Sei mein Freund von Gmork ================================================================================ Prolog: Prolog - Das Versprechen [Komplett überarbeitet am 19.08.2017] ---------------------------------------------------------------------- Sommer in Alabastia. Die Sonne brannte gnadenlos und ließ die Luft schwer und stickig werden. Viele Leute waren gekommen und freuten sich über eine kleine Erfrischung am Strand. Kurze, aber regelmäßige Sommerbriesen trugen das Gelächter der spielenden Kinder fort. Auch Red konnte sie hören. Er war vor dem Wetter geflohen und hatte sich ein schattiges Plätzchen fernab von all dem Getümmel gesucht. Der kleine Bach lag am Waldrand, keine hundert Meter von seinem Zuhause entfernt, aber weit genug, dass er hier meistens ungestört war. Seine Füße baumelten im kühlen Nass, während er sich mit beiden Armen im Gras abstützte. Er wartete. Wo blieb er nur? Sonst war er doch auch immer so pünktlich. Naja. Wenigstens konnte er sich etwas abkühlen. Die Hitze war fürchterlich - nichts, was er jemals zugegeben hätte. Ein Neunjähriger konnte sich so etwas nicht mehr erlauben, angehende Champions jammerten nicht herum! Plötzlich berührte ihn etwas am Fuß und er zuckte sofort zurück. Ein Pokemon! Er war so damit beschäftigt gewesen, sich zu fragen, wo sein Freund blieb, mit dem er sich hier immer traf, dass er diese Annäherung überhaupt nicht mitbekommen hatte. Nach der ersten Schrecksekunde wagte er wieder einen Blick in den Fluss. Es war noch da. Er kroch zurück zum Ufer und schaute näher hin. Zuerst hielt er das seltsame Wesen, das ihn angestupst hatte, für ein gewöhnliches Karpador – doch auf den zweiten Blick war es eine völlig andere Art.  Sein Leib schillerte in warmen Farben, die an flüssiges Gold erinnerten und es sah ihm direkt in die Augen, so als hätte es keine Scheu. Am seltsamsten war jedoch das große Horn auf dem Kopf. Ganz schön spitz. Sah gefährlich aus. Gott sei Dank war er nicht gestochen worden. Und warum starrte es ihn so an? Neugierig beugte er sich weiter nach vorn, die Nasenspitze schon fast im Wasser. Doch kaum konnte er mehr erkennen, schreckte es auf – und zack – blitzschnell war es in der Strömung verschwunden. »Hey, hast du das gesehen?« Erneut fuhr er zusammen. Heute wollte ihn anscheinend jeder erschrecken. Er drehte sich um und blickte zu der Person hoch, die so plötzlich hinter ihm stand – dabei musste er sich eine Hand vor die Stirn halten um das grelle Sonnenlicht abzuschirmen. Green! Dass er sich auch ständig anschleichen musste... »Da bist du ja endlich!« Red war schon beinahe beleidigt, dass er ihn so lang hatte warten lassen. »Klar hab ich’s gesehen. Aber jetzt ist es weg. Hast es erschreckt, glaub ich.« Greens Antwort war nur ein entschuldigendes Lächeln. Er sah ihm zu, wie er Schuhe und Socken auszog, beides ordentlich an die Seite legte und ebenfalls die Füße ins Wasser tauchte. Sein Erschaudern ließ ihn grinsen. »Und, weißt du auch, was das war?« Er verdrehte seine braunen Augen und sein Grinsen begann zu wackeln. Bitte nicht. Es war Sonntag! Er hatte keine Lust auf Unterricht an einem freien Tag. »Du sagst es mir bestimmt gleich, oder?« Die Peinlichkeit darüber, dass er das Pokémon nicht kannte, versuchte er zu verbergen. Doch der taxierende Blick seines Freundes sagte ihm, dass er ihn durchschaut hatte. »Pass auf.« Und schon ging es los. »Hast du gesehen, wie schön es war? Im Volksmund nennt man es „die Wasserkönigin“ oder „den Wassertänzer“, aber der eigentliche Name ist Goldini. Aber die Eleganz täuscht. Wenn es wütend ist, kann es dich ziemlich schwer mit dem Horn verletzen. Lebt bevorzugt in Flüssen, Bächen und Seen, nur selten im Salzwasser …« Red verschränkte seine Arme über den angezogenen Knien und bettete mit zusammengekniffenen Augen seinen Kopf darin. Er mochte Green wirklich gern, aber immer diese Vorträge... Auch wenn es wichtig und auch interessant war, hörte er nur mit halbem Ohr zu. Sie alle wussten doch, dass er der Bessere der beiden war. Es permanent auf die Nase gebunden zu bekommen war einfach nicht schön und strapazierte Reds Nerven, auch wenn er wusste, dass Green es nie böse meinte. Es war halt immer das Gleiche mit den Beiden. Bei Green gab es nur dieses eine Thema. Viel lieber würde er mit seinem besten Freund mal über Jungssachen quatschen… Die neuesten NES-Spiele zum Beispiel.  »… Man kann es am besten mit der Profi-Angel fangen, sein Köder muss -« Gut, es reichte. Er hob den Kopf, streckte den Arm aus und hielt ihm in kindlicher Manier die Nase zu. »Ist gut, ja? Du nervst!« Abrupt hörte Green mit dem Reden auf und befreite sich aus seinem Griff. Sein Gesicht verzog sich und er blickte schnell in eine andere Richtung. Sofort bekam Red ein schlechtes Gewissen. Dass er beleidigt war, wollte er ja auch nicht. »Tschuldige… War nicht so gemeint.« Green grinse darüber hinweg, aber Red wusste, dass er sich jetzt wieder verschließen würde – wie es schon so oft passiert war. Trotzdem genoss er die Stille. Einige Zeit schwiegen beide. Sie hatten es sich auf der Wiese bequem gemacht, sahen in den Himmel, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Langsam dämmerte es und die Schatten der Bäume um sie herum zogen sich in die Länge. Green hatte so lang nichts gesagt, dass Red schon dachte er wäre unter dem Plätschern des Baches eingeschlafen. Doch als er dann aus dem Augenwinkel zu ihm rüber sah, waren Greens Augen offen. Bevor es unangenehm wurde, musste er wieder ein Gespräch anfangen. »…Du willst das wirklich machen, oder?« Green drehte seinen Kopf zu ihm. »Was meinst du?« »Du willst wirklich Pokémon-Professor werden, oder?« Endlich lächelte er wieder. »Oh ja! Ich will werden wie Opa. Sogar noch besser.« Gott sei Dank, anscheinend war er wirklich nicht sauer. »Ich glaub, wenn es einer schafft, dann du.« Er nickte, als wäre das sonnenklar. »Ich weiß. Hör auf zu schleimen.« Über die nächsten Worte schien er genau nachzudenken, sprach nur sehr zögerlich weiter. »Und was ist mit dir? Du meinst das ernst, oder? Trainer werden?« Selbstbewusst ballte Red seine Hand zur Faust. »Und ob! Ich will die stärksten Pokémon der Welt haben und eines Tages alle Arenaleiter und die Top Vier besiegen!« Er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. »Diese Leute sind sehr stark und nur schwer kleinzukriegen.« Langsam ließ er die Hand sinken. Wieder einmal bemerkte er, dass Green schon viel reifer war, als er. Aber er hatte Recht. Red war noch ziemlich naiv, was das anging. »Ich weiß. Deswegen will ich mir ja so gern jetzt schon ein Pokémon aussuchen und anfangen. Aber meine Mom erlaubt mir das ja nicht.« »Nicht nur deine Mom verbietet das. Das ist nun mal Gesetz, dass man den Trainer-Pass erst mit sechzehn bekommt.« Er seufzte. Natürlich wusste er das auch, aber es gefiel ihm überhaupt nicht. »Das dauert noch so lang. Voll dämlich!« Als Green leise lachte, schnellte sein Blick zu ihm. »Hör auf dich lustig zu machen!« »Tu ich nicht. Ich hab nur grad daran gedacht, dass sieben Jahre gar nicht so lang sind. Und bis dahin gehen wir beide zusammen in die Schule und lernen. Das ist die beste Vorbereitung.« Red ließ sich zurück ins Gras fallen. »Stimmt schon. Ich freu mich schon so darauf, mir endlich ein Pokémon auszusuchen. Welches willst du haben?« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Glumanda! Definitiv! Es ist so cool und stark! Wenn es mal größer ist, kann ich sogar auf seinem Rücken fliegen. Ich mein, wie abgefahren wäre das?« Red schluckte. Seine Antwort überraschte ihn. Er hatte sich zwar die Frage selbst einmal gestellt, aber sicher war er sich noch nicht. Alle drei Starter-Pokémon waren ziemlich cool, aber auch er hatte insgeheim eher zu Glumanda tendiert. Aber seinen Freund so davon sprechen zu hören … Er brachte seine Antwort kaum übers Herz. »Stell ich mir auch cool vor … Ich wollte eigentlich auch Glumanda nehmen.« Der Blick aus seinen Augen war entschuldigend. Green hielt seinem Blick stand. »Und jetzt willst du’s nicht mehr?« »Naja, doch. Aber ich glaub du solltest es haben. Also nimm du’s, wenns so weit ist.« Green zog die Augenbrauen nach oben und sah ihn groß an. Er war verblüfft – und es sollte schon etwas heißen einen Green Oak aus der Fassung zu bringen. »... Echt jetzt? Dein Ernst?« »Klaro.« Plötzlich überrumpelte er ihn mit einer Umarmung. Green hatte so etwas noch nie vorher gemacht, ließ ihn dementsprechend schnell wieder los und schien peinlich berührt über diesen Ausbruch. »Du bist anscheinend wirklich mein bester Freund.« Was sollte das denn? Natürlich war er das! Und da kam ihm eine Idee. »Hör mal… wie wärs, wenn wir das zusammen machen? Reisen! Wir sind doch voll das gute Team! Du hilfst mir in der Schule und bringst mir alles bei und wenn wir alt genug sind, gehen wir zu Professor Oak und holen uns unsere Pokémon. Und du bekommst Glumanda.« Er legte so viel Ernsthaftigkeit in seinen Blick, wie es nur ging. »Und dann ziehen wir beide herum. Du hilfst mir beim Training und wenn ich erstmal der Champ bin, gehen wir auf Forschungsreise. Dann vervollständigen wir deinen Pokédex und du wirst ein richtiger Professor!« Sein Freund brauchte sehr lange, um zu antworten, sah ihn immernoch mit großen Augen an, bevor er mit dünner Stimme zum Sprechen ansetzte. »Versprich mir das.« Um den Pakt abzuschließen, hielt er ihm zögerlich den kleinen Finger seiner Hand hin, den Red sofort ergriff und fest mit seinem verhakte. »Versprochen! Das wird super! Wirst schon sehen!« Bevor noch jemand etwas sagen konnte, hörten sie aus der Ferne die Stimme einer Frau. »Red! Komm rein, es gibt Essen! Ist schon spät!« »Uah, ich muss gehen. Bist morgen in der Schule!« Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf und rannte los. Heute gab es sein Lieblingsessen, also beeilte er sich lieber. Doch auf halber Strecke blieb er stehen und drehte sich nochmal um. »Weißt du was? Ich glaube sieben Jahre werden wirklich schnell rumgehen.« Ohne eine Antwort abzuwarten lief er wieder los, der Abendsonne entgegen. Als er die Haustür hinter sich schloss, sah er ein letztes Mal zurück und tatsächlich saß Green noch immer wie angewurzelt da, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen mit genau denselben Gedanken im Kopf, wie Red: Das wird der absolute Hammer! 1 - Ein toller Fang [Komplett überarbeitet am 12.10.2017] --------------------------------------------------------- »Hey, siehst du das? Sieht voll eklig aus!« Green warf ihm einen mahnenden Blick zu und fuchtelte mit der Hand, damit er leise war. »Sei doch ruhig, sonst flieht es noch!« Red winkte ab. »Als ob. So langsam wie es ist … Wir würden es locker einholen.« Das wilde Raupy jedoch ignorierte die beiden und fuhr fort an dem gewaltigen grünen Blatt zu knabbern. Reds Blick wanderte wieder zu seinem besten Freund. Schweiß tropfte von Greens Nasenspitze, doch er schien es vor lauter Konzentration gar nicht zu bemerken.   Seit sie sich ihr Versprechen gegeben hatten, waren drei Jahre ins Land gezogen. Jahre voller Hausaufgaben, Lehrbüchern, Kurzvorträge, Klausuren. Jahre in denen Red beobachtet hatte, wie Green alles dafür gab, um sich für seinen Traum zu wappnen. Neben Pokémonkunde war Green Spitzenreiter in Japanisch, Biologie und Mathematik. Selbst Englisch – Reds persönliches Hassfach – meisterte er, wie eine zweite Muttersprache. Mit zwölf Jahren! Red pendelte zwischen ungläubigem Kopfschütteln und einer großen Portion Respekt bei diesem Gedanken und kam nicht umhin, ihn darum zu beneiden. Und obwohl er immer Jahrgangsbester war und es auch weiterhin bleiben würde, gönnte Green sich keine Pause. Niemals. Es war gruselig. Als würde er irgendjemandem etwas beweisen wollen.     Selbst an Sonntagen wie heute fand er keine Ruhe und so kam es, dass er wieder einmal Red überredet und ihn raus in die Natur geschleppt hatte. Diesmal waren sie verdammt weit gekommen. Der Vertania-Wald! Ohne ein einziges Pokémon hatten sie es geschafft eine komplette Route für Trainer zu passieren. Das Licht funkelte milchig und malte Sonnenflecken auf das dichte Unterholz. Der Wald war wunderschön und in den Schatten war die Hitze bei Weitem nicht so schlimm, wie auf den freien Feldern. Trotzdem wollte Red los. Immer wieder stahl sich sein Blick auf die Uhr an Greens Handgelenk. Sie waren schon viel zu lang weg und wenn ihre Eltern herausfanden, dass sie heimlich das Dorf verlassen hatten, wäre Hausarrest noch das kleinste Problem. »Wie lange brauchst du noch? Ich glaub meine Mom hat mir heut nicht abgekauft, dass wir bei dir Hausaufgaben machen.« Green schnaubte, sah ihn aber nicht an, sondern studierte weiterhin das Pokémon, dass es sich auf einem Felsvorsprung in der Sonne bequem gemacht hatte, und stützte dabei seine Hände auf den Knien ab. Er musste sich ziemlich tief herunterbeugen, um genaueres zu erkennen, so groß war er mittlerweile. Seine braunen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht. »Dann wird’s Zeit für ‘ne neue Ausrede. Aber sie findet es eh nicht heraus.« »Bist du sicher? Ich mein, dein Opa denkt doch auch, dass du bei mir bist.« Red verschränkte die Arme, tippelte mit dem Fuß. »Wir sind geliefert, wenn die das merken!« Endlich richtete Green sich auf und sah ihn einen Moment an. Doch anstatt zu antworten hob er nur gereizt eine Augenbraue, bevor er sich abwandte und in den Bäumen nach anderen Pokémon suchte. Von Raupy hatte er wohl genug. Scheinbar ohne Ziel lief er hin und her, sein Blick scannte alles, was ihm vor die Augen kam. Aber eine Antwort gab er ihm nicht. Reds Zähne mahlten. Schließlich gab er es auf und setzte sich unter eine große Esche. Während er ihn weiter beobachtete, fiel Red auf, dass Green plötzlich sehr unruhig wirkte. Er blieb nie lange an einem Fleck, kratzte sich mit fahrigen Bewegungen am Nacken, fuhr sich durch die Haare. Die Gelassenheit von vorhin war verschwunden. Komisch, dass er sich auch gar keine Notizen mehr machte, wo er doch immer so viel Wert darauf legte. Er stand offenbar neben sich. Ob er etwas ausgefressen hatte? Red dachte nicht im Traum daran, ihn danach zu fragen. Er wollte hier nur noch weg. Es war langweilig und er hatte das Gefühl seine Zeit zu vergeuden. Aber nur Green kannte den richtigen Weg nach Hause und allein traute Red sich auch gar nicht. Er schloss die Augen, legte seinen Kopf in den Nacken und versuchte sich zu entspannen.   » … Hey! Hörst du eigentlich zu?« Red blinzelte. Wie spät war es? Das Sonnenlicht hatte nachgelassen. War er eingeschlafen? »Was hast du gesagt?« »Sag jetzt nicht, dass du die ganze Zeit gepennt hast.« Er rieb sich die Augen und stand dann auf, sah sich um. Jetzt wo es dunkler war, schien die Atmosphäre des Waldes weit weniger friedlich. Im Zwielicht konnte er förmlich spüren, wie gefährliche Pokémon aus ihren Löchern gekrochen kamen. Dieser Gedanke machte ihn verdammt nervös. »Vielleicht, aber kann dir ja egal sein. Ich will nachhause. Es ist schon spät. Ich muss noch Hausaufgaben machen.« Green schnaubte abfällig, aber dann grinste er. »Du heulst rum, wie ein kleines Kind, Dumpfbacke. Dabei kommt das beste jetzt erst noch. Ich lass dich diesmal sogar von mir abschreiben.« Erst wollte er sich über diesen Ausdruck beschweren, den er ihm schon so oft an den Kopf geworfen hatte. Doch … was hatte er da gerade noch gesagt? »Wie jetzt, du lässt mich abschreiben? Ist doch sonst nicht dein Stil.« Green hob nur die Schultern. »Man muss auch mal Ausnahmen machen. Und ich hab‘ heut 'ne Menge riskiert, also halt jetzt mal die Klappe und hör zu. Nur einmal, Dumpfbacke.« Täuschte Red sich, oder war sein Lächeln breiter geworden? Er verstand beim besten Willen nicht, was er meinte. Green begann in seinem Rucksack zu wühlen. »Was hast du gemacht?« Reds Stimme klang genauso dumpf, wie es sich in seinem Magen anfühlte. Er hatte ein absolut schlechtes Gefühl bei der Sache. »Meinen Opa verarscht.« Mit diesen Worten zog Green zwei nagelneue Pokébälle hervor. Augenblicklich wich Red vor ihm zurück, die Augen weit aufgerissen. Er fühlte sich seltsam. Voller Euphorie, gleichzeitig beinahe zu Tode verängstigt. Die Angst überwog eindeutig. Green war gerade kurz davor, eine der strengsten Regeln für angehende Pokémon-Trainer zu brechen. »Green, bist du verrückt? Wenn er das bemerkt, stecken wir richtig in der Tinte!« »Der hat tausende davon in seinem Lager. Das bekommt niemand jemals raus.« Kalter Schweiß trat auf Reds Stirn. »Wie bist du da reingekommen? Die Tür ist doch immer abgeschlossen!« Green ließ sich von ihm nicht aus der Ruhe bringen. »Opa sollte endlich aufhören mich für dumm zu halten.« Der Kloß in Reds Hals war so groß, dass er ihn niemals schlucken konnte. »Wir kriegen Hausarrest, wenn nicht sogar noch mehr. Pack die Bälle wieder ein oder wirf sie weg und lass uns einfach gehen!« »Als ob!« Greens Lächeln bröckelte. Aber in seinem Blick lag keine Wut, viel mehr Ungeduld. »Warum so vernünftig auf einmal? DU konntest es doch kaum abwarten! Ich nehme das Risiko in Kauf.« Er konnte nichts erwidern, denn Green hatte mit seinen Worten einen Nerv getroffen. Allerdings hatte er sich damit abgefunden und war bereit zu warten. Green war das offenbar nicht mehr. Und er war dabei, sie beide geradewegs in die Scheiße zu reiten. Trotzdem wusste er tief in seinem Inneren, dass er seinen besten Freund nicht umstimmen konnte. Es schnürte ihm die Kehle zu und das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen wurde immer stärker. Einen Augenblick lang sahen sie sich stumm in die Augen – Red ängstlich, Green hartnäckig. Dann streckte er ihm auffordernd einen Pokéball entgegen. Red wurde heiß und kalt. Er starrte den Ball an, ohne ihn wirklich zu sehen, wagte es nicht ihn zu nehmen und damit den Pakt zu besiegeln. Nein, er war noch nicht bereit. Er hörte sein Herz schlagen – genau zwischen seinen Augen – und das Blut rauschte ihm in den Ohren. »… Bitte.« Sein Blick schnellte zu Green, als er ein Flehen in diesem kleinen Wort hörte. Auch ihn sah man jetzt seine Angst an, die er die ganze Zeit über gut verborgen hatte. Auch er wusste, dass das keine gute Idee war. Dass er mit seinem Diebstahl viel zu weit gegangen war. Aber Green hatte wirklich eine Menge riskiert. Und er hatte es auch für Red getan, wenn nicht sogar nur wegen ihm. War er ein schlechter Freund, wenn er ablehnte? Waren sie dann überhaupt noch Freunde?  War seine Vernunft es wert, ihre Freundschaft aufs Spiel zu setzen? »Wir sind doch Freunde, oder?« Greens Stimme zitterte richtig. Unwillkürlich schoss Red in dem Moment ihr Versprechen von damals durch den Kopf. »Bitte, Red. Lass uns heute zusammen unser erstes Pokémon fangen.« 2 - Das Verbotene [Komplett überarbeitet am 20.10.2017] ------------------------------------------------------- Sie rannten so schnell sie konnten und wagten keinen Blick zurück. Die Angst trieb sie immer weiter voran, obwohl sie sie von innen lähmte. Was zum Teufel war das für ein Ding gewesen? Weder Green noch Red hatten so etwas jemals zuvor gesehen und Green glaubte es niemals wieder vergessen zu können. Die Sonne war nun fast gänzlich verschwunden und die wenigen Leute die noch draußen unterwegs waren, steuerten ihr Zuhause an. Jedes andere Kind hätte schon längst im Bett gelegen. Aber nicht die beiden. Beim Rennen packte er Reds Hand und zog ihn hinter sich her. Er war zu langsam. Sie mussten sich beeilen, denn bald würde es zu dunkel sein, um den Weg zu erkennen. Nicht einmal das Mondlicht würde ihnen dann noch helfen können. »Lass mich los!« Green hörte deutlich die Panik in seiner Stimme, doch anstatt locker zu lassen, festigte er seinen Griff nur noch mehr. Am liebsten hätte er irgendetwas gesagt. Irgendetwas von wegen Alles wird gut oder Keine Panik, ich lass mir was einfallen. Aber er tat es nicht. Er war kein Lügner und ein guter Zuredner schon gleich zwei Mal nicht. Sie steckten verdammt tief in der Patsche. Momentan deutete nichts darauf hin, dass irgendwas jemals wieder gut werden würde. »Ich kann dich auch zurücklassen und du schaust allein, wo du bleibst!« Genau das meinte er. Er war einfach schlecht in solchen Dingen. Dabei war es nicht einmal Absicht. Auch er stand völlig neben sich und verstand nur zu gut, dass Red sauer auf ihn war. Gott sei Dank war Alabastia schon in Sichtweite. Die ersten Lichter der wenigen Häuser flammten schon knapp hundert Meter vor ihnen auf. Winzige warme Punkte, die Hoffnung auf Sicherheit machten. Abrupt befreite Red sich aus seinem Griff und stieß ihn grob von sich. Durch den plötzlichen Schwung verlor Green das Gleichgewicht und stürzte. Der Aufprall war hart, ließ ihn ächzen. Es war so schnell gegangen, dass er seinen Kopf nicht mit den Händen hatte schützen können. Der Schmerz betäubte seine linke Gesichtshälfte. Schwindel packte ihn, doch er richtete sich sofort wieder auf, wischte sich mit einer unwirschen Bewegung den Dreck von der Wange. Fassungslos starrte er ihn an. »Bist du total beknackt?« Red starrte zurück, ließ die Frage unbeantwortet. Er schien ebenso bestürzt über sein Handeln zu sein, wie er. Beide wussten, dass er sonst keiner Fliege was zuleide tun konnte. Im Licht der untergehenden Sonne stach der Rotschimmer in seinen Augen noch deutlicher hervor. »Warum musstest du mich zu so ‘ner Scheiße überreden? Das ist alles deine Schuld!« Das Schlimmste an dieser Situation war, dass Red Recht hatte. Er war nicht schuld daran. Green war Derjenige, der ihnen das eingebrockt hatte. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass sein bester Freund für so etwas noch längst nicht bereit gewesen war. Aber ändern konnten sie es beide nicht, nur das Beste daraus machen. »Ich wusste nicht, dass sowas passiert, okay? Glaubst du, ich wollte das?« »Mir völlig egal! Das war einfach nur beschissen, ey!« »Und jetzt? Willst du jetzt zu deiner Mutter rennen und alles petzen, du Heulsuse?« »Ich hab‘ wenigstens noch ‘ne Mutter bei der ich petzen gehen kann!