Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 6: Il commence - Opus II -------------------------------- Opus Magnum   Il commence - Opus II     „Guten Tag.“ Misstrauisch lagen die Augen Youmas auf der Frau vor ihm im Eingangsbereich des großen Hauses; misstrauisch, aber auch verblüfft. Er musste zugeben, dass er sich Raria anders vorgestellt hatte... älter. Um einiges älter. Er wusste es nicht, er hatte nicht zu viele Gedanken an sie verschwendet. Aber obwohl er sich was das Alter anging verschätzt hatte, hatte er ansonsten mit seiner Einschätzung ganz richtig gelegen; sie sah sehr streng aus. Das strahlten nicht nur ihre braunen Augen aus, die Youma genauso streng musterten wie umgekehrt, sondern auch ihr nach oben gesetztes schwarzes Haar; ihr formelles, figurbetontes, aber schlichtes, braunes Kleid und nicht zuletzt ihre Haltung. In ihrer Haltung lag Würde und Selbstachtung. Sie übernahm auch sofort die Führung des Gespräches: „Dank Nocturn weiß ich, wer du bist und ich denke, du weißt auch, wer ich bin.“ Youma deutete ein Nicken an: „Ja, ich nehme an, dass sie Raria-san sind.“ Sie nickte ebenfalls auf eine sehr ruhige Art, die ihr Haar kaum in Bewegung brachte. „Nur verstehe ich nicht, was wir hier tun...“, fuhr Youma fort, einen Seitenblick zu Nocturn werfend, der sich in aller Alltäglichkeit Schuhe und Mantel auszog und in die Garderobe hängte. Der Halbdämon machte keine Anstalten, es ebenfalls zu tun; auf der einen Seite war er zu verwirrt und zu skeptisch den aktuellen Begebenheiten gegenüber und auf der anderen wollte er sich hier nicht allzu häuslich niederlassen. Er war immerhin Observator, kein Teilnehmer... was auch immer die beiden vorhatten. „Nun, wir bereiten dem König die versprochene freudige Überraschung“, erwiderte Raria, ohne dabei irgendwie „erfreut“ auszusehen; sie verzog absolut keine Miene, behielt ihre strengen Gesichtszüge aufrecht. Ob sie immer so war - oder war sie einfach nur skeptisch wegen Youmas Anwesenheit?   Youma hatte nicht das Gefühl, dass es angenehm war, länger mit ihr zusammen zu sein... eigenartig, dass Nocturn so einen sorglosen und kindischen Eindruck machte, wenn er mit so jemandem zusammen gelebt hatte. „Aber zuerst werden wir frühstücken. Nocturn, sei so lieb und setz den Kaffee auf. Youma, trinkst du Kaffee?“ Der Angesprochene war für einen Moment zu perplex, um zu reagieren und achtete auch nicht sonderlich darauf, wie Nocturn an ihm vorbei huschte, um in die Küche zu gelangen. Daher kam also der angenehme Geruch, der sich schon beim Betreten des Hauses in Youmas Nase geschlichen hatte; er hatte ihn verdrängen wollen, aber er war sehr... aufdringlich. Es war lange her, dass Youma ein Frühstück gehabt hatte. Es war nicht so, dass Kasra ihn hungern ließ, aber viel Nahrung bekam Youma deswegen trotzdem nicht. Er bekam sie sporadisch und auch in sehr unterschiedlichen Mengen, je nachdem wie gut Kasras Stimmung war. Manchmal nahm er ihn mit zu sich an den Tisch, wo Youma sich dann bedienen durfte; aber auch da musste man aufpassen. Es konnte nämlich sein, dass Kasra es dann doch plötzlich als zu frech empfand, dass sein „Fußvolk“ sich an seinem Essen „labte“ und er einem dann den Teller unter der Gabel wegriss. Natürlich, alles Teil seines Spiels, besonders gerne angewandt in Kombination mit einer langen Durststrecke davor. Aber Youma war da nicht der einzige; er tat es mit jedem, der auf ihn angewiesen war. Mit seinen