Starfall von Platan (Diarium Fortunae: One-Shot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 4: Liebe kann man nicht aus Büchern lernen, Doktor ---------------------------------------------------------- Auf ihrem Weg zur Arbeit streckte Naola sich ausgiebig. „Aaah, endlich konnte ich mal wieder ausschlafen. Das habe ich echt gebraucht.“ In letzter Zeit war auf der Krankenstation immer ganz schön viel los gewesen, fast im Sekundentakt hatten sie einen neuen Patienten nach dem anderen behandeln müssen. An so viel Trubel musste sie sich erst wieder gewöhnen, seitdem Luan und Ferris nämlich keine Dauergäste mehr bei ihnen waren, hatte für eine ganze Weile förmlich Stillstand auf ihrer Arbeit geherrscht. Inzwischen stellten die beiden schon lange keine unüberlegten Dummheiten mehr an, mit denen sie Chaos verbreiteten, so wie früher. Einerseits war das gut, denn dadurch war auch die Zahl der Verletzten zurückgegangen, aber andererseits war es auch viel zu ruhig geworden. Zumindest bis vor genau einem Monat. Eine große Welle aus Neulingen hatte das Hauptquartier geradezu überschwemmt, natürlich bedeutete das gleichzeitig Arbeit für den Arzt und seine Assistentin. Noch nie waren derart viele Menschen von Atanas als Traumbrecher auserwählt worden und es stand keinem von ihnen zu, dieses Handeln zu hinterfragen. Dafür hätten sie auch gar keine Zeit gehabt, schließlich war in den letzten Tagen nicht mal an Schlaf zu denken gewesen. Umso überraschter war Naola, als Vane ihr vorgestern einen Tag frei gegeben hatte, mit der Bedingung, dass sie sich ordentlich ausschlafen sollte. Ich habe dagegen angekämpft wie eine Löwin, dachte sie. Aber er hat darauf bestanden, mich sogar angefangen zu ignorieren, nur damit ich gehe. Widerwillig hatte sie also ihren freien Tag angetreten und ihn tatsächlich größtenteils mit schlafen verbracht, fühlte sich erholt und gestärkt für alles, was auf sie zukommen würde. Vielleicht war es doch gar nicht so schlecht gewesen, dass sie in Ruhe ausschlafen konnte, denn mit ihrer jetzigen Verfassung würde sie dem Doktor viel hilfreicher sein und besser zur Hand gehen, als in diesem Trancezustand, in dem sie zuletzt vor lauter Müdigkeit versunken war. Deshalb plagte sie auch ein schlechtes Gewissen, weil sie gegen Ende schlapp gemacht hatte, dabei sollte sich Vane auf seine Assistentin jederzeit verlassen können. Bestimmt hat er mich deswegen auch weggeschickt, weil ich mehr im Weg gestanden habe, als dass ich eine Hilfe für ihn war. Statt wegen diesem Gedanken den Kopf hängen zu lassen, beschloss sie, noch mehr Einsatz zu zeigen als jemals zuvor und ihre schwachen Tage wieder bei ihm gutzumachen. Kein Wunder also, dass sie äußerst entschlossen durch die Gänge marschierte, aufrecht und kampfbereit, sogar mit einem Lächeln auf den Lippen. Zügig legte sie den Weg von ihrem Zimmer zur Krankenstation zurück, grüßte unterwegs allerhand Leute und kam wenig später auch schon an ihren Ziel an. Ihrem heutigen und auch zukünftigen Schlachtfeld, auf dem sie Stärke beweisen wollte. Vor der Tür hielt sie an und griff bereits nach der Klinke, drückte diese aber noch nicht runter, sondern verharrte regungslos in der Position. Bestimmt warteten längst wieder unzählige Neulinge darauf behandelt zu werden, ganz zu schweigen von denen, die für einen längeren Zeitraum Gast auf der Krankenstation waren. