Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 4: Le Prélude - Opus IV ------------------------------- Es war nach null Uhr – das wusste Nocturn, weshalb er sich auch mit bangen Vorahnungen in den Eingangsbereich seines Zuhauses teleportiert hatte, anstatt normal durch die Haustür das Haus zu betreten; kam man nämlich durch diese hinein, würde ein donnerndes Glockenläuten erklingen, welches seine Tante sicherlich wecken würde. Wenn sie denn schlief. Viel Hoffnung hatte Nocturn nicht… Eine kleine Tischlampe warf ihr gelbes Licht in den langen Gang, der direkt zu deren kleinem, privaten Auditorium führte. Haha, wenn Raria wirklich noch wach war, dann würde er den Raum lange nicht mehr betreten dürfen. Zugegeben, dachte Nocturn, als er seinen Mantel aufhängte und aus seinen Schuhen schlüpfte – es gab jetzt auch Wichtigeres als das Musizieren. Hatte er das wirklich gerade gedacht? Auf Zehenspitzen, darauf bedacht keinen Laut zu verursachen, schlich er den Gang hinunter, steuerte die Treppe an, um schnell in sein eigenes Zimmer zu gelangen. Bloß keinen Laut verursachen, bloß nicht... „Es riecht nach Schwefel und schlechtem Gewissen.“     Lycram war noch nicht einmal auf der ersten Etage seiner geliebten Bar – seiner zweiten Heimat mittlerweile – angekommen, da wurde auch schon die erste Absinth-Flasche des Abends bestellt. Wie er es liebte, diese Etage zu betreten! Ein Beweis dafür, dass er es endlich geschafft hatte, immerhin stand diese Etage nur den Fürsten und ihrer Begleitung zu und er war ein Fürst. Mit einem Gebiet – dem Gebiet, dem Gebiet, das neben Ri-Ils lag, haha! – einer Horde – noch klein, aber das würde schon noch werden! – und dem Privileg, diese Etage zu betreten. Es war ein tolles Gefühl; ein Gefühl von „Ich habe es geschafft!“, weshalb die Füße auch mit extra viel Inbrunst auf den Tisch geworfen wurden. Er war Fürst! Er durfte das. Selbstzufrieden grinste er bis über beide Ohren und bereitete sich schon auf ein „Also, Lycilein, deine Tischmanieren...“ vor, als Ri-Il sich galant neben ihn setzte. Erfreut bereitete er sich schon auf eine Gegenantwort vor, genüsslich beinahe. Aber die Flasche kam, ein großer Schluck Absinth floss seine Kehle herunter... und Ri-Il hatte immer noch nichts gesagt. Er hatte ja nicht einmal seinen Sake bestellt. War er etwa immer noch mit denselben Gedanken beschäftigt, die ihm auch beim Kampf durch den Kopf gegangen waren? Kasra hatte die Konferenz kurzerhand abgesagt – woher auch Lycrams Feierlaune stammte – war es das, worüber er nachdachte? Er sollte sich lieber ein Beispiel an Lycram nehmen... „Ey, Ri-Il!“ Der Angesprochene wandte sich herum, ein wenig langsamer als normal, wie es Lycram vorkam, wenn auch nur eine Millisekunde; er war tatsächlich weit weg gewesen mit seinen Gedanken. „Das hier ist eine Bar, falls du es nicht bemerkt hast; hier kommt man hin, um zu trinken, Spaß zu haben oder irgendeinen Scheiß zu vergessen – und da ich nicht annehme, dass du etwas vergessen willst – das kannst du wahrscheinlich gar nicht?! –  ist es wohl an der Zeit, dass du mal etwas bestellst!“ Lycram wartete nicht lange und mit Inbrunst riss er den Arm nach oben und verlangte mit Hilfe seiner kräftigen Stimme nach der Bedienung; ehe Ri-Il Einwände erheben konnte, hatte sich die stämmige Frau schon zu ihnen herüber teleportiert. Sie öffnete den Mund, um nach der Bestellung zu verlangen, aber auch sie überrumpelte Lycram: „Sake! Sofort!“ Da Lycram Stammgast war, wunderte sie sich nicht darüber, dass der hitzköpfige Fürst ihr zuvorgekommen war; sie wunderte sich eher über seinen Wunsch, denn natürlich wusste sie, dass er keinen Sake trank. „So. Und jetzt....