Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 7: Il commence - Opus III ---------------------------------       Jeden Tag verbrachten Youma und Nocturn nun an diesem Strand; immer fünf Stunden auf einmal, mit kurzen Pausen, wenn einer den Kampf für sich entschieden hatte. Nach den ersten fünf Stunden gab es Kaffee und süßes Gebäck, bis Raria sie dann wieder an den Strand jagte mit ihrer ruhigen Stimme. Sie begleitete sie immer und obwohl sie manchmal ein Buch las, folgte sie den Kämpfen stets aufmerksam und überaus kritisch.   Es war hart und natürlich wurde auf Youmas Muskelkater keine Rücksicht genommen, genauso wenig wie auf Wind und Wetter, welches nach dem ersten Tag deutlich umschlug – so deutlich, dass Kasra Youma am dritten Abend fragte, ob er in einen See gefallen war, da Youma bis auf die Knochen durchnässt in die Dämonenwelt zurückgekehrt war. Raria hatte sie natürlich trotzdem nach draußen geschickt und kämpfen lassen, während sie unter einem großen, schwarzen Regenschirm relativ trocken geblieben war. Am Tag darauf stürmte es und die beiden Dämonen mussten mehr gegen die hohen Wellen ankämpfen als gegeneinander. Man dürfe das Wetter nicht als mitspielenden Faktor unterschätzen, lehrte Raria die beiden, als sie wieder im trockenen Haus angekommen waren und sie Nocturn die Haare abstruppelte, wie man es bei einem Kind ebenfalls tun würde. Sie erklärte weiterhin, dass man das Wetter besonders in einem Kampf gegen Wächter nicht unterschätzen dürfte, immerhin konnten sie das Wetter beeinflussen und daher war es wichtig, bei jedem Wetter kämpfen zu können...   ... ohne sich selbst zu unterbrechen küsste sie plötzlich Nocturns Stirn.   ... aber auch in der Dämonenwelt gab es Wetterbedingungen, die es zu beachten gäbe... davon könne Youma sicherlich einiges berichten, wo Youma aber natürlich eher das Schweigen gewählt hatte, um nicht zu verraten, dass er die Dämonenwelt nur knapp fünf Jahre lang kannte und sich in dieser Zeit fast ausschließlich in Lerenien-Sei aufgehalten hatte.   Aber dieser bemerkte momentan nur eines; den leichten Stich an Eifersucht, als er die überraschte Freude in Nocturns Augen ablas, nachdem Rarias Lippen seine Stirn berührt hatten. Auch wenn sie sehr streng war – und es kam Youma so vor, als wäre sie Nocturn gegenüber noch strenger als in seinem Fall – sie liebte ihren Neffen ganz ohne Zweifel sehr. Es war unglaublich, wie viel Geborgenheit sie schenken konnte; keine warme Geborgenheit, sondern eine sichere Geborgenheit.   Als sie allerdings die Treppe hinauf ging, um sich umzuziehen und Youma und Nocturn alleine im Eingangsbereich zurückblieben, schlug es den Halbdämon plötzlich, dass es scheinbar nicht normal war, dass Raria Nocturn solch Zärtlichkeiten schenkte. Warum sonst sollte er so überrascht gucken, wenn es normal war? Aber anstatt sich darüber zu freuen, bemerkte Youma aus den Augenwinkeln, halb verborgen von dem Handtuch, was Raria ihm gegeben hatte, dass Nocturn ihr traurig hinterher sah.   Youma wollte schon fast fragen, was sein Problem war, aber da erinnerte er sich wieder daran, dass es ihn nichts anging. Trotzdem folgte er Nocturn in die Küche, wo er, wie Raria es aufgetragen hatte, Tee zubereitete. Denn obwohl ein solches Training absolut notwendig war, so sollten sie natürlich dennoch nicht krank werden. „Ich frage mich, wie lange wir uns noch mit dem Grundtraining aufhalten müssen“, fragte sich Youma laut, der nun nach sieben Tage Ruhe heute zum ersten Mal seine linke Hand im Kampf benutzt und erstaunlich wenig Schmerzen verspürt hatte. Sie war so gut wie geheilt. „Ich denke, ich kann meine Sense auch bald wieder benutzen. Vielleicht sollte ich mal mit Raria-san darüber sprechen... Nocturn?