Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 8: Il commence - Opus IV -------------------------------- Schon ab dem Moment, wo Youma Kasras Frage, ob es etwas Ungewöhnliches zu berichten gäbe, verneint hatte, konnte Youma das Gefühl nicht abschütteln, dass er... ja, eine Seite gewählt hatte. Eine Seite im Kampf – aber was war das für ein Kampf? Was war das für ein Kampf, den er genau gewählt hatte? Was waren die Konsequenzen seiner Wahl?     Urgh, Youma war es dieses Mal, der zu abgelenkt war; das war bereits der zweite Schlag Nocturns, den er einkassieren musste. Raria hatte sich noch nicht dazu bereit erklärt, sie ihre Magie einsetzen zu lassen und auch sah sie die Zeit für Youmas Sense noch nicht gekommen, aber dieses Mal ließ sie sie im freien Terrain kämpfen, ohne dass sie darauf achten mussten, den jeweils anderen aus ihrem gemalten Kreis herauszubefördern. Sie sollten auf ihre Umgebung achten, was eigentlich nur für Nocturn ein Problem war; er durfte zwar seine Fingernägel einsetzen, aber sie hatte ihn aufs Strengste ermahnt, nicht einen einzigen Baum mit seinen Nägeln zu streifen – ansonsten würden die Dorfbewohner sich noch um wilde Tiere Sorgen machen.     Sowieso war es eine Herausforderung – aber auch eine spannende Herausforderung – im Wald zu kämpfen. Es war dadurch etwas gänzlich Anderes, weil Rarias kritischer Blick nicht auf ihnen lag. Sie hatte verkündet, dass sie ihnen vertrauen würde, dass sie keinen „Unfug“ anstellen würden und war ins Haus zurückgegangen.  Man hätte es wohl als ein Kompliment auffassen können, aber es klang mehr wie eine Drohung.     „Ist da etwa jemand abgelenkt?“, rief Nocturn belustigt, nachdem sein Faustschlag Youmas Brustkorb getroffen und ihn mehrere Meter zurückgeworfen hatte.   „Pah!“ Youma setzte sofort zum Gegenangriff an, woraufhin ein schneller Schlagabtausch folgte:   „Nimm den Mund nicht zu voll! Normalerweise bist du es, der abgelenkt ist!“ Nocturn packte den Arm seines Kontrahenten und schwang sich beschwingt und mit einem spaßigen Grinsen über Youmas Kopf hinweg; dafür hätte er bei Raria Minuspunkte bekommen, aber er mochte solche Spielereien und Fakt war, dass er Youmas Fausthieb tatsächlich so aus dem Weg gegangen war. Er war sogar schnell genug, um die Sekunde für einen Gegenangriff zu nutzen, in der Youma sich wieder herumdrehen musste.  „Man muss aber ja auch bedenken, dass ich ein Handicap habe, weil ich darauf achten muss, dass sich uns niemand nähert... und Gedanken zu lesen ist anstrengend!“ Da Youma nicht schnell genug war, um auszuweichen, parierte er Nocturns heransausendes Bein mit dem rechten Unterarm – dennoch zwang der Druck und die Stärke von Nocturns Angriff ihn einige Zentimeter rückwärts.   „Ich habe auch ein Handicap, weil ich meine Sense nicht benutzen darf.“  „Du willst also damit andeuten, dass du mit ihrer Hilfe stärker wärst als ich?“ Die beiden Dämonen waren wieder aus der Puste; ihr Atem hatte sich beschleunigt und war deutlich in dem verlassenen Wald zu hören – aber ihre Ausdauer hatte sich deutlich verbessert; besonders im direkten Vergleich mit dem Kampf in der Arena von Lerenien-Sei.   Youma kam nicht zum Antworten, denn als Nocturn sich plötzlich davon teleportierte, stolperte er perplex einige Schritte nach vorne, ehe er hochsah und Nocturn auf einem hohen Ast stehen sah. Grinsend sah er auf ihn herunter, mit seinen vor Freude und Aufregung glühenden roten Augen, die Youma in der Düsternis des Waldes noch deutlicher sah als sonst.   „Ich muss sagen... ich freu mich darauf!“ Was taten sie hier eigentlich? Sie sollten trainieren, sich gänzlich auf ihre Kampffähigkeiten konzentrieren; aber stattdessen spürte Youma, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete und noch etwas ganz Anderes –er spürte, dass er Spaß hatte. War es, weil Nocturn so ausgelassen wirkte? War das ansteckend? Youma sollte sich nicht mitreißen lassen... aber er tat es.     Youma tat es Nocturn gleich; auch er teleportierte sich in die Höhe – allerdings nicht, um ebenfalls auf einem Ast zu landen, sondern um Nocturn in einem Moment, in dem er gerade noch was sagen wollte und daher den Angriff nicht kommen sah, an den Schultern zu packen und ihn zu Boden zu werfen.   Bei diesem Sturz landeten die beiden Dämonen nun außerhalb der schützenden Bäume und kurz blendete Youma das Sonnenlicht, ehe er feststellte, dass er Nocturn förmlich an den Waldboden genagelt hatte. Der unter ihm Liegende schien verwirrt über diese plötzliche Situation zu sein, was Youma zu einem triumphierenden Grinsen brachte – ha, da hatte er wohl trotz Ablenkung gewonnen.  „Ich denke, der Sieger ist ganz eindeutig!“ Youma erwartete einen schmollenden Gesichtsausdruck oder die Herausforderung zu einem zweiten Kampf – aber Nocturns Gesicht zeigte ihm immer noch Verwirrung. Verwirrung und...  „Geh bitte von mir runter.“ Youma konnte es nicht deuten, aber... da war etwas in seiner Stimme, was Unbehagen in ihm weckte. Sein Grinsen war auch verschwunden und er wollte der Aufforderung auch gerade nachgehen, als er plötzlich verharrte.         Youmas Gesicht veränderte sich langsam und mit Erstaunen konnte Nocturn unter ihm dabei zusehen, wie seine Gesichtszüge sich zuerst in gerührtes Erstaunen verwandelten, fast schon fasziniert, ehe eine plötzliche immense Traurigkeit seine Augen füllte. Was war es, was er plötzlich sah, ihn so fesselte und davon abhielt, Nocturn endlich gehen zu lassen? Nocturn versuchte, den Kopf in den Nacken zu legen, aber er konnte nichts sehen außer den endlosen, weit unter ihnen am Fuße des Hanges gelegenen Ackerfeldern, die im Licht der untergehenden Herbstsonne beinahe golden wirkten. War es etwa... diese Aussicht, die ihn so in den Bann zog?    „Youma?“, fragte Nocturn, nachdem Youma sich abrupt und mit einem rasselnden Luftholen aufrichtet hatte und sich endlich von ihm entfernte. Er bemerkte nicht, dass Nocturn erleichtert aufatmete; er war zu sehr gefangen in seinen eigenen Gefühlen. Die verblüffte Faszination war verschwunden, aber die Traurigkeit sah Nocturn immer noch in seinen Augen, aber da war noch etwas... Sehnsucht? Ja, unerfüllte Sehnsucht. Aber nach was?   Der sonst so hochmütig wirkende Youma wirkte nun plötzlich sehr klein; er hatte sich nicht einmal aufgerichtet, hockte auf dem Boden, den Rücken an einen Baum gelehnt.  „Youma? Was ist los?“   Es sah nicht so aus, als würde er Nocturn irgendeine Antwort geben wollen; es sah nicht danach aus, als würde er überhaupt in der nächsten Zeit wieder irgendetwas sagen. Er sah richtig... in sich zerstört aus, als hätte eine alte Wunde – eine lebensgefährliche Wunde – wieder angefangen zu bluten, zu schmerzen, ihn zu zerreißen.    Nocturn kannte dieses Gefühl. Er wusste wie es war, wenn ein solches einen übermannte.     Daher waren seine Bewegungen auch sehr langsam, als er sich Youma näherte; er bemerkte ihn allerdings gar nicht, was Nocturn nicht sonderlich überraschte. Erst als er seine Hand mit Bedacht auf seine Schulter legte, sah Youma ihn an.   