“ Lycram zog das letzte Wort besonders lang, sich dabei zu Ri-Il herumdrehend: „... erzählst du mir, was dein verficktes Problem ist!“ Ri-Il kam nicht drum herum, ihn mit offenen Augen ein wenig verdattert anzusehen; wie war es Lycram nur möglich, ihn immer wieder zu überraschen? Hmmm. Ri-Il grinste plötzlich wieder und schloss auch seine Augen: es war eben Lycram.   Der Sake kam im wahrsten Sinne des Wortes angeflogen und unter dem argwöhnischen Blick seines Sitznachbarn genehmigte Ri-Il sich auch erst einen Schluck aus dem niedrigen Schälchen, ehe er Lycrams Aufforderung nachging. „Siehst du denn keinen Grund zur Beunruhigung, Lyci?“ „Ehrlich gesagt sehe ich nur einen Grund zum Feiern! Unser König hat ein neues Spiel mit Youma anfangen und solange wir nicht mitspielen sollen und er gut abgelenkt ist, kann mir das doch egal sein. Aber scheinbar ist dir das nicht egal. Woher kommt das plötzliche Mitgefühl für Youma?“ „Oh, es geht mir nicht um Youma-san. An Kasras Verhalten Youma-san gegenüber war nichts Ungewöhnliches; er hat immerhin schon Dämonen mit Lichtintus in die Arena geschickt.“ Bei dem Gedanken lief es Lycram eiskalt den Rücken runter, was er sich natürlich nicht anmerken ließ und stattdessen einen großen Schluck seines Alkohols nahm. Das war eine schreckliche Vorstellung gewesen! Der besagte Dämon war ein Mitfürst gewesen, ein ganz neuer, noch sehr jung. Er hatte Glück gehabt und einen Kampf gegen White überlebt, obwohl sie seine gesamte Horde ausgelöscht hatte. Er hatte Kasra trotz extremen Lichtintus Bericht erstatten wollen; er war mitten in eine Konferenz geplatzt. Lycram konnte sich noch extra lebhaft daran erinnern, weil er Sprachführer gewesen war; obwohl... daran konnten sich sicherlich auch die anderen Fürsten erinnern, die wie sonst auch nur als Hologramme im Konferenzsaal sichtbar gewesen waren. Das Lichtintus war enorm gewesen; man hatte seinem Körper regelrecht dabei zusehen können, wie das Licht sein Inneres zerfraß, sich immer weiter ausbreitete, bis der Körper nicht mehr standhalten konnte. „Du bist nicht nur ein Feigling – du wagst es auch noch, mit deinem verseuchten Körper hierher zu kommen?“ Kasra hatte den ziemlich versteinerten Lycram grob zur Seite geschoben, hatte sich vor den völlig sprachlosen Fürsten gestellt, der eigentlich ein Mitglied der Elite der Dämonenwelt sein sollte, aber gegenüber dem König einfach nur schwaches Ungeziefer war, und das Urteil seines Königs auch einfach nur ohnmächtig hinnehmen musste: „Aber ich werde dir beweisen, dass ich mich nicht anstecken lasse. Ich werde dir zeigen, wie mächtig dein König ist!“ Kasra hatte den völlig wehrlosen Fürsten regelrecht auseinander genommen – und das obwohl er dank des Lichtes sowieso schon im Begriff war, von innen heraus zu sterben –in einer überraschend langen Privatvorführung für die Fürsten, die er alle zum Kommen beordert hatte.   „Meine Befürchtung ist...“, begann Ri-Il, die Oberfläche seines Sakes ansehend, auf dem sich die Ringe sacht ausbreiteten: „... dass dieser Nocturn Kasras Sohn ist.“ „Du meinst, weil er offensichtlich Menuéts Sohn ist? Das bedeutet aber doch nicht, dass Kasra gleich der Vater ist.“ Ri-Il war kurz davor, seinem Mitfürsten mit einem Blick zu bedeuten, dass er solche Dinge vielleicht nicht zu laut sagen sollte, aber da senkte Lycram schon selbst die Stimme; wieder bis über beide Ohren grinsend: „Was ist, wenn Menuét fremdgegangen ist und sich von jemand anderem hat schwängern lassen? Oh, das würde ich dem König gönnen! Das würde auch erklären, warum sie nicht mehr da ist und warum dieser komische Dämon sich in der Menschenwelt aufgehalten hat.