« Bei diesen Worten riss Green seine Augen auf. Alles, was er noch sagen wollte, blieb ihm Halse stecken. Nach Atem ringend standen sie sich gegenüber. Der wohl letzte frohe Vogelgesang des Abends hing hämisch zwischen ihnen in der Luft. Er ballte seine Hand zur Faust, senkte dann den Blick. Red sollte nicht die Tränen sehen, die er gerade heraufbeschworen hatte. Er kämpfte mit seiner Fassung. Dann hörte er Schritte und im nächsten Moment spürte er eine federleichte Berührung an seiner Schulter. »Hey, ich … Das … Tut mir leid. Das war …« Green schüttelte seine Hand ab. Sie hatten keine Zeit für sowas. Zumindest hatte er den Moment gut nutzen und sich sammeln können. Trotzdem vermied er es bewusst, Red in die Augen zu sehen. Sein Blick ging wieder zurück zu ihrem Heimatdorf und was er dort sah, alarmierte ihn erneut. »Scheiße! Guck mal, dort vorn.« In weiter Ferne, unter dem Laternenlicht gerade so zu erkennen, standen zwei Personen. Es war nicht auszumachen, ob sie Green und Red sahen, aber sie blickten definitiv in ihre Richtung. Er drehte sich zu Red um und bemerkte, dass er ganz blass im Gesicht war. Unter seinen schwarzen Haaren leuchtete seine Haut, als wäre er ein Geist. »Sind das … « Green nickte. »Deine Mutter und mein Opa. Sie suchen nach uns. Hoffentlich haben sie noch niemanden losgeschickt.« »Was machen wir jetzt?« »Wie, was machen wir jetzt? Wir gehen natürlich zu ihnen.« Panisch ging Reds Blick wieder zu den beiden. »Einfach so, als wäre nichts passiert?« »Was hast du denn sonst erwartet? Dass du dich zurück ins Haus schleichst und niemand merkt etwas?« Als Red nicht antwortete, fuhr er sich aufgeregt durch die Haare, während seine Gedanken rasten. »Okay, pass auf. Was auch immer jetzt passiert, egal was sie fragen: Du darfst nichts, aber auch gar nichts erzählen!« Zur Untermalung legte er Red beide Hände auf die Schultern.  »Wir sagen, dass wir uns rausgeschlichen haben. Sag, dass ich dich angestiftet habe. Wir haben uns verlaufen, das sagen wir! Und mehr nicht, kapiert?« Immerhin war das schon fast die Wahrheit. Nur den entscheidenden Teil würden sie weg lassen. Er musste sich beherrschen Red nicht durchzuschütteln, als er nicht reagierte. Endlich blinzelte er ein paar Mal, schien seinen Schock überwunden zu haben und nickte dann. »… Okay.« Green atmete auf und ließ von ihm ab. »Okay. Dann los. Aber nicht rennen, langsam gehen und tief durchatmen.« Zum ersten Mal gehorchte Red ihm ohne Protest und Green war dankbar darum. »Hey, Green … Das gerade eben … der Spruch und so … es tut mir wirklich leid.« Green winkte ab. »Schon vergessen. Denk nicht mehr dran. Denk lieber an das, was wir heute geschafft haben und sei stolz darauf, wie gut du darin warst. Wir beide. Viel besser, als alle anderen …« Jetzt wo ihr Streit überwunden war, wurde Green wieder euphorisch. All das, was jetzt noch auf sie zukam, konnte niemals schlimmer sein als das, was sie heute erlebt und überstanden hatten. Er begann zu grinsen und steckte Red damit an, während sie sich gemeinsam auf den Weg zu ihren Eltern machten. Kaum hatten sie den Ortseingang erreicht, erklang auch schon die von Erleichterung erfüllte Stimme von Reds Mutter. »Sie sind es! Dem Himmel sei Dank!« Schnellen Schrittes kam sie auf sie zu und kurz darauf fanden sich die beiden Jungs in einer Umarmung wieder, die so fest war, dass ihnen glatt die Luft wegblieb. »Wo habt ihr nur gesteckt? Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht!« Ihre Stimme klang heiser, so als hätte sie heute bereits geweint. Tatsächlich glitzerten Tränen in ihren Augen, als sie von ihnen abließ und sie eine Armeslänge von sich gestreckt musterte. Green wich schnell ihrem Blick aus und sah zu seinem Großvater, der mit verschränkten Armen hinter ihnen stand. Eine tiefe Falte begann einen Strich zwischen seine Augen zu graben und Green wusste sofort, dass Ärger vorprogrammiert war, auch wenn die Erleichterung fürs erste überwog. Innerlich bereitete er sich schon auf das kommende Donnerwetter vor, doch ein Gedanke tröstete ihn: Der Gedanke an einen Pokéball, den er tief im Geheimfach seines Rucksackes versteckt hatte und von dem ein lebendiges Pulsieren ausging. 3 - Ein Gefühl -------------- Dunkelheit, die die Sonne urplötzlich verdrängte. Kälte, die sich im Wald ausbreitete. Ein lautes Krachen, das die Bäume erzittern ließ. Sein jüngerer Freund, der scharf und ängstlich die Luft einsog und daraufhin anhielt. Eine Hand, die fest nach der seinen griff. Die knackenden Geräusche des Unterholzes, das sich in Bewegung setzte. Ein Wesen, das auf sie zukam. Langsam und vorsichtig, aber es kam. Angst, die in der Luft hing. Ein paar feuerrote Augen, die in der Dunkelheit aufleuchteten. Heimtückische Augen. Wo war die Sonne geblieben? Warum war es so kalt? Was war da in der Ferne? Ein Pokémon? Konnte es sie sehen? Stille, nur der schnelle Atem der beiden Jungen. Beine, die versuchten sich davon zu schleichen. Und dann ein Schrei. Das leise Wimmern von Red. Greens Gedanken, die sich überschlugen. Wir können nicht weg! Wir müssen sie retten! Wir dürfen jetzt nicht gehen! Plötzlich schlug er die Augen auf. Es dauerte einen kleinen Moment, bis er realisierte, dass er nicht im Vertania-Wald war, sondern in seinem Bett lag. Der Traum hatte so abrupt geendet, wie er angefangen hatte und dieses Gefühl, diese Angst, hatte wieder einmal die Stunden des Schlafes verzehrt. Doch die Kälte war verschwunden und mit ihr die Augen, diese finsteren roten Augen, die ihn und Red angestarrt hatten. Er sah mit trübem Blick an seine Zimmerdecke, ohne diese richtig wahrzunehmen, während seine Brust sich gleichmäßig hob und senkte. Sein Kopf war komplett leergefegt. Schon zu oft wurden seine Nächte von diesen Ereignis heimgesucht, als dass es noch irgendwelche emotionalen Auswirkungen auf ihn gehabt hätte. Anfangs, gewiss, hatte es ihn gequält. Unzählige Nächte hatte er schweißdurchnässt und frierend im Bett gesessen, aus dem Schlaf gerissen von diesen roten Augen und unfähig wieder einschlafen zu können. Zu oft hatte er sich eingebildet, dass die Schatten begannen durch sein Zimmer und auf ihn zu zu hüpfen, um ihn anzugreifen, und wie oft nur hatte er zwei leuchtend rote Flecken gesehen, die unweit von seinem Bett entfernt zu ihm herüber gestarrt hatten? Im Endeffekt war es immer nur der Traum gewesen. Und irgendwann hatte er sich daran gewöhnt. Eines Tages hatte er keine Angst mehr empfunden, als er mitten in der Nacht die Augen aufschlug und, so wie jetzt, seine kahle Zimmerdecke vor sich sah. Irgendetwas regte sich neben ihm unter seiner Bettdecke und er erschrak über die plötzliche Bewegung, obwohl er wusste, wer sich darunter verbarg. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er dabei zusah, wie sich ein kleines Pokémon unter dem Federbett hervorwuselte und ihn daraufhin aus großen braunen Augen ansah. Sein Blick war noch verschlafen und es musste das Fell zuerst kräftig ausschütteln und sich strecken, um wach zu werden. „Guten Morgen Kleines.“ Green begann den Kopf seines Pokémon zu kraulen, welches sich seiner Hand genüsslich entgegenstreckte. „Na, hast du gut geschlafen?“ Es gähnte einmal ausgiebig und rollte sich auf seiner Brust zusammen, anscheinend noch nicht gewillt, schon aufzustehen. Green genoss es, sein weiches, braunes Fell zu streicheln und es beim Dösen zu beobachten. Er liebte diese Ruhe, die es dabei ausstrahlte und von der er sich zu gern anstecken lies. Jeden Abend, wenn er im Bett lag, freute er sich auf den Moment mit Evoli aufzuwachen. Es gab nichts besseres für ihn, zumal die beiden nicht allzu viel Zeit hatten, die sie miteinander genießen konnten. Außer Red wusste niemand, dass er ein Pokémon hatte. Und die beiden hielten sich gegenseitig an der Leine, denn sein Nachbar teilte das gleiche Geheimnis mit ihm. Green hatte diese verrückte Idee eigentlich noch am selben Abend verworfen, als er die Pokébälle gestohlen hatte. Doch, später betrachtet, hatte er damit genau das Richtige getan. Seine Intuition hatte zwei jungen Pokémon das Leben gerettet. Wenn Red und er nicht gewesen wären... Er führte diesen Gedanken nicht weiter. Er war froh, dass es gut ausgegangen war. Auch Red hatte allen Grund stolz auf sich zu sein. Das Pokémon, dass er gefangen hatte, war sehr stark. Jedoch schien es den Pokéball nicht ausstehen zu können, was Red schon das eine oder andere Mal in brenzlige Situationen gebracht hatte. Green wusste nicht, wie und wo er seinen neuen Freund versteckte, aber das war auch nicht wichtig. Die Hauptsache war, dass er es so geheim hielt, dass sie nicht aufflogen. Die Regeln hatten sich noch immer nicht geändert. Wer vor seinen sechzehnten Lebensjahr schon ein Pokémon fing, konnte seine Reise nicht mehr antreten. Der Grund dafür war ganz simpel: Es war unfair den anderen angehenden Trainern gegenüber. Jeder sollte die gleiche Chance haben. Dem war Green sich sehr wohl bewusst, worauf er zusammen mit Red beschlossen hatte, ihre Pokémon vorläufig nicht zu trainieren, bis ihr großer Tag gekommen war. Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an die harte Bettkante. Evoli atmete ruhig, aber es war wach und lauschte. Das Sonnenlicht bahnte sich langsam einen Weg durch sein Zimmer, aber es war noch sehr schwach und der Raum wurde vorzeitig noch von den Schatten der Nacht beherrscht. Anscheinend war es noch sehr früh am Morgen. Aber bald schon würde man die leisen Schritte seiner Schwester auf der Treppe und ein zaghaftes Klopfen an seiner Zimmertür hören können. Plötzlich wurde er schrecklich nervös, denn heute war der große Tag gekommen. Es ging los, er wurde ein Trainer. Endlich. Keine Versteckspiele mehr. Die Reise begann. Er konnte nicht begreifen, wie schnell die letzten vier Jahre vorübergezogen waren, irgendwie an ihm vorbei. Ihm beschlich das seltsame Gefühl etwas verpasst zu haben, aber er konnte nicht genau begreifen, was es war. Eigentlich hatte er alles richtig gemacht. Er kannte jedes Buch über Pokémon, die in dem Labor seines Opas herumstanden, er hatte unzählige Stunden bei den Forschungen geholfen und Dank seiner Mühen in der Schule konnte er sich mit der Auszeichnung Jahrgangsbester beglückwünschen. Und auch Red hatte er alles beigebracht, was auch er selbst gelernt hatte. Also warum nur hatte er auf einmal so ein unbehagliches Gefühl? Das erwartete Klopfen an seiner Zimmertür riss ihn aus seinen Gedanken. Sarah stand vor der Tür, kam aber nicht herein. Geschafft hätte sie es sowieso nicht, denn er schloss seine Tür seit vier Jahren ab. Evoli hatte sich aufgerichtet und die Ohren gespitzt. Mittlerweile war es taghell. Er musste doch noch einmal eingeschlafen sein. „Green, bist du wach? Ich hab Frühstück für dich gemacht.“ Jetzt konnte er auch die aufgebackenen Brötchen und den Kakao riechen. Eigentlich war er seiner Meinung nach schon zu alt für dieses Getränk, aber da seine kleine Schwester es nur gut mit ihm meinte, sagte er nie etwas dazu. Sie war so lieb und freute sich immer, wenn sie ihrem Bruder eine Freude bereiten konnte. „Ja, ich bin wach. Komme gleich!“ Die Antwort war etwas lauter als geplant und Evoli schrak zusammen, worauf es sich umdrehte und ihn mit einem tadelnden Blick bedachte. Er legte einen Finger auf die Lippen und zwinkerte ihm zu. So verharrten sie, bis die Schritte ankündigten, dass seine Schwester wieder auf dem Weg nach unten war. Er richtete sich auf und sah es mit einem wehleidigen Blick an. „Du weißt ja, was jetzt kommt.“ Er holte den Pokéball unter seinem Bett hervor. Evolis Blick wurde anklagend. Green hasste diesen Moment jeden Morgen aufs neue, er war es leid seine Freundin immer wieder einsperren und verstecken zu müssen. „Ich weiß, dass du das nicht ausstehen kannst, aber heute ist es das letzte Mal. Ab heute muss ich dich nicht mehr verstecken. Nachher bekommen wir sogar einen neuen Freund, ich gehe ihn mir gleich abholen. Dann sind wir schon zu dritt! Zusammen mit Red und seinem Pikachu sind wir bestimmt ein super Team. Klingt doch gut, oder?“ Evoli schien überzeugt zu sein und nickte. „Gutes Mädchen. Dann los.“ Er betätigte den Pokéball und Evoli verschwand in seinem Inneren. Green ließ ihn wieder unter seinem Bett verschwinden, dann stand er auf. Seine Anziehsachen lagen schon säuberlich gefaltet auf dem Schreibtischstuhl. Jeden Abend bereitete er sich auf den nächsten Tag vor um unnötige Scherereien zu vermeiden. Er konnte Stress nicht ausstehen und wollte sich die Hektik und die Suche nach passenden Klamotten ersparen. Schnell schlüpfte er in einen schlichten Pullover, zog dazu dunkle Hosen an. Er hatte sowieso nicht viel zum Anziehen, auf so etwas legte er keinen Wert. Es gab wichtigere Dinge. Sorgfältig kämmte er seine Haare, aber sein Versuch sie einigermaßen in einen geordneten Zustand zu bringen, scheiterte. Egal was er tat, sie waren irgendwie immer durcheinander, aber er hatte sich daran gewöhnt oder eher damit abgefunden, dass nicht alles im Leben seine Ordnung haben konnte. Bevor er sein Zimmer verließ, blieb er vor seinem Spiegel stehen. Er wusste es nicht, aber für sein Alter sah er ungewöhnlich reif aus. Er hatte die längste Phase der Pubertät recht früh hinter sich gebracht und seine feinen Gesichtszüge hatten in den letzten Jahren an Kühnheit gewonnen. Auch wenn er nicht so hoch gewachsen war, wie er es sich vielleicht gewünscht hatte, war er im großen und ganzen, auch wenn es Wichtigeres gab, recht zufrieden mit seinem Aussehen. Er atmete einmal tief durch und sah sich selbst durch den Spiegel fest in die Augen. Irgendwie schaffte er es nicht seine Nervosität abzuschütteln, und das machte ihm langsam aber sicher Angst. Er war es nicht gewohnt den Kopf zu verlieren. Sogar damals im Vertania-Wald war er die Ruhe in Person gewesen. Was stimmte ihn nur so unruhig? Die Tatsache, dass er heute ein Trainer werden würde konnte nicht der einzige Grund dafür sein. Etwas lag in der Luft, doch er konnte es nicht greifen. Seine kleine Schwester wartete bereits in der Küche, als er wenige Minuten später die Treppe herunterkam. Der Tisch war gedeckt, aber Green wusste, dass er heute nicht viel herunter bekommen würde. Schon allein bei dem Gedanken an den Kakao, den er gleich trinken musste, drehte sich ihm der Magen um. Er setzte sich ihr gegenüber und sie goss sofort mit freudigem Eifer seine Tasse bis oben hin voll. „Und, bist du schon ganz aufgeregt, Bruderherz?“ Er versuchte zu lächeln und schaffte es auch fast. Selbst ihre liebevolle Art konnte ihn heute nicht so recht aufmuntern. Er griff unsicher zur Tasse und nahm einen kleinen Schluck. Sofort begann sein Magen zu rebellieren und er hatte Mühe den Kakao hinunter zu schlucken ohne sich dabei etwas anmerken zu lassen. Sie hatte es natürlich trotzdem gesehen und ihre fröhlichen Augen wurden sorgenvoll. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und strich sich mit einer Hand über das Gesicht. „Ja, schon. Mir ist heute nur nicht nach frühstücken. Muss wohl an der Aufregung liegen.“ Sarah nickte nur mitleidig und schien zu verstehen. Sie stellte ihre Teetasse ab und strich ihn über den Arm. „Glaub ich dir. Du zitterst ja richtig.“ Green sagte nichts, sondern nickte nur kurz. Heute würde er den Kakao nicht austrinken, so viel stand fest. „Sag mal Schwesterherz, hast du von Opa die Karten geholt um die ich dich gebeten habe?“ Sie nickte und sprang sofort auf, um ins Wohnzimmer zu laufen. „Ich gehe sie holen, warte kurz!“ Keine zehn Sekunden später war sie wieder am Tisch und reichte sie ihn. Er nahm sie in die Hände und faltete eine auf. Wer auch immer diese Karten gezeichnet hatte, er musste ein Genie gewesen sein. In feinen, geschwungenen Linien hatte er sich die Mühe gemacht, jede Stadt von Kanto einzuzeichnen. Die Städte wurden von mehreren filigranen Linien verbunden, die die einzelnen Routen und Strecken darstellten. Daneben standen in winzigen Buchstaben die Namen der Orte und Straßen. Nichts wurde ausgelassen, jede Höhle, jeder Wald und jeder Fluss war hier zu finden. Diese Karten waren unheimlich wertvoll und ein wunderbares Utensil für Leute, die gern auf Reisen gingen. Perfekt für angehende Pokémon-Trainer. Perfekt für Red und ihn. Er faltete die Karte wieder zusammen und legte sie behutsam auf den Tisch. „Danke.“ „Wofür brauchst du denn zwei Karten, Green?“ Ihr Bruder stand auf und streckte sich einmal ausgiebig. Hunger hatte er noch immer keinen. Vielleicht würde er später kommen, wenn das schlimmste überstanden war. „Die eine ist für mich, die andere für Red.“ „Etwa so, wie ein Geschenk?“ Green nickte und lächelte verlegen. „Ja, so ungefähr.“ „Seit wann bist du denn so sentimental? So kenne ich dich gar nicht!“ Er selbst kannte sich auch nicht so. Aber Red hatte es einfach verdient. Er war ihm immer ein guter Freund gewesen, sie hatten jederzeit zusammen gehalten. Er hatte viel für Green riskiert und auch eine Menge Ärger wegen ihm bekommen. Es war einfach an der Zeit, danke zu sagen. „Ich will ihm eine Freunde machen. Und ich glaube er kann so eine Karte genau so gut gebrauchen wie ich.“ „Wolltet ihr nicht zusammen losziehen?“ „Ja schon. Aber ich habe keine Lust mich ständig mit ihm um die Karte zu streiten. Und vielleicht trennen sich unsere Wege doch einmal. Kann ja alles sein.“ „Glaubst du etwa, dass das passiert?“ Plötzlich fühlte er einen seltsamen Stich in der Magengegend. Er konnte sich dieses Gefühl nicht erklären und versuchte es abzuschütteln. Was sollte schon schief gehen? Red und er mochten sich in der letzten Zeit nicht allzu viel gesehen haben, aber ihr Versprechen bestand noch immer. Davon war er fest überzeugt. Er warf einen Blick auf die Uhr, die an der Wand in der Küche hing und erschrak. Die Veranstaltung würde in wenigen Minuten beginnen und er stand hier rum und verpasste seinen Auftritt! „Mist, ich muss los! Bin schon viel zu spät dran.“ Seine Schwester erhob sich und zog ihn in eine feste Umarmung. Obwohl sie zwei Jahre jünger war als er, waren ihre Schultern schon auf gleicher Höhe. „Viel Glück, Bruderherz! Hol dir dein Lieblings-Pokémon!“ „Danke. Bis nachher.“ Mit zitternden Knien verließ er das Haus. Vor dem Labor seines Großvaters hatte sich schon eine sehenswürdige Masse aus schaulustigen Leuten versammelt. Alabastia war ein winzig kleines Dorf, doch die Einweihung eines neuen Trainers lockte selbst die Ansässigen aus Vertania-City an. Green fand diese Prozedur ehrlich gesagt ziemlich unspektakulär, fast sogar schon ein bisschen langweilig. Schließlich holte man sich nur seinen Pokédex ab und suchte sich sein erstes Pokémon aus. Nichts besonderes also. Er hatte schon oft dabei zugesehen, wie aus normalen Teenagern Pokémon-Trainer wurden. Immer war er etwas neidisch gewesen und jedes Jahr freute er sich mehr darauf. Doch jetzt, ausgerechnet heute, war diese Freude irgendwie verflogen und das stimmte ihn traurig. Red war nirgendwo zu sehen, auch das wunderte ihn. Sie wollten sich eigentlich vor dem Labor treffen. So war es abgemacht. Enttäuschung machte sich in ihm breit, doch er ging entschlossen weiter. Als er näher kam, wichen die Leute zurück um ihn Platz zu machen, während sie ihm gleichzeitig Beifall spendeten und versuchten, ihm so Mut zu schenken. Einige, darunter viele Mädchen, riefen seinen Namen, doch er brachte nur ein müdes Lächeln hervor. Die Flut der Geräusche brach augenblicklich ab, als sich die Eingangstür zum Labor hinter ihm schloss. Diese Stille war drückend und brachte die Nervosität wieder hervor. Green wünschte sich auf einmal, wieder draußen bei den Leuten zu sein. Er hatte schlagartig nicht mehr den Wunsch ein Trainer zu werden. Die Vorstellung, dem ganzen lieber als Zuschauer beizuwohnen, gefiel ihm plötzlich um einiges besser. Er rieb sich mit den Händen die Schläfen. Was hatte er nur für Gedanken? Er hatte so lang auf diesen Tag gewartet. Warum hatte er plötzlich solche Zweifel? Es würde alles gut werden. Drinnen warteten Red und sein Opa auf ihn. Das war ihr Tag und er konnte solche unbegründeten Gefühle nicht gebrauchen. Langsam beruhigte sich sein Atem wieder und er ging weiter. Keine zehn Meter vor ihm war die Tür, die zum Forschungslabor mit dem Kasten, der drei seltene Pokémon enthielt, führte. Er konnte ihn schon sehen, die schweren Torflügel standen weit offen. Seine Schritte wurden schneller, er wollte jetzt sofort in diesen Raum und die Ahnung, dass etwas nicht stimmte, augenblicklich hinter sich lassen. Die Stimmen brachen ab, als er das große Arbeitszimmer betrat. Vor ihm standen sein Opa und sein langjähriger Freund. Beide sahen ihn besorgt an. „Green, da bist du ja. Aber ist denn auch alles okay bei dir? Du siehst etwas blass aus.“ Professor Eich trat auf ihn zu und klopfte seinem Enkel auf die Schulter. Green erwiderte die Begrüßung indem er ihn kurz am Arm berührte. „Hallo. Ja, mir geht es gut. Bin nur ein bisschen zu spät dran, entschuldigt bitte.“ Dann wanderte sein Blick zu Red, welcher noch kein Wort gesagt hatte und nun zur Begrüßung die Hand hob. Sein Blick hatte etwas seltsames. Er freute sich anscheinend ihn zu sehen, andererseits lag auch Beschämung in seinen Augen. Green hatte keine Möglichkeit darüber nachzudenken, denn Professor Eich begann zu sprechen. „Nun, da wir ja alle vollzählig sind,“ Er beachtete den Seitenblick nicht, den sein Grovater ihm zuwarf. „können wir ja anfangen.“ Die darauf folgenden Worte nahm er so gut wie gar nicht zur Kenntnis, da er versuchte einen Seitenblick auf seinen Freund zu erhaschen, der seine Augen jedoch stur geradeaus hielt. Wofür schämte er sich? Warum war er so distanziert? Warum redete er nicht mit ihm? „.. und euch den Pokédex überreichen!