Frauen, mit seinem Personal. Mit jedem. Sie waren alle seine Spielzeuge, seinem Sadismus dienlich…     Trotzdem wollte Youma sich nicht zu ihnen an den Küchentisch setzen. Er verstand nicht, warum sie in dieser Situation überhaupt an solche Dinge denken konnten, aber das war ihre Sache. Youma war gespannt auf Kasras Blick, wenn er ihm erzählte, dass das erste, was sie getan hatten, daraus bestand, erst einmal ausgiebig zu frühstücken… Youma würde einfach im Hausflur bleiben und darauf warten, dass sie fertig gegessen hatten, aber obwohl Nocturn bereits in der Küche verschwunden war, bewegte Raria sich nicht – und ihr Blick lag auch immer noch auf Youma.   „Du hast sicherlich lange nichts mehr gegessen.“ Youma antwortete nicht. Ihr Blick wurde eindringlicher, als wollte sie in das Tiefste seiner Seele blicken. Er musste zugeben, dass er sich wirklich bemühen musste, ihrem Blick standzuhalten, denn er hatte tatsächlich das Gefühl, dass es ihr gelingen würde. Und dann lächelte sie plötzlich; kein besonders deutliches Lächeln, nur ein kleines Zucken ihrer Mundwinkel, aber doch wurden ihre Augen kurz erwärmt: „Wenn du schweigst, schweige ich auch.“   Dann drehte sie sich um und verschwand in die Küche. Verdattert und verwirrt blieb Youma stehen, auf die lebhafte Stimme Nocturns und den angenehmen Geruch des Kaffees nicht achtend. Was hatte sie damit gemeint? Wie sollte er diese Aussage verstehen? Er war verwirrt, gänzlich verwirrt – aber ganz automatisch wanderte seine Hand zu dem Knopf, der seinen Umhang zusammen hielt und schon hing der Umhang an der Garderobe und die Stiefel darunter.     Was war es für ein Genuss, ein richtiges Frühstück zu essen! Wie lange war es her, dass er auch nur in die Nähe eines Eies gekommen war – und Orangensaft! Er hatte ganz vergessen, dass es Säfte gab... im Schloss seines Königs sah er immer nur Wasser und Alkohol, aber nie Säfte und er... ja, er hatte Säfte immer geliebt. Allgemein Früchte. Oh, wie lange war es her, dass er einen Apfel vom Baum gepflückt hatte, um ihn zu essen... Youma befahl sich selbst, standhaft zu bleiben und nicht in Erinnerungen zu schwelgen. Aber seine Erinnerungen gehorchten ihm nicht, ließen Bilder einer vergangenen, glücklicheren Zeit vor seinem inneren Auge auftauchen; die Ernte im Herbst, das frische Obst, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Silence in die Baumkronen hinauffliegen, um die dort hängenden Äpfel herunter zu holen, im Glauben, dass die höchsten Äpfel die besten waren... es war so lange her.   Ach… Silence. Wie sehr er sie vermisste. Wie selten er an sie zurückdachte, zurückdenken wollte, weil ihn dann seine Einsamkeit zu zerreißen drohte… Seine geliebte Zwillingsschwester. Wie sehr vermisste er nicht ihre Stärke, ihren Halt! Ihr Lächeln, ihre manchmal harten Worte… einfach ihr Dasein. Er trug nicht einmal mehr den Ring, der ihren Bund bezeugte, aus Angst davor, in Kasra irgendwelche Gedankenstöße zu wecken, die ihn dazu bringen könnten, ihm das goldene Schmuckstück zu entreißen, einfach weil es ihm wichtig war. Aber die Ohrringe, die sie sich einst gegenseitig geschenkt hatten… die schwarzen, von seinen Ohren herunter hängende Prismen – die trug er. Sie waren zu sehr ein Teil von ihm.   Eigentlich schmerzte der Gedanke an Silence ihn immer, aber in diesem Moment dachte er mit einem Lächeln an sie, sich auf deren gemeinsame Erinnerungen besinnend, die nicht von Blut und Grauen und Verrat befleckt waren. Ja… an Blut… und… Verrat… wollte er nicht mehr denken. Er pflegte schon zu oft davon zu träumen.       