“ „Kasra hätte ihn umgebracht, sobald er die Gelegenheit gehabt hätte“, antwortete Ri-Il nach wie vor angespannt, was Lycram zu irritieren schien. Mit einer fahrigen Bewegung griff er wieder nach seiner Flasche und nahm einen großen Zug; er ließ diese allerdings beinahe fallen, als er sah, dass Ri-Il sich aufrichtete. „Ey! Wo...“ „Danke für den Sake, Lycilein! Ich muss einigen Dingen nachgehen; entschuldige mich daher bitte.“ Mit einer galanten Handbewegung setzte Ri-Il seinen Zylinder auf, grinste, wie Lycram es eigentlich von ihm gewohnt war, und mit einem Zwinkern und folgenden Worten verschwand er: „Ich revanchiere mich das nächste Mal dafür ♥!“ Als Ri-Il dies sagte wurde Lycram rot – aber er wusste nicht warum. Es musste der Alkohol sein. Ja. Definitiv.     Nach dem Kampf war Nocturn klar geworden, dass er in etwas hineingeraten war, was größer war und nicht nur darum handelte, dass er White treffen durfte. Sein Verdacht war erregt worden, als er am Ende des Kampfes bemerkt hatte, dass man Youma mit einer verletzten Hand hatte kämpfen lassen. Natürlich hätte es auch dämonischer Stolz von Youmas Seite aus sein können, der ihn dazu gebracht hatte, trotz verletzter Hand zu kämpfen – aber er hatte in Paris noch versucht, Nocturn davon abzubringen, den Kampf an diesem Tag auszuführen. Das hätte er nicht getan, wenn er dem Kampf freiwillig zugestimmt hätte –trotz gebrochener Hand – er war also... gezwungen worden. Nocturn wusste nicht genug über die Dämonen, um beurteilen zu können, ob das normal war... aber das Lachen Kasras nach dem Kampf, als sie alleine waren… wie er Youma ausgelacht und beleidigt hatte und wie er Nocturn gelobt hatte... das hinterließ nicht nur einen bitteren Nachgeschmack, sondern machte Nocturn auch wütend. Für so eine Niederträchtigkeit, bei der er ohne es zu wissen mitgespielt hatte, wollte er nicht gelobt werden. „Du hast hoffentlich nichts gesagt.“ Raria sah sehr ernst aus. Sie hatte ihren Haarknoten aufgelöst und saß nun mit herunter hängenden dunklen Haaren vor ihm am Küchentisch. Eine Ausgabe der Le Figaro lag auf dem Tisch, es roch nach Kaffee, von fern waren bereits die ersten morgendlichen Vögel zu hören. Aber die Sonne war noch nicht aufgestanden, weshalb das einzige Licht in der Küche die niedrige Deckenlampe war, die einen kreisrunden Lichtkegel auf dem Tisch entstehen ließ. „Nein, habe ich nicht, obwohl ich es wollte. Ich wollte eigentlich sagen, dass wir den Kampf nochmal wiederholen sollten, sobald die Hand von diesem Youma wieder geheilt war – das wäre doch das einzig Faire?“ Raria antwortete nicht, aber sie lächelte kurz zufrieden über diese Antwort. Das sah Nocturn jedoch nicht, da sie ihr Gesicht halb durch ihre gefalteten Hände verbarg. „Aber in dem Moment habe ich versucht, seine Gedanken zu lesen.“ Rarias Augen fixierten ihn eindringlich; eigentlich sollte sie ihn jetzt zurechtweisen, denn sie hatte ihm verboten, diese einzigartige Fähigkeit überhaupt zu benutzen. Aber stattdessen schwieg sie angespannt. Ihr Neffe schien dieses Gefühl zu teilen; seine weißen Hände klammerten die Tasse förmlich an sich: „Ich konnte sie nicht lesen.“ Die Augen seiner Tante weiteten sich überrascht und völlig perplex über diese Aussage fielen ihre Arme geräuschlos auf den Tisch, aber sie sagte nichts; sie ließ Nocturn fortfahren: „Ich habe es versucht, aber es war, als würde eine Wand mich blockieren. Vielleicht hätte ich es schaffen können, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte oder Körperkontakt... aber...