“ Professor Eich schien die Abwesenheit der Jungs bemerkt und die Sache beschleunigt zu haben. Der angehende Trainer erwachte aus seiner Starre und die Freude über das neue Objekt, dass er schon seit so vielen Jahren in den Händen halten wollte, verdrängte seine schlechte Stimmung für einen Augenblick. Er nahm sein brandneues Pokémon-Lexikon entgegen und seine Augen begannen zu leuchten. Das rote aufklappbare Gerät war mit vielen Knöpfen für verschiedene Modifikationen und einen kleinen Bildschirm versehen, der die Pokémon sogar in ihrer natürlichen Farbe darstellen konnte. Als er den erstbesten Knopf betätigte, sprang das Gerät an und ließ eine elektrische Stimme ertönen, während der Bildschirm aufleuchtete. “Hallo. Ich bin der Pokédex des Trainers Green Oak. Leider wurde der Zugriff auf meine Informationen verweigert.“ Als bei Red das gleiche passierte, sahen die beiden Jungen den Professor fragend an. Dieser hob nur beschwichtigend die Hände. „Keine Sorge. Diese Meldung erscheint nur, weil euer Pokédex noch keine Daten registrieren konnte. Ihr müsst ihn selbst mit Informationen füllen um ihn nutzen zu können. Der Pokédex registriert automatisch jedes Pokémon in der Nähe. Um euch aber das volle Informationsspektrum liefern zu können, müssen die Pokémon gefangen werden. Erst dann hat der Pokédex den kompletten Zugriff darauf.“ Green nickte verstehend. Er wusste sofort, welches Pokémon als erstes die Ehre haben würde, in sein Lexikon aufgenommen zu werden. Dieser Gedanke zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Begeistert wandte er sich an Red und sprach seinen Freund das erste Mal an diesem Tag direkt an. „Okay. Wollen wir jetzt zusammen unser Pokémon aussuchen?“ Darauf folgte ein unbehagliches Schweigen. Red hatte seinen Blick abgewandt und schien die Fingernägel seiner rechten Hand unglaublich interessant zu finden, während Professor Eich sich peinlich berührt am Hinterkopf kratzte. „Nun ja, äh.. Also Red konnte es einfach nicht erwarten und hat sich bereits für ein Pokémon entschieden. Ich wollte ihn nicht so lang auf die Folter spannen, bitte entschuldige.“ Nun war Green derjenige, der nach Worten suchte. Einen kurzen Augenblick hatte er Angst, die Fassung, die er eben erst wieder gewonnen hatte, erneut zu verlieren. Doch er riss sich zusammen und zwang sich zu lächeln. Im Endeffekt war es eigentlich egal, auch wenn er nicht verstand, warum Red nicht auf ihn gewartet hatte. Sie hatten es sich doch gegenseitig versprochen. Er konnte sich noch ganz genau an den Tag am Bach erinnern. “Wir sind doch ein Super-Team! Du hilfst mir in der Schule und bringst mir alles bei, was du kannst. Und wenn wir beide alt genug sind gehen wir zu Professor Eich und holen uns ein Pokémon. Du bekommst das Glumanda, ich verspreche es dir. Und dann ziehen wir zusammen durch das Land. Du hilfst mir beim Training und wenn ich dann einmal Champion der Pokémon-Liga bin, gehen wir auf Forschungsreise - dann vervollständige ich mit dir zusammen deinen Pokédex und du wirst ein richtiger Professor!“ Als wäre es gestern gewesen. Schade, dass dieser Tag schon so lang her zu sein schien. Green hatte plötzlich das Gefühl sich von Red entfernt zu haben. Doch er kämpfte gegen die aufsteigende Beklemmung an und atmete einmal tief durch. „Okay. Schade, aber so schlimm ist das ja auch nicht.“ Sein Lächeln war aufrichtig und er war gespannt, welches Pokémon er sich wohl ausgesucht hatte. Schiggy oder Bisasam? Beide wären eine wirklich gute Wahl gewesen, die zwei ließen sich leicht trainieren und würden später einmal treue und nützliche Gefährten werden. Doch für Green gab es nur ein Pokémon, dass er wollte. Die einzige wirkliche Herausforderung stellte Glumanda dar. Und dieser schweren Aufgabe wollte er sich als erstes auf seinem Weg zum Professor stellen. Er wandte sich also dem Kasten zu, der mittlerweile nur noch zwei Pokébälle enthielt. Sein Blick richtete sich automatisch auf den Pokéball, den er sogleich auswählen würde. Nach all den vielen Einweihungen anderer Trainer wusste Green ganz genau, wo sich das Glumanda befand. Doch die Stelle, auf die er starrte, war leer. Die Gegend rund um sein Zwerchfell machte einen Hüpfer, so als hätte er eine Treppenstufe verpasst, doch er ließ sich nichts anmerken. Er konnte sich auch geirrt haben. Vielleicht hatte die Reihenfolge sich geändert. Aber er behielt Recht. Als er direkt vor dem Kasten stand, konnte er die kleinen Schilder erkennen, die die Namen der Pokémon preisgaben. Links Bisasam, mittig Glumanda und rechts Schiggy. Die Mitte war leer. “Du bekommst das Glumanda, ich versprech es dir!“ Zwei Finger, die sich ineinander einhakten um den Pakt zu besiegeln. Green lachte auf. Seine Stimme hatte eine Bitterkeit angenommen, die die ganzen schlechten Gefühle des Tages verkörperte. Er drehte sich um und suchte den Blick von Red. Dieser grinste ihn nur verlegen an und hob die Schultern. Taubheit breitete sich zwischen Greens Schläfen aus. Wenige Sekunden stand er einfach nur da und sah seinem Freund in die Augen, aus denen das Grinsen noch immer nicht gewichen war. Für diesen Moment fühlte er sich wie nach seinen Albträumen: von Augen betäubt, sein Kopf komplett leergefegt. Er spürte, wie sein Inneres in zwei Teile gerissen wurde, als er begriff, dass sein Freund sein Versprechen gebrochen hatte. Dass sein Freund vielleicht nie sein Freund gewesen war. Glumanda hatte seinen neuen Trainer bereits gefunden. 4 - Die Herausforderung ----------------------- Er saß in seinem Zimmer und starrte den Pokéball an, während er dem Knurren seines Magens keine Beachtung schenkte. Ein Wunder, dass er überhaupt Hunger empfinden konnte, denn ihm war speiübel. Er wünschte sich, dass er heute morgen nicht aufgestanden wäre, oder noch besser: Am liebsten hätte er diesen Tag komplett aus dem Kalender gestrichen. Einfach übersprungen. Vielleicht wäre dann alles anders gelaufen. Green versuchte seine Gedanken zu ordnen, doch sie wirbelten in einem heillosen Chaos durch seinen Kopf. Er scheiterte bei dem Versuch herauszufinden, an welchen Punkt er die Kontrolle über die Situation verloren hatte. War es schon am Morgen passiert? Vielleicht vor dem Labor? Oder erst, als er Red zum Kampf herausgefordert hatte? “Mach doch, was du willst!“ Er ließ den Kopf hängen. Ja, dieser Moment gab den Ausschlag. Aber was hätte er sonst tun sollen? - Natürlich hätte er Red einfach ziehen lassen können, als dieser meinte, ebenfalls seinen Pokédex vervollständigen zu wollen. Doch er konnte es nicht. Sein verletzter Stolz und die Enttäuschung über Reds Verhalten hatten ihn förmlich dazu gezwungen, ihm eine Lektion zu erteilen. So hatte er beherzt zum rechten Pokéball gegriffen und sich für Schiggy entschieden. „Na, wie wäre es denn mit einen Kampf? Lass mal sehen, wie gut du mit Glumanda umgehen kannst!“ Red hatte darauf wie erwartet keine Antwort gegeben. Nur in seinen Augen konnte Green erkennen, dass sein Freund die Herausforderung annahm. Wenn Red ihn schon so bloßstellen wollte, dann sollte es wenigstens zu seinem Nachteil geschehen. Green war mit einer fast kindlichen Naivität davon ausgegangen, dass Red so einsehen würde, einen Fehler begangen zu haben. Professor Eich hatte den unausgesprochenen Konflikt nicht mitbekommen, was nur logisch war, denn die beiden hatten ihn nie von ihrem geheimen Pakt erzählt. So empfand er diesen Kampf als freudigen Einstieg in ihr Abenteuer. Green dachte ähnlich darüber. Er würde Red jetzt ordentlich Zunder geben und sich danach mit ihm vertragen. Sicher wäre Green noch einige Tage sauer darüber gewesen, dass Red sein Versprechen nicht gehalten hatte, doch er begann bereits, sich mit dieser Situation anzufreunden. Um Glumanda war es schade, das konnte er nicht leugnen, aber seine Freundschaft zu Red war Green wichtiger gewesen, als ein Pokémon, auf dass er so gesehen nicht einmal das Recht gehabt hatte. Es galt schon immer: Wer zuerst kam, mahlte auch zuerst. Red war einfach schneller als er gewesen. Gemeinsam verließen sie das Labor, um den Kampf an der frischen Luft auszutragen. Noch immer standen eine Menge Schaulustiger herum und Applaus brauste auf, als sie hinaus traten. Der Professor gesellte sich zu den Leuten, als diese einen Kreis um die beiden frisch gebackenen Trainer bildeten. Aufregung breitete sich unter den Zuschauern aus. Ein Kampf zwischen zwei neuen Trainern war eine Seltenheit, dementsprechend war die Stimmung gespannt. Ohne ein Wort zu sagen, rief Red Glumanda aus dem Pokéball hervor. Es erschien mit einen echsenartigen Ruf und die Flamme an seinem Schwanz loderte angriffslustig. Green spürte erneut ein Stechen in der Zwerchfellgegend. Er war über diesen Verlust doch trauriger, als er es sich eingestehen wollte. Aber er ließ sich nichts anmerken und zog, Reds Aufforderung folgend, ebenfalls seinen Pokéball hervor. Sein Gegenüber sah ihn aus ruhigen braunen Augen an, während seine Lippen ein herausforderndes Lächeln verrieten. Green versuchte es zu erwidern, jedoch hatte er das Gefühl sein Gesicht sei aus Stein gemeißelt. „Los, Schiggy!“, flüsterte er seinem Pokéball zu. Für einen kurzen Moment pulsierte der Ball in einem leuchtenden Blau, dann gab er Schiggy frei. Green lächelte zufrieden, als er sein neues Pokémon zum ersten Mal sah. Der kleine Panzer war hart wie Stein und machte einen sehr robusten Eindruck auf ihn. Es würde mit Sicherheit keine Schwierigkeiten haben, diesen Kampf für ihn zu gewinnen. Einen kurzen Moment sagte keiner der beiden etwas. Sie sahen sich lange in die Augen, niemand wollte zuerst den Blick senken. Green konnte sein Herz schlagen hören und die Menge hielt den Atem an. Dann riss Red seinen Arm nach oben und gab dem Befehl zum Angriff. „Los Glumanda, setz Kratzer ein!“ Green reagierte instinktiv. „Schiggy, ausweichen!“ Sein Pokémon gehorchte sofort und sprang nach oben. Glumandas Angriff ging ins Leere und Schiggy landete mit einem mutigen Schrei direkt hinter ihm. „Und jetzt Tackle!“ Es nahm einmal kurz Anlauf und rammte Glumanda, das keine Zeit mehr hatte zu reagieren, mit der ganzen Kraft seines kleinen Körpers und schleuderte es zu Boden, wo es angeschlagen zum Liegen kam. Ein Raunen ging durch das Publikum. Gleich ein Treffer innerhalb der ersten Runde, das kam noch seltener vor, als ein Duell direkt nach der Einweihung eines neuen Trainers. Viele begannen in die Hände zu klatschen und auch Professor Eich bedachte seinen Enkel mit einem überraschten, aber stolzem Blick. Red ließ sich jedoch davon nicht aus der Ruhe bringen. Sein Lächeln war noch immer nicht verflogen, doch Green würde schon noch dafür sorgen. „Steh auf Glumanda. Geht es dir gut?“ Das feuerrote Pokémon beantwortete seine Frage mit einem wütenden Schrei und während es zurück auf die Beine sprang, begann die Flamme an seinem Schweif heller zu leuchten. Es schien wütend zu sein, was Green ein Schmunzeln auf das Gesicht zauberte. „Sehr gut! Noch einmal Kratzer!“ Green hatte dies kommen sehen und schon den nächsten Zug im Voraus geplant. „Schiggy, block die Attacke mit deinem Panzer ab und setz danach Heuler ein!“ Die kleine Schildkröte tat wie ihm geheißen und drehte sich, im letzten Moment bevor der Angriff auf ihn zu raste, mit dem Rücken zu seinen Gegner. Erneut konnte Glumanda nicht rechtzeitig reagieren und bekam die Kraft seiner Attacke zugleich am eigenen Leibe zu spüren. Red konnte ein verärgertes Brummen nicht unterdrücken. Während es sich wieder aufrappelte, drehte Schiggy sich um und stieß einen so gellenden Schrei aus, dass die Region zwischen den Augen der Trainer zu vibrieren begann. Die Zuschauer hielten sich mit verzerrten Gesichtern die Ohren zu und auch Red und Green begannen die Trommelfelle zu schmerzen. Glumanda taumelte, nun sichtlich geschwächt. Somit stand der Sieger fast schon fest. Reds Gesicht hatte einen angespannten Ausdruck angenommen. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt und er sah seinen Freund wütend an. Greens Lächeln wurde breiter, als Red einen erneuten Befehl gab. Er selbst war die Ruhe in Person und vertraute voll und ganz auf seine Fähigkeiten und die seines Pokémons. „Los, noch einmal Kratzer!“ Dieses Mal wurde Schiggy getroffen, doch der Angriff schien ihm kaum etwas auszumachen. Glumandas Krallen hatten einen großen Teil ihrer Schärfe eingebüßt. Green bemerkte in diesen Moment nur zu deutlich, dass Red noch keinen Sinn für Strategie hatte. Drei Mal die selbe Attacke. An seiner Stelle hätte Green sich bereits nach dem ersten gescheiterten Versuch etwas anderes überlegt. Nur mit Mühe konnte er ein hämisches Lachen unterdrücken. Dabei hatte er seinem Freund doch erklärt, welche Wirkung die jeweiligen Attacken hatten. Wahrscheinlich hatte er damals wieder einmal nicht zugehört und das wurde ihm nun zum Verhängnis. Mitleid empfand er allerdings nicht für ihn. Eigentlich wollte er nicht zu hart zu Red sein, aber der Ärger über sein Verhalten im Labor überwog noch immer. „Du scheinst es einfach nicht zu kapieren, oder?“ rief er nun zu ihm herüber. Red antwortete nicht. Nur sein stechender Blick verriet Green, dass er seine Worte sehr wohl vernommen hatte. „Na schön, wenn du nicht mit mir sprechen willst, dann beenden wir das jetzt! Schiggy, setz Blubber ein!“ Daraufhin riss Schiggy sein Maul auf und schickte riesige Wasserblasen in Glumandas Richtung. Es war noch immer benommen von den Attacken des Wasser-Pokémons und konnte dem Angriff nicht viel entgegensetzen. Die Blasen trafen es mit voller Wucht und lösten ein lautes Zischen auf seiner Haut aus. Die Feuerechse schrie gequält auf und brach daraufhin zusammen, offenbar nicht mehr bei Bewusstsein. Die Zuschauer johlten auf. „Ha!“ Green blickte triumphierend in Reds Richtug, der nervös auf Glumanda zu rannte. Er sah zu, wie er ihm behutsam über die glatte rote Haut strich, beruhigende Worte murmelte und es daraufhin in seinen Pokéball zurückholte. Dann stand er auf und sah den Sieger erschrocken an. Stille breitete sich zwischen dem Publikum aus. Die Leute blickten abwechselnd zwischen den beiden Trainern hin und her. Plötzlich war die ausgelassene Stimmung angespannt. Green, der davon jedoch nichts bemerkt hatte, trat auf seinen Freund zu und reichte ihm die Hand. „Danke für den Kampf. Du hast dich gut geschlagen.“ Red ging nicht auf seinen Handschlag ein. Sein stechender Blick war noch immer nicht aus seinem Gesicht gewichen. „Warum hast du das getan? Du wusstest doch ganz genau, dass du gewinnen wirst, was gibt dir das Recht so zu übertreiben?“ Greens Gesichtszüge entgleisten und die Euphorie, die er gerade eben noch über seinen Sieg empfunden hatte, wurde sofort von Schuldgefühlen verdrängt. Ein Wunder, dass er überhaupt mit ihm sprach, nachdem er es die ganze Zeit nicht für nötig befunden hatte, ein Wort ihm gegenüber heraus zu bringen. Mit dieser Reaktion hatte er allerdings nicht gerechnet und er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Hatte er tatsächlich so über die Stränge geschlagen? Er hatte doch nur gewinnen wollen. Auf keinen Fall hatte er das Zeil verfolgt seinen Freund zu beschämen. Hilfesuchend sah er seinem Großvater in die Augen. Doch auch Professor Eichs Blick verriet Enttäuschung. „Hör mal, so war das nicht gemeint und das weißt du auch.“ „Was soll ich wissen? Ich weiß nur, dass du sauer bist, weil du deinen Willen nicht bekommen hast und irgendwie musstest du dich ja an mir rächen. Das sieht dir ähnlich, so bist du schon immer gewesen, aber ich hab darauf keinen Bock mehr!“ Green erschrak über seine harten Worte und blickte ihn unsicher an. Irgendetwas zwischen ihnen war soeben zerbrochen, das konnte er deutlich spüren. Es war ein schreckliches Gefühl. In diesem Moment war er hilfloser als jemals zuvor. So hilflos, dass er es nicht einmal schaffte etwas zu erwidern. „Ach, dann mach doch was du willst!“ Damit drehte Red sich um und ging. Die Menge teilte sich und ließ ihn durch. Sogleich richteten sich sämtliche Blicke auf Green, der nun betrübt seinen Freund hinterher sah und die Welt nicht mehr verstand. Doch dann berührte etwas ihn zaghaft an seinem Bein. Er blickte nach unten und sah direkt in die Augen von Schiggy, dessen Blick ebenso bekümmert wie der seine war. Er beugte sich zu ihm hinunter und streichelte seinen Kopf. „Mach dir keine Sorgen, du hast alles richtig gemacht und warst wirklich großartig. Ich bin sehr stolz auf dich!“ Schiggy schmiegte sich an ihn, mit dem Versuch ihn aufzumuntern. In dieser Sekunde war Green plötzlich sehr froh, dieses Pokémon gewählt zu haben. Sie kannten sich nicht einmal eine Stunde und trotzdem empfanden sie schon Zuneigung füreinander. Er fragte sich, ob es mit dem Glumanda auch so gewesen wäre. „Ich bin froh, dass du jetzt bei mir bist. Wir werden bestimmt gute Freunde, oder?“ Schiggy lächelte und strahlte über das ganze Gesicht, während es in die Pfoten klatschte. Green nickte ihm freundlich zu, bevor er es wieder in seinem Pokéball befahl. Inzwischen waren alle Leute verschwunden. Nur noch der Professor war geblieben. Green trat unsicher an seine Seite. „Stimmt das denn Opa? Habe ich wirklich übertrieben?“ Professor Eich sagte eine lange Zeit nichts, dann legte er seinem Enkel beide Hände auf die Schultern und sah ihn durchdringend an. „Ich kann dir deine Frage leider nicht beantworten, da ich das Gefühl habe, dass zwischen euch mehr passiert ist, als nur dieser Kampf. Ich habe das schon bei der Einweihung gespürt.“ Green schluckte schwer. Sein Großvater hatte recht. Irgendetwas war zwischen den beiden schief gelaufen, anscheinend schon vor dem heutigen Tag. Aber Green verstand nicht, was es war und je mehr er versuchte sich einen Reim darauf zu machen, desto undurchsichtiger wurde die Situation für ihn. „Mach dir mal keine Sorgen. Das wird schon alles wieder werden. Ihr beide kennt euch schon so lange und ich glaube nicht, dass Red dich nun nicht mehr ausstehen kann.“ Green hatte keine Kraft, darauf zu antworten. Er spürte wie sich die ersten Tränen heiß und schwer einen Weg durch seine Lider bahnten. Aber er riss sich zusammen. Um nichts in der Welt würde er jetzt anfangen zu weinen. Aus dem Alter war er schon lange raus. „Du Opa, tut mir leid, aber ich bin sehr müde und würde mich jetzt gern etwas hinlegen gehen. Ich komm heute nochmal im Labor vorbei, bevor ich mich auf den Weg mache.“ Professor Eich nickte verstehend und klopfte ihn noch einmal aufmunternd auf die Schulter, bevor sich Green mit einem letzten gequälten Lächeln und schweren Schritten auf den Weg nach Hause machte. - Und jetzt saß er in seinem Zimmer und konnte sich nicht erklären, was da nur so schrecklich schief gelaufen war. Er hatte sich an Sarah vorbei geschlichen und die Tür hinter sich abgeschlossen. Seitdem hatte er regungslos auf dem Bett gesessen und die Zeit verstreichen lassen, jedoch ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Dass Reds Ziele sich ändern würden, hatte er nicht bemerkt. Warum war er immer so schweigsam? Ohne ein Wort zu sagen, hatte Red ihn ins offene Messer laufen lassen. Wieso konnte er die Sache nicht eher klären? Alles, was dabei heraus gekommen wäre, wäre besser gewesen, als das hier, jetzt. Sie waren noch nie zerstritten gewesen und der Gedanke jetzt ohne seinen Freund aufbrechen zu müssen, ließ Verzweiflung in Green aufsteigen. Er packte den Kragen seines Pullovers und vergrub sein Gesicht darin. „Scheiße.“ Erneut traten Tränen in seine Augen, doch er drängte sie beharrlich zurück. Egal was passierte, niemals würde er seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Niemals. Er atmete einmal tief durch und stand dann auf. Seine Beine waren eingeschlafen, doch er kümmerte sich nicht um die Schmerzen, die mit ihrem Erwachen eintraten. Er hatte jetzt die Verantwortung für zwei Pokémon und er konnte es sich nicht mehr leisten schwach zu sein. Er würde sich zusammen reißen und seine Reise ohne Red antreten. Er brauchte diesen Feigling nicht, er wäre ihm sowieso nur ein Klotz am Bein gewesen. Eigentlich sollte Green froh sein, dass er fort war. Aber diese Gedanken wirkten nur in den ersten Sekunden überzeugend. Schwerfällig verließ er sein Zimmer und ging die Treppe herunter, wo er schon von seiner kleinen Schwester und seinem Gepäck erwartet wurde. Sie nahm ihn sofort in die Arme, was erneut Tränen heraufbeschwor. „Ich habe gehört was passiert ist, wollte dich aber nicht stören. Es tut mir so leid.“ Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter und dankte den Herrn im Himmel so eine wunderbare Schwester zu haben. Dann ließ er von ihr ab. „Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich werde ihn schon einholen und dann vertragen wir uns auch bald wieder.“ Sie lächelte mild. „Ich drück dir die Daumen, dass du es schaffst.“ Green nickte und spürte, wie seine Motivation langsam zurückkehrte. „Klar. Wir können nicht lange ohne einander und kriegen das wieder hin!“ Sogar ein kleines Lächeln brachte er nun zustande. Sarah blickte ihn aufmunternd in die Augen. „Du musst jetzt gehen, oder?“ Green sah zu Boden, bevor er zaghaft nickte. „Ja. Bin schon viel zu spät dran. Aber wie ich sehe, hast du an alles gedacht. Danke, dass du meine Sachen zusammen gesucht hast.“ Er steuerte sein Gepäck an und begann sich seine sieben Sachen, bestehend aus seinem Rucksack, einen Schlafsack, das auseinander gebaute Zelt und seine Reisetasche mit den Anziehsachen auf den Rücken zu hiefen. Seine beiden Pokémon und den Pokédex hatte er schon vor einiger Zeit im Rucksack verstaut. „Warte! Vergiss die Karte nicht!“ Sie drückte ihn eines der empfindlichen Papiere in die Hand. „Was soll ich mit der anderen machen?“ „Lass sie hier. Wenn Red zurückkommt, dann gib sie ihm in meinen Namen.“ Als ob das etwas an der Situation geändert hätte. Doch er sprach diesen Gedanken nicht aus. „Okay, werde ich machen. Ich hab dir auch noch was zu Essen eingepackt. Das wird wohl vorerst das letzte Mal sein, dass ich für dich gekocht habe.“ Sie lachten beide, bevor sie sich traurig in die Augen sahen. „Du wirst mir ganz schön fehlen, Bruderherz.“ Er umarmte sie erneut, soweit sein Gepäck es zuließ. „Du mir auch. Ich versuche mich so oft es geht zu melden. Und eines Tages komme ich dich besuchen sobald ich ein Pokémon habe, das Fliegen beherrscht.