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und nickte zuversichtlich. „Also los, Fräulein Palles! Zeigen Sie vollen Einsatz.“ Mit dieser Forderung an sich selbst öffnete sie schwungvoll die Tür und trat in den Eingangsbereich dahinter ein, wollte schon allen Anwesenden einen wunderschönen guten Morgen wünschen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Niemand zu sehen. Sie hatte ein lautes Schlachtfeld erwartet, auf dem sich tausende Verletzte tummelten, so wie es auch in den vergangen Tagen der Fall gewesen war, nur wurde sie ziemlich enttäuscht. Nicht mal eine einzige Menschenseele hatte sich hierher verirrt, es war beängstigend still und leer. Keine ellenlange Warteschlange war an ihrem Tresen zu sehen, einfach niemand war da. Das stimmte sie misstrauisch. „Guten Morgen?!“, rief sie zögernd, als sie die Tür hinter sich geschlossen und einige Schritte in den Eingangsbereich gewagt hatte. „Hallo, Doktor?!“ Keine Antwort, langsam wurde sie nervös. „Doktor Belfond?“ Instinktiv holte sie ihre silberne Taschenuhr hervor, um die Umgebung nach irgendwelchen ungewöhnlichen Aktivitäten oder gar Anwesenden zu überprüfen. Zwar zweifelte sie stark daran, dass ein Alptraum überhaupt ins Hauptquartier ein- und dann auch noch so weit vordringen könnte, Vorsicht war aber immer besser als Nachsicht. Wie erwartet fand sie auf den ersten Blick auch nichts, was auf einen Feind oder etwas dergleichen hindeutete, also konnte sie diese Möglichkeit wenigstens schon mal ausschließen. Die Frage, wo alle waren, blieb trotzdem bestehen. Vorsichtshalber behielt sie die Taschenuhr in der Hand und setzte sich in Bewegung, steuerte Vanes Büro an. Erfahrung mit Kämpfen hatte sie leider nicht viel, das würde sie jedoch nicht davon abhalten, sich im Notfall zu wehren. Auch in den anderen Räumen, durch die sie auf ihrem weiteren Weg hindurch kam, war niemand aufzufinden. Selbst alle Patienten, die für einen längeren Zeitraum hier bleiben mussten, waren verschwunden. Wenn sie es nicht besser wissen würde, hätte sie gewagt zu vermuten, dass sie nur einen Alptraum durchlebte. Schließlich kam sie endlich an dem Rückzugsort von Vane an, nur ein kleines Hindernis trennte sie noch von diesem Gebiet, das für gewöhnlich niemand betreten durfte. Eine goldene Ausnahme bildete Naola, der Vane mittlerweile anscheinend genug Vertrauen entgegen brachte und sie schon mehrmals in seinen heiligen vier Wänden geduldet hatte. Möglichst leise schritt sie an die Bürotür heran und öffnete sie, nur einen Spalt breit, so dass sie einen Blick in den Raum werfen konnte. „Doktor?“, sagte sie abermals unruhig. „Sind Sie da?“ Wieder wartete sie vergeblich auf eine Antwort, dennoch fiel sämtliche Anspannung von ihr ab, als sie Vane durch den Spalt hindurch entdeckte. Er saß, mit dem Rücken zur Tür, an der falschen Seite seines Schreibtisches und schien mit etwas beschäftigt zu sein, wegen dem er ihre Stimme sicher nicht mal wahrgenommen hatte. Erleichtert verstaute sie ihre Uhr erst mal wieder sicher in ihrer Hosentasche, bevor sie die Tür richtig öffnete und das Büro betrat, in dem es stockdunkel war. Erst nachdem sie nicht mehr über ihre verbesserte Sicht verfügte, fiel ihr das auf, was nichts Neues für sie war. Sie betätigte den Lichtschalter neben der Tür und es