Starfall von Platan (Diarium Fortunae: One-Shot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Kopf hoch, Precious ------------------------------ Naola parkte den Wagen von Ferris vor dem Hotel Tesha, schaltete den Motor ab und klopfte mit der Hand zwei Mal behutsam gegen das Lenkrad. „Danke für die Fahrt. Ich werde dich dann mal endlich wieder deinem Besitzer übergeben.“ Zügig sammelte sie alles zusammen, was sie auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte und stieg aus. Der kühle Herbstwind brachte ihre langen, violetten Haare sofort zum Tanzen, was sie daran erinnerte, dass sie bisher keine Zeit gefunden hatte sich diese Störenfriede zu einem geflochtenen Zopf zusammenzubinden – normalerweise tat sie das nämlich sonst immer. Leicht genervt versuchte sie die Haarsträhnen mit der rechten Hand aus dem Gesicht zu streichen, leider erfolglos. Eigentlich mochte sie es gar nicht, wenn der Wind ihre Haare kreuz und quer durch die Gegend schleuderte, weil ihr Kopf hinterher oft wie ein chaotischer Haufen Stroh aussah. Nachdem sie aber diesen Anruf von Ferris bekommen hatten, der von einem möglichen Notfall sprach, war Doktor Belfond nicht mehr zu bremsen gewesen und alles andere musste warten, auch ihre Frisur. So viel Hektik hatte sie schon lange nicht mehr erlebt, dabei war dieser Mann sonst eher ein sehr ruhiger Typ. Dennoch hatte es ihr nichts ausgemacht, sich von ihrem Vorgesetzten hin und her scheuchen zu lassen, immerhin war es für Luan. Auch für jeden anderen würde sie diesen Stress jederzeit wieder mitmachen, ohne zu zögern, denn schließlich arbeitete sie gerade deswegen für Vane: Sie wollte ihren Kollegen und Mitmenschen helfen, selbst wenn sie keine Ärztin war, sondern nur eine Assistentin. Wie ein Strohkopf will ich gleich aber trotzdem nicht aussehen, dachte sie für sich. Erst recht nicht, wenn ich zu Ferris gehe. Also ließ sie ihre rechte Hand kurz in die Hosentasche ihrer schwarzen Stoffhose gleiten, wo sich ihre silberne Taschenuhr befand, die sie herausholte. Sie öffnete den Sprungdeckel – auf dem ein Stern mit Verzierungen abgebildet war, anders als bei den Männern – und tat so, als würde sie nur die Uhrzeit ablesen wollen, doch in Wahrheit plante sie etwas anderes. Bloß drei Mal war ein Ticken zu hören, dann verstummte es wieder und gleichzeitig ließ der Wind nach, bis kein einziges Lüftchen mehr wehte. Zufrieden klappte sie die Uhr zu und ließ sie zurück in ihre Hosentasche verschwinden. Danach warf sie einen letzten, prüfenden Blick auf das Auto, bevor sie sich auf dem Weg zum Hotel machte. Kurz vor dem Eingang kam ihr eine Person aus der Doppeltür entgegen, jemand mit einem großen Karton auf dem Arm, der das komplette Sichtfeld einnehmen musste. „Vorsicht“, warnte Naola und wich bereits zurück, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. „Oh!“, kam es überrascht von der Person, eine junge Frau, die gleich stehen blieb und nervös wurde. „Entschuldigung, ich sehe gerade nicht viel.“ Über diese Bemerkung musste Naola schmunzeln. „Dachte ich mir, darum hab ich lieber was gesagt.“ Die junge Frau drehte sich zur Seite, so dass sie, trotz des Kartons, mit Sichtkontakt zueinander sprechen konnten. Sie war sehr verschwitzt, auch ihr rotes, schulterlanges Haar war verklebt und sie sah ziemlich erledigt aus, sogar ihre grünen Augen quollen über vor Müdigkeit. Offenbar hatte sie heute schon mehrere solcher Kartons durch die Gegend geschleppt und anhand ihres dunkelgrünen Arbeitsanzuges lag die Vermutung nahe, dass es sich dabei um ihren Job handeln musste. „Entschuldigung“, wiederholte sie leise. Reumütig ließ sie den Blick sinken und machte einen äußerst schüchternen Eindruck – vermutlich hatte sie sich nur aus Höflichkeit zur Seite gedreht. „Ich wollte Ihnen nicht im Weg stehen.“ „Sie müssen sich nicht entschuldigen“, warf Naola schnell ein und lächelte sie beruhigend an, auch wenn sie von ihr gar nicht mehr angeschaut wurde. „Es ist doch nichts passiert. Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“ „Nein, nein! Das geht schon, machen Sie sich keine Umstände und genießen sie Ihren Aufenthalt“, haspelte sie und wollte sich verbeugen, bis sie merkte, dass das mit dem Karton auf dem Arm nicht so leicht war. Wie schwer der wohl sein mochte? Wahrscheinlich wurde Naola von ihr für einen Gast gehalten, weshalb die Frau auch den Blick auf das Gepäck richtete, das sie bei sich hatte. Unter ihrem linken Arm hatte sie eine Sechserpackung Bier geklemmt und hielt dazu eine riesige Tüte in der Hand. Für Naola war das bei weitem nicht viel, da musste sie an manchen Tagen wesentlich mehr Zeug durch die Krankenstation schleppen, doch das sah diese Arbeiterin wohl anders. „Soll ich nicht lieber Ihnen zur Hand gehen?“, bot sie zwar freundlich an, aber nach wie vor mit leiser Stimme. „Ich kann meine Arbeit hier kurz unterbrechen und Ihnen tragen helfen, das wäre gar kein Problem.“ „Keine Sorge, ich komme klar, wirklich. Danke für das Angebot“, versicherte sie und überlegte, ihr nochmal Hilfe anzubieten, hielt das dann aber für keine gute Idee. Anscheinend war diese Person im Umgang mit Menschen recht unsicher und musste sich unwohl fühlen, darum hielt Naola es für besser, sich einfach zu verabschieden. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, auf Wiedersehen.“ „Oh, auf Wiedersehen.“ Sichtlich erleichtert setzte die junge Frau schnell ihren Weg fort und verschwand mit dem Karton in den Laderaum eines Lastwagens, den Naola zuvor gar nicht bemerkt hatte. Für einen kurzen Moment blieb sie vor dem Eingang stehen, weil einige Bilder aus der Vergangenheit in ihr hochkamen. Dieses schüchterne Ding erinnerte sie stark an sich selbst, wie sie früher mal gewesen war, nur war es bei ihr einst einige Stufen extremer. Durch die Stelle als Vanes Assistentin hatte sie irgendwann gelernt mit anderen Leuten problemlos umzugehen und inzwischen machte es ihr sogar Spaß, soziale Kontakte zu knüpfen. Immer, wenn sie solch introvertierten Menschen begegnete fragte sie sich, warum sie wohl so waren und ob sie etwas dagegen tun könnte. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie einsam man werden konnte, ohne es wirklich zu merken. Schließlich schüttelte sie aber den Kopf und betrat endlich das Hotel, um ihrer aktuellen Mission nachzukommen – alles der Reihe nach. An der Rezeption erkundigte sie sich nach der Zimmernummer, wenig später stand sie dann auch schon vor der Tür und klopfte ein paar Mal enthusiastisch. Lange musste sie nicht warten, bis jemand eine Reaktion darauf zeigte. „Ja“, erwiderte Ferris, von der anderen Seite der Tür. „Ist offen.“ Solch eine knappe und fast schon emotionslose Reaktion war Naola gar nicht von ihm gewohnt, zumindest seit vielen Jahren nicht mehr. Diesmal musste der Streit mit Luan, falls denn wirklich einer vorgefallen war, einen wunden Punkt getroffen haben, dass es diesen lebensfrohen Mann derart runterzog. Ein Grund mehr für sie, sich seiner anzunehmen und ihm wieder auf die Beine zu helfen. Motiviert öffnete sie die Tür und betrat schwungvoll den Raum dahinter. „Hey, Precious~ Lang nicht gesehen!“ Irgendwann hatte es sich ergeben, dass sie Ferris nur noch mit Precious ansprach und sie war die einzige, die ihn so nannte. In ihren Augen war er eben ein sehr wertvoller Schatz, den einige viel zu wenig zu schätzen wussten. Davon abgesehen hatte er ihr damals sehr dabei geholfen, mehr aus sich rauszukommen. Für sie war er mehr als nur ein guter Freund. Ferris schmiss gerade irgendetwas sehr kleines in einen Mülleimer, der zwischen zwei Betten mitten im Raum stand, ehe er seine Aufmerksamkeit in ihre Richtung lenkte. Kaum hatten sich ihre Blicke gekreuzt, fing sein erst bedrücktes Gesicht begeistert an zu strahlen. „Hey, Naola~ Was für eine schöne Überraschung!