Kurz erwartete Nocturn, dass er sich abwenden würde, sich wegbewegen würde, um Nocturns Hand von seiner Schulter zu schütteln, doch er sah ihn einfach nur an; sehr lange sogar, bis er sich grämend, ja, beinahe beschämt über sich selbst, abwandte. Nocturns Hand schüttelte er aber dennoch nicht ab.   „Entschuldigung, ich... halte uns auf... es ist gleich wieder in Ordnung.“ Auch seine Stimme klang anders; als wäre sie zusammengebrochen. Er gab sich Mühe, sie genau wie sonst klingen zu lassen, aber Nocturn hörte es dennoch – und daher entschied er sich, zu handeln.   „Ich weiß, was wir jetzt machen. Das hilft mir immer.“ Und da Youma Nocturns Hand nicht von sich geschüttelt hatte, konnte er nichts dagegen tun, dass dieser sie plötzlich an einen anderen Ort brachte.     Und zwar zum Champs de Mars. Umgeben von Unmengen von Touristen und im Schatten des Eiffelturmes sprang Youma förmlich auf die Beine, Nocturn sofort, mit erröteten Wangen, anfahrend:   „Wo sind wir?! Warum hast du uns hierher gebracht?!“ Nocturn war kurz davor, eine schnippische Antwort zu geben, dass es ja wohl ziemlich klar war, wo sie waren – sie standen vor dem Eiffelturm; wo könnten sie sonst sein als in Paris? Es gab doch gar kein deutlicheres Zeichen für die Stadt als den gigantischen Stahlturm?!    Aber in Anbetracht der Situation und dass er Youma aufheitern wollte – der momentan sehr verwirrt aussah, fast wie ein Tier, das in eine Situation geworfen worden war, die nicht zu seinen gewohnten Lebensumständen passte – entschied er sich anders. Er hatte sich eine andere Reaktion erhofft... wenn er traurig war, teleportierte er sich immer nach Paris; es ging ihm dann sofort besser. Vielleicht wirkte der Zauber der Stadt nicht auf alle? Nein, unmöglich; es musste daran liegen, dass es nicht Nacht war. Paris war am schönsten in der Nacht.   „Wir sind in Paris. Champs de Mars, um genau zu sein...“  „Und was machen wir hier?!“ Na, wenigstens festigte seine Stimme sich langsam wieder und den Willen sich zu beschweren fand er scheinbar auch wieder:   „Wir sollten schnell zurückkehren und mit dem Training fortfahren. Dir ist doch bewusst, dass Raria wütend sein wird, weil wir verschwunden sind? Das willst du in Kauf nehmen?!“ Nocturn setzte sich in Bewegung, Richtung Eiffelturm, sich an den Touristen vorbei schlängelnd.  „Ja, das nehme ich in Kauf.“ Skeptisch hob Youma die Augenbrauen, folgte ihm aber. Was hatte er nur vor? Was sollten sie hier an diesem Ort, an dem es von Menschen nur so wimmelte? Es war laut, es war voll, es war chaotisch und eng. Sie mussten sich förmlich durch die Menge quetschen, als sie unter dem Turm hindurch wollten. Youma hielt seinen Blick eigentlich strikt auf Nocturns Rücken geheftet – er wollte ihn hier auf keinen Fall verlieren – aber als sie direkt unter dem Turm standen, wanderten seine schwarzen Augen doch nach oben.  „Ganz schön groß...“, urteilte Youma und war überrascht, eine Antwort von Nocturn zu erhalten, denn er hatte es nicht gerade laut gesagt; dennoch sah er, wie sein Begleiter sich erfreut herum drehte:  „Ja, das ist er! Das ist la Tour Eiffel ♥ ♥ Ist er nicht...“    „...hässlich. Genauso hässlich wie der Turm in Lerenien-Sei, wenn du mich fragst.“ Und da stolperte Youma plötzlich, obwohl überhaupt nichts auf dem Boden lag, worüber er hätte stolpern können.  „Ha! Der liebe Gott bestraft kleine Sünden eben zuerst!