“ Aber Nocturn hörte ihm nicht zu; er hatte nicht einmal bemerkt, dass Youma seinen Namen genannt hatte. Youma versuchte es kein zweites Mal; er kannte diese Momente, er hatte sie schon öfter im Verlauf der letzten Woche erlebt... sie waren immer nur kurz, aber sie gingen von beiden aus; eine... unbestimmte Traurigkeit.   Nach dem wärmenden Tee wollte Youma eigentlich sofort aufbrechen, aber er entschied sich anders. Es gab einfach Dinge, die er klären musste. Nocturn hatte sich bereits von ihm verabschiedet und hatte sich – nach Rarias Erlaubnis – in das Musikzimmer zurückgezogen, welches Youma bis jetzt immer noch nicht betreten hatte. Aber obwohl er wohl zum Musizieren dort hineingegangen war, hörte Youma nichts – ob die Wände schalldicht waren? Das konnte der Halbdämon sich bei so einem alten Haus nicht vorstellen.   Um sich eben diesen Dingen zu widmen, müsste Youma hinaufgehen, denn es war ein unvermeidliches Gespräch, dass er mit Raria zu führen hatte und diese hatte sich bereits von ihm verabschiedet, sich in ihr eigenes Zimmer aufgemacht, was wohl im ersten Stockwerk lag. Statt sich aber nach oben aufzumachen, war er im Flur stehen geblieben, immer noch mit gespitzten Ohren, ob Nocturn zu spielen anfangen würde. Aber er tat es tatsächlich nicht – warum hatte er sich dann zurückgezogen? Was war das für eine eigenartige Atmosphäre, die dieses Haus zu umgeben schien? Youma hatte das Gefühl, als würde er sie kennen… aber er wollte sie nicht kennen, schoss es ihm durch den Kopf mit einem verbissenen Gesichtsausdruck. Er wollte nicht daran denken, nicht diesen Vergleich ziehen. Es war doch auch ein unsinniger Vergleich.   Jeder Gedanke an früher war unsinnig.   Die ganze Zeit hatte Youma es so gut verdrängen können. Warum kam es jetzt wieder hoch? Youma biss sich, wütend über sich selbst, auf die Unterlippe, wandte seinen Kopf herum, sah damit nicht länger zur Treppe, die er eigentlich empor gehen müsste – schon längst. Was stand er eigentlich hier rum!? Aber anstatt das zu tun, was er eigentlich vorhatte, sah er nun mit einem ruhigen, melancholischen Blick auf die Kommode zu seiner Rechten… sah auf die eingerahmten Fotografien… ah, da begann Nocturn zu spielen.   Eine traurige Melodie, aber sie entstammte nicht seiner Flöte, sondern einem Klavier. Warum musste er diese Melodie gerade jetzt spielen? Warum musste es gerade jetzt so eine traurige… Melancholie weckende Melodie sein, die sein Herz noch weiter beschwerte? Sie stand in einem eigenartigen Kontrast zu den Bildern, auf die Youmas Blick immer noch gerichtet war. Die meisten Bilder zeigten Nocturn – lachend und unterschiedlichen Alters. Er hatte scheinbar schon früh mit seiner Musik Erfolge feiern können, dachte Youma, als er Bilder entdeckte, auf denen ein kleiner Nocturn dem Fotograf Auszeichnungen hinhielt… eine Raria, die ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte und ebenfalls in die Kamera lächelte. Zurückhaltender, immer doch irgendwie streng wirkend, aber dass sie lächelte bedeutete wohl, dass sie schon sehr stolz auf den strahlenden Jungen neben ihr war.   … eine lobende Hand auf der Schulter. Ein „Gut gemacht“. Eine tröstende Umarmung. Keine Angst mehr zu haben. Wie lange war es her…   Nicht darüber nachdenken. Es brachte doch nichts.     Aber es geschah. Er konnte es nicht verhindern. Es war die Melodie Nocturns, sie war schuld… vielleicht sollte Youma in sein Musikzimmer hineinstürzen und ihn dazu auffordern, aufzuhören – aber es war nicht nur die Melodie… es war das alles hier. Das Aufhalten in diesem Haus - in diesem Haus, in dem schöne Erinnerungen geschaffen worden waren – Erinnerungen, die nicht… von Verrat und Blut gezeichnet worden waren. Erinnerungen, die immer noch in hellen Farben erstrahlten, die niemanden in irgendwelche Albträume verfolgten.   