wurde hell im Raum, wodurch Vane sich scheinbar kein bisschen gestört fühlte, da er nicht aufblickte oder anderweitig darauf reagierte. Neugierig trat Naola näher an ihn heran und bemerkte, dass er sich nachdenklich mit einer Hand durch die Haare fuhr, was er bereits öfters getan haben musste, denn sie sahen ziemlich zerzaust aus, als hätte er sie sich länger nicht mehr gekämmt. Hinter ihm angekommen warf sie schweigend einen Blick über seine Schulter und entdeckte einen Haufen Bücher, die sich auf seinem Schreibtisch in die Höhe stapelten, eines davon lag aufgeschlagen vor ihm. Flüchtig ging sie einige Titel durch und musste schnell anfangen zu lächeln, als ihr bewusst wurde, mit was für einer Art von Lektüre sich Vane mal wieder so konzentriert beschäftigte. Es waren alles Bücher über das gleiche Thema: Menschliche Verhaltensweisen, Deutung und Analyse von Gefühlen. Sobald er Zeit dafür erübrigen konnte, zog er sich stets in sein Büro zurück und studierte förmlich einen dicken Wälzer nach dem anderen, vergaß dabei oft die Zeit. Manchmal fragte Naola sich, ob dieser Mann jemals schlief. Obwohl er ein eigenes Zimmer hatte, verließ er die Krankenstation fast nie. In dem aktuellen Kapitel des Buches, das er gerade aufmerksam las, ging es um die Liebe, was Naola einen überraschten Laut entlockte und da dieses Geräusch direkt neben seinem Ohr ertönte, wurde er auf sie aufmerksam. Ohne den Blick von seiner Lektüre abzuwenden, grüßte er sie. „Guten Morgen, Naola.“ „Oh!“, reagierte sie erst verlegen und wich ein Stück zurück, um ihn nicht weiter zu bedrängen. Selbst wenn sie aufrecht hinter ihm stand, war er knapp einen halben Kopf größer als sie und das sitzend. „Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich, Doktor.“ „Wie geht es dir?“, schob er gleich eine Frage hinterher, seine Stimme klang dabei so tief und unterkühlt wie immer. „Blendend“, antwortete sie knapp und beobachtete, wie seine Hand von den Haaren hinunter zum Buch glitt, wo er eine Seite weiterblätterte. „Ich habe ausgiebig geschlafen, wie Sie es verlangt haben.“ Endlich löste er den Blick von den neuen Seiten, lenkte ihn stattdessen über die Schulter hinweg zu ihr, um sie prüfend anzuschauen. Etwas flackerte in seinen dunkelbraunen Augen auf, das man leicht übersehen konnte, aber Naola bemerkte es sofort und freute sich darüber. Besonders im Zusammenhang mit seinen folgenden Worten: „Ja, du siehst wirklich viel besser aus als vorgestern. Das ist gut.“ Gemeint war ihr gesundheitliches Erscheinungsbild, zuletzt hatte sie sich wahrlich ziemlich ausgelaugt und fertig gefühlt. Nach all der Zeit, die sie ihm schon behilflich war, müsste sie eigentlich viel mehr aushalten und deshalb wollte sie das schlechte Gewissen einfach nicht loslassen, auch wenn sie entschlossen war, sich eben von nun an noch mehr anzustrengen. Eine Assistentin sollte mit dem Arzt mithalten können, sonst konnte er genauso gut auch alleine weiterarbeiten. „Tut mir leid, dass ich schlapp gemacht habe“, entschuldigte sie sich und erschrak beim nächsten Atemzug direkt, dass sie es ausversehen laut ausgesprochen hatte. Verständnislos hob Vane eine Augenbraue. „Warum entschuldigst du dich dafür?