“ Sofort sprang er förmlich vom Bett auf, wo er am Rand gesessen hatte, um sie angemessen zu begrüßen. Herzlich schloss er sie in eine Umarmung ein und strich ihr im Anschluss mit beiden Händen durch die Haare, was er immer gerne tat. Außer ihm durfte das auch sonst niemand, egal wie gut sie jemanden kannte oder nahe stand. Der Anblick ihrer Frisur stimmte ihn auffallend zufrieden. „Trägst du die heute etwa nur für mich offen?“ „Natürlich“, log sie, ohne rot zu werden – darin waren Traumbrecher unschlagbar, nur Ferris bildete eine Ausnahme. Sie musste zu ihm aufschauen, weil er gut einen Kopf größer war. Daran war sie allerdings gewöhnt, Vane war nämlich noch um einiges größer als er. Neben dem Doktor fühlten sich viele Männer immer ziemlich klein, was man ihnen stets von den Gesichtern ablesen konnte und das war jedes Mal amüsant, erst recht bei denen, deren Ego gleich darunter zu leiden anfing. Auch hier war Ferris einer von wenigen, den es nie gestört hatte kleiner als Vane zu sein. „Gefällt mir. Ich habe dir doch gesagt, dass sie dir so viel besser stehen“, meinte er und ließ von ihren Haaren ab. „So kommt auch diese wunderbare Farbe mehr zur Geltung.“ Ferris war bekannt dafür, dass er außergewöhnliche Haarfarben mochte, sie sogar geradezu vergötterte. Bis heute fragte Naola sich, woher diese Leidenschaft kam, aber er hatte ihr nie eine richtige Antwort darauf gegeben. Heute betrachtete sie es einfach als glücklichen Zufall, mit solch einer Farbe gesegnet zu sein und somit jedes Mal problemlos seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können. „Ich weiß doch, was du magst“, sagte sie und zwinkerte ihm zu. „Deshalb habe ich auch noch eine Kleinigkeit für dich mitgebracht.“ „Oh, jetzt sehe ich es auch!“ Tatsächlich hatte er das Bier entdeckt, das sie mitgebracht hatte und nahm ihr dieses Gewicht gleich ab. Seine Augen leuchteten wie die eines kleinen Kindes, dem man gerade ein Geschenk gemacht hatte. „Na hallo, ihr Hübschen. Eine bessere Kombi kann es gar nicht geben, eine bezaubernde Frau und Bier gleichzeitig.“ Naola lächelte amüsiert. „Du alter Schmeichler.“ Grinsend ging Ferris mit dem Bier zurück zu dem Bett, ließ sich dort wieder nieder und klopfte mit einer Hand neben sich auf die Matratze, damit sie sich zu ihm setzte. Dem ging sie auch nach und gesellte sich zu ihm auf das Bett, die Einkaufstüte stellte sie vorerst ein Stück neben ihren Beinen auf dem Boden ab. Als sie sich zu ihm drehte, reichte er ihr auch schon eine Flasche. Bier mochte Naola gar nicht so sehr, aber sie nahm es trotzdem entgegen und stellte fest, dass Ferris sie schon geöffnet hatte. Wenn es darum ging Bierflaschen zu öffnen war er wirklich erstaunlich schnell bei der Sache, sie hatte vielleicht nur ein paar Sekunden nicht hingesehen. Mit etwas Glück hatte sie eine Sorte erwischt, die auch ihr einigermaßen schmeckte. Zu ihrem Vorteil trank Ferris so ziemlich alles, solange es sich um Bier handelte, also musste sie sich darum schon mal keine Sorgen machen. Ferris hob seine eigene Flasche nach oben. „Prost!“ Daran nahm Naola sich ein Beispiel und stieß mit ihm an. „Prost!“ Zusammen nahmen sie ihren ersten Schluck und sie war überrascht davon, dass es gar nicht mal so schlecht schmeckte. Würde sie es laut aussprechen, käme von Ferris bestimmt als Erklärung, dass der gute Geschmack an der tollen Gesellschaft läge. Allein der Gedanke brachte sie zum Kichern, wodurch sie seinen Blick auf sich zog. „Sag mal“, setzte er an und neigte den Kopf zur Seite. „Ich rechne es dir ja hoch an, dass du für mich die Haare offen trägst, aber für ein anderes Outfit hat es dann doch nicht gereicht?“ Neben ihrer Stoffhose trug sie noch ein weißes Hemd mit einer schwarzen Weste darüber, weil Vane darauf bestand, dass sie sich für die Arbeit entsprechend anzog. In ihrer Freizeit unterschied sich ihr Kleidungsstil gewaltig von ihrem jetzigen, den sie nur für ihre Tätigkeit als Assistentin trug. Sehr zum Leidwesen von Ferris, dem das überhaupt nicht passte und das durch ein schweres Seufzen auch zeigte. „Wenn du mich mal in privater Pracht sehen willst, musst du schon mit mir ausgehen“, schlug sie vor. „Ich komme sonst eher selten dazu, mich mal von dieser Kleidung zu befreien. Vane arbeitet rund um die Uhr und das schließt mich oft mit ein.