und seine jüngere Schwester doch so nett. Aber es sollte Priam egal sein, was der junge Landwirt von ihm hielt. Solange es nur dabei blieb, dass man ihn ignorierte, konnte er gut damit leben. Schweigend sah er zu, wie der muskulöse Jungbauer im Stall verschwand. Dann nahm er sein Smartphone zur Hand, steckte seine Kopfhörer in das Gerät und suchte den Track heraus, den Henning ihm letzte Nacht geschickt hatte. Sie hatten sich darüber unterhalten, dass sie beide leidenschaftlich gern Musik hörten, und schnell festgestellt, dass sie einen ähnlichen Musikgeschmack hatten. Henning hatte ihm irgendwann einen bestimmten Künstler empfohlen, von dem er noch nie im Leben gehört hatte. Er war gespannt, was für ein Lied der Jüngere ihm geschickt hatte, denn Henning hatte ihn gebeten, es erst zu hören, wenn er auf sein Rad stieg. Neugierig öffnete er den Link, und was er zu Ohren bekam, gefiel ihm auf Anhieb. (http://www.youtube.com/watch?v=ru2BuPs-_Ao) Ein Tag ohne Musik war fast undenkbar für Priam. Musik trieb ihn an, motivierte ihn und begleitete ihn durch alle Lebenslagen. Als der Beat in seine Ohren drang und der Rhythmus ihn packte, stieg er auf und fuhr leichtfüßig los. Das Lied, das Henning ihm zum Radfahren geschickt hatte, passte wirklich perfekt. Sobald er seinem bekannten Weg zur Arbeit folgte, erfüllte ihn ein vorfreudiges Kribbeln. Er würde vor der Arbeit noch bei Sarah vorbei fahren und seinen Ersatzschlüssel einwerfen. Als Henning ihm gestern die Strasse geschickt hatte, in der er wohnte, damit Priam ihm den Schlüssel für seine Wohnung geben konnte, war ihm die Anschrift gleich bekannt vorgekommen. Erst Minuten später war ihm aber gedämmert, warum das so war. Er erinnerte sich noch, wie Sarah letzte Woche erwähnt hatte, dass ihr Neffe bei ihr einziehen würde. Dass ausgerechnet Henning besagter Neffe war, war nicht nur sehr unerwartet und erfreulich, sondern auch beruhigend. Ein bisschen mulmig war ihm schon dabei gewesen, seinen Haustürschlüssel einem Jungen zu geben, den er erst am Tag zuvor kennen gelernt hatte. Dass der Kleine mit Sarah verwandt war, änderte natürlich einiges. Nicht nur die Tatsache, dass er seinen Schlüssel ruhigen Gewissens abtreten konnte, sondern auch, dass er seine Beste ganz unauffällig nach ihm fragen und so hoffentlich noch etwas über ihn in Erfahrung bringen konnte. Er wusste seit letzter Nacht zumindest schon mal einiges mehr über den Schwarzhaarigen. Zum Beispiel, dass er sehr intelligent war, gern las und tatsächlich der Computerfreak war, nach dem er aussah. Priam fand das nicht schlimm - ganz im Gegenteil. Auch wenn Bücher nicht unbedingt seine Welt waren, ließ er sich durchaus mal für das eine oder andere Videospiel begeistern. Mittlerweile glaubte er, ein etwas ruhigerer Freund wäre wesentlich besser für ihn als so ein Bewegungsfanatiker wie Leslie es gewesen war. Leslie… Obwohl Priam sich gestern so über ihn geärgert hatte, dass er keine Lust hatte über ihn nachzudenken, geschah es doch wieder. Er hatte noch nicht mal alles gelesen, was der blonde Vamp ihm geschickt hatte. Diese ewig langen, theatralischen Nachrichten, die er üblicherweise mitten in der Nacht schickte, weil er nicht schlafen konnte, raubten Priam den letzten Nerv. Schon hatte sich seine gute Laune ganz ungewollt in Luft aufgelöst. Zum Glück waren seine düsteren Gedanken wie weggefegt, als er sah, dass jemand im Vorgarten von Sarahs Haus auf ihn wartete. Henning! Priams Herz machte einen Satz. Ungläubig riss er die Augen auf, denn mit dem Schwarzhaarigen hatte er zu dieser Uhrzeit noch gar nicht gerechnet. Hatte der Kleine gestern Nacht nicht geschrieben, dass er nicht gern früh aufsteht? Warum war er dann