“ Jetzt kam sie nicht mehr aus der Nummer raus, dabei wollte sie vor ihm keine Schwäche mehr zeigen oder so wirken, als bräuchte sie unbedingt Trost von ihm – abgeneigt wäre sie von der letzten Option nicht. „Ach, es ist nur ... ich dachte, eine Entschuldigung wäre angebracht.“ „Ganz und gar nicht. Nicht von dir“, widersprach Vane und plötzlich mischte sich ein Klang in seine Stimme, der sie auf magische Weise von ihren Sorgen entlastete. „Ich müsste mich bei dir entschuldigen. Bei all der Arbeit habe ich aus den Augen verloren, dass du deinen Schlaf brauchst und habe nicht auf dich geachtet.“ Solche Momente waren es, in denen sie nicht verstehen konnte, wieso alle anderen diesen Mann immerzu als kalt, unheimlich und grob bezeichneten, warum manche ihn sogar fürchteten. In ihr breitete sich eine wohlige Wärme aus und sie war überaus gerührt davon, wie Vane diese Angelegenheit betrachtete. Als wäre das nicht schon genug, setzte er noch einen drauf und vor lauter Glückseligkeit drohte ihr schwindelig zu werden. „Das wird nicht nochmal vorkommen“, versicherte er ihr und wandte sich wieder nach vorne. „Versprochen.“ „Doktor“, murmelte sie vor Freude und konnte nicht anders, als ihn herzlich von hinten zu umarmen. „Sie sind der Beste~“ Auf diese Umarmung reagierte Vane jedoch wenig begeistert und zeigte sich zwar abweisend, unternahm aber auch nichts dagegen. „... Naola, ist das hier zwingend notwendig?“ „Oh ja, sehr sogar~“ Ungerne wollte sie seine Nerven zu sehr herausfordern, also ließ sie ihn bald schon widerwillig los und gab ihm somit seinen Freiraum zurück. „Übrigens, wo sind all unsere Patienten hin? Ich habe niemanden gesehen, als ich reingekommen bin und auch die Patientenzimmer scheinen leer zu sein.“ „Alle behandelt, gesund und munter.“ „Ehrlich? Wie haben Sie das alleine angestellt, an nur einem Tag?“ Langsam aber sicher wirkte Vane genervt, gab ihr nicht mal mehr eine Antwort auf ihre letzte Frage. „Warum gehst du uns nicht Kaffee machen?“ „Gerne“, meinte sie, ließ sich kein bisschen von seiner Art abschrecken. Bestimmt wollte er nur noch eine Weile lesen, bevor neue Patienten eintrafen und sie verstand, dass er dafür seine Ruhe brauchte. Allerdings ging ihr das Thema nicht aus dem Kopf, mit dem der Doktor sich aktuell beschäftigte, daher weigerte sich ein Teil in ihr einfach so zu gehen. Nachdenklich betrachtete sie seinen Rücken, ihr Blick wanderte weiter zu seinen Haaren, die furchtbar unordentlich aussahen und da bekam sie eine Idee, wie sie ihren Aufenthalt in seinem Büro verlängern könnte. „Oder“, setzte sie an und klatschte in die Hände, „ich kümmere mich zuerst um Ihre Haare.“ „Meine Haare?“, wiederholte Vane so trocken, dass sie schmunzeln musste. „Ja, um Ihre Haare. Die sehen aus, als wären Sie in einen Sturm geraten.“ Ehe er etwas dagegen einwenden konnte, fuhr sie schnell fort. „Außerdem können Sie so in Ruhe weiterlesen, ohne sich zwischendurch darum kümmern zu müssen.“ Anhand ihres überschwänglichen Elans merkte Vane scheinbar, wie aussichtslos es war, ihr diese Idee auszureden und ihm bei dem Versuch erst recht Zeit verloren gehen würde, daher seufzte er nur einmal schwer. „Meinetwegen.“ „Sehr gut“, freute Naola sich und eilte zur Tür. „Ich hole nur eben Ihre Bürste, bin gleich zurück.