“, lachte Nocturn, wieder weitergehend und nicht auf Youmas Blick achtend, der finster den Punkt fixierte, wo er eben gestolpert war – so viel zu seinen „Regeln“, huh?      Nocturn führte die beiden über die belebte Straße zum Fuße des Eiffelturmes und pflanzte daraufhin Youma gleich neben einem großen, rustikalen, aber sehr liebevoll instand gesetzten Karussell, während er selbst plötzlich verschwand. Youma war immer noch sehr verwirrt über deren Anwesenheit an diesem wirklich viel zu überfüllten Ort, aber die kühle Luft tat gut... und das Karussell war sehr hübsch anzusehen. Es war in Bronze und Gold gehalten, die bunten Lichter nicht zu knallig, sondern eher dezent. Youma wusste natürlich nicht, was ein Karussell war, aber er durchschaute seinen Nutzen schnell, indem er neugierig beobachtete, wie Eltern ihre Kinder in die verspielt bemalten und fantasievoll kreierten Wagen setzten, woraufhin das zweistöckige Karussell zu drehen begann, im Takt mit der romantisch klingenden Musik, die knisternd aus den Lautsprechern drang. Es drehte sich nicht sonderlich schnell, aber für Kinder war es sicherlich ein richtiges Abenteuer.     „So, da bin ich wieder.“ Youma blickte auf und sah, wie der eben zurückgekommene Nocturn etwas in jeder Hand hielt; etwas kleines, flaches, in buntes Papier umhülltes... Etwas, das süß, aber sehr gut roch.  „Zucker oder Schokolade?“ Anstatt auf Nocturns Frage zu antworten, stellte er eine Gegenfrage:  „Was... ist das?“    „Ein Crêpe sucre. Sag mir nicht, das kennst du nicht?“ Youmas Blick war Antwort genug.   „Ich mag eigentlich nichts Süßes... jedenfalls nicht zu süß. Trotzdem, dankeschön.“ Und diese „Crêpes“ rochen sehr süß. Aber Nocturn ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und hielt ihm dennoch eins hin:  „Das habe ich mir bei einem Miesepeter wie dir schon gedacht!“ Mit gerunzelter Stirn wurde Nocturn angesehen; so hatte man ihn noch nie betitelt, aber gut... er hatte schon weitaus uncharmantere Dinge gehört, weswegen er Nocturn fortfahren ließ, ohne ihn auf die Beleidigung anzusprechen.  „Deswegen habe ich ja auch ein Crêpe mit zartbitterer Schokolade für dich geholt.“ Und schon hielt Youma das warme – er wusste nicht, wie er es nennen sollte...Stück Teig? – in den Händen. Ein wenig verunsichert, was das nun genau war und wie man es aß, warf Youma einen Seitenblick zu Nocturn, der sich nun neben ihn auf die niedrige Mauer gesetzt hatte und bereits herzhaft in sein Crêpe gebissen hatte. Gut, es wäre überaus unhöflich von ihm, abzulehnen, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er auch Hunger, also biss er hinein – und war überrascht! Es schmeckte tatsächlich gut.     Nocturn musste beim Essen des zuckrigen Crêpes ein wenig schmunzeln; Youma gefiel es wohl besser, als er zugeben wollte, denn er hatte es tatsächlich schneller als er aufgegessen und während Nocturn noch saß und sich den Zucker von den Fingern leckte – etwas, was er nur tat, weil Raria nicht dabei war und es nicht sehen konnte, denn natürlich durfte er das eigentlich nicht – war Youma bereits wieder in Gedanken versunken.   