Nachdem Youma das Glas mit Orangensaft in schweigsamer Euphorie ausgetrunken hatte und daraufhin gleich das nächste Glas mit Apfelsaft gefüllt hatte, bemerkten auch Raria und Nocturn, dass Youma offensichtlich eine Vorliebe für Säfte hatte; seinen Kaffee hatte er gänzlich unberührt gelassen. „In der Vorratskammer haben wir auch noch Kirschsaft; wenn du möchtest, hole ich ihn dir hoch?“, fragte Nocturn recht überrascht, Youma plötzlich so strahlend zu sehen, dessen Strahlen nach Nocturns Worten sogar noch größer wurde. „Wirklich!? Oh, das wäre wirklich ganz...“ Aber kaum, dass er den Mund geöffnet hatte und seine eigenen Ohren realisiert hatten, wie erfreut er klang, kehrte er prompt zu seinem ernsten Selbst zurück, sogar ein wenig beschämt. Was tat er hier eigentlich? Es war nur Saft. Das war kein Grund, sich so kindisch zu benehmen und sowieso... er sollte sich nicht zu sehr daran gewöhnen, immerhin war es ihm nicht möglich, im Schloss an Saft zu gelangen. Für einen kurzen Augenblick stellte er sich vor, wie Kasra reagieren würde, wenn Youma ihn einfach fragen würde; würde er ihn auslachen oder ihn irgendwie erpressen?   „Bist du dir sicher?“, bohrte Nocturn nach, mit einem großen Grinsen; scheinbar gefiel es ihm sehr gut, dass Youma sich für irgendetwas schämte, aber so leicht ließ dieser sich nicht aus der Reserve locken: „Ja, ich bin mir sicher.“ Aber Nocturn war auch nicht leicht abzuschütteln: „Das ist wirklich absolut kein Problem; wir haben auch noch ganz viele andere Sorten, weißt du?“ „Danke vielmals, aber ich...“ „Wir haben auch noch Traubensaft, Ananas...“ „Traubensaft? Oh, den mag ich so ger – trotzdem, nein. Nein, danke.“ „Ah, ich glaube dir kein Wort! Ich...“ „Nocturn.“   Ein Wort aus Rarias Munde hatte genügt, um Nocturn zum Schweigen zu bringen. Das Grinsen war verschwunden und schuldbewusst wandte er sich wieder seinem Schokoladencroissant zu, wie ein kleines Kind, das zurechtgewiesen worden war. Raria hatte ihn wirklich unter Kontrolle; sie hatte es nicht einmal sonderlich wütend oder genervt gesagt; nicht einmal aufgesehen hatte sie dafür. Aber obwohl sie ihn zurechtgewiesen hatte, warf Nocturn Youma dennoch ein verstohlenes Grinsen zu und schob den Apfelsaft näher an ihn heran, was der Halbdämon aber strikt ignorierte.   Raria setzte Nocturns Spielereien endgültig ein Ende, als sie begann, über das bevorstehende Training zu sprechen. „Wir werden uns erst einmal den allgemeinen Kampftechniken zuwenden“, begann sie, Messer und Gabel ordentlich auf den Teller legend. „Das Training wird hier im Wald stattfinden, was natürlich bedeutet, dass es bei diesem Training nicht um Magie geht und die natürlich nicht eingesetzt werden darf.“ Nocturn nickte einfach nur, ohne Fragen zu stellen, was Youma wunderte; er hatte schon ziemlich viele und das obwohl es dabei nicht einmal um ihn und sein Training ging; Nocturn dagegen akzeptierte Rarias Entscheidungen einfach nur. „Erst einmal werden wir uns den grundlegenden Dingen zuwenden. Nocturn, du achtest mit deinem Gedankenlesen während des Trainings bitte auch auf deine Umgebung; nicht dass uns doch plötzlich einer unserer Nachbarn überrascht.“ „Gedankenlesen?!“ Youma verschluckte sich, hustete und wandte sich dann an Nocturn, der ihn fragend ansah, scheinbar konnte er nicht verstehen, warum er so aufgeregt war: „Gedankenlesen?! Du kannst Gedanken lesen?!