Es machte Youma eifersüchtig, Raria und Nocturn zu sehen – eine Familie zu sehen. Klein, aber… was spielte die Größe für eine Rolle? Die Gefühle waren es, die eine Rolle spielten und die Gefühle in diesem Haus… sie waren echt. Anders als die, die seine Familie ausgemacht hatten. Auch er war oft in den Arm genommen worden, auch auf seiner Schulter hatte eine Hand gelegen – aber wenn er daran zurückdachte, dann erstrahlten diese Erinnerungen nicht mehr. Sie waren grau… grau oder rot – die Farbe, in die sie getaucht worden waren, indem Youma all das beendet hatte.   All die Lügen! Alle verräterischen Worte! Alles nutzlose Zugucken! Er hatte es beendet – hatte all das zerstört. Aber zu welchem Preis? Zu welchem Preis?   „Youma, warum – warum!? Warum tust du das?!“ Es war immer Silence, die diese Frage schrie, immer wieder dieses verdammte „warum“. Diese dauernde, ihn immer wieder quälende Frage entstammte nur seinen Albträumen, das wusste Youma, weil die echte Silence… nicht dazu gekommen war, diese Frage zu stellen. Stattdessen rief sie diese nun in seinen Träumen. Rief sie immer lauter, manchmal schüttelte sie ihn dabei.   Manchmal antwortete er ihr, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Aber war das die Wahrheit? Hatte er… wirklich keine andere Wahl gehabt? Wie gerne würde er diese Frage nicht weitergeben.   Aber Light… die Person, die er so geschätzt hatte, die er so sehr geliebt hatte… die Person, die er seinen Vater genannt hatte… würde ihm keine Antwort mehr geben, ganz egal wie sehr Youma das Glöckchen Lights an sein Herz drückte. Es würde ihm keine Antwort geben… und auch keinen Trost.     Mit dem Verklingen der letzten Töne wischte Youma sich die verräterischen Tränen aus den Augenwinkeln, den Kopf schüttelnd, das Glöckchen wieder unter seiner Uniform verbergend. Warum hatte er es überhaupt herausgeholt! Was tat er hier eigentlich… Er musste nach oben; er wollte doch mit Raria sprechen. Er musste sich konzentrieren! Die Gedanken an damals waren doch sinnlos – war es nicht schon schlimm genug, dass sie ihn in seinen Träumen heimsuchten? Diese Zeit war schon so lange nicht mehr existent… Youma schon so lange kein Teil mehr davon. Er lebte in dieser Welt, in dieser Zeit – und Youma hatte es sich selbst zuzuschreiben; egal ob er nun das richtige getan hatte oder nicht; es waren seine Handlungen, die darin resultiert hatten und nun musste er damit leben – und er hatte etwas zu tun!    Oben angekommen entdeckte Youma vier Zimmertüren; zwei davon waren wohl mit den Namen der hier Wohnenden versehen, die dritte Tür hatte ein kleines Schildchen mit zwei Buchstaben, die Youma dank seiner mangelnden Lesefertigkeiten, was die menschliche Sprache anging, nicht entziffern konnte und die vierte... war komplett ohne irgendwelche Namen oder Schildchen und... Youma stutzte; es gab auch keinen Türgriff. Wie eigenartig... ob das Zimmer nicht mehr benutzt wurde? Aber warum denn gleich den Türgriff entfernen? Das kam Youma sogar mehr als eigenartig vor, aber statt sich darüber weiter Gedanken zu machen, klopfte er an die Tür, hinter der er Rarias Aura spüren konnte.   Ihre Stimme klang überrascht, aber sie bat ihn dennoch herein, womit Youma nun in einem großen, geräumigen Schlafzimmer stand. Der Raum war in denselben Farben gehalten wie das Wohnzimmer und auch in diesem Raum befanden sich viele Bücherregale. Nur waren diese niedriger, so dass ein großes Gemälde über ihnen hängen konnte. Auch dieses passte vom Stil her zum Wohnzimmer, denn es zeigte eine Frau, die an einem Klavier spielte. Gegenüber der Bücherkommoden, auf der anderen Seite des Zimmers, rechts von Youma, stand ein großes Himmelbett, welches sofort Youmas Aufmerksamkeit hatte, nicht wegen seiner luxuriösen Ausstattung, sondern weil es zwei Kissen und zwei Bettdecken in diesem Bett gab.   Raria, die an einem geordneten Frisiertisch saß, hatte seinen neugierigen Blick bemerkt und erklärte: „Nocturn hat oft Albträume.