“ Abgeneigt war Ferris von diesem Vorschlag ganz und gar nicht, er grinste breit. „Du willst also ein Date mit mir, verstehe ich das richtig?“ Unschuldig zuckte Naola mit den Schultern. „Vielleicht? Also?“ „Wie könnte ich da nein sagen?“ Freundschaftlich legte er einen Arm um ihre Schulter. „Bist du dir denn sicher, dass ich dein Typ bin?“ Seufzend verdrehte sie die Augen. „Jetzt fang bloß nicht wieder mit der Leier an, Precious.“ „Warum nicht?“ Verständnislosigkeit packte ihn. „Ich kapier einfach nicht, wie eine Frau von deinem Kaliber noch Single sein kann.“ „Ich bin eben nicht an einer Beziehung interessiert“, wehrte sie ab und nahm einen zweiten, größeren Schluck aus ihrer Flasche. „Aber an mir schon?“, fragte er weiter, wobei ihr der neckische Unterton nicht entging. „Bei dir ist es was anderes.“ „Eben. Zwischen uns läuft etwas ganz anderes.“ Früher oder später musste er diese Diskussion ja wieder ins Leben rufen. Vor vielen Jahren, als Luan Dauergast auf ihrer Station im Labor gewesen war, hatte sie diese Unterhaltung quasi jeden Tag mit ihm geführt und es dämpfte ein wenig ihre gute Stimmung, dass ihn dieses Thema auch in der Gegenwart noch beschäftigte. Wie konnte ein Mann nur so hartnäckig und stur sein? Für sie war eine feste Beziehung mit irgendwem einfach kaum vorstellbar. An Freundschaften mochte sie sich im Laufe der Zeit gewöhnt haben und sie hatte allgemein keinerlei Schwierigkeiten mehr mit sozialen Interaktionen, liebte sie sogar sehr, aber eine Partnerschaft blieb für sie ein gewaltiges Tabu. Zu viele Enttäuschungen lagen in dem Scherbenhaufen ihrer Vergangenheit vergraben, an die sie nicht gerne zurückdachte. „Deswegen müssen wir den richtigen Mann für dich finden“, fuhr Ferris ungehemmt fort und rückte näher an sie heran, damit er noch besser mit dem Arm um ihre Schulter kam. Er wollte verhindern, dass sie möglicherweise vor diesem Gespräch weglief, was sie einige Male wirklich getan hatte. „Du hast doch tagtäglich so viel Kontakt zu so vielen Leuten bei deiner Arbeit. Was ist zum Beispiel mit Rowan?“ Fast wagte sie sich nicht nachzufragen. „Was soll mit ihm sein?“ „Einiges! Er hat rosafarbene Haare, die würden super zu deinen passen UND er trägt eine Brille!“ Erwartungsvoll sah er sie an, glaubte anscheinend allen Ernstes endlich den richtigen gefunden zu haben, nur sah sie das anders. „Auf keinen Fall. Brille hin oder her, er sieht immer so aus, als würde er jemanden umbringen wollen. So finster könnte nicht mal Luan aus der Wäsche gucken und ehrlich, das will schon was heißen.“ „Ihr missversteht ihn alle vollkommen“, wandte Ferris ein. „Er ist in Wahrheit total süß, echt.“ Langsam hatte sie genug von diesem Unsinn. Naola setzte einen Blick auf, den sie auch jedes Mal verwendete, wenn jemand auf der Krankenstation bockig war und seine Medizin nicht nehmen wollte. Ihren Entweder-du-hörst-jetzt-auf-mit-diesem-Theater-oder-ich-hole-den-Arzt-Blick, dummerweise war Ferris so ziemlich der einzige, bei dem er nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Alle anderen waren davon so schnell eingeschüchtert, dass sie selbst nicht wussten wie ihnen geschah. Vane war eben die beste Abschreckung, die es geben konnte. „Na schön, also kein Mann“, gab Ferris dann doch auf, was sie gleich misstrauisch stimmte und ihr Gefühl sollte sie nicht täuschen. Längst hatte er sich einen Plan B zurechtgelegt, den er ihr schonungslos offenbarte. „Dann konzentrieren wir uns jetzt eben auf eine passende Frau für dich.“ Beinahe hätte sie die Flasche Bier vor Schreck fallengelassen. „Eine ... Frau?!“ „Ja, warum nicht? Heutzutage ist es total normal, sich einen gleichgeschlechtlichen Partner zu nehmen.