“ Sie lächelte, was einen seltsamen Kontrast zu den Tränen in ihren Augen bildete. „Lass dir damit nicht zu viel Zeit, okay?“ „Werde ich nicht, versprochen.“ Green drehte sich um und ging auf die Tür zu. Als er seine Hand schon auf der Klinke hatte, meldete Sarah sich erneut zu Wort. „Brüderchen? Pass gut auf deine Pokémon auf, okay? Besonders auf Evoli.“ Er drehte sich verwundert zu ihr um, kam noch einmal zu ihr zurück. „Du weißt davon?“ Sie antwortete mit einem Zwinkern. „Natürlich. Ich bekomme alles mit. Ich hab spioniert, als du die Pokébälle geklaut hast. Ich wusste, dass du Evoli einen Teil deines Essen gibst, daher habe ich immer ein bisschen mehr gemacht. Aber keine Sorge. Ich habe Opa nichts davon erzählt. Dein kleines Geheimnis ist bei mir sicher.“ Er wuschelte ihr liebevoll durch die Haare, was sie normalerweise nicht mochte, doch dieses Mal schien sie zum Abschied eine Ausnahme zu machen. „Ich danke dir. Bis bald.“ „Bis bald und viel Glück auf deiner Reise.“ Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Auf dem Weg zum Labor seines Großvaters blieb er stehen, als er bemerkte wie sich die Tür des Nachbarhauses öffnete und Red hinaustrat. Schnell versteckte er sich hinter der Hauswand und beobachtete, wie er seine Mutter ein letztes Mal umarmte und dann ohne ein weiteres Wort das Haus verließ. Er sah sich nicht um, sondern steuerte geradewegs die erste Route nach Vertania-City an. Nicht einmal ordentliches Gepäck hatte er dabei. Green schüttelte fassungslos den Kopf. Als er sich sicher genug fühlte, um den Schutz der Hauswand zu verlassen, sah er ihm traurig hinterher. Red passierte bereits die ersten Bäume am Rand von Alabastia. Ein Rascheln der Baumkronen verkündete, dass er bereits erwartet wurde. Ein kleines gelbes Pokémon sprang aus dem Geäst und landete, wie wahrscheinlich schon tausende Male zuvor, leichtfüßig auf seiner Schulter. Pikachu erblickte Green in der Ferne und zupfte fragend an der Jacke seines Trainers. Als dieser nicht darauf reagierte, sah es ihm lange hinterher, bis sie endgültig aus Greens Sichtfeld verschwunden waren. Green war sich nicht ganz sicher, doch er glaubte Kummer in den Augen des Pokémons zu erkennen. 5 - Ein neuer Gefährte ---------------------- Kopfschmerzen rissen ihn aus einem traumlosen Schlaf, ein monotones Pulsieren über seinem rechten Auge. Dennoch war er völlig ruhig und ohne Anspannung erwacht. Er warf einen Blick auf den Wecker, dessen digitale Zahlen drei Uhr morgens verrieten. Green war wach, doch er fühlte sich kein bisschen ausgeruht und er glaubte nicht, noch einmal einschlafen zu können. Seine Gedanken begannen sofort wieder zu arbeiten, was das Pulsieren recht schnell verstärkte. Bald würde es zu einem wütenden Pochen geworden sein, was ihm alle Konzentration rauben würde. Er rieb sich die Schläfe und hoffte, dass genau diese Situation nicht eintraf. Er würde sich sonst recht früh ausruhen müssen und genau das konnte er sich nicht leisten, wenn er Red irgendwie einholen wollte. Diese Nacht hatten die roten Augen und das unheilvolle Rascheln der Bäume ihn verschont. Kein gedankenfressendes Pokémon, dass im Vertania-Wald auf sie lauerte. Darüber freuen konnte er sich allerdings nicht. Noch immer waren die Geschehnisse des Vortages allgegenwärtig. Sein schlechtes Gewissen ließ sich nicht abschütteln, obwohl er den Grund dafür noch immer nicht benennen konnte. Er dachte an seinen Freund und fragte sich, wo er gerade wohl steckte und wie weit er am ersten Tag seiner Reise schon gekommen war. Red hatte ihn etwas verschwiegen und Green würde alles daran setzen, um eine Antwort zu erhalten. Das war sein Freund ihm schuldig. Er war sich mittlerweile absolut sicher, dass nicht der Kampf der Auslöser für all das war und er würde herausfinden was Red dazu bewogen hatte sein Versprechen zu brechen. Aber dazu musste er ihn erst einmal einholen. Ihn finden, zur Rede stellen und sich dann entschuldigen. Er wusste nicht wieso, aber er fürchtete sich vor dieser Situation. Noch immer sah er Reds stechenden Blick vor sich, seine braunen, kalten Augen, in denen er keine Freundschaft mehr erkennen konnte. Green atmete mehrmals tief durch. Auch wenn die Situation nicht erfreulich war, musste er versuchen einen kühlen Kopf zu bewahren und geradeaus zu blicken. Er gähnte noch einmal, bevor er sich dazu überwand, die Bettdecke zurückzuschlagen und aufzustehen. Ein kalter Luftzug streifte seine Füße. Die Pension war nicht beheizt. Er versuchte sich zu orientieren, nur die leuchtenden Ziffern der Uhr auf dem Nachttisch und der matt-rote Schein der Laterne vor seinem Fenster spendeten ein wenig Licht. Viel sehen konnte er trotzdem nicht. Die dichten Wolken hatten den Mond verschluckt, von dem nicht einmal die milchigen Umrisse erkennbar waren. Er trat zum Fenster und öffnete es leise, um Evoli, dass ruhig am Fußende seines Bettes schlief, nicht zu wecken. Die frische Luft regte seine Gedanken an und dämpfte das Pochen seiner Stirn. Augenblicklich fühlte er sich besser und er genoss das Gefühl seiner Lungen, die sich mit klarem Sauerstoff füllten. Er wusste nicht wie lang er reglos am Fenster stand und den Blick frustriert auf Vertania-City richtete. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Finsternis gewöhnt und er konnte die Schatten der knorrigen Bäume vor seinem Zimmer und einen Teil der Straße, die zur zweiten Route führte, erkennen. Das nächste Ziel war Marmoria-City, einen guten Tagesmarsch von hier entfernt. Bald war es an der Zeit seine Pokémon zu wecken und aufzubrechen. Er wollte diese Strecke so schnell wie möglich hinter sich lassen – zu viele Erinnerungen hingen an ihr. Besonders diese eine, ganz Bestimmte, die ihn beinahe nächtlich auflauerte. Er würde den Vertania-Wald, den er seit dem Ereignis vor vier Jahren nicht mehr aufgesucht hatte, erneut betreten müssen. Als hätte er danach gesucht, richtete sich sein Blick plötzlich auf einen Punkt auf dem Boden - und dieser Blick wurde erwidert. Böse rote Augen starrten direkt zu ihm hinauf, durchdrungen von einer beinahe dämonischen Macht. Konnte er da ein Grinsen erkennen? Green keuchte entsetzt auf und seine Stirn beantworte sein Erschrecken mit einem rasenden Schmerz, der glühende Bahnen durch seine gesamten Gesichtsnerven zog. Seine Füße gehorchten ihm nicht mehr und er taumelte rückwärts. Der Nachttisch bewahrte ihm vor einen Sturz, doch er stieß sich schmerzhaft den Rücken und für einen Augenblick schien er keine Luft mehr zu bekommen. „Okay. Okay... Du beruhigst dich jetzt. Dort draußen ist nichts. Deine Fantasie spielt dir einen Streich, du hast nur das gesehen was du sehen wolltest. Hier lauert dir niemand auf.“ Ihm war der kalte Schweiß ausgebrochen, der sich nun brennend einen Weg in seine Augen suchte. Er lachte auf, doch es klang zitternd und nervös und brachte ihm keine Erleichterung. Jetzt begann er schon Selbstgespräche zu führen. Allmählich ging das alles wirklich zu weit. Dies war nun der Lohn dafür, dass er die Geschehnisse, anstatt sie aufzuarbeiten, verdrängt hatte. Langsam sank er auf das Bett zurück. Sein Gesicht brannte noch immer wie Feuer und die Muskeln seiner Beine fühlten sich an, als würden sie zu jemand anderen gehören. Warum hatte er nichts zu Trinken mit auf sein Zimmer genommen? Ein Schluck kaltes Wasser hätte ihn jetzt einigermaßen ruhig gestimmt. So konnte er nur warten, bis sein Herz, das noch immer einen Trommelwirbel in seiner Brust veranstaltete, wieder seinen normalen Rhythmus angenommen hatte. Evoli war von dem Tumult nicht erwacht. Ruhig lag es zusammengerollt auf der weichen Decke, die Sarah ihm für kalte Nächte eingepackt hatte. Green lauschte seinem Schnurren und spürte, wie sein Blutdruck sich langsam wieder auf einen stabilen Pegel zubewegte. Dennoch war sein Mund trocken und seine Kehle verklebt. Er brauchte dringend einen Schluck Wasser. Aber die Kantine der Pension war geschlossen, folglich könnte das schwierig werden. Egal. Zur Not würde er aus der Leitung trinken. Das Wasser hier war sehr sauber, also würde er damit schon zurechtkommen. Wenige Minuten später hatte er sich so weit im Griff, um aufstehen zu können. Die kalte Luft hatte mittlerweile das komplette Zimmer ausgefüllt und er spürte erst jetzt, dass er fror. Mit einer vorsichtigen Bewegung zog er seine Reisetasche unter dem Bett hervor. Er musste einen Moment suchen, bis er einen frischen Pullover und eine Hose fand. Als er sich angezogen hatte, trat er erneut zum Fenster, dieses Mal um es zu schließen. Sein Blick huschte automatisch zu der Stelle, an der er geglaubt hatte, diese Augen zusehen. Nichts. Obwohl er wusste, dass dort nie etwas gewesen war, breitete sich Erleichterung in seiner Brust aus. Wenige Stunden später hatte er Vertania-City hinter sich gelassen. Der Marsch war lang und ermüdend gewesen, trotz allem fühlte Green sich erfrischt und gestärkt, was auch dem herzhaften Frühstück der Pension zu verdanken war. Die Kopfschmerzen waren Gott sei Dank verschwunden. Seine Taschen waren gefüllt mit Lebensmitteln für ihn und seine Pokémon, welche er im Supermarkt von seinen gespartem Geld erworben hatte. Auch an Pokébällen hatte er nicht gespart, obwohl sein Großvater ebenfalls sehr großzügig damit gewesen war. Aber man konnte ja nie wissen, ob die Pokémon mit nur einen Wurf zu fangen waren und er musste unbedingt sein Team verstärken. Evoli tippelte fröhlich neben ihm her. Green war sehr froh, seine Gefährtin nach all den Jahren nicht mehr einsperren zu müssen und ihr schien es ähnlich zu gehen. Die Bewegung tat ihr gut und so tollte sie um ihn herum, lief manchmal vor um kleine Fuchsbauten unter den Baumstümpfen zu erkunden und kam dann anschließend zu ihm zurück, wo sie auf seine Schulter sprang und sich glücklich an seinen Hals schmiegte. Die Sonne kündigte den Mittag an und schickte eine drückende Wärme zu ihnen herunter. Green schwitzte und blieb für ein paar Sekunden stehen um durchzuatmen. „Puh.“ Er blickte Evoli, dass noch immer auf seiner Schulter saß, von der Seite her an. „Ich weiß ja nicht wie es dir geht, aber ich könnte jetzt mal eine Pause vertragen.“ Sein Blick fiel auf einen großen Baum am Rande des Weges, der einen langen Schatten warf und zum Verweilen einlud. Evoli sprang von seiner Schulter und rannte sogleich darauf zu. Green folgte ihr mit langsamen Schritten. Froh, das Gepäck ablegen zu können, ließ er sich im Schatten nieder. Seine Beine schmerzten ein wenig – ein Umstand, an den er sich gewöhnen musste. Doch dieses Gefühl störte ihn nicht, er genoss es sogar ein wenig. Es zeigte ihn, dass er sich anstrengen musste, um vorwärts zu kommen und er wusste, dass es das wert war. Er zog seine Wasserflasche aus dem Rucksack hervor und trank in großen Schlücken. Seine Belohnung für den ersten richtigen Tag auf seiner Reise. Die Rinde des Baumstammes fühlte sich angenehm rau an seinen Rücken an, als er sich dagegen lehnte und entspannt die Augen schloss, während das sanfte Rauschen der Baumkronen wie Musik in seinen Ohren klang. Es war ein wunderbares Gefühl so frei zu sein, ohne Verpflichtungen, ohne die ewige Lernerei für die Schule und ohne die Sorge, dass man Evoli entdecken könnte. Hier war all das vergessen. Selbst seine Sorge um Red war für einen kurzen Augenblick verschwunden. Er hätte ewig so dasitzen können. Doch Evoli, das sich an seinem Rucksack zu schaffen machte, holte ihn aus seinen Gedanken. Es hatte seinen Kopf tief in der Tasche vergraben und schien etwas zu suchen. „Hm? Was suchst du denn da?“ Evoli zog sich wieder hervor und sah ihn nur fragend an. „Hast du Hunger? Warte.“ Doch sein Pokémon schüttelte energisch mit dem Kopf. „Was dann?“ Erneut kroch es in den Rucksack und begann darin herum zu wühlen. Green sah dabei zu, wie es den gesamten Inhalt auf der Wiese verteilte, während es fröhlich mit dem Schwanz wedelte. Schließlich holte es den Pokéball hervor, der Schiggy enthielt. Er stupste den Ball an, der bläulich aufleuchtete, dann sah es seinen Trainer aus großen braunen Augen an. Green verstand. „Oh natürlich. Das ist eine wirklich gute Idee von dir.“ Er nahm den Ball in die Hand und fühlte das leichte Vibrieren aus seinem Inneren. „Komm raus, Schiggy.“ Das Wasser-Pokémon erschien und streckte sich wohlwollend. „Du könntest auch mal ein wenig Bewegung vertragen.“ Das ließ es sich nicht zwei Mal sagen und begann sofort über das weiche Gras zu laufen, Evoli im Schlepptau. Er sah dabei zu, wie sie sich jagten, in die Luft sprangen und vergnügt um die Wette liefen. Sie hatten sich von der ersten Sekunde an gut verstanden und Green wusste nicht, worüber man sich mehr freuen konnte. Nicht alle Pokémon kamen so gut miteinander aus. Green wünschte sich, eines Tages ein spitzen Team zu haben, die nicht nur Gefährten, sondern auch Freunde waren und die zwei boten einen wirklich guten Auftakt dafür. Während er sie beobachtete, wurden seine Augen schwer, bis sie schließlich ganz zu fielen. Sein Kinn sank ihm auf die Brust und er nickte ein. Als er erwachte, stand die Sonne weit oben am golden leuchtenden Himmel. Die Hitze war verflogen und ein frischer Wind wehte über die Gräser. Schlaftrunken blickte er sich um und ein heißer Schreck durchfuhr ihn, als er seine Pokémon nirgendwo entdecken konnte. Sofort war er auf den Beinen. „Evoli? Schiggy?“ Sein Ruf blieb unbeantwortet. Panisch packte er seine Sachen zusammen. Sein Rucksack fühlte sich nach der Pause doppelt so schwer an, doch er achtete nicht darauf. Stattdessen suchte er nach einem Anhaltspunkt und fand diesen auch, in Form ihrer Fußspuren. Ohne lange darüber nachzudenken nahm er die Verfolgung auf. Seine Schritte waren hastig, einige Male wäre er beinahe gestürzt. Doch er achtete nicht auf irgendwelche Hindernisse, übersprang Wurzeln und Schlaglöcher, den Blick stur auf die Erde gerichtet. Dann, am Rande des hohen Grases fand er die beiden. Nach Luft ringend blieb er stehen, während gleichzeitig Erleichterung seinen Körper durchströmte. „Evoli! Schiggy!“ Die beiden drehten sich erschrocken nach ihn um und sofort konnte er Verlegenheit in ihren Gesichtern erkennen. „Warum seid ihr so weit weggelaufen? Ich habe mir totale Sorgen um euch gemacht. Tut das gefälligst nie wieder!“ Er stützte seine Arme auf die Knie und holte einmal tief Luft. Eigentlich wollte er nicht mit ihnen schimpfen, sie hatten ja nur gespielt. Green hatte nicht genügend auf sie Acht gegeben. Nicht sie waren schuld, sondern er. Was hatte sie nur so weit von ihrem Rastplatz weggelockt? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Evoli spitzte die Ohren und drehte sich wieder zum Gras um, als ein Rascheln erklang. Irgendetwas war dort und schien sich zu verstecken. Green trat vorsichtig einen Schritt näher. Erneut raschelte es. Ohne einen Ton von sich zu geben winkte er seine Pokémon zu sich heran. Diese gehorchten sofort und schlichen zu ihn herüber. Er legte einen Finger auf die Lippen und deutete auf eine ganz bestimmte Stelle – dort war zwischen den langen Grashalmen ein lilanes Paar Ohren zu sehen, von denen hin und wieder ein leises Zucken ausging. Der Pokédex in seiner Jackentasche reagierte, doch Green musste nicht auf den Bildschirm sehen, um zu wissen um welches Pokémon es sich hier handelte. Er konnte sich ein freudiges Lächeln nicht verkneifen, denn darauf hatte er gewartet und zufällig wollte er genau dieses Pokémon in seinem Team haben. So leise er konnte kramte er in seinem Rucksack nach den Pokébällen. Endlich bekam er einen zu fassen. „Okay. Ich brauche jetzt einen von euch. Ihr müsst mir helfen es zu fangen.“ Die beiden Pokémon sahen sich einen Moment fragend an, schließlich sprang Evoli auf. Green lächelte. „Gutes Mädchen.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und trotzdem hatte Rattfratz ihn gehört. Plötzlich erzitterte das Gras, als es sich aus seinem Versteck wagte und davon laufen wollte. „Los Evoli, halte es auf!“ Sein Pokémon nahm Anlauf und rannte in Windeseile darauf zu. Rattfratz versuchte in eine andere Richtung auszuweichen, doch Evoli war schneller und schaffte es immer, ihm den Weg abzuschneiden. „Sehr gut. Bring es durcheinander. Schwäche es, aber greife nicht an!“ Noch nicht. Rattfratz waren nicht einfach zu besiegen. Sie hatten eine hohe Kondition und konnten den meisten Attacken problemlos ausweichen und obwohl es eher zierliche Pokémon waren, durfte man ihre Angriffe nicht unterschätzen. Man musste vorsichtig sein, denn auch wenn seine Hauer nicht besonders groß waren – ein Biss konnte großen Schaden anrichten und er wollte Evoli nicht in unnötige Gefahren bringen. So vergingen einige Minuten. Rattfratz wollte immer wieder ausschlagen, doch Evoli lies ihm keine Chance und langsam bemerkte Green die erste Erschöpfung des wilden Pokémon. Es hatte aufgegeben davonlaufen zu wollen und seine Augen funkelten angriffslustig. Evoli musste nun sehr vorsichtig sein. Green sah, dass auch sein Pokémon um Atem rang. „Es wird dich bald angreifen, also gib Acht, dass es dich nicht trifft!“ Plötzlich schnellte Rattfratz nach vorn. Sein Maul war weit aufgerissen und seine Hauer blitzten aggressiv. „Ruckzuckhieb, schnell!“ Im letzten Moment konnte sein Pokémon ausweichen. Es setzte zum Sprung an und die Attacke seines Gegners ging ins Leere. Evoli nutzte diesen Moment der Unachtsamkeit und rammte es. Rattfratz wurde in die Luft geschleudert, doch gelang es ihm auf seinen vier Pfoten zu landen. Green wusste, dass sich sein Pokémon mit dieser Attacke sehr zurückgehalten hatte. Hätte es richtig Anlauf genommen, wäre es jetzt ausgeknockt gewesen. Doch genau das wollte er nicht. Er wollte es bei vollem Bewusstsein fangen und rief Evoli zurück. „Das reicht! Komm wieder zu mir!“ Evoli gehorchte und sprang ihm treu auf die Schulter. Als Rattfratz den Pokéball in seiner Hand bemerkte, stieß es ein wütendes Fauchen aus. Es zählte definitiv nicht zu den Pokémon, die sich leicht fangen ließen, doch Green wollte es unbedingt versuchen. Dass es nicht so einfach wie vor vier Jahren werden würde, war ihm dabei sehr wohl bewusst. Aber damals waren die Umstände auch völlig anders gewesen. Für einen kurzen Moment blitzte die Erinnerung auf, doch Green drängte sie zurück. Nicht jetzt. Rattfratz stand lauernd vor ihnen. Es hätte fliehen können, doch es blieb an Ort und stelle, während sein Blick folgendes verriet: Wenn du mich fängst, gehöre ich dir. Green presste seine Zähne zusammen. Ihm blieben nur wenige Versuche. Einer, vielleicht Zwei. Mehr Chancen würde es ihm nicht lassen. Er umklammerte den Pokéball für eine Sekunde, dann schleuderte er ihn entschlossen in seine Richtung. Rattfratz wehrte sich nicht. Es hatte die Herausforderung angenommen und wartete darauf, von dem Ball eingeschlossen zu werden. Der Wurf saß und es wurde in sein Inneres gezogen. Der Ball schloss sich und begann kräftig zu ruckeln, als es versuchte sich wieder daraus zu befreien. Für ein paar Sekunden hielt Green den Atem an – dann, als er schon dachte es geschafft zu haben, zersprang der Ball in tausend Teile, als das Rattfratz sich zurück in die Freiheit kämpfte. „Verdammt!“ Was sollte er nun tun? Es war noch zu stark, die Pokébälle konnten seiner Kraft niemals standhalten. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er wusste, dass ihm nur wenige Sekunden bleiben würden, bevor es im hohen Gras verschwand. Plötzlich hatte er einen Geistesblitz, als er an den Kampf gegen Red und daran dachte, wie er Glumanda endgültig hatte schwächen können. „Schiggy, los!“ Das Wasser-Pokémon gehorchte sofort und sprang nach vorn. „Heuler!“ Wieder stieß es diesen gellenden Schrei aus, der in den Ohren vibrierte. Evolis Fell sträubte sich, doch Green achtete nicht auf das unangenehme Schwingen in seinem Kopf. Ihm blieben nur noch wenige Sekunden zum Handeln. Instinktiv griff er erneut in seinen Rucksack – und es war pures Glück, dass er prompt einen neuen Pokéball zu fassen bekam. „Ja!“ Ohne darüber nachzudenken holte er erneut zum Wurf aus. Rattfratz konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und wurde erneut in den Ball gezogen. Dieses Mal war das Ruckeln sehr viel schwächer, doch erst wenn das Warnlicht in der Mitte des Balls erlosch, konnte Green sich sicher sein, dass er das Duell gewonnen hatte. Die Sekunden verstrichen, während der Ball zuckte und sich nicht beruhigen wollte. Ihm schlug das Herz bis zum Hals und er wagte kaum Luft zu holen. Schiggy und Evoli beobachteten voller Erwartung das Geschehen. Dann schließlich hörte das Zittern auf und das Licht erlosch mit einem seltsamen Seufzer. Green stand reglos da und konnte nicht realisieren, dass er es tatsächlich geschafft hatte. Erst als Schiggy und Evoli begeistert umher sprangen, begriff er, was soeben geschehen war. Euphorie durchzuckte seinen Körper, er riss den Arm nach oben und stieß einen Schrei des Triumphs aus. „Yeah! Verdammt, wir haben es tatsächlich geschafft!“ Seine Pokémon rannten auf ihn zu und sprangen an seinen Beinen hoch. Er ging in die Knie und zog die beiden in eine stolze Umarmung. „Ihr wart wirklich spitze, vielen Dank!“ Schiggy ließ von ihm ab und rannte zu dem Pokéball, der nun regungslos im Gras lag. Vorsichtig sammelte es ihn auf und trug ihn fast ehrfürchtig zu Green. Er nahm ihn entgegen und betrachtete ihn stolz. „Ich hoffe, dass du mich mögen wirst und wir gute Freunde werden. Du warst ein starker Gegner und es hat uns eine menge Kraft gekostet, dich zu fangen.“ Rattfratz antwortete nicht, kein lilanes Pulsieren ging von dem Ball aus. Green seufzte. Sein neues Pokémon würde mit Sicherheit einige Zeit brauchen, um sich mit der ungewohnten Situation vertraut zu machen. Er verstaute den Ball in seinem Rucksack und richtete sich auf, während er seinen Blick schweifen lies. „Was meint ihr, wollen wir aufbrechen? Es ist noch ein weiter Weg bis zur nächsten Stadt.