“ Ab und zu hatte Youma Erzählungen darüber gehört, dass es Wesen geben sollte, die dieser einzigartigen Fähigkeit mächtig waren, aber er hatte es immer angezweifelt. Und wenn es diese Wesen gab, dann mussten sie sehr mächtig sein… und hier saß ein Dämon, der das Leben eines Menschen lebte und konnte Gedanken lesen?! Nocturn?! „Keine Sorge“, antwortete Nocturn, seinen Kaffee trinkend: „Ich mache das normalerweise nicht. Ich habe gelernt, es auszuschalten. Zugeben, ich habe versucht, deine zu lesen…“ Youma wurde mit einem Mal so blass, dass er Rarias zusammengekniffene Augen nicht sah, die Nocturn sofort sagten, dass sie das nicht begrüßte; sie hatte es ihm nicht umsonst verboten. Aber in Anbetracht dessen, dass Youma kein Mensch, sondern ein Dämon und damit eine potentielle Gefahrenquelle war, ließ sie es durchgehen. „… aber es hat nicht funktioniert. Wir scheinen gleichstark zu sein, hehe!“ Jetzt wanderte Rarias skeptischer Blick zu Youma, der sich von dieser erschreckenden Neuigkeit erst einmal erholen musste, ehe er sich Raria zuwandte und zum eigentlichen Thema zurückfand: „Warum findet das Training denn nicht einfach an einem anderen Ort statt? Hier in der Menschenwelt gibt es doch sicherlich auch abgelegene Orte.“ Nocturn sah ihn verblüfft an, als würde er sich wundern, dass Youma überhaupt auf den Gedanken kam, Rarias Entschlüsse zu hinterfragen; sie dagegen schien es nicht zu stören: „Nun, da es in diesem Training erst einmal nur um eure Grundausbildung geht, halte ich einen Ortswechsel nicht für nötig.“ Gut, wenn es heute nur um die Grundausbildung ging, dann... warte. „... eure?“ Raria sah nun auf: „Aber natürlich. Nocturn benötigt einen Trainingspartner und dieser werde nicht ich sein. Ich kämpfe nicht.“ Youma versuchte, dieser Aussage mit einem ruhigen Lächeln zu erwidern, aber es gelang ihm nicht gänzlich: „Natürlich ist Trainieren einfacher mit einem Partner, aber ich bin nur hier als Observator und Berichterstatter für den König.“ „So?“ Raria klang gleichgültig, als sie dies sagte: „Ich dachte eigentlich, kein Dämon wäre Training abgeneigt; besonders wenn man Botschafter des Königs ist?“ Youmas Antwort folgte zu schnell, zu gedankenlos und zu emotional: „Der König würde es nicht erlauben, dass ich...“ Die beiden Dämonen sahen ihn fragend und skeptisch an, worauf Youma versuchte nicht zu achten, denn es war ihm peinlich, dass ihm das herausgerutscht war. Aber... Raria hatte eigentlich recht. Alle Dämonen trainierten viel; auch Kasra vergaß nie das Training und es sollte auch für Youma normal sein... Wenn er so genauer darüber nachdachte, so hatte Kasra es ihm eigentlich nie direkt verboten; er hatte nur... jegliche Möglichkeiten blockiert, in denen Youma etwas hätte lernen können. Vielleicht war das jetzt die Chance? Viel konnte er sich wahrscheinlich nicht erhoffen zu lernen, aber alles war besser als nichts... und er musste es Kasra ja nicht erzählen. So konnte er ihn vielleicht beim nächsten Kampf wenigstens ein wenig überraschen. Ihn zur Abwechslung mal überrascht zu sehen... ja, das wäre ein Genuss.   Raria hatte ihm angesehen, dass er seine Meinung geändert hatte, weshalb sie das Thema für abgeschlossen hielt; statt also weiter darüber zu sprechen, beorderte sie Nocturn dazu, die Küche aufzuräumen, während sie Youma den Befehl gab, ihr zu folgen. Ein wenig unsicher warf Youma Nocturn einen Blick zu, doch dieser bemerkte es nicht, da er dabei war, summend die Teller zu stapeln, genau wie Raria es ihm aufgetragen hatte. In diesem Haus war sie scheinbar die Königin. „Warte hier einen Moment“, befahl sie und zeigte in die Stube; noch bevor Youma etwas sagen konnte, war sie die Treppe hinauf gestiegen.   