“ *** Wenige Augenblicke später war Naola schon mehr als vertieft darin Vanes Haar zu bürsten, wobei sie äußerst behutsam vorging. Besonders bei Knoten ging sie übervorsichtig vor, weil sie wollte, dass er in Ruhe weiterlesen konnte, so wie sie es ihm angekündigt hatte. Dafür dauerte es umso länger, bis sie Fortschritte machte, aber so eilig hatte sie es auch gar nicht, mit dem Bürsten fertig zu werden. Sie genoss es, ihm auch mal so einen Gefallen tun zu können, auch wenn sie sich ihm in dem Fall eher aufgedrängt hatte. Bisher hatte sie es immer nur vermutet, doch jetzt, wo sie ihm während des Bürstens durch die Haare streichen konnte, wurde sie darin bestätigt, wie seidig weich und füllig sie waren – bei Naola waren sie glatt und dünn. Mühevoll unterdrückte sie den Drang ein fröhliches Lied vor sich hin zu summen, blickte nur hin und wieder kurz seitlich an ihm vorbei, wie weit er mit dem Buch gekommen war. Damit sie auch gut an seinen Kopf rankommen konnte, war Vane in seinem Stuhl ein ganzes Stück nach unten gerutscht, da er sonst zu groß für sie war. Jetzt konnte sie über ihn hinweg schauen und war einen halben Kopf größer als er. Irgendwann schloss Vane auf einmal das Buch, legte es auf dem Schreibtisch ab und seufzte erneut. „Ich werde es nie verstehen.“ „Was?“, hakte Naola gleich nach, bürstete weiter seine Haare. „Die Liebe?“ Erst blieb er stumm, ging aber dann doch auf ihre Frage ein. „Richtig.“ „Sind Sie verliebt?“, scherzte sie, war jedoch mehr als gespannt auf die Antwort. Vane blieb bei seinen knappen Erwiderungen. „Nein.“ „Nicht?“ Seltsamerweise überkam sie Mitgefühl für ihn. „Wie schade, ich hätte es Ihnen gegönnt.“ „Aha“, gab er von sich, ohne jegliches Gefühl in der Stimme. Es war offensichtlich, dass er eigentlich nicht darüber reden wollte, aber sie blieb beim Thema. „Warum beschäftigen Sie sich dann damit, wenn Sie nicht verliebt sind?“ „Ich versuche nur mich darüber schlau zu machen. Oft kommt es vor, dass Patienten Liebeskummer haben und ihre Psyche darunter leidet.“ „Und Sie wollen lernen es zu verstehen, um ihnen besser helfen zu können?“ „... Richtig“, bestätigte er, was jedoch ein wenig zögerlich kam und den Anschein erweckte, als würde noch mehr dahinter stecken. Am liebsten hätte sie sich noch mehr auf das Thema eingelassen, die Gefahr war ihr aber viel zu groß, dass sie ihn zu sehr anfangen könnte zu nerven und deshalb verzichtete sie darauf. Von Anfang an war sie schon in dem Glauben gewesen, dass er sich all dieses Wissen aneignete, um sich besser in seine Patienten einfühlen zu können, nur hatte sie seit einiger Zeit das Gefühl, mit dieser Vermutung nicht ganz richtig zu liegen. Dabei hatte Vane ihr gerade persönlich bestätigt, wie korrekt sie gelegen hatte. Die Zweifel blieben jedoch erschreckend hartnäckig, erst recht wenn sie diese Aura spürte, die nun in der Luft lag. Etwas an ihm wirkte traurig, nur konnte sie sich keinen Reim darauf machen, was genau es war. Jeder andere hätte sie dafür ausgelacht und gesagt, dass sie sich nur was einbildete, weil sie versuchte sich die Arbeit mit ihm unbewusst angenehmer zu gestalten. Darüber ärgerte sie sich sehr, denn sie kannte einen ganz anderen Vane und arbeitete gerne für ihn. War es nicht bei jedem Menschen so, dass man ihn erst kennenlernen musste, um ihn verstehen zu können? Manche behaupteten aber, an ihm gäbe es nichts Menschliches. Das deckte sich überhaupt nicht mit ihren Eindrücken von ihm. Woher nahm das Umfeld diese Aussagen nur? „Naola?