“ Seine Gefährten aber kämpften sich bereits durch das hohe Gras. Er sah ihnen amüsiert hinterher, bevor er ihnen wenige Sekunden später folgte. Vor ihnen, zwar noch in einiger Enfernung, aber schon mit bloßem Auge zu erkennen, ragten die ersten Bäume des Vertania-Waldes aus der Erde. 6 - Die Stadt aus Marmor ------------------------ Irgendwo in der Ferne schrie ein Pokémon - wie an jenem Tag vor vier Jahren - und Green fühlte sich wieder wie ein Zwölfjähriger, als er sich nun schon die dritte Stunde, ohne sie gezählt zu haben, durch das dichte Unterholz des Vertania-Waldes kämpfte. Die Sonne hatte sich verkrochen und der ersten Dunkelheit Platz gemacht. Er musste sich beeilen, der Gedanke die Nacht sonst zwischen den hohen Baumstämmen verbringen zu müssen, erfüllte ihn mit Unbehagen. Sein Blick war konzentriert auf die Karte gerichtet, doch da das Licht stetig weniger wurde, bekam er langsam aber sicher Probleme die Route zu entziffern. So sehr er seine Augen auch anstrengte, die Linien verschwanden immer wieder und er verfluchte sich, denn bei all den Sachen in seinem Rucksack – an eine Taschenlampe hatte er nicht gedacht. Seltsamerweise spürte er keine Angst. Seine Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig. Die Geräusche des Waldes um ihn herum empfand er sogar als angenehm. Er hatte etwas Anderes erwartet. Vermutlich lag es daran, dass er nicht allein unterwegs war. Seine erschöpften Pokémon, auch Evoli, hatte er zwar in den Schutz ihrer Pokébälle zurückgeholt, doch er wusste, dass sie ihn uneingeschränkt unterstützen würden, falls es gefährlich werden sollte. Green war erschöpft, doch das konnte seiner Euphorie keinen Dämpfer versetzten. Erfolgreicher hätte der erste Tag als Trainer nicht laufen können, denn er hatte mittlerweile schon zwei neue Pokémon in seinem Team. - Schon nach wenigen Minuten zwischen den Bäumen hatte er ein lautes Knacken vernommen. Im ersten Moment war der Schreck groß gewesen, doch als er sich umdrehte und sich schon auf das Schlimmste vorbereitete, konnte er nur ein kleines Vogel-Pokémon sehen, was den Kopf schiefgelegt und ihn aus lauernden aber neugierigen Augen beobachtet hatte. Zunächst war er unsicher gewesen, wie er darauf reagieren sollte. Es machte mit seinen hellbraunen Gefieder und den rosanen Schnabel keinen feindlichen Eindruck auf ihn, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Schiggy und Evoli waren erschöpft von dem langen Marsch und Green traute es sich noch nicht zu, Rattfratz aus den Pokéball zu rufen. Zu groß war die Angst, dass es ihm bei einem Kampf nicht gehorchen könnte. So hatte er einige Sekunden dagestanden und dem Pokémon – er brauchte nicht auf den Pokédex zu schauem, um zu wissen, dass es sich um ein wildes Taubsi handelte – nur neutral in die Augen gesehen. Doch das Pokémon hatte sich nicht gerührt und so hatte Green beschlossen weiter zu ziehen. Er hätte es gern gefangen, doch dafür müsste man es zuerst schwächen und seine Pokémon hatten sich für diesen Tag schon genug verausgabt. Wenige Minuten ging er gemächlich weiter und als er schon glaubte wieder allein zu sein, verriet ein erneutes Knacken die Anwesenheit seines neugierigen Verfolgers. Wieder stoppte er und als er sich erneut umdrehte, ließ sich sein Grinsen nicht mehr unterdrücken. Taubsi war ihm sehr nahe gekommen und zupfte am Stoff seiner Hose. Er beugte sich herunter und sah es geduldig an. „Was willst du? Du bist ganz schon forsch, weißt du das?“ Taubsi antwortete mit einem leisen Zwitschern, bevor es auffordernd mit dem Schnabel klapperte. „Du hast bestimmt Hunger. Aber eigentlich gibt es hier doch genug Futter für dich.“ Das Vogel-Pokémon raschelte nur mit dem Gefieder und sah ihm standhaft in die Augen. Green seufzte einmal, bevor er mit den Schultern zuckte. „Na gut, überredet!“ Er stellte seinen Rucksack ab und begann nach dem Brot zu suchen, dass er sich in Vertania-City gekauft hatte. Als er es fand, wickelte er es aus dem Papier und brach grob ein Stück aus dem Leib heraus. Taubsis Schnabel klapperte erneut. Als er es einigermaßen mit den Fingern zerkleinert hatte, hielt er seine offene Hand dem Pokémon hin. Schon nach wenigen Sekunden waren sämtliche Krümel restlos aufgepickt und verspeist. Green lächelte erneut, obwohl er sich wunderte, dass ein wildes Pokémon so zutraulich war. „So. Ich hoffe du bist jetzt satt. Sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt weiter.“ Damit verstaute er das Brot wieder in seinem Rucksack und erhob sich. Er konnte raschelndes Gefieder hören, doch er ging beharrlich weiter. Das Pokémon war zwar sehr süß, aber er durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Der Wald war riesig. „Halt!“ Sein Herz machte einen Hüpfer, als er die laute, fremde Stimme vernahm. Zu seiner Rechten hatte sich ein kleiner Bursche an einen Baum gelehnt. Seine Kleidung war in den Farben des Waldes gehalten und auf seinem Kopf saß ein Hut mit breiter Krempe. Mit der rechten Hand warf er spielerisch einen Pokéball in die Luft und fing ihn mit eben dieser auch wieder auf. Das Lächeln, das seine Lippen umspielte, war äußerst selbstsicher. Über seinem Rücken hatte er sich ein riesiges Schmetterlingsnetz geschnallt und auch der Rest seiner Ausrüstung ließ vermuten, dass dieser junge Trainer eine Vorliebe für Käfer-Pokémon hatte. Green wusste, was nun auf ihn zukam. Der Fremde wollte gegen ihn antreten, doch er sträubte sich dagegen. Seine Pokémon waren einfach zu erschöpft. „Ich bin Gregor. Wie wäre es denn mit einem Kampf? Meine Pokémon sind schon ganz unruhig.“ Green atmete einmal tief ein. „Hallo Gregor. Eigentlich passt mir das gerade überhaupt nicht. Wir sind schon lange unterwegs und mein Team muss sich ausruhen.“ Gregor schnaubte verächtlich und stieß sich dann von dem Baum ab. „Ach, sei doch nicht so. Ich hab hier jetzt so lang rumgestanden und ich werde mich bestimmt nicht abweisen lassen. Du kennst doch die Regeln, oder? Wenn sich unsere Blicke treffen, dann müssen wir kämpfen.“ Als Green nicht antwortete, stemmte sein Herausforderer die Hände in die Hüften. „Oder bist du etwa zu feige? Ich habe dich beobachtet wie du dein Pokémon gefüttert hast. So geschwächt kann es also nicht sein!“ Green zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn es kein freundliches war. „Auch wenn es dich eigentlich nichts angeht - dieses Taubsi gehört nicht zu mir. Es hatte Hunger und deswegen habe ich ihm geholfen, nichts weiter.“ „Mensch, das ist ja wirklich außerordentlich großzügig von dir. Erzähl mir nichts. Vogel-Pokémon können sich hier sehr gut selbst versorgen, zum Beispiel indem sie meine heißgeliebten Käfer fressen.“ Gregors Stimme hatte einen arroganten Tonfall angenommen und Green wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie sahen sich lange in die Augen, dann schüttelte er mit dem Kopf. „Nimms mir nicht krumm, aber dafür habe ich einfach keine Zeit. Eine Chance hättest du sowieso nicht gegen mich. Deine Käfer können nichts gegen mein Team ausrichten, du würdest dir damit nur selber den Ast absägen, auf dem du sitzt.“ Er wandte sich um und wollte seinen Weg wieder antreten, als er das Geräusch eines sich öffnenden Pokéballs hörte. Gregor hatte Recht, er ließ sich tatsächlich nicht abschütteln. Er würde ihn wahrscheinlich verfolgen bis er seinen heißbegehrten Kampf bekam, also hatte er wohl keine andere Wahl. Dann blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste alles auf Rattfratz setzen. Als er gerade zu seinem Pokéball greifen wollte, sprang plötzlich Taubsi vor seine Füße, wo es sich schützend aufbäumte. Green sah es verwundert an. Anscheinend wollte es ihm helfen. „Ich wusste, dass es dein Pokémon ist, du Lügner!“ Green konnte bei diesen anklagenden Worten seines Gegenübers nur die Augen verdrehen. Gregor war wirklich erstaunlich frech. Vielleicht sollte er ihm eine Lektion erteilen. Das Pokémon, das er gerufen hatte, war ein Safcon. Eigentlich nur eine Hülle, die sich nicht wirklich bewegen konnte und Angriffen nicht viel entgegen zu setzen hatte. Was dachte er sich nur dabei? Er war wirklich naiv! Green sah erneut auf Taubsi herab, das seine Flügel ausgebreitet hatte. „Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst, Gregor? Noch ist es nicht zu spät.“ „Sei still und kämpfe endlich! Safcon, setze Fadenschuss ein!“ Taubsi reagierte, ohne dass Green einen Befehl gegeben hatte. Der Windstoß, den es mit seinen Flügeln hervorrief war so heftig, dass Green sich schützend eine Hand vor das Gesicht halten musste um keinen Sand in die Augen zu bekommen. Im Bruchteil einer Sekunde war der dünne, silbrige Faden durchtrennt, noch bevor er das Vogel-Pokémon erreichen konnte. Safcon wurde von der scharfen Luft getroffen und hochgeschleudert. Gregor konnte es noch rechtzeitig auffangen, bevor es hart auf dem Boden aufschlug. Es war offensichtlich, dass es nicht gewinnen konnte. Seinem Trainer schien es nun zu dämmern, denn er holte es ohne ein weiteres Wort in den Pokéball zurück. Green staunte – die Reflexe von Taubsi waren ausgezeichnet. „Siehst du jetzt, was ich meine? Tu das deinen Pokémon nicht an. Ich bewundere deinen Mut, aber du musst noch viel stärker werden.“ Gregor sah ihn geknickt an. Sein Team war noch nicht erschöpft, doch er griff nicht nach einen neuem Pokéball. Er hatte verstanden, dass die Situation für ihn zu heikel war und sein Blick verriet seinen verletzten Stolz. „Du kannst froh sein, dass dir das Taubsi begegnet ist, ich hätte dich sonst fertig gemacht!“ Green verzog nur den Mund und zuckte abermals mit den Schultern. „Vielleicht ist das so. Aber ändern können wir das jetzt nicht. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder und dann würde ich mich freuen, wenn du mich erneut herausforderst.“ Endlich konnte sich der jüngere ein Lächeln abringen. Er trat auf Green zu und sie reichten sich die Hände. „Darauf kannst du Gift nehmen! Wie heißt du überhaupt?“ „Mein Name ist Green. Tut mir Leid wegen deinem Safcon.“ „Brauch es dir nicht. Es ist sehr zäh.“ „Das glaube ich dir. Also dann, auf bald?“ „Auf bald! Mich hast du nicht zum letzten Mal gesehen!“ Mit diesen Worten drehte Gregor sich um und innerhalb weniger Sekunden war er mit flinken Füßen zwischen den Bäumen verschwunden. Green sah lächelnd auf Taubsi herab. „Danke für deine Hilfe. Ich hab irgendwie das Gefühl, dass du bei mir bleiben willst, oder irre ich mich da?“ Das Vogel-Pokémon klapperte nur fröhlich mit dem Schnabel. „Das deute ich jetzt einfach mal als ein Ja. Also gut.“ Er zog einen leeren Pokéball hervor und Taubsi ließ es zu, in sein Inneres gezogen zu werden. Green hielt den Ball ruhig in der Hand. Kein ruckeln war zu spüren, es versuchte nicht, sich zu befreien. Schließlich ertönte wieder dieses seltsame Seufzen, als das Warnlicht aufhörte zu blinken. Ein zufriedenes Lächeln erhellte sein Gesicht, als sich sein neues Pokémon zu den anderen Gefährten in seinen Rucksack gesellte. Er hatte zu lang den Tag Revue passieren lassen und getrödelt. Außerdem hatte er einige Umwege einschlagen müssen, da er zwischen den Bäumen immer wieder Trainer mit Schmetterlingsnetzen und Käferausrüstung gesehen hatte. Auch wenn es mit Taubsi wahrscheinlich einfach gewesen wäre, war er den Kämpfen lieber ausgewichen. Die Sonne war gänzlich verschwunden und mit der Dunkelheit kam nun auch die Kälte. Die Karte war nicht mehr besonders hilfreich, deswegen verstaute er sie kurzerhand in seiner Jackentasche. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf sein Gefühl zu hören und einfach geradeaus zu laufen. Laut seiner Karte müsste er in einer halben Stunde den Waldrand erreichen. Er ging schneller, obwohl seine Beine vor Müdigkeit schrien. Dieser Marsch war nicht nur für seine Pokémon anstrengend gewesen und er sehnte sich nach einem heißen Tee, den er hoffentlich bald in einem gemütlichem Bett trinken konnte. Der erste Schein des Mondes brach durch die Wolken und tauchte den Wald in ein gespenstisches Licht. Obwohl es erst am frühen Abend war, hatte Green das Gefühl, es sei mitten in der Nacht. In maximal einer Stunde würde es hier richtig finster sein. Und vielleicht wohnte dieses... Ding ja irgendwo im Vertania-Wald und könnte ihn entdecken. Plötzlich fürchtete er sich davor, dann noch durch das Unterholz zu stolpern. Ohne es zu bemerken begann er zu rennen. Er achtete nicht auf das Protestieren seiner Beine oder auf kleine Äste und Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen und verfluchte sich, dass er diese Gedanken erneut zugelassen hatte. Das Gefühl, den Wald so schnell wie möglich verlassen zu wollen hatte plötzlich und mit einer schrecklichen Wucht die Oberhand gewonnen. Er keuchte überrascht auf, als er plötzlich im Freien stand. Der Wald hatte sich so unerwartet gelichtet, dass Green es in den ersten paar Sekunden kaum realisierte. Doch nun, da keine Bäume mehr im Weg waren, leuchtete der Mond hell und klar und warf einen milden Schein auf die Stadt, die vor ihm lag. Bunte Lichter funkelten ihm einladend entgegen und er verharrte einen Moment, um den Anblick zu genießen. Ein lautes Knurren seines Magens riss ihn aus seinen Gedanken, worauf er sich verlegen den Bauch hielt. Etwas zu essen war jetzt wirklich nicht schlecht. Das Brot war so gut wie aufgebraucht und würde vermutlich nicht ausreichen, um seinen Hunger zu stillen. Bevor er sich auf den Weg machte um die letzten hundert Meter zur Stadt zu bewältigen, drehte er sich um und sah ein letztes mal zu den hohen Bäumen empor, die unschuldig aus der Erde ragten. „Auf Nimmerwiedersehen. Hier werde ich nie wieder einen Fuß hineinsetzen.“ - „Du bist also endlich in Marmoria-City angekommen.“ Professor Eichs Gesicht leuchtete ihm auf dem Bildschirm des Computers entgegen. Green war im Pokémon-Center und ließ gerade sein Team kurieren. Da dies immer einige Zeit dauerte, hatte er beschlossen einen Anruf im Labor seines Großvaters zu tätigen, um von seiner aktuellen Lage zu berichten. „Ja. Wirklich eine schöne Stadt, aber für heute bin ich zu müde, um sie noch zu erkunden. Morgen mache ich vielleicht mal einen Abstecher in das Museum. Ich wollte mir schon immer die Urzeit-Pokémon ansehen. Aber ich weiß noch nicht, ob ich das wirklich schaffe.“ „Das habe ich mir gedacht, dein Durst nach Wissen wird auch nie gestillt sein.“ Sie lachten beide, bevor sie für wenige Sekunden schwiegen. Jetzt, wo Green sitzen konnte, bemerkte er, wie sehr die Wanderung ihn ausgelaugt hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es gerade erst acht Uhr abends war. Normalerweise hätte er jetzt noch nicht einmal an Schlafen gedacht. „Du siehst blass aus, Green. Ist alles in Ordnung?“ Green wischte sich mit der rechten Hand über das Gesicht. „Ich denke schon. Hat.. hat Red sich vielleicht bei dir gemeldet?“ Professor Eich versuchte ein neutrales Gesicht zu machen und unbekümmert zu antworten. „Ja, hat er. Erst gestern hat er auf dem selben Platz gesessen wie du und mit mir gesprochen.“ „Er war gestern schon hier? Der ist ja wirklich verdammt schnell. Was hat er so erzählt?“ „Nicht mehr als genug. Sein Team ist wohl schon gewachsen, aber er hat mir nicht verraten, was er gefangen hat. Du kennst ihn ja, er war nie besonders redselig, außer bei dir.“ „Stimmt wohl. Dann kann ich wohl nicht davon ausgehen, dass er nach mir gefragt hat?“ Eich seufzte, bevor er ihn mitleidig durch die Kamera ansah. „Leider nein. Ich habe versucht ihn darauf anzusprechen, aber er hat komplett abgeblockt.“ Green versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch die Worte seines Großvaters verursachten einen seltsamen Stich in seiner Magengegend. Dieser schien es bemerkt zu haben und begann ein anderes Thema. „Wie sieht es bei dir so aus? Hast du schon etwas gefangen?“ Sein Enkel lächelte bei dem Gedanken an seine neuen Pokémon. „Ja. Ein Rattfratz und ein Taubsi. Bei dem Rattfratz hatte ich ein paar Probleme, aber das Taubsi ist mir einfach hinterher gelaufen und hat sich bereitwillig fangen lassen.“ Evoli erwähnte er bewusst nicht, das wäre zu verdächtig. Diese Pokémon tauchten normalerweise nicht in dieser Umgebung auf und Green wusste noch immer nicht, wie es damals in den Vertania-Wald gelangt war. „Das freut mich. Ich bin stolz auf dich. Aber diese beiden Pokémon können gegen den Arenaleiter von Marmoria-City leider nicht viel ausrichten.“ Darüber hatte er sich noch gar keine Gedanken gemacht. Um auf seiner Reise weiter zu kommen, musste er ja auch die Orden der Städte verdienen. Rocko, der Arenaleiter war ein Spezialist für Gesteins-Pokémon. Aber Green hatte ja Schiggy und sah dank des Typenvorteils keinen Grund Angst zu haben. „Das ist kein Problem, Schiggy wird bestimmt keine Schwierigkeiten haben. Es ist schon ein wenig stärker geworden.“ „Sehr gut. Du solltest dich jetzt ausruhen. Morgen geht es schon weiter und du musst fit sein. Isst du denn auch genug, mein Kind? Du hast jetzt keine kleine Schwester mehr in der Nähe, die darauf achten kann.“ Green verdrehte die Augen. Sein Opa machte sich immer zu viele Sorgen. „Mir geht es gut. Ich werde jetzt in die Pension der Stadt gehen und mir ein Zimmer nehmen. Und essen werde ich auch noch was bevor ich mich schlafen lege. Versprochen.“ Professor Eich schien mit der Antwort zufrieden zu sein. „Gut. Ich hoffe du meldest dich bald wieder. Du kannst hier jederzeit anrufen, irgendjemand ist immer da.“ „Werde ich. Kannst du Sarah bitte von mir grüßen und ihr sagen, dass es mir soweit ganz gut geht?“ „Natürlich. Bis bald.“ Die Verbindung wurde getrennt. Green atmete einmal tief durch, bevor er aufstand um seine Pokémon zu holen. Nachdem er sich selbst gestärkt hatte, saß er auf dem Hof der Pension, um seine Begleiter zu füttern. Taubsi hatte sich mühelos in die Gruppe integrieren können und teilte sich mit Evoli und Schiggy die Mahlzeit. Nur Rattfratz saß etwas außerhalb und würdigte die anderen keines Blickes. Green beobachtete es verstohlen beim Fressen. Er hatte Mühe gehabt, es überhaupt aus dem Pokéball zu holen. Wahrscheinlich hatte dann doch der Hunger gesiegt. Er fasste sich ein Herz, ging zu ihm herüber und setzte sich auf den Boden. Rattfratz hatte gerade sein Abendessen beendet. „Ich hoffe, du bist satt geworden.“ Die Ohren des Pokémons zuckten und es sah seinen Trainer mit einem misstrauischem Blick an. „Wenn du noch Hunger hast, ich kann dir gern noch etwas geben.“ Doch, falls Green irgendeine Reaktion erwartet hatte, so blieb diese aus. Es sah ihm nur weiter unentwegt in die Augen. Erst als er vorsichtig seine Hand ausstreckte, um es zu streicheln, wich es ruckartig zurück. Sein Fell sträubte sich und die Hauer blitzten warnend hervor. Nur eine weitere Bewegung und es würde ihn beißen, da war Green sich sicher. Er konnte ein resigniertes Seufzen nicht unterdrücken. „Okay. Du willst bestimmt deine Ruhe haben.“ Damit ließ er es wieder im Pokéball verschwinden. Die anderen Pokémon hatten das Geschehen stumm beobachtet und sahen ihn mitleidig an. Green musste bei diesen Anblick lächeln. „Macht euch keine Sorgen. Irgendwann wird es sich an uns gewöhnen, da bin ich mir ganz sicher. Aber jetzt sollten wir schlafen gehen. Ich habe morgen eine Menge mit euch vor. Besonders mit dir, Schiggy.“ Schiggy sah ihn nur fragend an. „Ich hab mir gedacht, dass wir morgen mal die Arena hier besuchen. Dafür brauche ich dich. Ich kann Rocko nur mit deiner Hilfe besiegen.“ Das schien es zu verstehen und es schenkte Green ein mutiges Lächeln. „Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Dann lasst uns jetzt reingehen.“ Seine Pokémon gehorchten und begaben sich freiwillig in ihre Pokébälle. Nur Evoli blieb draußen und sprang ihm auf die Schulter, als er leise in die Pension zurückkehrte. In seinem Zimmer angekommen rollte es sich sofort auf der Decke zusammen und nur wenige Sekunden später war es in einen erholsamen Schlaf gefallen. Green setzte sich auf das Bett und dachte nach, während er ihm liebevoll über das Fell strich. Eigentlich konnte er zufrieden mit dem Tag sein. Er hatte Marmoria-City erreicht und gleich zwei Pokémon gefangen. Doch obwohl das Essen gut war, hatte er das Gefühl, nicht satt zu sein. Das hatte nichts mit Hunger zu tun – er war traurig, dass Red nicht an seiner Seite war. Scheinbar schien es seinem wortkargen Freund nichts auszumachen und die Tatsache, dass er nicht einmal nach Green gefragt hatte, machte diese Umstände nicht besser. 7 - Ein steinharter Gegner -------------------------- Freude durchströmte Greens Körper, als Schiggy plötzlich zu leuchten begann und der junge Trainer begriff, was gerade mit seinem Pokemon geschah. Alle Zuschauer in der Arena – und selbst ihre Pokémon – hielten inne, um das Schauspiel zu beobachten. Schiggy hatte gerade zum Sprung angesetzt um einen Wasserstrahl auf seinen Gegner abzufeuern, als es plötzlich passierte. Sein ausgestoßener Schrei verharrte in der Luft, doch er klang nicht ab. Im Gegenteil, die Kraft seiner Stimme verstärkte sich sogar, während aus dem Inneren des kleinen Körpers ein helles Licht hervortrat und ihn langsam einhüllte. Ein Raunen ging durch das Publikum. Nicht jeder Zuschauer hatte schon einmal das Glück gehabt, so etwas mit anzusehen und viele mussten sich mit einer Hand die Augen abschirmen, um die silbernen Funken erkennen zu können, die nun gemächlich um den sich verändernden Körper tanzten. Schiggys Schrei wich in Verwunderung und für wenige Sekunden schwebte es mitten in der Luft. In jedem seiner Forschungsbücher stand etwas über die Entwicklung eines Pokémon, manchmal ausführlicher, manchmal nur in ein paar Zeilen erläutert. Er kannte den Ablauf und in den meisten Exemplaren wurde über „Ein wunderbares, aber unerklärliches Funkeln“ berichtet. Er hatte diese Bezeichnung für übertrieben gehalten, sich beim Lesen gedacht, dass es doch so spaktakulär nicht sein würde, doch jetzt wusste er, was alle daran fanden. Es war wunderschön und dieser Moment, obwohl er nur wenige Augenblicke dauerte, schien nicht enden zu wollen. Doch dann begann das Licht zu erlöschen und sein neues Pokémon landete leichtfüßig auf dem Boden. Schiggy war verschwunden und hatte seiner ersten Entwicklungsstufe Platz gemacht. Seine einst hellblaue Haut war nun dunkler, Schweif und Ohren hatten die Form von Wellen im Meer angenommen. Green konnte lange Krallen und spitze Zähne sehen, die vorher nicht dagewesen waren. Es war ein ganzes Stück größer als zuvor und dennoch war es unverkennbar sein Gefährte, den er erst vor wenigen Tagen von seinem Großvater bekommen hatte. Der Pokédex reagierte. “Schillok – Ein Kröten-Pokémon. Die Weiterentwicklung des Schiggy. Seinem langen, fellbedeckten Schweif wird nachgesagt, dass er Glück bringt.