jetzt schon wach? Eigentlich hatten sie ausgemacht, dass Priam den Schlüssel in den Briefkasten schmeißen sollte. Und jetzt saß der Schwarzhaarige dort zusammengekauert wie ein Häufchen Elend auf der Verandatreppe. Priam bemerkte etwas verdutzt, dass er nervös wurde. Seine Hände hatten angefangen zu schwitzen und sein Puls hatte sich merklich erhöht. Und das lag mit Sicherheit nicht daran, dass er eben Rad gefahren war. “Henning!” Mit Schwung kam Priam vor der Treppe zum Stillstand. Henning hatte ihn erst in letzter Sekunde bemerkt und wirkte etwas überrumpelt, als der Ältere plötzlich vor ihm stand. “Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist Langschläfer?”, fragte Priam etwas atemlos. Er fuhr lächelnd mit den Händen durch seine lockigen Haare, um die eine oder andere Strähne zu richten, die ihm während der Fahrt ins Gesicht gerutscht war. Henning war aufgestanden und erwiderte sein Lächeln. Er trug wie am Vortag eine enge, abgenutzte Jeans, diesmal mit einem viel zu großen schwarzen Kapuzenpullover, der mit lauter kleinen, weißen Totenschädeln bedruckt war. Seine Hände waren komplett in den Ärmeln verschwunden. Es hatte etwas niedliches, unschuldiges - fast wie bei einem Kind, das die Anziehsachen seiner größeren Geschwister tragen muss und nahezu darin absäuft. Seine welligen Haare, die leicht zerzaust sein schmales Gesicht umschmiegten, verliehen ihm jedoch etwas unaussprechlich anziehendes. “Bin ich eigentlich auch”, gestand der Junge etwas verlegen, “Aber ich musste zufällig auf die Toilette und dachte, ich könnte ja kurz hier warten.” Priam grinste angetan. Das sah ja sogar ein Blinder mit Krückstock, dass der Kleine gerade log wie gedruckt. Er hatte hier gewartet, wer weiß wie lange schon. Ein warmes, angenehmes Kribbeln tanzte in Priams Magengegend herum. Verdammt, wieso freute ihn das bloß so sehr? “Schön”, kommentierte er mit heller Stimme, um sich nichts anmerken zu lassen, “Ich freu mich ja, dich noch mal zu sehen, bevor ich weiter muss.” Er griff in seine Umhängetasche und zog einen weißen, etwas zerknitterten Umschlag heraus, den er Henning übergab. “Da ist der Schlüssel drin”, erklärte er, “Meine Adresse steht auf dem Zettel im Inneren. Es ist ganz leicht zu finden. Ich habe dir auch noch aufgeschrieben, was es bei der Fütterung so alles zu beachten gibt. Man kann mehr falsch machen als du glaubst. Falls noch etwas unklar ist, kannst du mich gern anrufen. Ich habe dir meine direkte Durchwahl auf den Zettel geschrieben, damit du nicht auf dem Handy anrufen musst.” “Danke dir”, erwiderte Henning und wirkte etwas sprachlos, was vielleicht auch daran lag, dass er noch ziemlich verschlafen dreinschaute. “Nein, ich habe zu danken”, versicherte Priam ihm mit frechem Grinsen, “Sonst hätte ich die zwei Rabauken mit auf die Arbeit nehmen müssen, und das hätte weder den Beiden noch meinem Chef besonders gefallen.” Als der Ältere plötzlich Anstalten machte, wieder zu gehen, trat Henning eilig eine Stufe nach unten. “Magst du vielleicht noch auf ‘nen Kaffee mit reinkommen, bevor du gehst?” Priam hielt inne und verzog nachdenklich den Mund. Dann holte er sein Handy aus der Tasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. Er war früh dran heute. Wenn er sich beim letzten Teil der Strecke etwas ins Zeug legen würde, könnte er sicher noch ein Viertelstündchen bleiben. “Klar, warum nicht!”, antwortete er lächelnd. Henning erwiderte sein Lächeln und lief dann voraus. Priam verzog mit leichtem Bedauern sein Gesicht, als er dem schwarzhaarigen Jungen folgte. Durch den langen Pulli, den der Kleine trug, konnte man kein Bisschen von seinem Hintern erkennen. Dafür blieb sein Blick aber am schmalen Nacken seines ahnungslosen Opfers hängen. Ein paar schwarze, dünne Haarsträhnen schlängelten sich verspielt an der bleichen Haut entlang. Priam schluckte hart. Dass ihn allein die Sicht auf einen Nacken schon anmachte, war ihm völlig neu. Aber es lag auch weniger am Nacken des Jungen, sondern viel eher an seiner ungewöhnlich weißen Hautfarbe. Priam merkte, wie ihm beim Anblick der zarten Blässe plötzlich ganz anders wurde. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der eine so kreidebleiche Haut hatte wie Henning. Es faszinierte ihn maßlos. Klar, Leslie war auch weiß, aber er ging so oft ins Sonnenstudio, dass seine Hautfarbe sich kaum von Priams unterschied. Priams erster Freund hatte sogar noch dunklere Haut gehabt als er selbst. Der Gedanke, seine eigene, haselnussbraune Haut an diesen schneeweißen Körper zu schmiegen hatte etwas unglaublich reizvolles. Henning führte ihn in die Küche und deutete auf den Esstisch. “Setz dich. Du bist bestimmt schon öfter hier zu Besuch gewesen, oder?” “Ja sicher”, erwiderte Priam lachend, “Ist ja wirklich ein Ding, dass deine Tante ganz zufällig meine beste Freundin ist.” “Stimmt”, lächelte Henning. Er ging zum Kaffeeautomaten und füllte heißes Wasser in den Tank. Während er den Kaffee zubereitete, sah Priam sich in der Küche um. Sarah hatte ein Händchen dafür, Räume geschmackvoll einzurichten. Sie hatte nahezu alle Zimmer im Landhaus-Stil eingerichtet, was zu einem alten Haus wie diesem wirklich hervorragend passte. Es war gemütlich bei ihr, auch wenn Priam selbst vermutlich nie eine Einrichtung wie diese gewählt hätte. Bei ihm daheim war es wesentlich moderner. “Hast du dich schon hier eingelebt?”, wollte Priam wissen, als Henning zwei Tassen, Milch und Zucker auf den Tisch stellte und sich ebenfalls hinsetzte. Der Jüngere nickte. “Ja, eigentlich schon”, antwortete er, “Ich muss noch ein paar Umzugskartons ausräumen, aber ich fühle mich wirklich wohl bei Sarah.” “Das kann ich mir vorstellen. Sie ist wirklich sehr umgänglich”, fand Priam, und Henning stimmte ihm mit einem Nicken zu. Dann kam ihm eine Idee. “Möchtest du das Zimmer mal sehen?” Er neigte den Kopf und sah Priam mit fragendem Gesicht an. Mein Gott, mit diesem Blick hätte Henning wirklich jede Frage der Welt stellen können. “Gerne!”, brachte Priam hervor und hoffte, dass der Junge dann endlich seine klaren, hellblauen Augen von ihm abwenden würde. Zum Glück wurden seine Gebete erhört. Henning stand auf. “Nimm den Kaffee ruhig mit”, sagte er, während er auf Priams Tasse deutete. Und wieder ging er voraus, während der Lockenkopf ihm schweigend folgte. “Hey, du hast es gestrichen, nicht wahr?”, fragte Priam, als sie Hennings neue Bleibe betraten. Er erinnerte sich genau daran, dass das Zimmer vorher weiß gewesen war. Jetzt waren zwei der vier Wände in einem hellen Grünton gestrichen, der ihn sofort an Granny Smith Äpfel denken ließ. “Ja”, erwiderte Henning, “Ich finde weiß nicht schlecht, aber ein bisschen langweilig. Und grün ist eben meine Lieblingsfarbe.” “Sieht wirklich toll aus”, stellte der Ältere beeindruckt fest, “Eine tolle Farbe. Gefällt mir.” Priam sah sich um, entdeckte Haufenweise Bücher, einige Stapel Konsolenspiele und einen Laptop. Es herrschte noch etwas Chaos im Raum, aber er hatte den Eindruck, dass Henning jemand war, der Wert auf Ordnung legte. Allein schon, dass das Bett sorgfältig gemacht war, obwohl der Schwarzhaarige angeblich nur mal kurz auf die Toilette wollte, bestätigte diese Vermutung. “Oh, was ist das?” Priam lief zu einem Wandregal, auf dem verschiedene Figuren aufgereiht standen. Es waren kleine Plastikfiguren, manche davon konnte er Serien oder Videospielen zuordnen, andere jedoch