“, ertönte seine Stimme, zog sie aus ihren Gedanken. „Alles in Ordnung?“ Sie stellte fest, dass sie unbewusst aufgehört hatte seine Haare zu bürsten, also fuhr sie damit fort und lachte verlegen. „Ja, alles bestens. Ich war nur kurz in Gedanken.“ „... Hm.“ Schweigen drängte sich zwischen ihre Unterhaltung, nur fühlte es sich nicht unangenehm an oder etwas dergleichen, vielmehr als würde sich jetzt erst das Gespräch richtig entwickeln. Zur Entspannung hatte Vane die Augen geschlossen, was sie nicht sehen konnte, aber daran erkannte, dass sich eine gewisse lockere Atmosphäre im Raum bildete. Schließlich verschränkte er auch noch die Arme, ließ sich für einen Moment einfach fallen und sie fühlte sich geehrt, dass ihm das in ihrer Gegenwart gelang. Sicher tat das stetige Bürsten auch sein übrigens dazu. „Darf ich dich mal was fragen?“, brach Vane dann die Stille. Seine Stimme hallte wie ein leises Echo von den Wänden wider, nutzten sie wie Klaviertasten und spielten ein schönes Lied, das sich direkt an ihren Geist richtete. „Wieso findest du es schade, dass ich nicht verliebt bin und würdest es mir gönnen?“ Niemals hätte sie erwartet, dass er darauf nochmal von sich aus eingehen würde, also war sie zuerst etwas perplex, konnte sich aber rasch wieder fangen und ihren Auslöser für diese Aussage offen aussprechen. „Weil ich finde, Sie sind ein wunderbarer Mensch und hätten es verdient.“ „Ein Mensch.“ Der Klang seiner Stimme war derartig frostig, als er das sagte, dass ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Gleichzeitig glaubte sie wieder, zwischen dieser Kälte Trauer wahrzunehmen, vielleicht sogar Verzweiflung. Ihr schossen sogar Tränen in die Augen und sie wollte ihn nochmal umarmen, nur hielt sie das für keine gute Idee. An der Stelle hätten andere ihr bloß wieder weismachen wollen, diese sensible Reaktion ihrerseits käme daher, dass sie so eine gefühlvolle Person war und zu viel in etwas hinein interpretierte, was gar nicht da war. „Was für eine Art Mensch bin ich denn, deiner Meinung nach?“, wollte Vane von ihr wissen und diesmal schwang ein winziger Funken Hoffnung in seiner Stimme mit, tanzte so lebhaft über die Klaviertasten hinweg, dass jegliche Kälte glatt vergessen war. Auch hier wollte sie einfach offen bleiben und scheute nicht davor zurück, ihm seine Antwort zu geben. „Sie sind zwar oft ein sehr strenger Mann, mit einem rauen Umgangston, aber meinen es immer nur gut und wollen das Beste für Ihre Mitmenschen, insbesondere für Ihre Patienten. Sobald Sie dann jemanden erst mal in Ihr Herz geschlossen haben, können Sie ausgesprochen einfühlsam und väterlich sein.“ „Einfühlsam und väterlich?“, sagte Vane diese Worte vor sich hin und musste tatsächlich darüber lachen, weil er stark daran zweifelte. „Woher hast du diese Auffassung?“ Für sie galt es als ein gutes Zeichen, wie lange er von sich aus das Gespräch am Laufen hielt, somit fühlte sie sich darin ermutigt, noch offener zu sein. „Durch meine Beobachtungen, wie Sie mit Luan umgehen.“ Allmählich fand Vane mehr und mehr Interesse an ihren Worten. „Luan?“ „Ja, erst haben Sie ihn so behandelt wie jeden anderen auch, aber bei ihm fingen Sie schon früh an eine väterliche Seite zu zeigen.