Von Brücken und Eiswürfeln von Melange (Ice Bucket Challenge) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Von Brücken und Eiswürfeln Ice Bucket Challenge "Beeil dich, Haru-chan!" Nagisas pinke Augen blitzten auf, bevor er sich wieder umwandte und mit ein paar großen Schritten die anderen einholte. Sie sahen sich nur kurz um. Aber Haruka seufzte nur. Wie oft hatte er Nagisa gesagt, dass er ihn nicht wie ein Mädchen ansprechen sollte? Und warum hatte er das Gefühl, San Francisco bestünde nur aus Hügeln? Ihr Weg führte sie seit einer Stunde entweder bergauf oder bergab. An einer Kreuzung mussten die anderen stehen bleiben. Der Verkehr gab Haruka genug Zeit, sie einzuholen. Während die anderen sich über den Stadtplan beugten und die Anweisungen diskutierten, die sie bekommen hatten, drehte Haruka sich um. Sie standen gerade wieder auf einer Hügelkuppe, sodass sich die Stadt wie ein Traum aus flirrendem Weiß, Ziegelrot und anderen Farbklecksen unter ihm ausbreitete. "Wir hätten die Tram nehmen sollen!" Gous helle Stimme übertönte die anderen Mitglieder des Schwimmclubs und die Motorengeräusche gleichermaßen. "Aber es ist selten so schön hier! Wir haben Glück, dass wir die Stadt bei diesem Wetter besichtigen können." "Genau!", rief Nagisa, der die Idee zum Spaziergang gehabt hatte, und klopfte Rei auf die Schulter. Haruka verdrehte nur die Augen. Als die Ampel auf Grün sprang, marschierte er einfach über die Straße. "Haru, warte!" Makoto hastete ihm nach. Da blieb auch Nagisa, Rei und Gou nichts anderes übrig als zu folgen. Schließlich hatten sie Makoto den Stadtplan und den Zettel mit der Wegbeschreibung anvertraut. Zwar gehörte das Anwesen seinen Eltern, aber Haruka staunte genauso wie die anderen angesichts der weißen Säulen, der breiten Treppe und der breiten Veranda, die sie begrüßten. Auf weichen Knien stakste er hinauf und drehte den antiken Schlüssel im Schloss. Gou, Nagisa und Rei liefen unter lauten Kommentaren durch jeden Raum, bevor sie den riesigen Garten auf der anderen Seite des Hauses fanden. Makoto verschwand in sein Schlafzimmer. Haru überließ ihm das Auspacken und folgte den anderen in die Sonne hinaus. Das Gras leuchtete grün und hinterließ ein frisches Gefühl unter seinen Fußsohlen. Nagisa und Rei bewunderten die Aussicht, indem sie sich weit über den Steilhang hinter dem Zaun lehnten, aber Gou stand am Rand des Pools und hielt prüfend einen Finger ins Wasser. Als Haruka neben sie trat, sah sie auf. "Das Wasser ist ..." Natürlich ignorierte er ihre Worte. Einen Moment später lagen seine Kleider auf den Marmorfliesen und Gou starrte ihm beleidigt hinterher. Ihr gelbes T-Shirt war klitschnass und aus ihrem Pony tropfte Chlorwasser auf ihre Wangen. Das Platschen hatte Nagisa und Rei angelockt. Der Blonde runzelte die Stirn. "Ist es nicht zu kalt?" Gou schüttelte den Kopf. "Alles ist für uns vorbereitet." Rei rückte seine Brille zurecht. "Kein Wunder, dass Nanase-senpais Eltern nie in Japan sind!" Nagisa beobachtete nur wortlos, wie Haru Bahn um Bahn in dem riesigen Pool seiner Eltern zog, und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Als er sich umdrehte, erspähte er Makotos blasse Silhouette hinter dem Fenster auf der rechten Seite. Hinter dem Zaun, über unzähligen Häuserdächern, die in der Sonne des beginnenden amerikanischen Sommers flimmerten, glitzerte der Pazifik in einem unschuldigen Blau. Natürlich konnte niemand Haru davon abhalten, sein Lieblingsgericht aus den Zutaten im Kühlschrank zu kochen, aber niemand außer Gou beschwerte sich über das nicht sehr amerikanische Mittagessen. Sie