“ Außerdem wurden ihm Größe und Gewicht seines Pokémon angezeigt. Green stellte mit Erstaunen fest, dass es Dank der Entwicklung einen halben Meter größer und fast doppelt so schwer war. Schillok drehte sich verwundert um, noch etwas benebelt von seiner plötzlichen Metamorphose. Es verstand nicht, was soeben geschehen war, aber Green konnte deutlich sehen, wie es seine neue Kraft annahm und von ihr durchströmt wurde. Seine Pokémon, die er vor dem Kampf aus den Pokébällen gelassen hatte, starrten es mit großer Faszinierung an. Selbst Rattfratz, das den Kampf eher mit mäßiger Beachtung verfolgt hatte, wurde nun aufmerksam. Es spitzte die Ohren und wandte den Kopf abwechselnd von Schillok zu Green. Schließlich trafen sich ihre Blicke und Green konnte in seinen Augen etwas erkennen, was er die ganzen Tage, seit er es gefangen hatte, vermisste: Ehrfurcht. Green ging das Herz auf. Zum ersten Mal sah es ihn ohne Verachtung an. Rocko trat applaudierend hervor. Den ganzen Kampf über hatte er die Oberhand behalten und nun schien er von den Geschehnissen überrascht worden zu sein, denn er stieß ein beeindrucktes Pfeifen aus. „Wunderschön, nicht wahr? Ich habe schon so viele Entwicklungen gesehen, aber sie ziehen mich jedes Mal aufs neue in ihren Bann. Ich bin ziemlich erstaunt, dass dein Pokémon dir bereits so sehr vertraut. Die meisten Trainer sind noch lange nicht so weit, wenn sie gegen mich antreten. Du scheinst anders zu sein...“ Aufmerksam sah er zu Schillok, das noch immer etwas durcheinander in der Mitte der Arena stand und seinen Blick mit plötzlicher Entschlossenheit erneut auf seinen Gegner – Onix – richtete. Die beiden Kontrahenten verharrten und warteten auf einen Befehl ihrer Trainer, doch Rocko war auf einmal sehr gesprächig. „Sehr anders sogar. Du bist entschlossen und selbstbewusst. Vor allem weißt du, was du tust. Dir war klar, dass dieser Kampf nicht einfach werden würde und dass du vielleicht sogar verlieren wirst, obwohl dein Pokémon im Vorteil ist.“ Green stimmte ihm im Stillen zu. Am Abend zuvor war seine Zuversicht noch stärker gewesen, doch diese war bald verflogen, als der Kampf gegen Rocko begonnen hatte. Sein erstes Pokémon, ein Kleinstein, diente nur als Auftakt um ihn zu analysieren. Ziemlich schnell hatte das Gesicht des Arenaleiters einen siegessicheren Ausdruck angenommen, obwohl es keine zwei Runden dauerte, bis sein Pokémon von Schiggy geschlagen wurde. Doch dann kam Onix und Green wurde schnell klar, dass er noch lange nicht gewonnen hatte. Onix mochte auf den ersten Blick durchschaubar wirken, mit seiner wuchtigen Erscheinung. Sein schlangenförmiger Körper bestand fast ausschließlich aus groben, massiven Gestein und trotzdem hatten sich seine Bewegungen als äußerst geschmeidig und flexibel erwiesen. Wahrscheinlich würde eine simple Wasser-Attacke ausreichen um es zu besiegen, doch Schiggy konnte in der vergangenen halben Stunde keinen einzigen Treffer landen. Stattdessen war Green gezwungen mit anzusehen, wie sein Gefährte immer und immer wieder einstecken musste. Onix beherrschte eine Attacke namens Schaufler und konnte sich mit einer gewaltigen Kraft in die Erde bohren und tiefe, unterirdische Tunnel graben, nur um dann plötzlich mit einen lauten Krachen irgendwo wieder aufzutauchen – zufällig immer genau dort, wo Schiggy gerade stand. Ausweichmanöver waren schier unmöglich. Green hatte versucht Onix Position über die scharrenden Geräusche des Bodens herauszufinden, doch sie schienen aus allen Richtungen zu kommen und ließen sich niemals einordnen. Einige Male hatte er gar nichts gehört, dann – plötzlich – wurde Schiggy in die Luft geschleudert, als es sich mit rasender Geschwindigkeit wieder hervorkämpfte. Jeder Treffer saß. Es war zum Verzweifeln. Momentan herrschte eine Ruhe, die beinahe friedlich wirkte. Die Pokémon standen sich gegenüber und taxierten einander, bereit bei einem Befehl erneut anzugreifen. Die Arena hatte mittlerweile das Aussehen eines Schlachtfeldes angenommen, doch Rocko war davon keineswegs beeindruckt oder verärgert. Green wollte sich lieber nicht ausmalen, wie lang und teuer der Wiederaufbau werden würde. Der Arenaleiter hatte die Arme verschränkt, doch das Lächeln, das er ihm zuwarf, war freundlich und ermutigend. „Weißt du Green, obwohl ich wirklich sehr viel von dir halte, muss ich zugeben, dass ich dich anfangs unterschätzt habe. In meinen Augen warst du zwar talentiert, aber mir schien, du hättest dein wahres Potenzial noch nicht erkannt. Tja. Da habe ich mich wohl geirrt. Jetzt...“ Sein Blick schweifte erneut zu Schillok und Green konnte Anerkennung in seinen Augen sehen. „... könnte dieser Kampf noch richtig interessant werden.“ Green wollte etwas erwidern, aber er wusste nicht, was. Er sah dem Arenaleiter in die Augen und ballte seine rechte Hand zur Faust. Auch wenn er ihn für seine Worte schätzte - sein Lächeln, und da konnte es noch so freundlich sein, provozierte ihn. Er rief sich zur Vernunft. Ein überstürztes Handeln könnte eine Niederlage bedeuten. Und Green war nicht in die Arena gekommen, um zu verlieren. Eine einzige Frage raste seit Minuten durch seinen Kopf: Wie konnte er Onix besiegen? Nur ein Treffer würde reichen, doch er wusste, dass die riesige Steinnatter bei einen erneuten Befehl sofort wieder unter der Erde verschwinden würde. Dort war es unerreichbar und vor Schilloks Attacken geschützt. Obwohl... Green riss die Augen auf, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss: Es könnte aber auch in der Falle sitzen. Triumphierend sah er Rocko über das Kampffeld hinweg in die Augen. Es war nur eine kleine Chance, aber wahrscheinlich die einzige, die er noch hatte. Der Ältere erwiderte seinen Blick mit entschlossener Gelassenheit. „Wie ich sehe kann es jetzt weitergehen. Sehr schön. Unser Gespräch wurde mir langsam ein wenig zu einseitig.“ „Kannst du mir und meinem Schillok zwei Minuten geben? Ich würde gern etwas besprechen.“ Falls der Arenaleiter sich fragte, was Green vorhaben könnte, so ließ er sich nichts anmerken und drückte seine Zustimmung nur über ein kaum merkliches Nicken aus. Green winkte sein Pokémon zu sich heran. „Wie geht’s dir, mein Freund? Es tut mir leid, dass du vorhin so übel einstecken musstest. Aber ich bin schon jetzt unglaublich stolz auf dich. Du hast immer durchgehalten und wurdest dafür belohnt. Du bist jetzt viel stärker. Und das beste ist: Ich habe einen Plan, wie wir Onix besiegen können!“ Er begann ihm in eines der Ohren zu flüstern und die restlichen Worte konnte niemand, außer Schillok, verstehen. „Kann es losgehen?“ Green hatte sich erhoben und schaute ermutigend auf seinen Freund hinab, der dessen Blick mit leuchtenden Augen erwiderte. Schillok nickte ernst und kehrte daraufhin zur Mitte des Kampffeldes zurück, wo es sich in Position brachte und auf den nächsten Befehl wartete. „Wir sind soweit, Rocko!“ „Sehr gut. Du weißt ja, was dir nun bevorsteht. Ich bin gespannt auf deinen Plan, falls du einen haben solltest. Onix, los! Du weißt, was zu tun ist.“ Das gegnerische Pokémon gehorchte sofort und erhob seinen schweren Körper mit erstaunlicher Eleganz in die Luft. Keine zwei Sekunden später war es erneut unter der Erde verschwunden. Einen kurzen Moment konnte man noch das Schürfen von Erde und Gestein hören, dann herrschte Stille. Darauf hatte Green nur gewartet. Er sah Schillok noch ein letztes Mal fest in die Augen, dann riss er den Arm hoch und gab den Befehl. „Schillok, setze Aquaknarre ein!“ „Wozu soll das gut sein, Green? Onix ist unter der Erde. Du kannst es nicht erreichen!“ Rocko hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sein Kopfschütteln verriet Green, dass der Arenaleiter von dem Befehl irritiert war. „Das wirst du schon sehen! Ich habe tatsächlich einen Plan. Dein Onix kann sich auf was gefasst machen!“ Schillok unterstrich seine Worte, indem es sein Maul aufriss und einen Wasserstrahl abfeuerte, jedoch nicht wahllos in die Luft – es lenkte ihn direkt in die Grube, in der Onix kurz zuvor verschwunden war. Rocko sog scharf die Luft ein. „Hast du damit gerechnet, Rocko? Dein Pokémon hat sich schon so oft in die Erde gegraben, ich bin sicher, dass alle Tunnel mittlerweile miteinander verbunden sind. Das Wasser wird sich langsam aber sicher überall ausbreiten. Irgendwann muss Onix wieder zurück an die Oberfläche!“ Der Arenaleiter nahm seine Worte zähneknirschend hin und wartete ab. Green tat es ihm gleich und hoffte, dass Schillok bis zum entscheidenden Moment nicht die Puste ausgehen würde. Wenige Minuten tat sich nichts, doch dann konnte man neben den Plätschern des Wassers noch ein anderes Geräusch vernehmen: ein langsam näher kommendes Graben und Scharren. Onix bewegte sich. Die Zuschauer hielten den Atem an. „Schillok, das reicht!“ Er wollte die Kraftreserven seines Pokémon nicht noch länger beanspruchen. Zwar waren nicht alle Tunnel geflutet, doch Green hoffte, dass Onix zumindest einen davon passiert hatte. Die Erde begann zu beben, als das Rumoren näher kam. Green war angespannt. Er wusste, dass ihm nur noch wenige Sekunden blieben, bis Onix erneut angriff. Rocko schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn plötzlich gab er einen Befehl. „Onix, los, Slam!“ Der Boden explodierte. Direkt unter Schillok brach es aus der Erde hervor, doch Green stellte zufrieden fest, dass der stahlharte Körper klamm und die Bewegungen der Steinschlange längst nicht mehr so geschmeidig, wie noch vor wenigen Minuten waren. Das Wasser hatte seine Arbeit getan. Es war geschwächt. Sein Plan war aufgegangen. Die Attacke verfehlte sein Pokémon. Schillok konnte sich Dank seiner neuen Kraft mit einen reflexartigen Sprung nach hinten retten und hatte nun freie Bahn. „Noch einmal Aquaknarre!“ Ein Treffer würde reichen, diese Tatsache war allen Personen in der Arena bewusst. In dem verzweifelten Versuch sein Pokémon zu retten rief Rocko noch einen Befehl, doch es war zu spät. Nur ein Treffer würde reichen. Schillok traf. Der schwere Körper ging mit einen gewaltigen Krachen zu Boden. Ein erneutes Beben erschütterte die Arena und Green sowohl Rocko, einschließlich aller Zuschauer konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten. Green landete schmerzhaft auf dem Hosenboden, ließ sich komplett auf die Erde fallen und streckte die Arme von sich. Sein Atem ging schwer. Er war erschöpft und gleichzeitig hellwach. Hatte er gewonnen? Die Erschütterung klang aus. Staub rieselte von der Decke und Onix regte sich nicht mehr. Rocko war bereits auf den Beinen und holte es wortlos in seinen Pokéball zurück. Langsam kam Bewegung in die Menge. Einige Leute halfen sich gegenseitig beim Aufstehen und blickten dann, noch etwas desorientiert auf das Kampffeld. Green wollte sich gerade aufrappeln, als sein Körper durch einen gewaltigen Ruck wieder auf den Boden befördert wurde. Schillok hatte sich auf ihn geworfen und umarmte ihn, anscheinend hocherfreut. Er lachte auf und legte seine Arme auf den plötzlich ziemlich schwergewichtigen Körper. „Das heißt dann wohl, dass wir es geschafft haben. Du warst einsame Spitze, mein Freund!“ Inzwischen hatte sich auch sein restliches Team um ihn versammelt. Nur Rattfratz war ihnen nicht gefolgt. Es saß noch immer auf den selben Fleck, doch es sah Green mit weit aufgerissenen Augen an. Er nickte ihm zu, worauf es mit einem Neigen seines Kopfes antwortete. Was es wohl gerade dachte? Plötzlich stand Rocko neben ihn und bot seine Hand zum Aufstehen an. „Wie schnell das Blatt sich wenden kann. Ich bin beeindruckt. Das war ein großartiger Kampf!“ Green klopfte sich den Schmutz von den Kleidern und konnte sich ein breites Grinsen nicht mehr verkneifen. „Vielen Dank. Du warst echt ein schwerer Gegner!“ Der Arenaleiter kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Das stimmt. Es tut mir leid, dass ich deinem Schillok so hart zugesetzt habe, aber es musste sein. Ich bin ein harter Brocken, weil genau das meine Aufgabe ist. Ich muss den Trainern und ihren Teams zeigen, dass Zusammenhalt viel wichtiger und stärker ist, als irgendwelche Elementklassen. Dass man eine Strategie braucht und nicht nur mit roher Gewalt gewinnen kann. Du hast diese Herausforderung mit Bravour gemeistert! Deswegen hast du dir diesen Orden mehr als redlich verdient.“ Er hielt ihm seine offene Hand hin. Green blickte fasziniert auf das stahlgraue Abzeichen, dessen acht Ecken im Licht der Arena schimmerten. Vorsichtig nahm er es entgegen, um es in einer speziell angefertigten Box für seine Orden zu verstauen. „Da deine Pokémon viel Ausdauer bewiesen haben, werden sie sich durch diesen Orden immer an unseren Kampf erinnern. Und das hat sie heute stärker gemacht. Aber das ist noch nicht alles. Jeder Sieger bekommt ein Preisgeld in Höhe von hunderttausend Yen. Das habe ich dir nicht verraten, damit ich sehen konnte, aus welchem Grund du kämpfst. Reichtum scheint keiner zu sein.“ Verwundert griff Green nach den Umschlag. Ein Preisgeld? Damit hatte er tatsächlich nicht gerechnet. Ihm blieb keine Zeit um sich dafür zu bedanken, denn Rocko packte sein Handgelenk und riss seinen Arm nach oben. „Der Sieger steht fest! Applaus für diesen starken Trainer!“ Beifall brandete auf und durchflutete seinen Körper mit einer Euphorie, die ihn beinahe schweben ließ. Ihm stieg die Röte ins Gesicht und plötzlich war er voller Tatendrang. Am liebsten wäre er sofort zur nächsten Route aufgebrochen. Aber Schillok hatte sich eine Pause verdient und die wollte er ihm gönnen. Ohne seinen Freund hätte er es nicht soweit geschafft. „Danke, Rocko.“ „Ich habe zu danken. Wie wäre es mit einer Kleinigkeit zu Essen? Ich hab jetzt gewaltigen Hunger. Deine Pokémon gehen natürlich auch nicht leer aus.“ Greens Magen beantwortete seine Frage mit einem lauten Rumoren. Eine knappe Stunde später saßen sie in Rockos kleinen Zuhause. Das urige Haus war erfüllt mit dem Geruch eines herzhaften Mittagessens. Eine kräftige Gemüsesuppe und frisch gebackenes, fluffiges Brot. Green stillte zufrieden seinen Hunger und auch der Arenaleiter griff beherzt zu. Das Essen schmeckte wunderbar, seine Kochkünste waren nicht zu verachten. Sein Team hatte sich neben ihnen auf dem Boden versammelt und teilten sich, wie am Abend zuvor, ihre Mahlzeit. Jedoch mit einen kleinen Unterschied: Auch Rattfratz hatte sich zu ihnen gesellt. Es war noch sehr schüchtern, doch die anderen Pokémon nahmen es wie selbstverständlich in der Gruppe auf. Immer wieder warf es verstohlene Blicke in Richtung seines Trainers, aber diese Blicke waren nicht länger verachtend und scheu, sondern voller Neugierde. Green, der alles aus dem Augenwinkel beobachtete, ließ schließlich seinen Löffel in die leere Schüssel fallen. „Vielen Dank für die Einladung. Das habe ich wirklich gebraucht.“ „Nichts zu danken, du hast es dir verdient. Ich lade alle Herausforderer danach zu mir ein, egal ob nach einem Sieg oder einer Niederlage. Nach einem guten Essen sieht die Welt gleich wieder anders aus.“ „Das ist sehr nett von dir. Ich weiß das sehr zu schätzen und meine Pokémon auch. Trotzdem habe ich Angst, dass ich dir deinen ganzen Kühlschrank leer esse, wenn ich nicht bald aufhöre.“ Rocko lachte auf. „Keine Sorge, auf solche Situationen bin ich vorbereitet. Schlimmer, als der letzte Trainer kannst du gar nicht sein. Nicht nur er hat sich den Bauch vollgeschlagen, selbst sein Pikachu konnte gar nicht mehr aufhören.“ Green, der gerade an seinem Tee nippen wollte, hätte sich beinahe verschluckt. Ihm schwante schon, von wem hier die Rede war und plötzlich wurde ihm heiß. Red hatte also gegen Rocko gekämpft. Ob er gewonnen hatte? Diese Frage brannte ihm auf der Zunge, doch bevor er sie stellen konnte, gab Rocko bereits die Antwort. „Er war wirklich stark. Sein Team ist sehr gut trainiert. Nicht einmal mein Onix hatte eine richtige Chance.“ Das war der perfekte Moment, um herauszufinden, was er bereits gefangen hatte. „Welche Pokémon hatte er denn so?“ Green versuchte die Frage so beiläufig wie möglich zu stellen, obwoh ihm durch die plötzliche Aufregung der Schweiß ausbrach. „Außer Pikachu noch ein Glumanda, ein Smettbo und ein Menki. Letzteres hat den Kampf für ihn gewonnen. Auch wenn Gesteins-Pokémon einen stahlharten Körper haben, gegen Kampf-Attacken haben sie einfach keine Chance. Obwohl es so klein ist, hat es mein Onix immer wieder zu Boden gerissen. Irgendwann konnte es nicht mehr aufstehen.“ Greens Kehle fühlte sich plötzlich sehr trocken an, wogegen auch ein Schluck scharfer Ingwertee nichts ausrichten konnte. Er war erstaunt, dass er bereits ein Smettbo hatte. Sin Pokémon hatte sich also schon ganze zwei Mal entwickelt. Seine Euphorie über den Sieg über Rocko war schlagartig verflogen. „Allerdings...“ Der Arenaleiter nahm ebenfalls einen Schluck Tee und schien kurz in Gedanken versunken zu sein. „Allerdings ist er rein emotional noch nicht so weit wie du. Seine Pokémon gehorchten ihm zwar, jedoch schien ihn außer Pikachu keines so recht zu verstehen. Besonders Glumanda könnte ihn eines Tages Probleme bereiten, wenn es nicht lernt, ihm zu vertrauen.“ In Greens Magengegend machte sich ein seltsames Gefühl bemerkbar, das er anfangs nicht einordnen konnte. Bei weiterer Überlegung stellte er fest, dass es sich dabei um Schadenfreude handelte, die sogleich von Bestürzung verdrängt wurde. Er schüttelte den Kopf, um das Gefühl zu vertreiben. Zwar war Red momentan nicht gut auf ihn zu sprechen, das gab ihm aber längst nicht den Grund, sich über seine Fehler zu freuen. Red war ihm zu viel wert, um ihn als Feind zu sehen. Er wollte sich mit ihm vertragen und da waren solche Gefühle fehl am Platz. „Alles okay bei dir? Du siehst auf einmal etwas blass aus.“ Green versuchte die Frage mit einem schlecht gelungenen Grinsen auszumerzen. Rocko sah ihn nur wachsam in die Augen. Anscheinend hatte er ihn nicht überzeugt, jedoch ließ sich der Ältere nichts anmerken, sondern Griff mit einer schnellen Bewegung in seine Jackentasche. „Hier, für dich. Das hatte ich vorhin vergessen.“ Er hielt ihm ein seltsam aussehendes Item entgegen. Es hatte in etwa das Aussehen einer gewöhnlichen CD, nur dass es viel kleiner war. Green nahm es verwirrt entgegen und drehte es zwischen seinen Fingern. „Was ist das?“ „Das ist eine sogenannte Technische Maschine, abgekürzt einfach nur TM. Eine Technische Maschine enthält eine Attacke, die du deinem Pokémon beibringen kannst. Allerdings funktioniert diese TM nur ein einziges Mal. Denke also gut darüber nach, welchem Pokémon du sie beibringst.“ Er besah sich der TM genauer. Auf der glatten Oberfläche stand ein winziges Wort geschrieben: „Geduld“. Er las das Wort laut vor und Rocko nickte. „Die Attacke, die dein Pokémon mit dieser TM erlernen kann, ist, wie du schon richtig gesagt hast, Geduld. Ich hätte dir diese Attacke gern einmal demonstriert, aber leider hatte ich keine Möglichkeit dazu.“ „Was macht diese Attacke?“ „Sobald dein Pokémon sie ausführt, muss es zwei Runden aussetzten und kann weder angreifen, noch anderen Attacken ausweichen. Das klingt im ersten Moment nachteilhaft, aber nach der zweiten Runde verursacht sie doppelt so viel Schaden, wie dein Pokémon währenddessen eingesteckt hat. Man muss vielleicht ein bisschen warten, aber das Ergebnis hat es in sich. Damit habe ich schon viele Kämpfe gewonnen.“ Greens Augen leuchteten. Das klang absolut stark, doch er war sich nicht sicher, ob er diese Attacke jemals einsetzen würde. Zu groß war das Risiko, dass einer seiner Gefährten Schaden nehmen würde. „Wow, vielen Dank! Ich werde sie bestimmt gut gebrauchen können.“ Rocko lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sagte nichts weiter dazu. Ihr Mahl war beendet und beide genossen für wenige Minuten das erfüllende Gefühl der Träge und Zufriedenheit. Seine Pokémon ruhten ebenfalls, Taubsi und Evoli dösten bereits wohlig auf dem warmen Boden. Schließlich streckte sich Green und stand auf. Gleichzeitig öffneten Evoli und Taubsi verschlafen ihre Augen. „Ich glaube, es ist an der Zeit aufzubrechen. Ich will dich auch nicht länger belästigen, du hast bestimmt noch eine Menge mit dem Wiederaufbau deiner Arena zu tun.“ Rocko erhob sich ebenfalls. „So schlimm ist das nicht. Die Tunnel, die Onix gegraben hat, werden einfach mit Sand zugeschüttet. Das ist viel billiger und schneller geschafft, als den kompletten Boden erneuern zu lassen.“ Green nickte verstehend. „Danke für alles. Ich komme bestimmt irgendwann noch einmal auf eine Suppe vorbei.“ „Das würde mich sehr freuen. Ich bin gespannt, wie du und dein Team euch noch entwickeln werdet.“ „Da bist du nicht der Einzige. Aber ich bin sehr zuversichtlich. Ich habe die besten Freunde der Welt an meiner Seite.“ Während er diese Worte aussprach, traf sich sein Blick erneut mit dem von Rattfratz. Das Pokémon war während des Essens unauffällig und noch ein wenig schüchtern näher an seine Beine gerückt. Obwohl Green spürte, dass das Eis zwischen ihnen langsam brach, konnte er seine Überraschung nicht verbergen. Er beugte sich zu ihm hinunter und sah ihm freundlich in die Augen. „Ich hoffe, das Essen hat dir geschmeckt. Jetzt wird es Zeit aufzubrechen. Kommst du mit?“ Das lilane Nagetier beantwortete seine Frage mit einen sanften Nicken, bevor es die Augen schloss und den Kopf in Greens Richtung neigte. Dieser streckte daraufhin zögernd seine Hand aus und Rattfratz ließ es zu, von ihm gestreichelt zu werden, die Augen noch immer geschlossen. Green ging das Herz auf. Sein restliches Team beobachtete mucksmäuschenstill die Szene. „Wow.