“ Er biss sich kurz auf die Unterlippe, wandte sich nun von seiner Tasse ab, hob den Kopf und sah Raria direkt an: „Da war so viel Boshaftigkeit. So viel habe ich selten gespürt. So viel reine Boshaftigkeit... Boshaftigkeit, die nicht aus Trauer, Leid und Einsamkeit geboren ist... sondern aus der schieren Boshaftigkeit selbst. Wie ein Abgrund, in dem sich nur dieses Gefühl und dieser eine Drang befindet. Ich dachte nicht... dass das möglich ist.“ Kurz sah Nocturn wieder weg, schwieg, lauschte kurz dem fernen Zwitschern der Vögel, ehe er weitersprach: „Es ist nicht so, dass ich mich deswegen nicht getraut habe, es zu sagen, es ist nur...“ Nocturns Tasse knackte, er klammerte sie zu fest an sich, aber er bemerkte das Geräusch gar nicht, denn die Schuldgefühle, die in ihm aufkamen, übertünchten alles.   „Ich habe uns in Gefahr gebracht, oder, Raria?“ Obwohl sie das Leid deutlich in seinen Augen ablesen konnte und sie Mitgefühl für ihn empfand, blieb sie dennoch hart: „Ja, das hast du mit deiner egoistischen Unüberlegtheit.“ Schuldbewusst senkte er den Kopf, was Raria allerdings nicht zum Schweigen brachte: „Aber wir verschwenden nur unsere Zeit, wenn wir darauf jetzt rumreiten – und wir haben nicht mehr viel davon. Jetzt zählt jede Sekunde.“ Mit einem entschlossenen Ruck richtete sie sich auf, schob den Stuhl wieder an den Tisch und ging zur Tür, wo sie das Licht ausschaltete; das Dämmerlicht war angebrochen und tauchte die Küche nun in ein dunkles Blau. Die Augen der beiden Dämonen leuchteten in dieser unheilschwangeren Atmosphäre, die eigentlich so friedlich war. „Was hast du vor, Raria?“ Nocturn saß noch auf dem Stuhl, auf dessen Lehne sein Name eingeritzt war, sich zu ihr herum drehend und sie verwirrt ansehend. Raria antwortete nicht sofort. Sie sah ihn an, lange. Aber nicht nachdenklich, sondern... traurig. Aber gerade als Nocturn noch einmal fragen wollte, festigte sich ihr Blick. „Das wird unser letztes Werk, Nocturn.“ Langsam, ein wenig zögerlich... und Nocturn wusste warum, denn solche Dinge waren für sie ungewohnt, aber sie tat es dennoch und beide sahen sich in die Augen, bewusst, welche Bedeutung hinter Rarias Hand lag, die sie auf seinen Kopf gelegt hatte, dort kurz verweilte, ehe sie sie an seine Wange legte. Sie lächelte eigenartig; eigenartig sehnsüchtig und traurig. „Es ist Zeit, dass wir aufwachen.“     Den Schlaf der Gerechten nannte Youma momentan noch sein Eigen. Er lag auf seinem Bett, mehr begraben in Kissen als unter der leichten Decke, die auf den Boden gerutscht war und nur noch an seinem Fuß festhing. Seine linke Hand hing schlapp über der Bettkante, die andere war unter seinem Kopf, in seinen Haaren, vergraben. Sein Mund war leicht geöffnet, seine Haare überaus zerzaust und unordentlich. Er schlief tief und fest. Aber darauf nahm Kasra natürlich keine Rücksicht. Mit einem Knall wurde die Tür zu Youmas Zimmer aufgestoßen, aber nicht einmal das konnte Youma wecken. Er gab erst ein noch halb schlafendes Murren von sich, als Kasra sich zu ihm auf das Bett warf, das eine Bein über das andere geworfen. „Youma! Aufstehen!“ Grinsend, wie ein kleines Kind, beugte er sich über Youma, der ihn immer noch nicht bemerkt hatte. Eine einzelne Strähne rutschte über seine Wange, als er seinen Kopf leicht bewegte – eben dieser sprang nun in die Höhe, als Kasra kurzerhand gegen seine linke Hand trat, um ihn zu wecken.   Die Schmerzen, die Youma dabei natürlich durch den Körper jagten, waren besser als jeder Wecker und sofort war der Halbdämon hellwach. Eine Entschuldigung gab es dafür natürlich nicht; Kasra grinste einfach nur, klopfte ihm auf das angewinkelte Knie und sprach: „Auf geht’s, Youma! Es gibt viel für dich zu tun!“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)