“ Für ihn schien es die beste Idee aller zu Zeiten zu sein, sein Gesicht blendete sie fast, so sehr leuchtete es nun vor lauter Leidenschaft für diese Sache. „Mensch, dass ich da nicht von Anfang an drauf gekommen bin. Deshalb stehst du auch nicht auf Männer, hab ich recht?“ „Ich will auch keine Frau“, lehnte Naola ab und nahm einen dritten Schluck aus ihrer Flasche, sonst könnte sie dieser Unterhaltung kaum standhalten. Bei solchen Angelegenheiten war Bier auch für sie der reinste Segen. Enttäuschung machte sich bei Ferris breit. „Aber auf irgendwas musst du doch stehen!“ „Tue ich ja auch“, begann sie, in einer geheimnisvollen Tonlage und machte ihn dadurch mehr als neugierig. Hoffend starrte er sie mit großen Augen an, bis sie endlich das Rätsel auflöste. „Auf dem Boden.“ Jetzt hatte sie es geschafft, ihn völlig zu frustrieren. Sein Arm löste sich von ihrer Schulter und nun war er derjenige, der seufzen musste und dazu den Kopf samt Oberkörper weit nach unten sinken ließ, fast bis auf den Boden. Wie ein schlaffer Sack hing er auf der Bettkante, was ein zu lustiger Anblick war. Sie konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Das ist nicht witzig“, murmelte Ferris. „Mir war es ernst, jemanden für dich zu finden.“ „Sorry, aber ich brauche in dem Punkt keine Hilfe.“ Aufmunternd legte sie nun an seiner Stelle ihren Arm um seiner Schulter. „Das Date mit dir steht aber noch, oder?“ Durch diese Frage gelang es ihr Ferris ein wenig aufzuheitern, denn er blickte zu ihr auf und lächelte. „Klar, ich weise eine Frau niemals zurück, wenn ich erst mal zugestimmt habe.“ „Gut zu wissen.“ „Am besten nimmst du dir hier ein Zimmer und bleibst eine Weile.“ Er richtete sich wieder ein Stück auf, blieb aber leicht nach vorne gebeugt und stützte sich mit dem linken Ellenbogen auf seinem Bein ab. „Eigentlich sind wir hier ja auf Mission, doch da wird sich schon genug Zeit für einen netten Abend zwischendurch finden lassen. Meinst du, Vane wird sich gnädig zeigen und dir mal Urlaub geben?“ „Oh, ich habe so viele Überstunden angesammelt, dass er mir mehrere Jahre freigeben müsste“, meinte Naola daraufhin und nickt zuversichtlich. „Ich drohe ihm einfach damit, dass ich kündige, sollte er mir nicht wenigstens für ein paar Tage freigeben.“ „So abhängig ist er von dir?“ „Schon, ja. Er gibt es nur nicht gerne zu. Vermutlich verzweifelt er gerade in diesem Moment schon an Kleinigkeiten, die ich sonst immer mache.“ Darüber musste Ferris schmunzeln. „Klingt, als stände dem ja dann nichts mehr im Wege. Wie du siehst, sind die Zimmer auch sehr gemütlich. Haben sogar die passende Farbe für dich.“ Kurz ließ sie ihren Blick durch den fliederfarbenen Raum schweifen und stimmte nickend zu. „Stimmt, es ist perfekt.“ Plötzlich veränderte sich die Stimmung von Ferris so rasant, dass es die komplette Atmosphäre im Zimmer runterzog und düster werden ließ. Hastig nahm er nun einen zweiten, viel zu großen Schluck aus seiner Flasche, direkt danach noch einen dritten und vierten, als wollte er gar nicht mehr aufhören. Gerade als Naola schon nach dem Bier greifen und es ihm abnehmen wollte, setzte er endlich wieder ab und atmete schwer aus. Seine Mimik hatte jeglichen Funken Freude verloren, obwohl er versuchte diese Fassade aufrecht zu erhalten, was ihm kaum gelang. Mit einem falschen Lachen versuchte er, sie von seiner bedrückten Stimmung abzulenken. „Wenn du dann dein eigenes Zimmer hast, kannst du mit Luan ja Plätze tauschen und wir zwei schlafen zusammen hier. Das wäre doch nett, findest du nicht?“ „Precious“, sprach Naola ihn mit sanfter, ruhiger Stimme an und strich ihm tröstend über den Rücken. „Ist schon okay. Ich weiß, dass zwischen Luan und dir etwas vorgefallen ist. Magst du darüber reden?