kamen ihm völlig unbekannt vor. “Mister Data!”, lachte er begeistert, als er den Star Trek Helden inmitten der kleinen Armee entdeckte. “Ich bin ja eigentlich kein so großer Sci-Fi-Fan, aber Star Trek ist Weltklasse.” Sein Interesse schien Henning in Verlegenheit zu bringen. Er hatte sich neben den Größeren gestellt und umklammerte mit unsicherem Blick seine Kaffeetasse. “Ich weiß, es ist etwas kindisch, aber ich mag die Figuren irgendwie”, stammelte er. Seine Wangen bekamen einen hauchzarten Rotstich. Priam zuckte die Achseln. “Ich find’s cool”, erwiderte er gelassen. Seine Antwort schien den Dunkelhaarigen zu erleichtern. Er lächelte, was ein feines, kaum merkliches Kribbeln in Priams Bauchraum zur Folge hatte. Das Zuschlagen einer Tür lenkte die Aufmerksamkeit der zwei jungen Männer in Richtung des Wohnzimmers. Sarah war aufgewacht und sah nun mit verschlafenem Blick durch Hennings geöffnete Schlafzimmertür. Als sie Priam bemerkte, riss sie erstaunt die Augen auf. Jedes Fünkchen Müdigkeit war sofort wie weggeblasen. Stattdessen legte sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht. “Ach, wen haben wir denn da!”, rief sie vergnügt, während sie ins Zimmer lief. Sie drückte Priam, der angesichts ihres sehr eindeutigen Tonfalls gleich ahnte, dass sie sein Interesse an Henning längst zur Kenntnis genommen hatte. Irgendwie wunderte es ihn nicht. “Dann brauche ich euch ja wenigstens nicht mehr vorzustellen”, scherzte die brünette Frau fröhlich. Sie wandte sich an Henning. “Ist noch Kaffee da?” Der Junge nickte. “Klar, ganz frisch, in der Kanne.” Sarah lief davon, um sich eine Tasse des schwarzen Goldes zu holen, aber obwohl sie sich entfernt hatte, redete sie laut weiter. “Wie geht es deinen neuen Haustieren?”, erklang es in interessiertem Ton. Henning deutete mit einem Kopfnicken an, dass sie ja wieder in die Küche zurück gehen könnten, und Priam verstand. “Eigentlich ganz gut”, erwiderte er, als sie seiner Freundin in die Küche gefolgt waren. “Henning hilft mir, sie zu füttern, weil sie alle paar Stunden Milch brauchen und ich auf die Arbeit muss.” “Ja, das hat er schon erzählt”, meinte Sarah, “Eine gute Idee, solange er sowieso noch nicht mit der Ausbildung angefangen hat.” “Wenn ich nächste Woche auch wieder Verpflichtungen habe, werden wir uns etwas anderes überlegen müssen”, warf Henning mit besorgter Miene ein. Priam winkte unbekümmert ab. “Bis dahin werde ich mir noch was überlegen.” Bald schon musste Priam sich auf den Weg machen, denn er wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen. Sarah war bereits im Bad verschwunden, also begleitete Henning ihn hinaus. Als Priam die Verandatreppe herunter gegangen war, drehte er sich zu dem schmalen Jungen um. “Das Lied, das du mir geschickt hast, hat mir übrigens sehr gefallen”, meinte er, während er nach seinem Rad Griff. Ein glückliches Strahlen erhellte Hennings Gesicht. “Wirklich? Wenn du magst, schicke ich dir noch ein Paar, die ich gut finde.” “Sehr gern.” Die zwei Männer verabschiedeten sich von einander. Während Henning wieder ins Haus zurück lief um sich noch mal ins Bett zu legen, bestieg Priam sein Mountainbike und kehrte auf seinen normalen Arbeitsweg zurück. Er war keine fünf Minuten gefahren, als sein Smartphone sich meldete. Ohne anzuhalten zog er das Gerät aus seiner Tasche. Er grinste, als er seine Nachrichten öffnete. Henning. Kapitel 7: Verknallt -------------------- Die erste Arbeitsstunde an diesem wolkenlosen Dienstag zog sich wie Kaugummi. Es gab zwar viel zu tun, aber Priam war mit seinen Gedanken trotzdem ganz woanders. Er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, noch besonders lange mit Sarah zu quatschen nachdem