Aus der Küche drang Geklapper und das Geräusch des fließenden Wassers zu ihm, aber der Gedanke, dass er Nocturn ja helfen könne mit dem Abwasch bis Raria zurückkam, streifte ihn nicht. Stattdessen sah er sich neugierig in der Stube um: ein großer Raum, dessen eine Seite komplett von Bücherregalen eingenommen wurde. Youma konnte die Buchrücken natürlich nicht lesen, aber er schätzte einfach, dass sie alle um Musik handelten, so wie die Gemälde es auch taten. Links und rechts neben der großen Öffnung in der Wand, die vom Gang direkt in die Stube führte, hingen zwei Gemälde von Musikern: rechts ein Geigenspieler, links ein Mensch, der Cello spielte. Die Stube wirkte dank ihrer dunkelroten Verkleidung und dem dunklen Parkett nicht gerade einladend, sondern eher düster, vermittelte einem aber den Eindruck von Sauberkeit und Ordnung; nichts Überflüssiges lag herum, nichts wirkte irgendwie deplatziert. Die Kissen auf den doch recht gemütlich aussehenden Sofas wirkten sehr steif und es waren schwere Vorhänge vor den hohen Fenstern angebracht, die sicherlich in der Lage waren, sämtliches Licht auszusperren. Um der Düsterkeit des Raumes entgegenzuwirken, waren sehr viele kleine Tischlampen aufgestellt; alle ähnlich vom Stil her, mit olivgrünen Schirmen aus Glas; auch über dem massiven, langen Esstisch zu Youmas Rechten hingen diese Lampen aus grünem Glas. Alles in allem ein Raum... der vielleicht ein wenig düster wirkte, aber doch sicherlich ein Raum war, in dem man sich länger aufhalten mochte, besonders wenn die Lampen entzündet waren.   „Setz dich.“ Youma erschrak, als er Rarias ruhige Stimme neben sich hörte; wie lange war sie schon da gewesen? Aber lange stellte er sich diese Frage nicht, denn er wurde abgelenkt von dem kleinen Kästchen, welchen sie in ihrer Hand hielt und auf dessen Deckel ein kleines, türkises Kreuz war.     Sie erklärte es ihm nicht, aber sobald sie sich an den Esstisch setzten – die Stühle waren überraschend bequem – verstand Youma, dass es sich bei dem Kästchen um einen Verbandskasten handelte – und dass es ihre Absicht war, ihn zu verarzten, wurde ihm auch schnell bewusst, als Raria mit ihren Augen auf seine Hand deutete. Dennoch überreichte er ihr diese nicht; es war wirklich freundlich von ihr, dass sie ihm Verband anlegen wollte, aber er wollte es lieber selbst tun... aber sie kam ihm zuvor: „Gib mir bitte deine Hand; es wird die Heilung beschleunigen, wenn Verband darum gelegt wird und es ist umständlich, es alleine zu tun. Außerdem habe ich Erfahrung damit.“ Youma zögerte, doch nach einem kurzen Schweigen legte er seine gebrochene Hand vorsichtig in ihre. Raria hatte sehr kleine Finger, bemerkte er dabei; ganz anders als Nocturns. Aber ihre Finger waren kalt, was er in diesem Moment als sehr angenehm auffasste; ihre kühlen Finger linderten den Schmerz.   Sie beherrschte ihr Handwerk tatsächlich; zehn Minuten später befand sich Youmas Hand in einem gut angelegten Verband. Er konnte regelrecht spüren, wie ihm seine Regenerationsfähigkeiten für diese Hilfe dankten. Sie hatten bereits gute Arbeit geleistet; die Schürfwunden an seiner Stirn waren verschwunden, genau wie die Kratzspuren Nocturns – aber eine gebrochene Hand und fünf gebrochene Finger waren ein anderer Härtegrad.       „Vielen Dank, Raria-sa-“ Doch beide wurden überrascht und fuhren erschrocken zusammen, als ein lautes Krachen aus der Küche durch das Haus fegte. „Oh mon dieu! Desolé, desolé, Rar-“, ertönte Nocturns aufgeregte Stimme, kaum dass das Krachen verklungen war, aber schnell wurde er unterbrochen; abrupt sprang Raria auf die Füße und auch sie brach in Französisch aus: „Nocturn! Ne me dit pas que c'était la chère, porcelaine danoise, ce que tu as là juste ruiné?!“ Und schon war sie in die Küche gerannt, wo Youma Nocturn weiterhin sich entschuldigen hörte; jedenfalls deutete er das vom Tonfall her. Irgendwie... Youma wusste nicht, warum... aber er spürte, wie ein leichtes Schmunzeln über seine Lippen huschte. Aber es verschwand schnell, als er seine nun weiße Hand ansah.   Warum wollte Nocturn das bloß aufgeben?         Raria war ohne Zweifel eine erbarmungslose Lehrmeisterin; angsteinflößend gar. Langsam verstand Youma, warum Nocturn um alles in der Welt vermeiden wollte, sie wütend zu machen... es war sicherlich keine gute Idee, das zu tun. Nein, sicherlich nicht. „Nocturn, was soll das?! Das waren drei Lücken in nur zwei Minuten!“ Wie ein beobachtendes Tier zog sie langsam und beobachtend ihre Kreise um die beiden Dämonen, die im Nahkampf vertieft waren. Sie befanden sich am Fuße der hohen Steilklippen, auf einem dünnen, steinigen Stück Strand, innerhalb eines Kreises, der einen fünf Meter Radius beschrieb. Die Aufgabe bestand darin, nicht aus dem Kreis heraus zu kommen; weder durch eigene Ungeschicklichkeit noch durch den Gegner. „Und, Youma! Ich hätte gedacht, du wärst intelligenter als Nocturn-“ „Qua?!“ „- Und in der Lage, seine Lücken zu durchschauen! Er hat dir wirklich lange genug seine Angriffsfläche offenbart!“ Nocturn grummelte eingeschnappt, war aber dennoch in der Lage, Youmas Schlag mit der Rechten mittels eines Rückwärtssaltos auszuweichen. Rarias Reaktion folgte sofort: „Wenn du glaubst, mich oder deinen Gegner mit solchen Spielereien beeindrucken zu können, Nocturn, dann liegst du falsch!“ Obendrein war der nun wirklich sehr beleidigt aussehende Nocturn – er wollte wahrscheinlich wirklich gelobt werden – durch seinen Salto ziemlich nah an den Rand gekommen, wie Youma auffiel. „Aber, Raria! Wenn ich kämpfen und Gedankenlesen gleichzeitig machen muss, dann bin ich natürlich abgelenkt...“ Raria ließ da natürlich überhaupt nicht mit sich reden: „Junge, du musst immer auf die Umgebung achten! Immer!“   „J-Junge!? Du... du hast mich schon lange nicht mehr...“ Genau in dem Moment traf ihn Youmas Bein seitlich und Nocturn verlor den Boden unter den Füßen: „Wenn du ins Meer stürzt, wirst du deine Kleidung selbst waschen, Junge.“ Ob es nun die Unlust war, seine Kleidung selbst zu waschen oder einfach nur Können, so fing Nocturn sich auf jeden Fall noch selbst ab, ehe er in die Wellen stürzte. „Der erste Kampf geht offensichtlich an Youm-“ Ohne auf Rarias Worte zu achten, oder vielleicht ignorierte er diese auch willentlich, schoss Nocturn ohne Vorwarnung und mit ausgefahrenen Fingernägeln wieder auf Youma zu; dieser machte sich bereit zum Ausweichen, Nocturns Blick genauso kampfeswillig erwidernd, aber es kam anders: „Nocturn!