“ Sie machte eine kurze Pause und ging um den Stuhl herum nach vorne, um auch dort seine Haare ordentlich zu bürsten. „Sie bemühen sich sehr um ihn, weil Sie ihn zu mögen scheinen. Ehrlich gesagt beneide ich Luan darum ein bisschen, Sie als Bezugsperson zu haben muss toll sein.“ „Du glaubst, Luan ist der einzige, den ich mag?“ „Oh, Sie bestreiten es also nicht mal?“, stichelte Naola und kicherte amüsiert, als Vane die Augenbrauen etwas zusammenzog. Besser, sie lenkte ihn gleich ab, bevor er sich dazu äußern und diese Tatsache leugnen konnte. „Übrigens: Liebe kann man nicht aus Büchern lernen, Doktor.“ „Ach nein? Warum existieren dann Bücher darüber?“, konterte er mit einer Gegenfrage, die typisch für ihn war. „Weil Menschen dumm sind.“ Diese Aussage schien ihm zu gefallen, sie glaubte, dass seine Lippen ganz schwach ein Lächeln andeuteten. „Da hast du nicht unrecht.“ „Und: Gefühle sind kompliziert.“ „Auch da gebe ich dir recht.“ „Hach, das gibt’s doch nicht!“, platzte es unkontrolliert aus ihr heraus, womit sie das Gespräch leider ins stocken brachte. Irritiert öffnete er nur ein Auge und sah sie fragend an. „Was ist passiert?“ „Nichts schlimmes, es ist nur ... ihre Haare haben echt ein Eigenleben.“ „Wie bitte?“ „Genauer gesagt ihr Pony.“ Ratlos tippte sie sich mit der Bürste gegen das Kinn und schnaubte. „Egal, was ich mache, es steht immer nach links ab. Ist ja unglaublich, deshalb tragen sie den also dauernd so.“ Inzwischen hatte er auch das andere Auge geöffnet, wirkte nun etwas beunruhigt. „Sieht es so schlimm aus?“ „Nah, keinesfalls. Es steht ihnen total gut“, beruhigte sie ihn und zupfte noch ein wenig an einigen Haarfransen herum. „Ich habe mich nur oft gefragt, ob sie sich absichtlich so stylen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie damit ihre Zeit verbringen.“ „Hauptsache, es sieht nicht schlimm aus.“ „Nein, gar nicht.“ „Dann ist ja gut.“ Plötzlich wurde ihnen gleichzeitig bewusst, was für einen Dialog sie soeben geführt hatten und starrten sich gegenseitig ungläubig an. Anfangs zeigte Vane noch meisterhaft Beherrschung, schob seine Brille zurecht und schloss die Augen wieder. Naola dagegen presste eine Hand gegen ihren Mund, musste sich mehr als zusammenreißen, nicht laut loszulachen. Leider konnte sie sich nicht lange halten und fing als erstes an zu lachen, zu ihrer Überraschung tat Vane es ihr gleich, wenn auch wesentlich gefasster als sie. Trotzdem war es ein unbeschreiblich schöner Moment. Relativ schnell beruhigten sie sich beide. Ohne nochmal irgendein Wort dazu zu äußern, ging sie wieder hinter ihn und führte die Bürste noch ein paar Mal durch seine Haare, bis Naola sie auf dem Schreibtisch ablegte. Zufrieden strich sie nochmal mit den Händen über einige Stellen, lächelte und zwinkerte Vane zu, was er nicht sehen konnte. „Fertig. Sie sehen wie immer großartig aus, Doktor. So fängt der neue Arbeitstag doch gut an, oder?“ Mittlerweile klang Vane von seiner Stimmlage her wieder genau so, wie man es von ihm gewohnt war, ohne eine bestimmte Emotion zu zeigen. Und doch klangen die nächsten Worte in Naolas Ohren so schön, dass sie es nicht beschreiben konnte. „Ja, vielen Dank. Es war nett.“ „Ehrlich?“, entglitt ihr dieser Gedanke laut und sie nahm all ihren Mut zusammen, einen Vorschlag zu machen. „Wir können das gerne wiederholen, dann erzähle ich Ihnen ein wenig was von Liebe. Vielleicht verstehen Sie es besser, wenn Sie mit jemanden darüber sprechen, der Erfahrung darin hat.