sie auf der Arbeit eingetroffen war, also musste das wohl oder übel bis zur Mittagspause warten. Zum Glück war Matthias pünktlich um acht im Büro und so war Priam dann wenigstens nicht mehr ganz so alleine. “Du siehst ja schrecklich aus”, stellte der großgewachsene Mann erschrocken fest, sobald er einen Blick auf seinen Kollegen geworfen hatte. Er stellte seine Kaffeetasse auf seinem Schreibtisch ab und ließ sich ächzend mit dem Hintern in seinen Bürostuhl fallen. “Ja danke, dir auch ‘nen guten Morgen”, entgegnete Priam mit einem Grinsen. “Wie schaffst du es bloß, so fertig auszusehen und trotzdem so unausstehlich gute Laune zu haben?”, wollte Matthias mit irritierter Miene von ihm wissen. Der Lockenkopf zwinkerte geheimnisvoll. “Das werde ich dir bestimmt nicht verraten!” “Schon in Ordnung”, meinte der Braunhaarige schmunzelnd, “So wie du grinst, will ich es wahrscheinlich auch gar nicht wissen.” Je näher der Mittag rückte, desto unruhiger wurde Priam. Hoffentlich würde Henning den Weg auch finden. Hoffentlich würde bei der Fütterung der Tiere alles gut gehen. Er sah immer wieder auf sein Smartphone, doch seit heute morgen hatte sich niemand mehr gemeldet - noch nicht einmal Leslie. “Was ist denn nur mit dir los heute?” Sogar Matti hatte gemerkt, dass Priam wie auf heißen Kohlen saß. Der Braunhaarige wirkte irritiert - und das zurecht. Schließlich wusste er noch gar nichts von der ganzen Eichhörnchen-Geschichte. Also beschloss Priam, ihm davon zu erzählen. Er erzählte auch von Henning, und dass der junge Mann sich heute Mittag um die kleinen Waisen kümmern würde. “Und deswegen machst du dich so verrückt?” Etwas ungläubig starrte Matthias ihn an. “Was soll da schon groß schief gehen? Sind doch bloß Eichhörnchen.” “Da kann man schon eine Menge falsch machen”, erwiderte Priam ernst, doch sein Kollege winkte ab. “Na hör mal, so wie ich das verstanden hab’ ist dieser Henning doch ein schlauer Bursche. Der bekommt das sicher hin.” Als Priam noch mal auf sein Handy sah, bemerkte er, dass er inzwischen eine Nachricht hatte. Sofort schlug sein Herz höher. Eilig fuhr er mit dem Finger über den Bildschirm, um ihn zu entsperren. Sobald er seine Nachrichten geöffnet hatte, klebte ein breites Grinsen auf seinen Lippen. Wenn man vom Teufel spricht… Henning hatte geschrieben. “Hab’s sofort gefunden. Eine tolle Wohnung hast du! Den zwei Eichhörnchen scheint es soweit ganz gut zu gehen. Ich füttere sie jetzt erstmal und melde mich später zurück.” Erleichtert stieß Priam einen Seufzer aus. Darauf hatte er gewartet. Seine Reaktion war auch Matthias nicht entgangen. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen und lehnte sich über seinen Schreibtisch. “Sag mal, dieser Henning, was ist das für ein Typ, hm?”, fragte er plötzlich mit seltsamem Unterton. Etwas verdattert sah Priam von seinem Handy auf, ließ es in seine Hosentasche zurück gleiten und stellte sich ahnungslos. “Wie meinst du das?”, fragte er mit möglichst unschuldigem Gesichtsausdruck. Matthias rollte stöhnend mit den Augen. “Na komm schon, Sunny, ich bin doch nicht blöd!” raunte er, “Hier geht es doch gar nicht um die Eichhörnchen! So wie du von ihm erzählt hast und jetzt dauernd auf dein Handy starrst, muss er ja der geilste Typ auf Erden sein!” Priam konnte sich ein amüsiertes Lachen nicht verkneifen. “Um ehrlich zu sein, nein”, erwiderte er glucksend, “Und außerdem ist er gerade mal volljährig.” “Als ob dich das abhalten würde”, konterte sein Kollege mit hochgezogener Augenbraue. “Was denkst du denn von mir?!” Der Ältere zuckte mit unbeeindrucktem Blick die Schultern. “Nichts. Nur, dass du eben auch nur ein Mann bist. Und dieses dämliche Grinsen von dir ist so