“ Er begriff, dass er an diesem Tag noch viel mehr gewonnen hatte als einen Orden oder ein Preisgeld. Sein scheues Pokémon begann ihn als einen Partner und Gefährten zu sehen und nicht mehr als Gegner. Die größte Hürde war überwunden. Dieses Mal sträubte es sich nicht, als er seinen Pokéball hervorzog und es einschloss. Green ging in seinem Inneren einen wortlosen Pakt ein: Er würde alles dafür tun, dass es seinen Pokémon immer gut ging. Er würde der beste Trainer werden, den die Welt je gesehen hat und nebenbei seinen Pokédex vervollständigen und sich den Traum, eines Tages Professor zu werden, erfüllen. Auch die anderen Pokémon wurden in ihre Raststätte geholt. Nur Evoli blieb draußen und sprang ihm auf die Schulter. Treu schmiegte sich sein warmer Körper an seinen Hals. Rocko wartete bereits mit seinem Gepäck an der Tür. Als er wieder vollständig mit seinen sieben Sachen bepackt war, reichten sie sich die Hände. „Green, ich wünsche dir viel Erfolg auf deinen Weg. Du kannst mich jederzeit Besuchen kommen, falls du mal eine Pause brauchst.“ „Vielen Dank. Es war mir eine Ehre, dich kennen zu lernen.“ „Das kann ich nur zurückgeben. Bitte tu mir einen Gefallen und behandle dein Team weiterhin so gut. Solche Trainer gibt es leider nur noch sehr selten und sie sollten uns erhalten bleiben.“ „Den Gefallen tue ich dir gern. Dir viel Erfolg weiterhin als Arenaleiter.“ Damit verabschiedeten sie sich. Er winkte noch ein letztes Mal, bevor er sich auf den Weg zur nächsten Route machte. Wie er bereits wusste, warteten dort viele neue Trainer auf ihn, die er herausfordern konnte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es war ein heißer Nachmittag. Sobald er Azuria-City erreicht hatte, würde er seinen Großvater anrufen und auch mit seiner Schwester sprechen. Bei den Gedanken daran fühlte er ein angenehm warmes Gefühl in der Magengegend und beschleunigte seinen Schritt. Das erste Mal seit Tagen vermisste er nicht die Gesellschaft von Red. Ja. Er würde sein Versprechen halten. Er würde nicht zulassen, ein schlechter Trainer zu werden. Er würde so bleiben, wie er war. 8 - Ein rotes "R" auf schwarzem Grund ------------------------------------- Wind peitschte ihm ins Gesicht, welches er verzweifelt versuchte vor dem Regen zu schützen, der in jeder Böe mitschwang und seinen Körper unkontrolliert zittern ließ. Sein Atem ging stoßweise und verwandelte sich an der kalten Luft in neblige Schwaden, die sogleich von der gnadenlosen Kraft des Wetters zerrissen wurden. Nur ein kurzer Moment und sie waren verschwunden, unsichtbar. Sein Regenponcho hatte ihm den Dienst schon vor langer Zeit versagt und hing, mittlerweile völlig zerrissen und eher hinderlich, als nützlich, an seinem Körper herab. Dennoch zog er ihn, in der verzweifelten Hoffnung, noch irgendeinen Schutz vor der Kälte zu bekommen, nicht aus. Sein Gepäck drückte mit einer tonnenschweren Last auf seinen Rücken und zwang ihn mit jedem zweiten, von der Kälte gelähmten Schritt, in die Knie. Die kalte Luft brannte schmerzhaft in seinen Lungen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in seinem Leben so gefroren zu haben. Hätte er gewusst, was ihn erwartete, er wäre nicht so töricht gewesen, seine Reise schon bei Anbruch des Abends fortzusetzen. Der Weg zum Mondberg hatte ihn und seine Pokémon doch schon genug geschwächt, weswegen sie wohlbehütet in ihren Pokébällen, irgendwo in den Tiefen seines Rucksacks, in Sicherheit waren. Alle, bis auf Eines – Taubsi, das er nicht hatte überreden können, in die Raststätte einzukehren. Es war irgendwo vor ihm – musste es einfach sein – und versuchte in der Dunkelheit einen geeigneten Weg oder sogar eine Abkürzung zu erspähen. Auch wenn Green Stolz über den Mut seines Pokémon empfand, so wurde dieser überlagert von der schleichenden Panik, die sich in seiner Brust ausgebreitet hatte, als sein Gefährte voraus geflogen und schon seit geraumer Zeit nicht wieder zurückgekehrt war. Der Wind hatte seine Rufe hämisch fortgerissen und seitdem taumelte er, kaum etwas sehend, über die Klippen und Schluchten des Mondberges, der unerfahrene Trainer bei Tageslicht mit seiner freundlichen Erscheinung täuschte. Green erfuhr dies soeben am eigenen Leib – diese gnadenlose Verzweiflung, die Erschöpfung und die Frustration darüber, dass er sich überschätzt und getäuscht hatte. Doch die Angst, dass Taubsi ihn nicht wiederfinden könnte, überschattete seine restlichen Gefühle und trieb ihn immer weiter voran. Die Suche nach einem möglichen Unterschlupf für die Nacht – vielleicht eine Höhle oder eine großzügige Nische, die ihn und seine Pokémon einigermaßen vor dem Unwetter schützen konnte – hatte er schnell aufgegeben. Die Oberfläche des Mondberges war flach und zerfurcht. Er war dem Sturm gnadenlos ausgeliefert. Unschuldig blitzte der Mond zwischen den Wolken hervor und schickte sanfte Lichtstrahlen zu ihm hinab, als wollte er ihn aufmuntern und ermutigen, weiter zu laufen und nicht aufzugeben. Green empfand es jedoch nur als schwachen Trost, da der klägliche Schein nicht ausreichte, um die heimtückischen Stolperfallen und Krater vollständig zu beleuchten. Wie zur Bestätigung wurde sein Körper plötzlich nach unten gerissen, als der Boden unter seinem rechten Fuß nachgab und Teile des Berges in die Tiefe stürzten. Green schaffte es, sich gerade noch rechtzeitig an einen der nahestehenden Felsen festzuklammern und so den Halt zu bewahren. Ein Schrei entfuhr ihm und er musste sich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht in den Abgrund zu sehen, der nach ihm rief. Ein Schwarm wilder Zubat stob aufgescheucht aus irgendeinem Winkel. Sein rechtes Bein baumelte hilflos in der Luft und panisch tastete er nach festem Untergrund, während er sich strampelnd wieder nach oben zog. Nach wenigen Sekunden der Angst fand sein Fuß eine Stufe im Abhang, mit der er sich einigermaßen vernünftig abstützen und seinen Körper wieder in Sicherheit manövrieren konnte. Schwer atmend kam er zum Liegen. Sein Puls raste. Für einen kurzen Moment war sein Kopf wie leer gefegt, dann setzte der Schock darüber ein, was alles hätte passieren können. Ein leises Wimmern entfuhr ihm und er schlag die Arme um seinen Körper. „Verdammt! Verdammter Mist!“ Wenige Sekunden saß er einfach nur so da und versuchte seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, doch schließlich konnte er sich einigermaßen beruhigen. Er musste weiter. Es nützte ja nichts, hier ewig sitzen zu bleiben und den Kopf in den Sand zu stecken. Außerdem war irgendwo dort draußen sein Pokémon. Um nichts auf der Welt würde er einen seiner Gefährten zurücklassen. Schwermütig holte er Schwung, um aufzustehen. Der Regen hatte so plötzlich abgenommen, wie er vor einer knappen Stunde über ihn hereingebrochen war, jedoch büßte der Wind, zur Missgunst von Green, nichts von seiner Heftigkeit ein. Zitternd schlang er sich seinen zerfetzten Regenponcho fester um den Körper, bevor er sich wieder in die Richtung wandte, in die er vor seinem Sturz gelaufen war. „Taubsi?“ Ein Versuch war es immerhin wert. Doch das Tosen des Windes ließ nicht einmal zu, dass er selbst seine eigene Stimme hörte. Er setzte sich in Bewegung, den Blick jetzt immer zum Boden gerichtet, um nicht noch einmal zu stürzen. So lief er weiter, kletterte über Geröll, übersprang schmale Klüften, kratzte und schürfte sich seine Hände auf und holte sich blaue Flecken an den Knien, während der Mond seine Wanderung beendete und langsam am Horizont verschwand. Mittlerweile erreichten ihn Schmerz und Kälte nicht mehr – die Angst trieb ihn voran und ignorierte seinen Körper, der vor Erschöpfung schrie. Plötzlich hörte er es – dieses eigensinnige Geräusch. Das Rascheln von Gefieder. Wie lang war er gelaufen? Er wusste es nicht. Das Geräusch wiederholte sich. Er riss den Kopf nach oben und nahm nun zum ersten Mal seit mindestens zwei Stunden seine Umgebung wieder bewusst wahr. Die Wolken hatten sich gelichtet, Mond und Sterne waren dem Morgengrauen gewichen. Der Himmel brannte in Rosa-Tönen und links von ihm konnte er aus dem Augenwinkel erkennen, wie die Sonne am Horizont auftauchte. Die Nacht war vorüber, ohne dass er es richtig mitbekommen hatte. Das Rascheln kam näher, das konnte Green nun ganz deutlich hören, denn mit der Nacht hatte sich auch der Wind verabschiedet. Er war stehen geblieben und ließ seinen Blick suchend über den Himmel schweifen. Weit und breit war nirgendwo ein Pokémon zu sehen. „Taubsi! Hörst du mich?“ Plötzlich bekam er eine Antwort. Ein hohes Zwitschern, direkt in seiner Nähe. Stolpernd rannte er erneut los. Es hatte ihn gehört und auf seine Rufe reagiert. „Wo bist du?“ Inzwischen war es fast taghell und nun konnte er erkennen, dass der Mondberg knapp zwanzig Meter vor ihm abzusinken begann. Die Wanderung war fast geschafft. Irgendjemand hatte grobe Treppenabsätze in die Felsen gehauen und ein Geländer aus Holz zusammengeschustert, um den Trainern den Abstieg zu erleichtern. Und genau auf diesem Geländer saß sein Pokémon. Die Erleichterung, die mit einem Mal Greens Körper durchströmte, konnte kaum mit Worten beschrieben werden. Taubsi sprang schwerfällig vom Treppengeländer und hüpfte auf ihn zu. Im ersten Moment wunderte Green sich, warum es nicht flog, doch dann erkannte er, dass sein linker Flügel in einem seltsamen Winkel abstand. Die Erleichterung wich sofort dem schlechten Gewissen und noch viel mehr der Sorge. „Oh Gott, was ist passiert? Geht es dir gut? Oh nein, was habe ich mir nur dabei gedacht?“ Er setzte sich hin und hob das Pokémon vorsichtig auf seinen Schoß. Er wollte den Flügel untersuchen, doch Taubsi klackerte drohend mit dem Schnabel, sein Blick war scharf und lauernd auf ihn gerichtet. "Ich bin ein Idiot, so ein gottverdammter Idiot!" Er griff sich an die Stirn und fuhr sich ratlos durchs Haar. Seine Augen waren zusammengekniffen und er schüttelte den Kopf, während er die selben Worte immer wieder laut aussprach. Das würde ihm definitiv eine Lektion sein. Nie wieder würde er ein Pokémon aus seinem Team unbeaufsichtigt lassen. „Du musst ins Pokémon-Center. Sofort. Es ist nicht mehr weit bis nach Azuria-City. Wir brechen gleich auf und dann wird das wieder. Es tut mir leid, es tut mir so leid.“ Taubsi kniff ihm mit dem Schnabel in die Hand, als wollte es ihn zum Schweigen bringen. Green öffnete die Augen und erwiderte unsicher den Blick seines Pokémon, der jetzt nicht mehr lauernd, sondern wieder so freundlich wie immer war - und er begriff. Sein Pokémon war nicht, wie erst gedacht, sauer auf ihn. Es wollte nur nicht, dass er den Flügel berührte, weil es dann Schmerzen erwarten würde. „Du bist wirklich nicht böse mit mir? Aber du hast bestimmt schlimme Schmerzen. Es tut mir leid. Hätte ich gewusst, dass ein Sturm aufziehen würde, dann-“ Taubsi unterbrach ihn erneut, diesmal mit einem lauten Zwitschern. Green zwang sich zu einem Lächeln. „Du hast dir bestimmt einen Unterschlupf gesucht, du schlaues Wesen. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, dass du trotz Allem bei mir bleiben willst.“ Er wusste nicht Recht, ob sein Pokémon ihn tatsächlich verstand, jedoch raschelte es mit seinem Gefieder, so wie es das immer getan hatte, wenn Green mit ihm sprach. Als er den Pokéball hervorzog und es einholte, ließ es alles wie gewohnt über sich ergehen. Obwohl sein Pokémon ihm noch vertraute, fühlte Green sich schlecht. Gleichzeitig fiel ein Stein von seinem Herzen, so schwer, als hätte der Mondberg selbst darauf gelegen. „Also dann, auf geht’s!“ Er schulterte seinen Rucksack und machte sich daran, die Stufen hinabzusteigen. Das Geländer war sehr stabil, obwohl er damit nicht gerechnet hatte. Es erleichterte ihm den Abstieg ungemein. Jedoch unterschätzte Green seine Müdigkeit, die, nachdem sämtliches Adrenalin verflogen war, nun endgültig Einzug in seinen Körper hielt. Sein Gefühl in den Beinen war komplett verschwunden und sie bewegten sich roboterhaft, wie von einer fremden Person gesteuert. Sein Rucksack schien Steine zu beherbergen, die sein Rücken nicht mehr lang tragen würde. Endlich. Die letzte Stufe. Er ließ das Geländer los. Hier unten war es wesentlich wärmer, als auf der Bergspitze, aber trotzdem noch frisch. Greens Kleidung war noch immer komplett durchnässt. Er musste so schnell wie möglich ins Pokémon-Center und danach in die Pension, um sich hinzulegen. Mit seinen kleinen, harmlosen Verletzungen konnte er zwar problemlos weiterreisen, doch eine Erkältung würde ihn weit zurückwerfen. Das konnte er sich nicht leisten. Ein rundes Schild begrüßte ihn am Fußende der Treppe. Nichts besonderes. Eine kleine Beglückwünschung an die Trainer, dafür, dass sie den Mondberg erklommen und sicher wieder verlassen hatten. Außerdem war aufgezeichnet, dass man noch einen zweistündigen Fußmarsch vor sich hatte, bis man Azuria-City erreichte. Zwei Stunden konnten extrem lang sein. „Ach was solls. Was sind schon ein paar Stunden, wenn man die ganze Nacht auf 'nem bekloppten Berg verbracht hat?“ Green lachte über seine eigenen Worte und obwohl ihn fast die Augen zufielen, begann er dem Pfad zu folgen, der kurz nach dem Mondberg begann. Weit kam er nicht. In der Ferne erklang ein seltsames Knattern. Nach wenigen Sekunden des Lauschens stellte Green fest, dass es sich dabei um einen Automotor handelte, der immer lauter wurde. Ein immer größer werdener Punkt tauchte am Horizont auf. Das machte ihn stutzig. Warum sollte jemand mit einem Auto zum Mondberg fahren? Auf diesem Gelände kam man damit nicht sonderlich weit. Es ging ihm eigentlich nichts an, doch die Neugier packte ihn. Gleichzeitig war da so eine Stimme in seinem Kopf, die ihm zuflüsterte, sich zu verstecken. Eine kleine Baumsiedlung ragte ein paar Meter neben ihm auf dem Boden und er folgte diesem Impuls. Obwohl er dafür keine Zeit hatte, beschloss er, sich die Sache einmal genauer anzusehen. Das Auto war keine fünfzig Meter mehr vor ihm, als er sich in Bewegung setzte. Er schaffte es gerade, sich hinter einem der dicken Stämme zu verstecken, bevor das Fahrzeug an ihm vorbeirauschte. Er hatte sich getäuscht. Es war kein Auto, sondern ein monströser, schwarzer Lastwagen. Green konnte gerade noch ein riesiges R erkennen, dass knallrot an den Seiten und Hintertüren des ominösen Fahrzeugs prangte. Es kam mit quietschenden Reifen direkt vor den Treppenstufen zum Stehen und wirbelte eine Menge Staub auf. Nur eine Sekunde später wurden sämtliche Türen von innen geöffnet und Personen, so viele, dass Green sie kaum zählen konnte, strömten aus dem Inneren hervor. Alle trugen eine Uniform, genau so schwarz wie der Lastwagen und mit genau dem gleichen, übertriebenen, knallrotem R auf dem Rücken. Viele riefen der Person, die das Auto gefahren hatte, Worte zu – offenbar war dies ihr Anführer oder irgendwas in der Art. Leider konnte Green so gut wie nichts davon verstehen. Lediglich eine kurze Disskusion konnte er vollständig aufschnappen. „Und wir können wirklich zu einhundert Prozent sicher sein, dass wir sie hier finden? Ich glaub ja noch nicht wirklich daran!“ Die Stimme hatte einen unsicheren Ton und wirkte gehetzt und angespannt. Die Antwort der zweiten Stimme kam polternd und in einem unerwartet lautem und autoritärem Ton. Green biss sich auf die Zunge und hielt die Luft an, das Herz schlug auf einmal auf Höhe seines Kehlkopfes. „Sei still! Unser Boss hat sich einmal ganz freundschaftlich mit den Leuten unterhalten, die diesen dummen Berg erforschen. Er sagt, wir sollen hier nach diesen dämlichen Dingern buddeln, und wenn der Boss sagt, dass wir nach diesen dämlichen Dingern buddeln sollen, dann buddeln wir nach diesen dämlichen Dingern, kapischi?“ „... Jawohl.“ Green zog sich noch weiter zwischen die Bäume zurück, denn er hatte das seltsame Gefühl, besser dran zu sein, wenn diese Leute ihn nicht bemerkten. Dieses Treiben ging nicht mit rechten Dingen zu. Die meisten der Gruppe hatten aus dem Inneren des Wagens riesige Rucksäcke geholt, einige trugen seltsame Geräte bei sich und ein paar Wenige hielten schwere Koffer in den Händen. So machte sich die Formation daran, die vielen Stufen des Mondberges zu erklimmen. Er verharrte mucksmäuschenstill, bis er keine Stimmen mehr hören konnte und selbst dann blieb er noch wenige Minuten im Dickicht stehen, um auf Nummer sicher zu gehen. Nur mit äußerster Vorsicht traute er sich aus seinem Versteck. Der Laster stand ruhig und verlassen da. Aber wer wusste schon, wie lang das so bleiben würde? Wenn nun jemand zurückkäme und Green entdeckte, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit in Schwierigkeiten stecken. Es war höchste Zeit, sich aus dem Staub zu machen. - Azuria-City war nicht mehr weit entfernt. Er saß auf einer Erhebung und blickte auf die Stadt hinunter, die ihn von unten anfunkelte. Sie war nicht besonders groß und würde beinahe noch als Dorf durchgehen. Hinter der Provinz lag ein riesiger See, der im aufkommenden Sonnenlicht schimmerte. Ein Teil des Sees strömte als Fluss durch die nördliche Hälfte der Stadt. Er konnte eine Brücke erkennen, die einen Übergang bildete, in der Entfernung nicht größer als ein Streichholz. Das Wasser des Sees und des Flusses strahlte in einem so intensiven Azurblau, dass es schon fast unheimlich anmutete. Deswegen also der Name der Stadt. Green hatte sich nur für wenige Minuten ausruhen wollen, doch das entpuppte sich nun als Fehler, denn die restliche Kraft, die er zum Aufstehen brauchte, hatte ihn verlassen. So sehr er sich auch konzentrierte und anstrengte, seine Beine versagten ihm entgültig den Dienst. Er fluchte und versuchte die Augen offen zu halten, doch selbst das gelang ihm nur noch mit größter Mühe. Seine Gliedmaßen waren aus Blei. Er fror nicht mehr so schlimm und das machte ihn nur noch schläfriger. Er war erschöpft. Die Wanderung hatte die ganze Nacht und den halben Morgen angedauert und alle Kraftreserven aufgezehrt. Sein Körper war dabei, sämtliche Funktionen auszustellen, die nicht lebensnotwendig waren. „Taubsi. Es tut mir leid.“ Da sein Sichtfeld sich schon verfinstert hatte, als er träge zur Seite kippte und auf dem weichen Gras aufkam, registrierte er seine eigenen Worte bereits nicht mehr. - Eine Person kam aus der Stadt und schlug den Pfad Richtung Mondberg ein. Der Mann war eigentlich schon viel zu spät dran, jedoch bemerkte er den geschwächten Körper eines knapp sechzehnjährigen Jungen, der dort mit durchnässter Kleidung, umhüllt von einem zerfetzten blauen Regenponcho und einem schweren Rucksack mitsamt Zelt am Boden lag. Er blieb vor ihm stehen und beobachtete ihn einige Sekunden argwöhnisch. Dann verzerrte sich sein Mund zu einem Lächeln. 9 - Eine albtraumhafte Geschichte --------------------------------- Langsam öffnete Green seine Augen und als er die knallrote Umgebung wahrnahm, setzte er sich ruckartig auf, nur um sich gleich den Kopf an der überraschend niedrigen Decke zu stoßen. Die Luft war stickig. Er schwitzte und atmete schwer. Sein gesamter Körper schien nur aus einem einzigen Muskel zu bestehen, der schrecklich schmerzte. Für wenige Sekunden spielte ihm seine Fantasie einen Streich und er dachte, diese seltsamen Leute mit dem riesigen Lastwagen hatten ihn erwischt und gefangen genommen. Doch das plötzliche Adrenalin verflog fast augenblicklich, als ein kurzes Blinzeln ihm verriet, dass es sich bei seiner Unterkunft nur um sein eigenes Zelt handelte, das aus einem ähnlich rotem Stoff bestand, wie das seltsame R auf den Uniformen. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, es aufgebaut zu haben. Mit müden Augen sah er sich um. Die rote Farbe brannte in seinen Augen. Das Zelt war sehr klein und hatte gerade genug Platz für ihn, seinen Schlafsack und das Gepäck. Letzteres war nirgendwo zu entdecken. Plötzlich wieder alarmiert krabbelte er, den Schmerzensschrei seines Körpers ignorierend, zum Zeltausgang. Mit ungeschickten Bewegungen wurde der Reißverschluss nach oben gezogen und weit geöffnet. Wäre Green nicht so in Panik gewesen, hätte er sich an den ersten Atemzügen frischer Luft gefreut, jedoch blickte er sich hektisch um und hielt Ausschau nach seinen Sachen – und Pokémon. Und tatsächlich konnte er sie sehen und hören. Nur wenige Meter vom Zelt entfernt spielten und tobten sie ausgelassen am Wasser eines kleinen Teichs. Sein Rucksack lag auf dem Boden, die Pokébälle geöffnet daneben. Tief durchatmend lehnte er sich an den dünnen Stoff seiner Unterkunft. Seine Gefährten waren nicht allein am Wasser. Dort saß noch jemand. Schwarze Haare lugten unter einer roten Kappe hervor, die die gleiche Farbe, wie die Weste des Mannes hatte. Für einen kurzen, unwirklichen Moment verwechselte Green den Mann mit Red, da die Kleidung eine gewisse Ähnlichkeit aufwies. Er schüttelte schnell den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen und nun sah er auch, dass der Fremde wesentlich älter war, als er und sein ehemaliger Freund. Außerdem durfte Red mittlerweile längst in Azuria-City sein, wenn nicht sogar noch weiter. Trotz allem konnte Green nicht verhindern, dass sich Enttäuschung in seiner Brust ausbreitete. Dies wäre definitiv ein guter Zeitpunkt für eine Aussprache gewesen. Langsam setzte er sich in Bewegung. Beim Näherkommen konnte er eine Anglerausrüstung erkennen. Der Mann saß leicht eingesunken auf einer Sitzkiepe, neben ihm ein geöffneter Koffer, in dem eine Menge Werkzeug, aber auch Köder herumlagen, dessen Namen er nicht zuordnen konnte. Auf der anderen Seite hatte er einen Rutenständer aufgebaut, die Rute stand im Neunziggradwinkel in die Höhe. Die Pose schwamm ruhig auf dem Wasser. Als ihn nur noch wenige Schritte von dem Mann trennten, drehte dieser sich um und ein freundliches Grinsen erhellte ein ebenso nettes Gesicht. „Aufgewacht, aufgewacht!