Aber er sah anders aus. Ruhiger. Aber immer noch etwas bedrückt; da hatte scheinbar das Crêpe auch nicht viel geholfen, obwohl er sich bedankt und ihm versichert hatte, dass es ihm geschmeckt hatte. Daraufhin war er wieder in sein Schweigen versunken. Nocturn mochte kein Schweigen. Das war absolut nicht seine Welt. Aber er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Sollte er über das Training reden? Was für ein langweiliges Thema... eigentlich würde er ihn gerne fragen, weshalb der Anblick der Kornfelder ihn so wehmütig gemacht hatte und ob das derselbe Grund war, weshalb in das goldene Karussell so zu faszinieren schien. Aber Nocturn war der festen Überzeugung, dass Youma ihm einfach sagen würde, dass es ihn nichts anginge – und das tat es ja so gesehen auch nicht. Es hatte nichts mit dem Training zu tun... nichts mit irgendetwas Anderem... es interessierte ihn einfach.     Aber Nocturn hielt sich zurück. Wahrscheinlich sollte er einfach schweigen und Youma mit seinen Gedanken alleine lassen, aber Schweigen löste in ihm ganz automatisch den Drang aus, es vertreiben zu wollen und so begann Nocturn über das zu reden, was absolut unverfänglich war: er sprach über Paris.  Ohne von Youma unterbrochen zu werden, erzählte Nocturn ihm vom Trocadero-Platz, von dem man einen einzigartigen Blick auf den Turm hatte und das dort liegende große Theater; erzählte ihm, wie er da mal mit Raria gewesen war, als Kind und dass er wegen seinen mangelhaften Französisch-Kenntnissen kaum etwas verstanden hatte, dass es aber einen starken Eindruck auf ihn hinterlassen hatte. Er erzählte ihm weiter, wie schwer es für ihn gewesen war, die Sprache zu lernen, machte dann plötzlich einen Seitensprung zur Musik, dann sprach er plötzlich vom Eiffelturm, erklärte Youma was von Straßenplänen, bombardierte ihn mit Namen, die für eben jene verantwortlich waren, warf immer wieder Anekdoten hinein, Dinge, die er mit Raria erlebt hatte. Wie es war, das erste Mal mit der Metro zu fahren, das erste Mal in der Opéra Garnier zu sein, sein erstes Crêpe, oder das erste Mal auf dem Eiffelturm zu sein.   „Ehrlich gesagt war ich nur einmal oben auf der dritten Plattform“, erzählte Nocturn mit einem leichten Kopfnicken zur Spitze des Eiffelturmes.  „Du kannst dir ja denken, warum. Man muss sehr lange anstehen, um ganz nach oben zu gelangen... Raria hat mir eine Fahrt nach oben geschenkt zu meinem 13. Geburtstag. Sie hatte die Karten lange im Voraus reserviert. Wir haben zuerst etwas gegessen und sind dann abends hochgefahren, genau in dem Moment, als das Licht des Turmes eingeschaltet wurde. Wenn du meinst, dass er jetzt hässlich ist, dann bin ich zwar weiterhin der Meinung, dass du ein vermaledeiter Miesepeter bist, aber ich wette, du würdest deine Meinung ändern, wenn du ihn in der Nacht sehen würdest.“ Nocturns Gesichtszüge nahmen einen verträumten Ausdruck an und völlig von seiner Erinnerung eingenommen flüsterte er:  „Sie hat mir nie etwas Schöneres geschenkt.“     Youma hatte sich bis zu diesem Augenblick ruhig verhalten; er hatte ihm zugehört, über so manche Dinge mit den Augen gerollt und empfand – zugegeben – auch einiges als gänzlich unnütze Information abgetan, die er sich nur aus Höflichkeit angehört hatte. Wenn er sich Nocturn so ansah, der ihm so offen von seinen vergangenen Erlebnissen erzählt hatte und ihm seine Gefühle so offen zeigte, dann...   „Ich bin nicht so an Gebäude oder...“ Er wusste nicht, wie er den Stahlturm vor ihm nennen sollte:  „...Monumente geknüpft. Mich verbindet mehr... mit der Natur.