überdeutlich wie eine Leuchttafel, mein Lieber.” Ein verschmitztes Lächeln überflog sein Gesicht, bevor er mit säuselnder Stimme hinzufügte: “Du bist verknallt.” “Verknallt?” Priam verzog nachdenklich sein Gesicht. Verknallt? Er? Wirklich? “Meinst du wirklich?”, fragte er unsicher. Jetzt war es Matthias, der anfing zu lachen. “Oh ja”, antwortete er vergnügt, “Und jetzt sag bloß nicht, du hast es selbst noch nicht gewusst, denn das kaufe ich dir nicht ab.” “Das weiß ich grad echt nicht so genau”, brummte Priam. Doch im Grunde genommen hatte Matthias recht. Eigentlich wusste er es tief in seinem Inneren doch schon längst. Es war kaum abzustreiten, wie sehr Henning ihn schon von der ersten Sekunde an in seinen Bann zog. Alles an und in Priam spielte verrückt, wenn er den Kleinen nur sah. Aber sie kannten sich doch erst seit gestern! Es half trotzdem nichts. Priam seufzte nachgebend. Er hatte sich verknallt. Hals über Kopf. In einen zehn Jahre jüngeren Typ, den er genau genommen erst seit ein paar Stunden kannte. In einen Computerfreak, der Star Trek Figuren und Comics sammelte und Fantasyromane las. In einen unerfahrenen, schüchternen Jungen, der keinen Deut auf sein Äußeres achtete und Sex wahrscheinlich nur aus seinen Fantasiewelten kannte. Himmel, er war doch kein Teenager mehr! Was zum Teufel war denn in ihn gefahren? Woher kam diese unerklärliche Anziehungskraft? So schnell hatte er sich wirklich noch nie in jemanden verguckt. “Ich weiß doch noch nicht mal, ob er überhaupt auf Männer steht”, gestand er mit gequältem Gesicht. Matthias musterte ihn nachdenklich und fuhr dabei mit den Fingern durch das dunkle Bärtchen, das seinen Mund umrahmte. “Kannst du Sarah nicht fragen?”, wollte er wissen. Priam zuckte arglos die Schultern. “Ich werde es versuchen, aber ich glaube kaum, dass sie mir dazu groß was sagen kann.” “So so.” Mit selbstzufriedenem Blick lehnte Matthias sich in seinem Bürostuhl zurück. “Da hat Sarahs Neffe dir also den Kopf verdreht.” “Scheint so”, gab sein jüngerer Kollege nur leise zurück. Er schien sich noch im Unklaren darüber zu sein, ob er sich über diese Tatsache freuen sollte oder nicht. “Du weißt aber schon, dass der Kleine hier ab Montag ne Ausbildung anfängt, oder?”, fragte Matthias dann augenzwinkernd. Am völlig perplexen Blick seines Gegenübers konnte er ablesen, dass dem nicht so war. “Was? Hier?!” Priams entsetzter Ausruf war vermutlich im ganzen Stockwerk zu hören gewesen. “Er macht die Ausbildung hier bei uns?”, wiederholte er ungläubig. “Nicht ausschließlich im Tiefbau, aber in unserer Firma, ja”, erwiderte Matthias, der sich sichtlich über die emotionalen Entgleisungen des jüngeren Kollegen amüsierte. “Sarah hat sich doch damals so ins Zeug gelegt, damit man den Kleinen einstellt. Sag bloß, das hat sie dir nicht erzählt?” “Ich weiß nicht”, brummte Priam grübelnd, “Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es mir verschwiegen hat. Vielleicht habe ich nicht richtig hingehört, als sie es erwähnt hat.” “So viel wie sie redet ist das auch kein Wunder”, scherzte Matti, dessen Laune zunehmend besser wurde, “Aber das heißt für dich, dass du den Kleinen bald sehr viel öfter sehen wirst.” Als er Priams überforderten Blick bemerkte, zuckte er wie immer die Achseln. “Ist doch praktisch”, redete er auf den Jüngeren ein, während er seine schmale Brille hochschob, “So kannst du ihn besser kennen lernen, ohne dass er es gleich als Anmache auffasst.” “Oder die ganze Sache geht nach hinten los und ich muss drei Jahre lang mit ‘nem Typ arbeiten, den ich am Liebsten über den Schreibtisch zerren und vögeln würde”, entgegnete Priam mit hochgezogener Augenbraue. Matthias fing an zu lachen. “Ach, erst