“ Und ein weiteres Mal hatte ihre Stimme dieselbe Wirkung auf ihn wie beim Frühstückstisch; er verharrte sofort. Trotz zeigte sich aber dennoch in seinem Gesicht und eingeschnappt sah er zu ihr herüber, während er auf dem Sand landete. „Ich habe den Kampf beendet und wenn ich den Kampf beendet habe, dann ist er auch beendet, verstanden?! Gefühlsausbrüche kannst du dir für die Musik aufbewahren, aber in den Kampf gehören solche Ausbrüche nicht hin!“ Dieses Mal schien Nocturn nicht willig zu sein, ihre Worte einfach so einzustecken. Mit anklagendem Finger zeigte er auf Youma, der seine Arme über der Brust verschränkt hatte und dem Ganzen aufmerksam folgte: „Warum kritisierst du nur mich!? Er hat doch auch Fehler gemacht!“ „Und meine Kritik sofort umgesetzt, indem er deine Lücken ausgenutzt hat. Youma hat alles richtig gemacht. Also muss ich ihn nicht kritisieren.“ Nocturn wollte scheinbar noch etwas erwidern, aber schien dann zu bemerken, dass er dazu kaum etwas sagen konnte, weshalb er einfach weiterhin schmollte, aber nicht ohne Youma einen finsteren Blick zuzuwerfen, was Youma mit einem neckenden Grinsen erwiderte. War da etwa jemand eifersüchtig? „So, weiter geht es mit der zweiten Runde – Nocturn, achte auf deine Lücken!“     Youma spürte jeden einzelnen seiner Knochen; wie erbarmungslos Raria gewesen war! Ob das Nocturn auch so ging - oder war es einfach nur er, der keine Ausdauer besaß und nun dank mangelnder Übung deutlich spürte, dass er am nächsten Morgen mit Muskelkater aufwachen würde; und dann musste er auch noch so früh aufstehen... Er war jetzt schon erschlagen. „Aber geschlaucht auf eine gute Art, oder, Youma-kun?“ Youma war kurz überrascht, die Stimme seines göttlichen Gönners zu hören; er hatte sie lange nicht mehr gehört und er spürte sogar kurz eine leichte Freude in sich aufflammen darüber, ihn wieder zu hören. Aber auch dieses Mal kehrte er schnell zu seinem ernsten Ich zurück: „Das wird sich morgen herausstellen.“ Dann klopfte er an die Tür, die ihn von Kasra trennte; die Tür, die zu seinem Privatbadezimmer führte. Er hatte natürlich nicht vor, den Raum zu betreten, aber er wollte seine Rückkehr anmelden, damit er das unvermeidliche Gespräch mit seinem König schnell hinter sich bringen konnte; er wollte so schnell wie möglich ins Bett.   Die schwere Tür öffnete sich einen Spalt breit und zusammen mit heißem Dampf steckte ein pinkhaariges Dämonenmädchen ihren Kopf heraus, Youma ängstlich ansehend, aber auch mit einer Spur Hoffnung, was Youma nicht gerade ein gutes Gefühl gab – was hatte Kasra jetzt schon wieder getan?   „Ja... Sie wünschen?“   „Ich wollte nur ankündigen, dass ich...“ „Youma!?“ Oh nein, dachte er, oh nein, nicht aus einem bestimmten Grund, sondern einfach aus Erfahrung. „Mädel, steht nicht im Weg rum! Youma sieht zwar aus wie eine Frau, ist aber ein Mann – lass ihn reinkommen!“ Das Mädchen und Youma warfen sich vielsagende Blicke zu; sie kannten sich nicht, aber sie waren im Einverständnis miteinander, denn sie waren beide im selben Boot. Youma hatte wirklich keine Lust, das Badezimmer zu betreten, wenn Kasra gerade am Baden war, aber ihm blieb wohl gar keine andere Wahl als sich dem Wunsch des Königs zu fügen.     