“ Erschrocken sah er sie an und kämpfte innerlich mit sich nach den richtigen Worten, wollte um jeden Preis verschleiern wie schlecht es ihm ging. Bis jetzt war ihm das auch unheimlich gut gelungen und durch das Gespräch mit der Partnersuche für sie hatte Naola kurzzeitig sogar vergessen, weshalb sie hier war. Etwas musste sie gesagt haben, durch das sein Schauspiel nun anfing zu bröckeln. „Zwischen Luan und mir herrscht doch ständig dicke Luft“, redete er sich nervös raus und behielt das aufgesetzte Lächeln bei. „Das nimmt sich jemand wie ich nicht zu Herzen. Es ist alles bestens, wirklich. Mir geht’s blendend, vor allem jetzt, wo du da bist.“ „Luan hat mich geschickt“, gab sie zu und wartete ab, wie er darauf reagieren würde. Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Ach ja? Wieso das denn?“ „Weil es ihm leid tut und er sich selbst nicht getraut hätte. Du kennst ihn doch.“ „Ich kenne ihn eben nicht mehr und er mich umgekehrt scheinbar auch nicht“, widersprach Ferris, nun etwas gereizt und wandte sich von ihr ab. „Das war mal anders. Früher war er anders, das müsstest sogar du noch wissen.“ Es stimmte, dass Luan früher anders war, genau wie Ferris. Oft bekam man bei den beiden den Eindruck, als hätten sie irgendwann die Rollen getauscht und wenn sie ehrlich sein sollte, konnte sie sich selbst keinen Reim darauf machen. Hinzu kam, dass sie nur wenige Dinge aus dieser Zeit wirklich mitbekommen hatte, aber eine Sache wusste sie noch genau, die quasi ein typisches Merkmal von ihnen gewesen war. „Er hat zu mir gesagt, dass du ein guter Kerl bist“, gab sie diese Aussage an ihn weiter. Zögernd fragte er vorsichtshalber nach, ob das stimmte. „Wirklich? Hat er das wirklich gesagt?“ „Wirklich.“ Langsam wandte er sich wieder zu ihr, in seinen Augen lag ein Lächeln, obwohl sein Gesichtsausdruck traurig aussah und er sich kaum noch die Mühe machte, das zu verstecken. „Das habe ich damals immer zu ihm gesagt, wenn er mich genervt hat und er dann dachte, ich könnte ihn nicht leiden.“ „Ich weiß.“ Schwermütig wippte er die Flasche in der Hand hin und her, beobachtete wie das Bier im Inneren durchgeschüttelt wurde. „Ich will meinen alten Freund zurück. Meinst du, es wird jemals wieder so werden wie früher?“ „Kopf hoch, Precious“, ermutigte sie ihn und löste ihren Arm von ihm, um Ferris auf die Schulter klopfen zu können. „Natürlich wird es das, aber nicht von alleine. Du musst schon ein bisschen nachhelfen.“ Überzeugt war er noch nicht. „Ah ja? Wie stellst du dir das vor?“ „Ich habe dir noch etwas mitgebracht.“ Endlich kam die Tüte zum Einsatz, die sie mitgebracht hatte. Vor ihrer Ankunft am Hotel hatte sie noch eine halbe Ewigkeit die ganze Stadt absuchen müssen, bis sie den richtigen Laden für den Inhalt fand, der sich nun in der Einkaufstüte befand. Ob es daran gelegen hatte, dass sie sich in Limbten nicht auskannte oder es tatsächlich nur einen einzigen Süßigkeitenladen hier gab, war an der Stelle unwichtig. Zuversichtlich reichte sie ihren Einkauf an Ferris weiter und der war sichtlich überwältigt von der Menge an Süßigkeiten, die sie ihm mitgebracht hatte. Noch bevor er etwas dazu sagen konnte, übernahm das Naola. „Gib sie Luan, die mag er doch.“ „Mögen ist weit untertrieben“, erwiderte er und blickte von der Tüte zu ihr. „Das könnte wirklich eine gute Bestechung sein. Aber bei der Menge wird er noch denken, dass ich mehr von ihm will als nur meinen alten Freund.“ „Wäre das so tragisch?“ Ein verspieltes Grinsen huschte über ihre Lippen. „Hast du mir selbst nicht noch vorhin gesagt, dass es heutzutage total normal ist, einen gleichgeschlechtlichen Partner zu haben?“ „Autsch“, kam es belustigt von Ferris. Verlegen stellte er die Tüte mit den Süßigkeiten zur Seite. „Jetzt wolltest du es mir zurückgeben, was? Bei mir ist es doch was ganz anderes.“ „Ach komm, als ob!“ Nach diesen Worten mussten sie gleichzeitig anfangen laut zu lachen und konnten für einige Zeit nicht mehr damit aufhören. Erst als Naola sich irgendwann zusammenriss und ein ernstes Gesicht aufsetzte, verstummte auch Ferris abrupt, der sie irritiert ansah. „Huh? Ist was?“ „Das war kein Spaß“, sagte sie, mit Bestimmtheit in der Stimme. „Aha?