“ Green antwortete nicht, sondern nickte nur kurz mit dem Kopf, bevor er sich neben ihm auf den Boden fallen ließ. Sofort versammelten sich seine Pokémon um den jungen Trainer. Evoli sprang ihm flink auf die Schulter und leckte seine rechte Wange ab. Er streichelte es und versuchte seine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf das restliche Team zu lenken. Mit Erleichterung stellte er fest, dass alle wohlauf waren. Selbst Taubsi schien putzmunter zu sein – wäre der Flügel nicht verbunden gewesen. „Hab deinen Vogel mal ein bisschen verarztet. Nur provisorisch und nicht besonders gut, bin ja schließlich kein Profi. Fürs erste sollte es eigentlich gehen. Aber ne Schwester Joy hätte das sicherlich besser hingekriegt.“ „Danke. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Der Angler winkte unwirsch ab. „Konnte dich da ja nich einfach so liegen lassen. Sahst übel aus. Ziemlich fertig. Warst bewusstlos. Da musste ich was tun.“ Green bemerkte, dass er sich nur unweit von der Stelle befand, an der er zusammengebrochen war. Er warf einen Blick auf die Stadt und den See, der ihn einladend anfunkelte. Von der Kälte der vergangenen Nacht war nichts mehr zu spüren. Die Sonne kribbelte auf seiner Haut. Nur den kleinen Teich, an den er nun mit dem Mann saß, schien er vor Müdigkeit schlichtweg übersehen zu haben. „Haben Sie auch das Zelt aufgebaut?“ „Ja, hab ich. Schillok hat dich reingetragen, warst wie ein nasser Sack und zu schwer für mich.“ Green schaute beschämt zur Seite. Es war ihm ziemlich peinlich, von einer fremden Person so gefunden worden zu sein und gleichzeitig war er dankbar für die Hilfe. „Wie lang hab ich geschlafen?“ Der Angler zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen, so ganz ohne Uhrzeit. Hab dich, schätze mal, so gegen fünf Uhr morgens gefunden. Jetzt haben wir es ungefähr gegen Zehn. Wundert mich, dass du schon auf den Beinen bist.“ Green konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Er war definitiv nicht ausgeschlafen und seine Glieder noch immer schwer, sein Nacken so verspannt, dass er den Kopf kaum bewegen konnte. „Kann ich mir auch nicht so wirklich erklären.“ „Wahrscheinlich hat dich der Hunger geweckt. Dein Magen hat so laut rumort, das konnte man vom Zelt aus bis hierhin hören. Hast mir wahrscheinlich alle Fische vertrieben.“ Der Fremde lachte amüsiert und auch Green schmunzelte, als ein erneutes Grummeln seines Magens der Worte des Mannes Nachdruck verlieh. „Willst du was essen? Ich hab genug dabei, um über den Tag zu kommen. Pack mir immer viel zu viel ein. Deine Pokémon hatten auch schon was.“ Green sah ihn von der Seite an, dann nickte er dankbar. „Gut. Aber vorher verrätst du mir noch etwas.“ „Was denn?“ „Deinen Namen. Den konnten mir deine Pokémon nicht sagen.“ Green kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Oh, das tut mir leid. Ich habe wirklich keine Manieren. Ich heiße Green.“ Er reichte dem Mann die Hand und er schlug grinsend ein. „Nicht der Rede wert. Alfred mein Name.“ Mit diesen Worten zog er ein dick belegtes Sandwich aus einer Box und hielt es dem jungen Trainer hin. Green, der seinen Hunger bei diesem Anblick mit einer plötzlichen Wucht bemerkte, riss es ihm beinahe gierig aus der Hand. Die nächsten Minuten vergingen schweigend. Alfred hatte den Blick auf die Pose gerichtet, die sich noch immer nicht bewegen wollte. Die Pokémon spielten ausgelassen auf der Wiese. Rattfratz wurde von Evoli gejagt, was Green an den Moment ihrer ersten Begegnung im hohen Gras erinnerte. Schillok trieb mit seinem Panzer auf dem Wasser, als wäre er ein Schwimmreifen. Nur Taubsi spielte nicht mit und saß auf seiner Schulter, während Green immer wieder kleine Stücke vom Brot abbrach, um es mit ihm zu teilen. "Sollte Schiggy nicht lieber aus dem Wasser kommen? So vertreibt es doch alle Fische, oder?" "Ne, schon gut. Wasser-Pokémon verbreiten ihren ganz eigenen Geruch und locken so noch weitere an. Ist ne gute Sache." Green nickte nur, nicht wissend was er antworten könnte. So vergingen wieder einige stille Minuten, bis Alfred irgendwann den Kopf schief legte und ihn interessiert ansah. „Du kommst also vom Mondberg, ja?“ Green nickte. „Ja. Woher wissen Sie das?“ „Sagen wir es mal so: Man hat es dir angesehen. Überall Kratzer und blaue Flecken. Völlig erschöpft. Ein Wunder, dass du überhaupt noch so weit gekommen bist.“ Green hob eine Braue. „Wieso?“ Alfred schwieg eine Weile. Sein Blick war nachdenklich auf das Wasser gerichtet. „Ich will dir keine Angst machen, Jungchen, aber die meisten, die den Mondberg bestiegen haben, sind danach fürs erste nicht mehr viel gelaufen. Kein schöner Ort, wenn du mich fragst. Gefährlich. Für angehende Trainer eigentlich viel zu schwer zu bewältigen.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Du brauchst nich Sie zu mir sagen, ein Du reicht mir auch. Aber zu deiner Frage: Man hört so einiges. Für viele Trainer endet an dieser Stelle erst einmal das Abenteuer. Die meisten sind danach für einige Tage ans Bett gefesselt. Blaue Flecke und Kratzer sind dabei noch das Harmloseste. Du scheinst ziemlich viel aushalten zu können oder aber du bist, was ich eher denke, einfach ein Glückspilz.“ Ein kalter Schauer hatte sich bei diesen Worten über Greens Rücken gebahnt. Wenn es so gefährlich war, wieso ließen die Eltern der Trainer es zu, dass ihre Kinder so einen Weg auf sich nahmen? Genau diese Frage stellte er auch dem Angler. „Kann ich dir wirklich nicht sagen. Wenn du mich fragst, können die meisten das gar nicht einschätzen. Die Erkenntnis kommt erst, wenn‘s schon viel zu spät ist. Zumindest wurde die Route entschärft, nachdem es mal schlimmer ausgegangen ist.“ „Schlimmer?“ Alfred atmete einmal tief ein und aus. Das Thema schien ihm nicht zu behagen. Dennoch setzte er zum Sprechen an. „Einmal, es ist schon eine Weile her, da gab’s ein junges Mädel, das Trainerin werden wollte, genau wie du. Die hatte schon ein paar Orden zusammen und ein starkes Team. Irgendwann ist sie zum Mondberg aufgebrochen. Nur wieder runtergekommen ist sie nie.“ Green sog scharf die Luft ein. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Plötzlich nicht mehr hungrig legte er das Sandwich zur Seite, welches sofort von seinem Team beschlagnahmt und geteilt wurde. Das Essen war ihm vergangen, aber Alfred war mit dem Erzählen noch nicht fertig. „Irgendwann hat ihre Familie sich Sorgen gemacht, weil sie schon seit mehreren Tagen kein Wort mehr von ihr gehört hatten. Sie hatte sich wohl immer regelmäßig gemeldet. Das letzte, was ihre Angehörigen wussten, war, dass sie sich auf den Weg zum Mondberg gemacht hat. Naja, dann haben sie angefangen nach ihr zu suchen. Es hat wohl noch zwei Tage gedauert, bis man sie gefunden hat. Sie hat‘s nich geschafft.“ Green schluckte schwer. Seine Nackenhaare stellten sich auf. „Ist sie etwa-“ Alfred unterbrach ihn unwirsch. „Sprich es bloß nicht aus. Diese Geschichte wurde komplett ausgeschlachtet und war noch Monate später in den Medien. Nicht auszudenken, dass so etwas überhaupt passieren konnte. Das Mädel war immerhin erst dreizehn Jahre alt. Völlig unverantwortlich, die Trainerausbildung schon so früh zu beginnen. Die Familie tut mir leid.“ „Verständlich. Aber man kann doch erst mit sechzehn Jahren Trainer werden.“ „Ja, jetzt! Denkst du etwa, dass das keine Folgen hatte? Eine Zeit lang wurde die Ausbildung komplett verboten. Irgendwann haben die sie aber wieder genehmigt. Die Nachfrage war viel zu groß. Aber damit das nich nochmal so ausgeht, haben sie die Regeln ein bisschen verschärft. Also erst mit sechzehn, obwohl man dann auch nur drei Jahre älter und mindestens noch genauso naiv ist. Der Mondberg wurde auch verkleinert. Die Oberfläche war nicht immer so flach, wie jetzt. Trotzdem noch viel zu gefährlich, wenn du mich fragst.“ Green fand keine Worte für das, was er soeben gehört hatte. Sein Magen fühlte sich an, als sei er auf das Doppelte angeschwollen und er hatte Mühe, das Sandwich drinnen zu behalten. Schweiß stand auf seiner Stirn und er hatte das Gefühl ersticken zu müssen, wenn er nicht bald seinen Pullover auszog. Die Hitze war nicht schuld. Er zog sich den dünnen Stoff über den Kopf und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen. Auch Alfred schwieg. Eine Weile saßen sie ruhig nebeneinander, während beide sich in ihren Gedanken verloren. Green dachte an seinen besten Freund, der den Mondberg ebenfalls passiert hatte. Plötzlich ließ Sorge sein Herz schwer werden. Ob ihm etwas passiert war? Zurzeit mochte die Freundschaft unter keinem guten Stern stehen, aber die Vermutung, dass er sich ernsthaft verletzt haben könnte, ließ ihn für einen Moment allen Zorn über ihren Disput vergessen. Aber es half nichts, darüber nur zu spekulieren. Die richtige Antwort konnte ihn nur jemand liefern, der regelmäßigen Kontakt zu Red pflegte. Mühsam richtete er sich auf. Zwar war er dankbar, dass Alfred ihm geholfen und seine Pokémon aufgepäppelt hatte, aber die verlorene Zeit saß ihm im Nacken. Obwohl es Taubsi besser zu gehen schien, brauchte es definitiv eine vernünftige Pflege im Pokémon-Center und das restliche Team musste sich ebenso ausruhen, auch wenn ihnen die Pause scheinbar gut bekommen war. Er selbst sehnte sich nach einem warmen Bett und einer Dusche – die er sehr wohl nötig hatte, was ihm soeben klar wurde. Es kostete ihn ein wenig Überwindung den durchgeschwitzten Pullover wieder anzuziehen, doch ihm blieb nichts anderes übrig, da seine restliche Kleidung ebenfalls nicht mehr sauber war. Jedoch würde er sich erst zuletzt um sich selbst kümmern. „Ich muss jetzt gehen, Alfred. Danke, dass Sie mir geholfen haben.“ Der Angler wollte gerade etwas erwidern, als die Pose mit einem kräftigen Ruck unter Wasser gezogen wurde. Sofort sprang er auf und riss die Angel aus ihrer Halterung. „Einen Moment, Jungchen, ich bin gleich für dich da!“ Er begann grob zu kurbeln und die Route bog sich gefährlich, konnte jedoch der Kraft des Pokémons standhalten. Wenige Sekunden rangen beide Partien miteinander, dann brach die Wasseroberfläche auf und es erschien- „Och nein, nicht schon wieder so eins!“ Anscheinend hatte Alfred etwas anderes erwartet. An der Angel baumelte, hilflos zappelnd, ein Pokémon, das auf den ersten Blick wie eine seltsame Entartung eines Karpfen aussah. Es war viel größer und die rote Farbe der Schuppen schillterte im Sonnenlicht. Es wehrte sich verbissen, konnte sich jedoch nicht mehr aus der Falle befreien. „Schade aber auch! Na gut, dann lass ich es eben wieder frei.“ Er machte sich daran das Pokémon vom Haken zu lösen, doch Green legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn von seinem Vorhaben ab. „Warten Sie.“ „Was ist?“ „Ich will es haben.“ Alfred hob eine Augenbraue, hielt aber ansonsten still. „Was denn, dieses nutzlose Ding? Daran wirst du keine Freude haben.“ Green ging nicht auf seine Worte ein und war schon dabei einen Pokéball aus seinem Rucksack zu kramen. Er wusste, dass es sich lohnen würde. Alfred versuchte die Angel mit dem noch immer um Freiheit kämpfenden Pokémon so ruhig wie möglich zu halten. Green öffnete den Ball und zog Karpador hinein. Es ruckelte ein paar Mal ganz schwach, dann erlosch das Warnlicht und der nun schon oft gehörte Seufzer ertönte abermals. Alfred zuckte nur mit den Schultern und begann den nun nutzlos gewordenen Köder zu entfernen. „Wenn du meinst.“ Green nickte. „Ja. Ich denke, mit ein bisschen Geduld könnte es eines Tages wirklich stark werden.“ Während er antwortete, lief er zum Zelt. „Das würde ich zu gern sehen. Komm mich doch mal besuchen, wenn es soweit ist.“ Er hatte schon das restliche Gepäck und den Schlafsack in seinem Rucksack verstaut und wollte sich nun daran machen, das Zelt abzubauen, als er, überrascht von diesem Vorschlag, innehielt. Damit hatte er nicht gerechnet und er freute sich darüber. „Das ist sehr nett von Ihnen. Ich dachte schon, ich wäre Ihnen auf den Wecker gefallen.“ „Hör endlich auf mich zu siezen, Jungchen. Nein, bist du nicht. Hast ja kaum einen Ton gesagt. Aber du scheinst vernünftig zu sein. Zumindest vernünftiger, als so manch andere, die mir über den Weg gelaufen sind. Ich wohne in Orania-City, gleich am Stadtrand. Kannst es eigentlich nich verfehlen.“ „Wenn Du in Orania-City lebst, warum nimmst du dann einen so weiten Weg auf dich, um zu Angeln? In der Nähe währen doch viel bessere Möglichkeiten, oder?“ „Das schon. Aber dafür hat man auch nie seine Ruhe. Viel zu viele andere Angler, die einen die Fische wegfangen. Die seltenen Pokémon sind schon längst ausgefischt, hier hab ich mit ein bisschen Geduld wenigstens noch eine kleine Chance, an ein Gutes heranzukommen.“ „Verstehe.“ Zum ersten Mal an diesem Tag stahl sich ein Lächeln auf Greens Gesicht. Er wandte sich ab. Während Alfred sich von seinen Pokémon verabschiedete, verstaute er das Zelt in der dazugehörigen Tasche, bevor er auch sein Team in seine Raststätte holte. Anschließend ließ er sich von Alfred helfen, das ganze Gepäck auf seinen Rücken zu laden. „Vielen Dank. Für alles.“ „Kein Problem. Es war schön, auch mal wieder Gesellschaft zu haben.“ Sie reichten sich die Hände. Alfred tippte sich kurz an seine Kappe. Als Green sich nach wenigen Metern ein letztes Mal umdrehte, saß der Angler bereits wieder eingesunken auf seinen Klappstuhl, als wäre er ihm nie begegnet. - Im Pokémon-Center herrschte reges Treiben, doch Schwester Joy ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sein Team hatte sie vor knapp einer halben Stunde in einen abgeschiedenen Raum bringen lassen, wo sie sich ausruhen konnten. Laut ihrer Aussage würde es mit Taubsi ein wenig länger dauern und Green spürte erneut sein Gewissen, das schlecht auf ihn einredete. Jedoch sah anscheinend alles auf den ersten Blick schlimmer aus, als es tatsächlich war. Der Flügel war tatsächlich gebrochen, allerdings nicht kompliziert. Es würde einige Tage brauchen, um zu heilen, dennoch versicherte Schwester Joy ihm, dass danach alles so wäre, wie „als wäre eben nichts gewesen.“ Er saß an einen kleinen, runden Tisch. Vor ihm stand auf der Glasplatte eine Tasse Tee. Ingwer. Schwester Joy versorgte notdürftig seine Verletzungen, obwohl sie dafür nicht zuständig war. Chaineira, das Pflege-Pokémon, half ihr dabei. Green hatte anfangs versucht sie davon abzuhalten, aber sie beharrte darauf und argumentierte damit, dass es keinen großen Unterschied für sie machte, ob nun ein Pokémon oder ein Mensch vor ihr saß. Schließlich hatte er sie gewähren lassen und langsam spürte er, jetzt, wo er so gemütlich saß, wie müde er eigentlich war. Manchmal stand er kurz davor einzunicken und wurde nur von der sanften Berührung der jungen Frau ins Diesseits zurückgerissen, als sie an der ein und anderen Stelle einen Pflaster aufdrückte oder sogar Verbände umlegte. Sein Kopf war schwer, aber er fand keine Ruhe. Die Telefonverbindung war zu schlecht, um seinen Großvater zu erreichen. Er hatte sich auf ihr Gespräch und auch auf das Gesicht seiner Schwester gefreut und nun war er enttäuscht, weil es nicht stattfinden konnte. Außerdem wollte er wissen, wie es um Red stand. Das alles musste nun warten. „Fertig.“ Green blickte auf und traf auf sanfte blaue Augen, die unter einem gelockten hellroten Pony hervorlugten. Sie lächelte ihn an und ihm wurde warm ums Herz. Chaineira war schon eifrig dabei, das Verbandszeug einzupacken. „Danke…“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht dafür. Ich rate euch, für mindestens eine Woche lang eine Pause einzulegen.“ Damit hatte er gerechnet und trotzdem gefiel es ihm nicht. Nur mit Widerwillen würde er ihrem Rat nachkommen können. „Ich weiß. Meine Pokémon sind ziemlich erschöpft.“ „Nicht nur ihre Pokémon. Auch Sie. Es bringt nichts, wenn sie aufbrechen und nicht fit sind. Sie müssen sich genauso erholen.“ Er dachte einen Augenblick über ihre Worte nach. Das Material für seine Notizen lag schon seit Tagen unbenutzt in seinem Rucksack. Er hatte viel nachzuholen und musste sich alles genau aufschreiben, damit er eines Tages in die Fußstapfen seines Großvaters treten konnte. Ein ununterdrückbares Gähnen entwich ihm. Vielleicht war die Idee doch nicht so schlecht. „Ich denke, Sie haben Recht. Danke für den Rat.“ „Bitte.“ Sie strich ihm noch einmal flüchtig über den Arm, bevor sie sich daran machte auch ihre anderen Patienten zu versorgen. Green lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wartete, nebenbei seinen Tee schlürfend, darauf, dass seine Pokémon abholbereit waren. - Das Bett in der Pension sah sehr gemütlich aus und schrie förmlich seinen Namen. Er saß, versunken in seinen Notizen, am Schreibtisch und ignorierte das Verlangen sich hinzulegen. Er hatte sich einen Schlafanzug ausgeliehen, da seine restlichen Sachen in der Reinigung waren. Der weiche Stoff hüllte ihn ein. Er war müde. Nur eine kleine Lampe brannte gerade so weit, dass die Arbeitsfläche beleuchtet war. Der Rest des Zimmers lag im Dunkeln. Evoli hatte sich auf seinem Kopfkissen eingerollt und schnurrte leise im Schlaf. Das Geräusch vermischte sich mit dem Kratzen der Feder und verlieh ihm ein Gefühl tiefer Geborgenheit. Seit Stunden war er dabei, alle Erlebnisse der letzten Tage aufzuschreiben. Dabei versuchte er sich auch an das kleinste Detail zu erinnern, vom Verhalten der verschiedenen Pokémon bis zur Entwicklung von Schiggy und auch die verschiedenen Trainertypen, welche Pokémon bevorzugt trainiert wurden und welche eher unbeliebt waren. Die Erlebnisse auf dem Mondberg verewigte er ebenfalls, auch wenn er nicht wusste, ob er sich irgendwann später noch einmal daran erinnern musste – oder wollte. Er dachte an das kleine Mädchen, dass auf der Reise umgekommen war. Und plötzlich fielen ihn auch wieder die Menschen in den Uniformen ein. Seit dem Morgen hatte er keine Gedanken mehr an sie verschwendet. Trotzdem wusste er, dass dort oben, wahrscheinlich in diesen Augenblick, etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Sollte er Nachforschungen anstellen? Er war sich nicht sicher. Vielleicht würde er im Internet fündig werden. Er sponn seine Gedanken weiter. Diese Leute waren möglicherweise gefährlich und wenn sie nun etwas Kriminelles vorhatten, war es dann nicht seine Pflicht, jemandem Bescheid zu sagen und sie aufzuhalten? Draußen krachte es. Die Feder über dem Papier hielt inne und er blickte auf, plötzlich vom Unbehagen gepackt. Sein Blick wanderte aus dem Fenster. Rabenschwarze Nacht war alles, was er zu sehen bekam. Trotzdem schlug sein Herz unweigerlich schneller. Er rieb sich über die Augen und atmete einmal tief durch. Nein. Bitte nicht schon wieder. Seine Schultern straffend, überwand er sich an das Fenster zu treten und es vorsichtig zu öffnen. Stille. Nichts regte sich. Er schalt sich einen Dummkopf, dass er schon wieder daran dachte und gleichzeitig atmete er tief durch. Ich muss diese Angst unbedingt loswerden. Irgendwie. Resigniert packte er sein Schreibzeug zusammen. Die Uhr zeigte drei Uhr morgens an. Green seufzte. Obwohl er bis vor wenigen Minuten so in seine Arbeit vertieft war, wusste er, dass er es für diese Nacht dabei belassen musste. Kaum war er unter der Bettdecke verschwunden, griff der Schlaf nach ihm und zog ihn mit sich. Vor ihm, auf dem Mondberg, stand ein kleines Mädchen, vom Vollmond, der riesig hinter ihr prangte, in ein gespenstisches Licht getaucht. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Der Sturm tobte um sie beide. Das Mädchen sagte etwas, doch der Wind riss ihre Worte fort. Er versuchte näher an sie heranzutreten, um zu verstehen, doch seine Füße waren mit dem steinigen Boden verwachsen und er konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Sie allerdings kam näher und nun erkannte er, dass es seine kleine Schwester war. Tränen rannen über ihr Gesicht, perlten von ihren Wangen. Erneut sagte sie etwas, doch ihre Lippen bewegten sich gespenstisch und stumm im silbernen Licht. Green wollte sie an der Schulter packen, doch er griff durch sie hindurch und mit dem nächsten blinzeln war Sarah verschwunden. Dort stand nun Red. Er blickte kalt auf ihn herunter. Green erstarrte unter seinen Augen zur Salzsäule. „Du hast mir etwas weggenommen.“ Die Wucht dieses Satzes traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Seine Schwester hatte er nicht verstehen können, doch die Worte seines Freundes rauschten ohrenbetäubend durch seine Adern, brachen sich an den Klüften des Berges und warfen sich zurück. Immer wieder. Immer wieder. Erneut wollte er etwas erwidern, doch Red schüttelte nur energisch mit dem Kopf, zeigte drohend mit dem Finger auf ihn. Green wurde nicht schlau aus seinem Verhalten. Er machte panisch eine ruckartige Bewegung, konnte seine Füße nun doch befreien und stolperte auf seinen Freund zu, doch dieser wich beinahe panisch zurück. „Du hast mir etwas weggenommen.“ Er presste sich beide Hände auf die Ohren, wollte schreien, dass er aufhören sollte. Seine zugeschnürte Kehle hinderte ihn daran. Red entfernte sich immer weiter von ihm und plötzlich war kein fester Boden mehr unter seinen Füßen. Verzweifelt versuchte er sich festzuhalten, doch seine Hände griffen ins Leere. Green war nicht schnell genug, um ihn zu erreichen. Red fiel, sein Blick noch immer getränkt in Panik und Wut. Beide Emotionen galten ihm. Green streckte seine Hand aus. Es war zu spät. Er konnte seine Augen sehen, die rote Lichtspuren hinterließen. Selbst im Sturz fixierte er ihn noch. Eine Hand packte seine Schulter und riss Green herum. Um ihn verteilt standen hunderte von Leuten, alle in schwarzen Uniformen. Gesichtslose Menschen in Uniformen, die den ganzen Mondberg ausfüllten. Eine davon hielt seinen Arm in einen straubstockartigen Griff gefangen. „Du hast zu viel gesehen.“ Ein Flüstern, nicht mehr. Green reagierte erst, als es zu spät war. Er wollte sich losreißen, doch die Person stieß ihn grob und mit gewaltiger Kraft von sich. Hinter ihm war nur ein gähnender Abgrund. Auch er fiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)