“ Es fiel ihm schwer, das zu sagen, darüber zu sprechen. Er hatte mit niemandem über seine Vergangenheit, sein Leben in Aeterniem gesprochen; natürlich, mit wem sollte er auch? Mit Kasra etwa? Mit Ri-Il?! Er kannte ja niemanden und natürlich hätte er mit seinem namenlosen Gönner sprechen können, aber es genügte schon, wenn dieser das Thema auch nur nannte... Light erwähnte... um in Youma das Gefühl zu wecken, dass er fliehen wollte, um das Gespräch zu beenden. Ein großer Part von ihm wollte das Thema auch um jeden Preis umgehen, den größtmöglichen Bogen drum herum machen, aber... irgendwo in ihm, verborgen unter der anderen Stimme, war da doch der Wunsch, über diese längst vergessene Welt zu reden. Er wollte, dass ihm jemand zuhörte... dass jemand ihm half, seine so geliebte Welt nicht zu vergessen, sie am Leben zu halten.    „Du meinst mit Kornfeldern?“ Nocturns ehrliche Antwort brachte Youma zu einem traurigen Schmunzeln.  „Nicht direkt. Eher...“ Er zögerte. Die beiden starken Stimmen in ihm kämpften jeweils um die Vorherrschaft; der Kampf war schmerzlich, Youma konnte es fast spüren an seinem eigenen Körper, in seiner Seele. Aber am Ende siegte seine Sehnsucht. Sie hatte auch lange genug gewartet.  „Die Kornfelder haben mich nur... an etwas erinnert.“ Dieses Mal war es Nocturn, der ihn nicht unterbrach, auch wenn es ihm schwerfiel, geduldig zu sein. Er ahnte zwar nichts von dem Kampf, der in Youma tobte, aber er hörte ihn förmlich aus dessen Stimme heraus, aus seinem Zögern.   „An einen Ort.... den ich gerne besucht habe. Zusammen mit meiner Zwillingsschwester und meinem... Vater.“ Nocturn konnte sich kein Bild davon machen, wie schwer es Youma fiel, dieses Wort zu benutzen; aber auch wenn er keine Ahnung hatte, so war er ein guter Beobachter und während Youma das letzte Wort über die Lippen gebracht hatte, bemerkte Nocturn, dass seine Hände sich an die weiße Mauer krallten.   „Wenn ich an diesen Ort denke, dann sehe ich ihn im goldenen Licht vor mir... hohes Gras, so hoch, dass man sich nicht bücken muss, um mit den Händen darüber zu streichen... wie eine goldene Wasseroberfläche. Da war ein kleiner See, nein, eine Flussmündung, nicht besonders tief, man konnte darin baden...“ Wieder ein schmerzhaftes Zucken.  „Die Oberfläche war aber genauso glatt und ruhig wie die eines Sees. Es breiteten sich nur Ringe auf dem Wasser aus, wenn die langen Äste der Trauerweide das Wasser berührten. Wir waren dort immer alleine, als würden nur wir diesen Ort kennen, als würde er... uns gehören. Wir hatten einen offenen Ausblick über die Felder, Aeterniya lag hinter uns. Vor uns, am Horizont, zeichnete sich Lerenien-Sei ab...“ Youma spürte sofort, dass er zu weit gegangen war; er war zu sehr abgerutscht in seine Erinnerungen – er hatte zu viel preisgegeben! Und seine erste, instinktive Reaktion – sich die Hand vor den Mund zu werfen – machte das Ganze nicht gerade weniger auffällig. Nocturn war aber auch ohne Youmas heftige Reaktion darüber gestolpert.  „Lerenien-Sei? Der Ort, den du beschrieben hast, klingt sehr schön – so ein Ort existiert in der Dämo...“   „Schon gut, ich habe mich versprochen – das ist ja auch nicht wirklich... von Interesse, oder?“ Ohne Nocturn die Möglichkeit auf eine Antwort zu geben, sprang Youma auf die Füße, um ihm noch deutlicher zu machen, dass sie los müssten; jetzt.  „Wir sollten schnell zurückkehren, auch so wird Raria uns den Kopf abreißen. Es ist ja auch sehr egoistisch von uns, einfach zu verschwinden, sie macht sich sicherlich Sorgen...“  „Ich habe sie natürlich schon längst angerufen-“  „... und wir sollen ja auch trainieren statt hier... Crêpas...“  „Crêpes.“  „Ja, Crêpres. Die sollten wir jetzt nicht essen, dafür haben wir keine Zeit. Wir sollten zurück, jetzt.“                      Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)