entschuldigte sich auch mit der Ausrede, einen speziellen Trainingsplan für das Camp des Schwimmclubs zusammenzustellen, und winkte den anderen von der Veranda aus nach. Haruka warf keinen Blick zurück. Nagisa hatte es geschafft, den Stadtplan in seinen Besitz zu bringen, aber der Rückweg den Hügel hinab stellte sich als weniger kompliziert heraus. Egal, wo sie standen, sie konnten immer dem einladenden Glitzern des Meeres folgen, das sie hinter den Dächern lockte. "Warum sind hier alle Dächer flach und die Häuser so groß?", fragte Nagisa auf halbem Weg. Rei sah einen guten Zeitpunkt, mit wissendem Grinsen seine Brille zurechtzurücken. "In den meisten amerikanischen Städten kostet das Wohnen nicht so viel wie in Japan. Außerdem sind flache Dächer praktischer in Gegenden, in denen es so heiß wird wie hier. Die Menschen stellen Sonnenschirme auf, um den Schatten und die Wärme gleichzeitig zu genießen." Nagisa stellte sich auf die Zehenspitzen und beschattete die Augen, um in die Ferne zu spähen. "Aber Rei, ich sehe keine Regenschirme!" Dieser brachte nur verlegenes Husten heraus. Haruka verdrehte die Augen. "Gibt es tatsächlich etwas, das unser Rei-chan nicht weiß?" Nagisa drehte sich mit breitem Grinsen um und tänzelte ein paar Schritte rückwärts. "Wer weiß, vielleicht haben Kalifornier eine Vorliebe für flache Dächer", schlug Makoto vor. "Pass auf ...!" Aber Nagisa wirbelte schon herum und wich dem Laternenpfahl mit einer eleganten Drehung aus, was Rei zu einem leisen Seufzer der Bewunderung inspirierte. An diesem Punkt schlenderte Haruka nur mehr hinter den anderen her ohne auf das fröhliche Geschwätz zu hören. Stattdessen fing er die Blicke der hochgewachsenen und weißgesichtigen Amerikaner auf. Allzu viele starrten sie nicht an. In einer winzigen Gasse bemerkte er sogar ein paar runzlige japanische Omas, die miteinander tratschten. Er blieb stehen und beobachtete sie, bis Makoto nach ihm rief. "Sie hat ausgesehen wie meine Großmutter", erklärte er leise auf den fragenden Blick hin. Nicht sein Freund und auch nicht das in der Sonne leuchtende Rot der Golden Gate Bridge schüttelte Haruka aus seiner Lethargie. Nein, es war der Strand. Die Sonne brach sich auf den Wellenkämmen und mischte sich mit weißen Schaumkronen. Eine nach der anderen rollten sie über den Sand heran und dünnten langsam von einem tiefen stürmischen Blau zu einem wässrigen Schlammton aus. Haruka konnte die Augen nicht abwenden. Langsam fanden seine Finger den obersten Knopf seines Polohemdes, zogen ihn aus dem Loch und wanderten zum nächsten. Jeder Moment dehnte sich in die Ewigkeit. Schließlich warf er das letzte Kleidungsstück von sich und lief den Wellen entgegen. Ihr tiefes Rauschen hallte in seinen Ohren wider wie eine Begrüßung. Die Begrüßung, die seine Eltern ihm nie geben würden. Hinter ihm schrie jemand auf, aber da leckte bereits das Wasser seine Knöchel hinauf und betäubte seine Zehen. Eiswasser. Als er noch einen Schritt tat, riss ihn etwas zurück. Fast wären sie alle in den nassen Sand gefallen, aber Makoto stemmte sich gegen Haruka und hielt sie aufrecht. "Du würdest dir nur eine Erkältung holen", bemerkte er später. Haruka senkte wortlos den Kopf. "Wir machen uns nur Sorgen, Haru-chan", fügte Nagisa hinzu. Haruka öffnete den Mund zu einer spitzen Bemerkung, aber er verlor die Worte in den tiefroten Augen des anderen. Diesem Hundeblick konnte er nichts entgegensetzen. Als Nagisa sich abwandte, formten seine Lippen die Worte. Nenn mich nicht so. Kurz darauf begegnete er Makotos fragendem Blick. Er presste die Lippen zusammen als