“ War Nocturn wirklich 24 Jahre alt? Manchmal fiel es Youma schwer, das zu glauben... naiv wie ein Kind war er jedenfalls. Aber Youma kommentierte es nicht; deswegen war er immerhin nicht gekommen.   „Ich habe über einige Dinge nachgedacht...“ Raria hob die Augenbrauen, ließ ihn aber fortfahren, ohne ihn zu unterbrechen. „... und es gibt da etwas, was mich wundert.“ Keine Überraschung für sie, wenn er ihren Blick richtig deutete. Sie richtete sich auf und platzierte sich mit dem Rücken an den Pfeiler des Himmelbettes gelehnt genau vor ihm, einem Gespräch scheinbar nicht abgeneigt – nein, es schien sogar so, als hätte sie nur darauf gewartet.   „Sie leben hier ein menschliches Leben, Sie suchen die Dämonenwelt nie auf und Nocturn hat mir erzählt, dass Sie ihm verboten haben, mit Dämonen Kontakt aufzunehmen; er solle ihnen aus dem Weg gehen. Sie wollen ganz offensichtlich ein verstecktes Dasein führen. Die Gründe dafür... kenne ich nicht und es steht mir auch nicht zu, das zu hinterfragen.“ Auch wenn es ihn schon interessierte; aber er meinte das, was er gesagt hatte: „Aber wenn es Ihnen so wichtig ist, hier als Menschen zu leben, dann frage ich mich, warum Sie mir nicht aufgetragen haben, dem König nichts über Ihren Aufenthaltsort zu verraten. Sie haben... nichts dergleichen gesagt. Nicht einmal angedeutet.“   „Du hast es aber nicht gesagt. Du hast meinen Namen nicht einmal erwähnt.“ Keine Frage, sondern eine Feststellung – und sie hatte recht, was er auch zugab. „Das stimmt, aber woher wussten Sie das? Sie kannten mich nicht. Sie konnten mir unmöglich so viel Vertrauen schenken.“ Wieder sah er dieses kleine, kurze Lächeln, ehe sie ihn aufklärte: „Ich habe auch nicht dir vertraut. Ich habe darauf vertraut, dass Kasra sich nicht verändert hat.“ Verwirrt sah Youma sie an; was hatte Kasra mit all dem zu tun? Lange blieb er allerdings nicht im Unklaren, denn sie fuhr fort: „Nocturn kann nicht nur Gedanken lesen, sondern Erinnerungen auch auf eine andere Person übertragen. Mittels dieser Gabe habe ich euren Kampf sehen können...“ Ah, Youma hatte sich schon gewundert, wie es Raria möglich gewesen war, so zielsicher seine Schwächen herauszufinden und wie schnell sie auch am ersten Tag bemerkt hatte, dass seine Hand gebrochen war... jetzt war dieses Mysterium also geklärt. „Anders als Nocturn war mir sofort klar, dass deine Hand nicht durch einen Unfall gebrochen war. Ich vergewisserte mich, als ich deine Hand in Bandagen legte... natürlich ist es möglich, dass man alle fünf Finger bei einem Unfall bricht, aber doch sehr unwahrscheinlich. Dazu deine Reaktionen bei einigen Themen, beim Frühstück... es gab keinen Zweifel. Kasra ist immer noch derselbe wie früher, weshalb ich wusste, dass du meinen Namen ihm gegenüber nicht erwähnen würdest, auch ohne, dass ich dich darum bat... du bist nicht auf den Kopf gefallen. Von unserem Lebensstil und den bereits angeführten Gründen war dir klar, dass wir es vorziehen, nicht zu sehr in der Hölle umsprochen zu werden. Am nächsten Tag erhielt ich dann auch Vergewisserung. Denn hättest du meinen Namen erwähnt, wären wir jetzt nicht hier.“ „Er kennt Sie also?“ „Ja.“ Die Art, wie sie dies sagte, weckte bei ihm den Eindruck, dass sie darüber nicht weiter sprechen wollte und das akzeptierte er. „Man könnte diese Argumentation aber auch umdrehen“, erwiderte Youma: „Kasra hätte auch ein Grund dafür sein können, dass ich es erzähle.“ Mit geschlossenen Augen lächelte sie: „Du meinst so wie ein rückgratloser Speichellecker? Ja, das wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Aber...“ Raria öffnete die Augen wieder und sah ihn direkt an: „... Kasra mag dir deine Würde geraubt haben. Aber deinen Stolz hast du noch.“    Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)