“ Statt dem Thema auszuweichen, ließ er sich darauf ein. „Von mir auch nicht, weißt du? Hier gibt es eine Frau, von der ich glaube, dass sie gut zu dir passen würde. Sie trägt den gleichen Namen wie das Hotel.“ Deshalb hatte er also vorgeschlagen, dass sie sich hier ein Zimmer nehmen sollte und nicht wegen ihrer Verabredung. Nicht nur. Dieser Typ gab wirklich niemals auf, wenn es darum ging sie unter die Haube zu bekommen, egal mit welchen Mitteln. Ausnahmsweise gab Naola sich geschlagen, aber nur, weil sie ihn heute nicht vor den Kopf stoßen wollte. „Schon gut, ich werde sie mir anschauen“, versicherte sie. „Zufrieden?“ Das Grinsen in seinem Gesicht sagte bereits alles. „Sehr sogar, ja.“ Ferris hob seine Flasche nochmal, um es endgültig zu besiegeln und ihr war bewusst, dass es danach kein Zurück mehr für sie geben würde. Nun, anschauen und kennenlernen würde ihr schon nicht weh tun, feste Bindungen musste sie aber noch lange nicht eingehen, wenn sie nicht wollte. Also stieß sie zum zweiten Mal mit ihm an und beide nahmen erneut jeweils einen Schluck Bier zu sich. Im Gegensatz zu Naola musste Ferris sich nach diesem Schluck schon eine neue Flasche aufmachen, was er auch gleich tat. Aufmerksam beobachtete sie ihn dabei und musste feststellen, dass er zwar wieder deutlich fröhlicher aussah, doch da lag nach wie vor ein Hauch Traurigkeit in ihm verborgen. Diese Traurigkeit sorgte dafür, dass sie ihr Bier auf dem Nachttisch am Bett abstellte, aufstand und ihn umarmte, während er noch saß. Ihre Umarmung ließ Ferris ein wenig unsicher werden, erst recht weil aufgrund der unterschiedlichen Positionen sein Kopf bei dieser Umarmung an ihre Brust gedrückt wurde, aber er wahrte die Fassung. Er versuchte es. „Äh, also, findest du nicht, dass wir damit bis nach unserem Date warten sollten? Oder ist irgendwas?“ „Warum willst du mich eigentlich dauernd verkuppeln, wenn du selbst noch Single bist?“, brachte sie von sich aus erneut das Thema Partnersuche zur Sprache. Der Kontakt zu ihrer Brust lenkte ihn offensichtlich reichlich ab, da er etwas länger brauchte, bis er seine Sprache wiederfand. „Wie meinen?“ „Du könntest viele Frauen haben, Precious.“ Bewusst redete sie mit einer möglichst ruhigen Stimmlage, frei von jeglichen Vorurteilen oder Meinungen. „Du hältst dich für jemanden frei, hab ich recht?“ Darauf sagte Ferris nichts mehr, doch sie spürte wie das bunte Farbenspiel, hinter dem er sich versteckte, die Leuchtkraft verlor. Sollte sie an der Stelle weitermachen, könnte das Bühnenbild doch noch vollständig in sich zusammenbrechen, aber genau darauf arbeitete sie auch hin. Es war nicht gut, wenn er alles nur in sich ansammelte und nie Schwäche zeigte. Wer sich selbst zu sehr unter Druck setzte, wurde irgendwann reizbar und könnte Dinge tun, die man hinterher bereute. „Willst du wirklich nur deinen alten Freund zurückhaben?“ Sie schloss die Augen. „Oder ist da noch mehr?“ „Ich“, kam es leise von Ferris, „weiß nicht, was du meinst.“ „Doch, das weißt du. Und ich auch.“ In ihrer Erinnerung wurden sogleich alte Bilder lebendig, durch die sie ein Gefühl von Sehnsucht überkam. „Ich konnte euch damals oft genug beobachten, wenn du Luan auf der Krankenstation besucht hast und da habe ich es gemerkt.“ Wieder schwieg Ferris erst, dann schlug die Erkenntnis, dass sie ihn durchschaut hatte, auch schon zu. „Verdammt.“ Sein Körper fing leicht an zu zittern, was bedeuten musste, dass er sich gerade nochmal mächtig zusammenreißen musste, um sein Gesicht zu wahren. Ein wenig Verständnis brachte sie ihm gewiss entgegen, immerhin hatte er sich diese Maske über Jahre hinweg mühevoll aufgebaut und es musste ihm wie versagen vorkommen, würde er sich gehen lassen. Jetzt oder nie. „Wir sind unter uns, niemand wird dich sehen“, sprach sie mit mitfühlender Stimme auf ihn ein. „Nicht mal ich, wenn ich dich so festhalte. Also lass ruhig mal los, ja? Hinterher kannst du dann wenigstens wieder richtig lächeln, ohne deine wahren Gefühle verstecken zu müssen.