Das riesige Badezimmer war unglaublich luxuriös gebaut worden: mit überaus hohen Wölbungen, Fenstern, deren obere Hälfte mit rotem Glas ausgelegt war, die aber ansonsten einen freien Ausblick auf Lerenien-Sei bot. Einer der Gründe, weshalb Kasra das Fliegen in Lerenien-Sei verboten hatte; denn natürlich wollte er, der König, nicht beim Baden gestört werden, weshalb man eine Flughöhe von 30 Metern nicht überschreiten durfte. Über dem großen, im Boden eingelassenen Wasserbecken hing ein gigantischer goldener Lüster herab, was gut zum Rest des Badezimmers passte, da es allgemein in Gold- und Rottönen gehalten war. Es passte zu Kasra; man sah dem Raum förmlich an, dass er ihn selbst gestaltet hatte.    Youma war dankbar darüber, dass Kasra mit dem Rücken zu ihm im Wasser saß; ihm persönlich war es egal, ob sie dasselbe Geschlecht hatten; baden war Privatsphäre, weshalb er auch auf Abstand blieb, was bei der Größe des Raumes, oder eher des Saales, nicht sonderlich schwer war.   Kasra warf ein kurzes Grinsen über seine muskulöse Schulter hinweg, ohne darauf zu achten, dass er damit die Arbeit der zwei Mädchen behinderte, die beide dabei waren, seine schwarzen Haare feinsäuberlich mit Shampoo einzureiben. Das andere Mädchen war auch zu seiner Arbeit zurückgekehrt: es säuberte Kasras Fingernägel. Kasra war nämlich ein sehr sauberer Dämon, weshalb ihm das Badezimmer auch besonders wichtig gewesen war; er wusch sich oft – oder eher ließ sich waschen – und achtete sehr darauf, dass er nicht dreckig war. Nicht nur aus Eitelkeit, glaubte Youma, sondern weil es für Dämonen keine Selbstverständlichkeit war, sauber zu sein. Hygiene war ein Luxus und das zeigte Kasra dadurch, dass er immer ein sauberes Äußeres zur Schau stellte. Er hatte auch sehr weiße und ebenmäßige Zähne... wenn sein schlechter Charakter nicht alles überschatten würde, könnte man ihn sicherlich als gutaussehend bezeichnen.   Youma war die ganze Situation mehr als unangenehm; nicht nur wegen Kasra, sondern auch wegen der Mädchen. Sie waren alle nackt. Er war der einzige im Raum, der angezogen war. Der Halbdämon hüstelte und bemühte sich, ernst zu bleiben; dennoch gelang es ihm nicht, die Röte gänzlich aus seinem Gesicht zu verbannen.   „Gute Neuigkeiten, Youma?“ Youma räusperte sich noch einmal; er musste sich zusammenreißen. „Ich weiß nicht, ob ich es so nennen würde... es läuft aber alles wie geplant. Euer Sohn hat mit dem Training begonnen.“ „Ah, das klingt doch gut!“, erwiderte Kasra, dem Mädchen nun seine andere Hand hinhaltend, während er dessen Arbeit an seiner rechten Hand kontrollierte. „Wollt Ihr denn mehr erfahren, Hoheit? Es soll ja eine Überraschung sein...“ Es dauerte eine Weile, ehe Kasra antwortete; scheinbar gefiel ihm das, was er an seinen Fingern sah, nicht und alle im Raum schienen gleichzeitig den Atem anzuhalten, sich darauf vorbereitend, dass etwas geschehen würde, dass das Mädchen, das sowieso schon so ängstlich war, für irgendeinen Fehler bestraft werden würde... hatte sie womöglich etwas übersehen oder die Fingernägel falsch abgeschnitten? Ihre Augen wurden immer kleiner, man sah ihr ihre panischen Gedanken schon an – und als Kasra die Hand einfach ins Wasser fallen ließ, sah es so aus, als würde sie in Ohnmacht fallen vor Erleichterung.   „Wenn es irgendwelche... ungewöhnlichen Vorkommnisse gab, dann musst du es mir natürlich mitteilen“, fuhr Kasra fort, als wäre nichts geschehen, was natürlich ein Teil seines Spiels war, denn natürlich waren ihm die Reaktionen der anderen Dämonen nicht unbemerkt geblieben. „Und, Youma? Gab es welche?“ Youma antwortete sofort, ohne länger darüber nachzudenken, obwohl er sich noch den ganzen Abend darüber den Kopf zerbrechen würde: „Nein, gab es nicht.“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)