Die Welt im Wandel von Nochnoi (Oneshot-Sammlung zu "Vergeltung") ================================================================================ Kapitel 1: Dieb --------------- Rashitar, Frankreich (829 v. Chr.):       Neyo war Zeit seines Lebens ein Dieb gewesen. Schon als kleiner Junge hatte er sich alles zusammenstehlen müssen, um irgendwie zu überleben. Nahrung, Kleidung und hier und da Kostbarkeiten, die sich zufällig in seiner Reichweite befunden hatten. Nichts war vor ihm sicher gewesen. In seinen Anfängen hatte er sich noch recht bescheiden gegeben. Ein paar Kleinigkeiten vom Markt, einige abgetragene Kleidungsstücke von irgendwelchen Wäscheleinen. Dinge, welche sowieso kaum jemand vermissen würde, für ihn jedoch essentiell gewesen waren. Erst mit den Jahren war er dreist und wagemutig geworden und hatte sich auch an Objekte gewagt, die durchaus einen gewissen Wert besaßen. Exotische Früchte, feinste Textilien, Schmuck. Irgendwann hatte er sich selbst immer wieder aufs Neue herausgefordert und hatte jedes Mal etwas besser und etwas unverschämter sein wollen. Und es hatte funktioniert. Bis zu jenem Tag, als man ihn geschnappt und nur die Gnade eines wohlhabenden Magiers ihn vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt hatte. Inzwischen war für Neyo Diebstahl nicht mehr nötig. Er besaß mehr Kleidung als jemals zuvor in seinem Leben, konnte so viel essen, bis ihm der Magen platzte, und vermochte sich auch sonst an allerlei Dingen zu erfreuen. Bücher, Musikinstrumente, Werkzeuge. Es stand ihm alles zur freien Verfügung. Und eigentlich hätte sich Neyo glücklich schätzen müssen. Doch der Dieb in seinem Inneren rebellierte ununterbrochen. Es war einfach nicht möglich, ihn völlig auszutreiben. Zunächst wollte Neyo es ignorieren, doch immer wieder kribbelte es unter seinen Fingernägeln. Seine Gefühle widerstrebten ihm zwar selbst ungemein, besonders da er die Männer und Frauen in Jylieres Haushalt durchaus als Freunde betrachtete, aber er konnte einfach nichts dagegen tun. Da er sein Augenmerk jedoch sicherlich nicht auf etwas richten wollte, was einen sentimentalen Wert für irgendjemanden besaß, konzentrierte er sich vordergründig auf seinen liebsten Platz in der gesamten Villa: die Küche. Es war leichtsinnig genug, um eine Herausforderung darzustellen, da der Koch Gyr ein zwei Meter Berg war und bei seinen Lebensmitteln keinerlei Spaß verstand, aber auch harmlos genug, dass er niemandes Gefühle damit verletzen würde. Und so fing es mit zunächst mit unbedeutenden Kleinigkeiten an. Ein Stück Brot, ein Apfel, ein seltener Käse. Nicht mal Gyr bemerkte, dass einige Lebensmitteln abhanden gingen, auch wenn es sich tatsächlich um Nahrungsmittel handelte, die vordergründig für Jyliere und seinen gehobenen Besuch bestimmt waren und nicht etwa für die Dienerschaft. Erst als Neyo mit der Zeit immer dreister wurde und sich auch an Eiern und Fleisch vergriff, sah man deutlich, wie Gyr sich wiederholt fragte, ob er unter Umständen zu viel trank oder ob er seine Bestände vielleicht falsch gezählt hatte. Neyo saß währenddessen grinsend in einer Ecke und erfreute sich an der Verwirrung des Kochs. Niemand ahnte etwas. Bis auf einen zumindest. Es war an einem kalten Abend, als Neyo ein Stück extrem leckeres Süßbrot hatte mitgehen lassen und es sich auf der Terrasse gemütlich machte, um es genüsslich zu verspeisen. Es war zwar kalt, fast schon eisig, doch er hatte sich noch nie daran gestört. Er hatte fünfzehn Jahre bei jedem Wetter im Freien geschlafen, da vermochte ihm kaum etwas anzuhaben. Im ersten Moment bemerkte er gar nicht, wie sich eine Person von der Seite näherte, doch einen Augenblick später wurde ihm das Brot, das er gerade hatte zum Mund führen wollen, aus der Hand gerissen und seine Welt bestand von einem Moment zum anderen plötzlich nur noch aus Eis. Zuerst begriff er gar nicht, was geschah, und er brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis er realisierte, dass man ihn einen Eimer mit dem kältesten Wasser aus dem Diesseits über den Kopf gegossen hatte. Sofort zogen sich seine Muskeln zusammen und sein Körper gefror regelrecht. Nichts konnte er mehr bewegen und alles wurde derart taub, dass er nicht einmal Schmerz zu spüren in der Lage war. „Was ...?“, presste er schließlich hervor, während er sich bemühte, sich irgendwie durchs Gesicht zu wischen, um das Wasser daran zu hindern, in seine Augen zu fließen. Im nächsten Moment trat Calvio in sein Blickfeld, in seiner Hand das süße Brot. „Du kleiner Dieb!“, zischte er. „Wenn du es noch einmal wagen solltest, dich an meinen Sachen zu vergreifen, werfe ich dich schnurstracks ins Meer! Das bisschen Wasser hier war nur eine kleine Kostprobe.“ Neyo schnaubte. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sich Calvio das Brot extra zur Seite gelegt hatte. „Oh bitte, du reagierst über ...“, erwiderte er, mit klappernden Zähnen. „Du willst mich ertränken wegen ... wegen ein bisschen Brot ...?“ „Ich habe Männer schon für weitaus weniger ertränkt“, entgegnete Calvio und seine Stimme klang derart ernst, dass man einen Moment tatsächlich hätte glauben können, er sprach die Wahrheit. „Also lass es gut sein, verstanden? Ich mag dich, aber solltest du noch einmal irgendetwas zu nahe kommen, das mir gehört, wird niemand je in der Lage sein, deine Leiche zu finden!“ Neyo sagte daraufhin nichts, sondern beobachtete nur, wie Calvio auf dem Absatz kehrtmachte und wieder in warmen Inneren verschwand. Eine Weile saß er noch im Schneidersitz auf der Terrasse, von oben bis unten durchnässt, und dermaßen steifgefroren, dass er sich unweigerlich fragte, ob er sich jemals wieder richtig bewegen würde können. Schließlich jedoch breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Alles, was er gebraucht hatte, war eine Herausforderung gewesen. Gyr direkt unter seiner Nase Lebensmittel zu klauen, war zwar amüsant, aber letzten Endes wenig befriedigend gewesen. Calvio hingegen würde sich als eine weitaus größere Hürde herausstellen. Vielleicht würde es Neyo wirklich eines Tages umbringen, aber es war ihm gleich. Es war immer noch um Welten besser als dieses lästige Jucken unter seinen Fingernägeln. Und es machte sehr viel mehr Spaß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)