wüsste er ganz genau, was Haruka dachte. War das nicht ihr privates Spiel? Haruka entfernte sich ein paar Schritte von den anderen und sah auf seine Fußspuren im Sand zurück. Wann hatte ihn nur die Lust auf derartige Spiele verlassen? Er konnte sich nicht erinnern. "Meinst du nicht, dass etwas mit ihm nicht stimmt?" Nagisa verschränkte die Arme. "Haru ist eben Haru. Aber du hast Recht, irgendetwas an ihm ist anders, seit wir hier sind." Makoto lehnte im halbdunklen Korridor an einer Kommode und ließ den Kopf hängen. Nach einer Weile begann Nagisa wieder an seiner Unterlippe zu kauen, eine Angewohnheit, die er einfach nicht abschütteln konnte. Aus der Küche drang das Brutzeln und Knistern der Pfanne und der Geruch von Fisch drang durch den Spalt der angelehnten Tür. Haruka navigierte die Küche genau wie in Japan - sicher und effizient. Eine Tür schlug zu. Auf einmal stand Rei zwischen den beiden Freunden im Halbdunkel. "Ist etwas passiert? Braucht Nanase-senpai keine Hilfe beim Kochen?" Nagisa schnaubt. "Haru-chan kocht Makrele genauso wie er schwimmt." Bei dem Gedanken trat ein verträumter Ausdruck auf Reis Gesicht. Nagisa runzelte allerdings die Stirn. "Macht ihn das nicht irgendwie zum Kannibalen?" "Ich meine das ernst!", protestierte Makoto. "In Japan stört es ja niemanden, wenn er als erstes in den Pool springt, aber hier kann er sich ernsthaft verletzen oder krank werden." Rei verstand das Problem mit seiner typischen Geistesgegenwart und rückte seine Brille zurecht. "Du willst ihn von diesem Tick heilen, richtig?" Makoto nickte. Nagisa gab ein nachdenkliches Summen von sich. "Ist das nicht so etwas wie eine Sucht? Als mein Vater mit dem Rauchen aufgehört hat, hat er monatelang Zitronenbonbons gegessen. Anstatt der Zigaretten." Makoto warf ihm einen zweifelnden Blick zu, bevor er seufzte und aufstand. "Das ist zumindest eine Idee." Aber Rei grinste schon. "Mehr als eine Idee! Wir brauchen nur etwas, das den Sprung ins Wasser für Nanase-senpai ersetzt und er ist geheilt!" "Aber was könnte das sein?", fragte Nagisa in die Runde. Sie starrten einander ratlos an, bis das Knistern in der Küche erstarb und das Klirren von Besteck und Tellern an seine Stelle trat. Nach dem Essen saßen sie zu fünft um den Tisch und ließen die Beine baumeln. Nagisa stieß mehrmals an Gous Schienbeine, um den Platz auszuloten, den er zwischen den langen Tischbeinen hatte. Als sie drohte, Proteinpulver in seinen Orangensaft zu kippen, saß er schlagartig still. Makoto kehrte nicht mit dem angekündigten Butterbrot, sondern mit einem scheppernden Eimer zurück. "Haru, warum haben deine Eltern Sekt in der Küche?" Der Angesprochene sah von seinem blitzblanken Teller auf und blinzelte. "Sekt?" Der Eimer landete am Tisch, sodass alle einen neugierigen Blick auf den Inhalt werfen konnten. In einem Bett von Eiswürfeln ruhten zwei Flaschen, auf deren Etiketten weiße und pinke Wörter in eleganter Schrift prangten. "Das verstehe ich nicht", bemerkte Haruka einen Moment später. "In Amerika darf man erst ab 21 Alkohol trinken." "Ich glaube, das gilt nur für Konsum in der Öffentlichkeit", bemerkte Rei von der Seite. Vor lauter Überraschung vergaß er sogar, seine Brille zurechtzurücken. Gou war diejenige, die mit den Schultern zuckte und nach der ersten Flasche griff. "Wenn sie hier sind, können sie nur ein Geschenk für uns sein! Kommt schon, es wird nichts passieren!" Nagisa holte die schmalsten und höchsten Gläser, die er fand. Makoto nahm das letzte und runzelte immer noch die Stirn angesichts der sprudelnden, hellen Flüssigkeit. Nach den ersten Schlucken