bist du dir nicht sicher, ob du verknallt bist oder nicht, und jetzt redest du plötzlich schon vom Vögeln?” “Hey, das sind zwei unterschiedliche Paar Schuh”, wehrte Priam sich mit schalkhaftem Grinsen. “Ja nee, ist klar.” Matthias zwinkerte ihm zu. “Du bist eben doch nur ein Mann.” Priams Telefon klingelte. Als er auf das Display sah, erkannte er seine eigene Haustelefonnummer. Sein Herz machte einen Satz. Henning rief ihn an. “Willst du nicht rangehen?”, wunderte sich Matthias, als er sah wie sein Kollege mit großen Augen auf sein penetrant bimmelndes Telefon starrte. “Das ist er”, klärte der Lockenkopf ihn mit bestürzter Miene auf. Matthias konnte nicht anders, als zum wiederholten Mal breit zu grinsen. Auch wenn sie sich jetzt schon eine Weile kannten, war ihm dieser nervöse Unterton Priams Stimme bisher völlig unbekannt. “Dann nimm doch ab”, gebar er dem Jüngeren. Mit schwitzigen Händen griff Priam nach dem Hörer. Normalerweise hätte er sich mit Firmennamen, Abteilung und Nachnamen gemeldet, aber da er wusste, wer ihn anrief, konnte er das getrost sein lassen. “Hallo?” Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, bis dann Hennings Stimme erklang. “Äh, Priam?” Er wirkte etwas verunsichert. “Ja, ich bin’s”, erwiderte Priam, der seine Fassung allmählich wieder erlangt hatte, “Ich hab die Nummer gesehen, also hab ich mich nicht mit dem üblichen Firmenkram gemeldet.” “Ach so”, erklang es fröhlich. “Hat alles geklappt, oder rufst du aus ‘nem bestimmten Grund an?” “Es ist alles gut gegangen”, berichtete Henning zufrieden, “Sie toben gerade auf deiner Couch herum. Ich hoffe, das ist okay.” “Klar doch.” “Was ich eigentlich fragen wollte…” Henning machte eine kurze Pause, die sich für Priam wie eine Ewigkeit in die Länge zog. “Meine Tante wird heute Abend nicht da sein, weil sie bei ihrem Freund übernachtet, und weil ich schon Abendessen für zwei Personen eingekauft habe, meinte sie, ich soll doch dich fragen, ob du mitessen möchtest.“ Wieder entstand eine Pause, dann ertönte erneut Hennings Stimme, die in zaghaftem Ton fragte: “Hättest du Lust?” Etwas überrumpelt sog Priam die Luft ein. “Ich, äh… Klar!”, erwiderte er stammelnd. Ihm entging nicht, dass Matthias, der das Gespräch stillschweigend verfolgt hatte, seine Unsicherheit mit vergnügtem Lächeln kommentierte. “Wirklich?” Auch wenn die Frage rein rhetorisch war, hörte man genau, wie sehr Henning sich freute. “Wollen wir dann bei dir kochen?”, fragte er weiter, “Du weißt schon, damit wir die Tierchen nicht alleine lassen müssen?” “Gute Idee”, stimmte Priam ihm zu. Mittlerweile hatte er seine übliche Souveränität wiedergefunden. “Ich wollte heute Abend sowieso anfangen, eine Voliere für die Zwei zu bauen, also passt das ja.” “Eine Voliere?”, erklang es beeindruckt, “Das ist ja toll!” “Na ja, das werden wir erst sehen, wenn sie fertig ist”, erwiderte er lachend. “Wann soll ich denn bei dir sein?”, wollte Henning wissen. “Wenn du möchtest, hole ich dich ab, sobald ich Feierabend habe”, bot Priam an, “Dann können wir den Rest der Strecke zusammen fahren.” Irrte er sich, oder hörte er Henning schmunzeln? “Ja gern”, antwortete der Jüngere freudig, “Wann wäre das in etwa?” “So um viertel nach vier, halb fünf.” “Okay. Dann sehen wir uns also später, ja?” “Ja”, bestätigte Priam. Und obwohl er es sich eigentlich verkneifen wollte, fügte er noch ein “Ich freue mich schon” hinzu. “Ich mich auch.” Als Priam den Hörer aufgelegt hatte, sah er zu Matthias, der sein altbekanntes Grinsen aufgelegt hatte. “Ich verwette meinen Hintern drauf, dass du ihn spätestens in einem Monat flachgelegt hast.” “Pass gut auf, mit wem du um deinen Hintern wettest, Matti”, raunte Priam ihm