“ Wahrscheinlich würde Vane sowieso ablehnen, wenigstens hatte sie es aber dann versucht. Heute wurde sie jedoch noch mehr von ihm überrascht, als es ohnehin schon der Fall war. „Warum nicht? Machen wir das.“ Fast hätte sie vor Freude angefangen jubeln, wollte ihr Glück aber nicht unnötig auf die Probe stellen und blieb ruhig. „Also abgemacht. Ich werde Sie beim Wort nehmen.“ „Tu das.“ Während sie ihre Bürste einsammelte, stand Vane von seinem Stuhl auf und fing an, seinen Schreibtisch aufzuräumen. „Kaffee wäre jetzt trotzdem reizend.“ „Schon verstanden, kommt sofort“, schoss es aus ihr heraus, wie aus einer Pistole. Summend schritt sie Richtung Tür und war mit einem Fuß bereits aus dem Büro raus, als Vane sie noch einmal aufhielt. „Naola.“ Sogleich hielt sie inne, wandte sich ihm lächelnd zu. „Ja, Doktor?“ „Du beobachtest mich also?“ Im ersten Augenblick wollte sie erstarren und im Boden versinken, doch das Klavierspiel seiner Stimme verriet ihr, dass er es nicht negativ meinte. Eher im Gegenteil, so friedlich klang es. Wieder hatte Naola nur Ausblick auf seine Rückseite und er drehte sich auch nicht zu ihr um, dabei hätte es sie brennend interessiert, mit was für einem Gesichtsausdruck er gerade dastand. Ob er seine Mimik so war wie immer? Oder spielte sich etwas anderes in ihr ab als sonst? „Wenn das so ist, bin ich so frei und verrate dir eine Kleinigkeit über mich“, begann er ernst und ihr stockte der Atem vor Aufregung. „Leute, die ich gut leiden kann, nenne ich stets beim Vornamen.“ Wärme breitete sich in ihr aus. Natürlich hatte er es gemerkt, nachdem es ihr heute rausgerutscht war und sie auf Luan zu sprechen gekommen waren. Sie wollte gerne mehr sein, als nur seine Assistentin. Zwischendurch hatte sie sich erhofft, dass er längst mehr in ihr sah, Zweifel ließen sich nur nicht so leicht beseitigen. Jetzt waren ihr diese Zweifel endgültig von ihm genommen worden, indem er es selbst ausgesprochen hatte, wenn auch auf seine Art. Und das war die beste Art, die Naola sich vorstellen konnte. „Danke“, erwiderte sie glücklich und rieb sich die Augen. „Danke, Vane.“ Danach verließ sie sein Büro, ohne dass einer von ihnen noch etwas sagte. Völlig beflügelt rannte sie durch die einzelnen Räume der Krankenstation Richtung Aufenthaltsraum, in dem sie Kaffee zubereiten wollte, um den er sie gebeten hatte. Konnte unterwegs gar nicht aufhören zu lächeln, vor allem weil sie daran denken musste, wie alles angefangen hatte. Damals war sie als scheuer, in sich gekehrter Mensch hergekommen, weil sie in der Jagd nichts getaugt hatte und nun fühlte sie sich wie jemand, der hier tatsächlich gebraucht wurde. Sei es nur, um diesem Mann Gesellschaft zu leisten. Im Aufenthaltsraum angekommen machte sie alles für den Kaffee fertig und nutzte die Gelegenheit, um sich die Haare zu einem Zopf zusammenzuflechten. Hing dabei ihren Gedanken nach. Ab heute würde sie noch weniger nachvollziehen können, warum alle ihn hassten. Oft erkundigte sich Atanas aufgrund einiger Beschwerden bei ihr sogar persönlich danach, was sie von Vane hielt und ob ihr etwas an ihm aufgefallen war. Ihre Antwort darauf blieb bisher immerzu gleich und das würde sie auch in Zukunft beibehalten: Nein. Er ist ein guter Arzt und ein toller Mensch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)