kam irgendjemand auf die Idee, Gesellschaftsspiele zu spielen. Zur Überraschung der anderen leerte Haruka sein Glas als erstes und bekam am meisten nachgeschenkt ohne dass seine Miene oder seine wortkarge Art nennenswerte Veränderungen durchliefen. Als beide Flaschen leer waren, klaubte er ein winziges Stück Eiswürfel aus der halb geschmolzenen Suppe und rollte es von einer Backe in die andere als haftete daran noch immer der Geschmack oder Alkoholgehalt des Sekts. Bei Nacht erstreckte sich der Strand in unendliche Weite, bis die Dunkelheit ihn verschlang, wie ein samtener Teppich. Schatten lagen über dem Sand, aber auf den Wellen glitzerten hin und wieder Flecken des fahlen Mondlichts. Haruka saß auf einem Felsen, die Arme um die Knie geschlungen, und lutschte drei Eiswürfel gleichzeitig. Die Stille hallte in seinen Ohren, nur durchbrochen vom Rauschen der Gezeiten, das sich bis in alle Ewigkeit fortsetzen würde. Es überzog seinen Geist mit Ruhe und fing seine wirbelnden Gedanken ein. "Seltsam. Hier sieht der Mond viel kleiner aus." Eine hochgewachsene Gestalt schälte sich aus den Schatten und ließ sich neben Haruka im Sand nieder. Nach einem Moment stützte Makoto das Kinn in die Hand. "Es gibt auch keine Sterne", bemerkte Haruka dumpf. Die Eiswürfel betäubten seinen Mund auf angenehme Art. "Nein, wir sehen sie nur nicht. Das ist ein Unterschied." "Diese Stadt ist zu groß." Makoto nickte nur. Für eine gewisse Zeit, die keiner der beiden in Einheiten maß, herrschte nur Schweigen und das schwere Meeresrauschen zwischen ihnen. Irgendwann stieß Haruka einen Seufzer aus. "Alleine wäre ich nie hierher gekommen." Makoto musste lächeln und war froh, dass Haruka seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte. Nagisa warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, wo Haruka am Geländer der Golden Gate Bridge lehnte und auf das Wasser hinabblickte. Er lutschte die letzten Eiswürfel, die sie am Morgen im Gefrierfach des Kühlschranks gefunden hatten. "Er hat wirklich nicht versucht, ins Meer zu gehen?", fragte Gou wieder. Makoto nickte fieberhaft. "Wie oft muss ich es noch sagen? Ich verstehe es zwar nicht, aber ich glaube, das ist die Heilung." "Warum nicht? Die Eiswürfel erinnern ihn an das Wasser, in dem er so gerne schwimmt. Vielleicht sind sie kalt genug, dass er nicht mehr hineinspringen muss", erklärte Rei. "Wenn das stimmt, ist es gut für Nanase-senpai ..." Aber Nagisa zog immer noch die Brauen zusammen. "Ich weiß nicht ..." Er drehte sich noch einmal zu Haruka um. Dieser stand mit einem Bein auf der Brüstung. "Haru-chan!" Alle zusammen eilten die paar Schritte zu ihrem Freund und zogen ihn auf sicheren Asphalt zurück. Haruka senkte den Kopf und leistete keinen Widerstand, als Makoto ihn weiter zog. Hoch über ihnen leuchtete das Rot der Streben in der Sonne. Nach einer Weile sah Haruka auf, die Augen mit einer Hand beschattet. Die Farbe war ihm zu heiß. Wo blieb der Nebel, der die Hitze vertreiben würde, für den San Francisco ebenfalls bekannt war? Die Götter hatten ihn hereingelegt. Er war gekommen, um der Hitze des japanischen Sommers zu entgehen, aber nicht einmal im Meer durfte er schwimmen. Die anderen schlenderten vor ihm die Straße hinab, auf das andere Ende der Brücke zu. Haruka starrte ihnen nachdenklich nach. Immerhin hatten sie ihn davon abgehalten, sich eine Erkältung einzufangen. Das galt etwas. Mit einem leisen Seufzer setzte er sich wieder in Bewegung, um sie einzuholen. Solange sie zusammen waren, musste er sich keine Sorgen machen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)