nur zwinkernd zur Antwort, was beide Männer in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. “Nein, jetzt im Ernst”, fuhr Matthias fort, als sie sich wieder beruhigt hatten, “Ich bin zwar kein Experte, aber so wie ihr zwei miteinander redet, ist das doch schon absehbar.” “Ich hoffe, du hast Recht”, entgegnete Priam. Sarah wartete bereits draußen vor der Tür zum Personaleingang auf ihn, als er in die Pause ging. Wie erwartet empfing sie ihn mit verschwörerischem Grinsen. “Na, Herr Eichhörnchenretter?” Priam streckte ihr nur die Zunge heraus, stellte sich dann neben sie und sah zu, wie sie an ihrer Zigarette zog. “Ich nehme an, dass ich dir dafür danken sollte, dass du heute so ganz plötzlich bei deinem Liebsten übernachtest?”, vermutete er mit wissendem Blick. Sarah lachte, wobei ihr grauer Qualm zwischen die zarten Lippen hervorschoss. “Sag bloß, du hast etwas dagegen?” “Nein, ganz im Gegenteil”, gestand Priam, “Aber um ehrlich zu sein, bin ich etwas überrascht. Du weißt offensichtlich, dass ich ihn anziehend finde, sonst hättest du dieses Essen heute Abend wohl kaum eingefädelt.” “Na, also hör mal…” Sarah warf ihm einen empörten Blick zu. “Es ist ja nicht zu übersehen, wie ihr euch anhimmelt. Ich bin ja froh, dass Henning etwas Ablenkung hat. Der hat ja schon genug um die Ohren momentan.” Priam stutzte. “Wieso?” “Meine Schwester lässt sich doch scheiden”, erklärte die Brünette augenrollend und wirkte so, als hätte sie ihm das alles schon bestimmt tausend Mal erzählt. Vermutlich hatte sie das auch. “Mein Schwager hat sich vor ein paar Monaten erlaubt, seine Sekretärin zu schwängern. Meine Schwester hat sich daraufhin von ihm getrennt, aber leider läuft das ganze nicht sehr vorbildlich ab. Auch wenn Henning es sich nicht anmerken lässt, nimmt ihn das Ganze fürchterlich mit. Das ist doch auch der Grund, wieso ich ihn überhaupt erst da raus haben wollte. Seine Eltern tragen ihren Rosenkrieg auf seinen Schultern aus.” Sarah seufzte tief. “Auch wenn ich meine Schwester verstehe, geht Henning ihnen momentan völlig am Arsch vorbei. Der Arme hat seit seinem Umzug noch nichts von ihnen gehört.” Was Sarah erzählte, versetzte Priam einen gewaltigen Dämpfer. Nicht nur, weil Henning ihm plötzlich sehr leid tat, sondern auch, weil ihm das Ganze nur zu bekannt vorkam. “Wie bei mir damals”, brummte er mit gesenktem Kopf. Kein Wunder, dass Henning gestern gesagt hatte, es ginge bei seiner Familie drunter und drüber. Als Sarah bemerkte, wie bedrückt ihr Freund plötzlich dreinschaute, knuffte sie aufmunternd seine Schulter. “Hey, er hat doch uns!”, meinte sie fröhlich. “Dass du in der Hinsicht schon deine Erfahrungen gemacht hast, hilft ihm vielleicht auch, das Ganze zu überstehen. Rede mit ihm. Kümmere dich ein bisschen um ihn. Er mag dich, das merkt man. Ich glaube, ihr passt wirklich gut zusammen, auch wenn man es auf den ersten Blick nicht denken würde.” “Ist er denn… Steht er denn überhaupt auf Männer?”, wollte Priam zögerlich von ihr wissen. Sarah zuckte mit ratloser Miene die Achseln. “So genau weiß ich das nicht”, gestand sie, “Meine Schwester hat immer gesagt, dass es sie nicht wundern würde, weil er so furchtbar sensibel ist, und auch mein Schwager hat mal ein paar unangebrachte Bemerkungen in die Richtung gemacht, aber sicher ist es deswegen natürlich nicht.” Während Priam nachdenklich ins Leere starrte, rauchte Sarah ihre Zigarette zu Ende und schleifte den Lockenkopf dann zu ihrem Auto. “Auf jetzt, ich muss etwas essen! Wenn ich mir das Abendessen heute Abend schon entgehen lasse, um euch Turteltäubchen einander näher zu bringen, darfst du mich heute einladen.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)