“ Es dauerte bloß Sekunden, bis Ferris tatsächlich einfach losließ und es nicht mehr zurückhalten konnte. All die Trauer brach aus ihm heraus, die er in letzter Zeit versucht hatte wegzuschließen und nicht zugelassen hatte. Daran merkte sie, wie wichtig ihm die Freundschaft zu Luan war und er es kaum aushielt, wie die Dinge sich geändert hatten. „Ich will doch nicht viel!“, rief er verzweifelt und klammerte sich an ihr fest. „Ich will nur, dass er mich sieht, wie ich wirklich bin. Aber er hat keine Ahnung, er weiß gar nichts mehr von mir. Es ist, als wären wir uns nie nah genug gewesen. Das halte ich nicht mehr aus! Ich habe keinen Spaß! Schon lange nicht mehr!“ Schweigend hielt sie ihn in der Umarmung fest, hörte ihm zu und strich ihm dabei durch die Haare. Wie lange sie so dastand und Ferris in ihren Armen lag, war schwer einzuschätzen. Selbst wenn es Jahre gedauert hätte, sie hätte so lange gewartet. Ferris brauchte diesen Beistand. *** Leise schloss Naola die Zimmertür, als sie den Raum verließ und bemühte sich sogar, möglichst geräuschlos den Flur hinter sich zu lassen. Gemeinsam hatten sie es noch geschafft alle Flaschen zu leeren, gegen Ende war Ferris dann vor Erschöpfung eingeschlafen. Kein Wunder, weinen konnte ungeheuer anstrengend sein. Besonders wenn man es so lange zurückgehalten hatte wie er – ihre Befürchtung diesbezüglich hatte sich bestätigt. Hoffentlich war ihm die gemeinsame Zeit mit ihr hilfreich gewesen. Falls nicht, war es ihr wenigstens gelungen ihn davon zu überzeugen, die Farbe seines Autos zu ändern und zwar zurück in Blau, weil Rot nicht zu ihm passte. Auch den Schlüssel hatte sie ihm übergeben, demnach war soweit alles erledigt. Die nächsten Schritte standen aber schon auf dem Plan. Als nächstes musste sie Vane davon überzeugen ihr Urlaub zu geben, problematisch dürfte das jedoch nicht werden. Alleine wenn sie behauptete, auf die Art Luan für die nächste Zeit im Auge behalten zu können, würde er sofort zustimmen. Daran zweifelte sie nicht. Aus diesem Grund führte sie ihr Weg zuerst zur Rezeption im Eingangsbereich, wo sie sich ein Zimmer mieten wollte. Unten angekommen dauerte es nicht lange, bis die Buchung abgeschlossen war. Viele Gäste schien dieses Hotel nicht zu haben, da noch reichlich Zimmer frei waren und sie sogar ein Einzelzimmer auf dem Flur bekommen hatte, wo auch Luan und Ferris untergekommen waren. Dankbar nahm sie bereits ihren eigenen Zimmerschlüssel entgegen. Spontan beschloss sie, bei der Gelegenheit nach der Frau zu fragen, die, laut Ferris, etwas für sie sein könnte. Warum nicht auch gleich diese Sache in Angriff nehmen? Je schneller sie es hinter sich hatte, umso besser. Vielleicht könnte der Frauenheld auch ausnahmsweise mal den richtigen Riecher haben und sie würde hier die Liebe ihres Lebens finden. Schlimm wäre es aber nicht, sollte sie am Ende doch weiter ohne Partner dastehen. An eine Frau als Partnerin hatte sie ohnehin noch nie gedacht, direkt ausschließen wollte sie diese Möglichkeit aber auch nicht. „Sie wollen zu Tesha?“, antwortete die Frau an der Rezeption, nachdem Naola sie nach ihr gefragt hatte. „Sie ist dort drüben, die mit den roten Haaren.“ „Sieh mal einer an“, murmelte sie vor sich hin und bedankte sich, ehe sie zu Tesha rüberging. Bei Tesha handelte es sich um die Frau, die ihr mit dem Karton im Arm entgegen gekommen war. Früher oder später wäre sie so oder so nochmal zu ihr gegangen, um mit ihr zu reden, einfach weil sie den Drang verspürte ihr zu helfen. Dass sie zusätzlich durch eine Empfehlung von Ferris zu ihr geführt wurde, war ein Zufall, der sie durchaus neugierig machte. Daher war sie überraschend motiviert, als sie bei ihr ankam und sie freundlich grüßte. „Hallo nochmal. Wie wär’s, könntest du jetzt ein bisschen Hilfe gebrauchen? Ich bin gerade frei geworden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)