Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 9: Il commence - Opus V -------------------------------   Es war sehr gut gewesen, dass Nocturn Raria angerufen hatte. Youma wollte sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er es nicht getan hätte – denn trotz des Anrufs wirkte sie recht gereizt, als die beiden bei Anbruch der Dunkelheit zurückkehrten. Finster zusammengekniffene Augen lagen auf den gerade Angekommenen, die es nicht wagten, auch nur einen Ton zu sagen. Youma wusste nicht, wie lange sie da standen und sich anstarren ließen; aber es war mehr als eine Minute. „Fünf Minuten später und ich hätte euch geköpft.“ Diese Drohung wandte sie oft an, wie Youma aufgefallen war, aber auch er hatte in der vergangenen Woche gelernt, sie zu fürchten, weshalb er und Nocturn fast im Takt nach unten sahen. „Aber jetzt gibt es Essen.“ Das sah Youma als den Moment an, wo er sich verabschieden sollte, denn bis jetzt hatte er zwar ein paar Mal mit den beiden gefrühstückt, aber noch nie mit ihnen zu Abend gegessen. Er hatte daher schon den Mund geöffnet, um ihnen einen guten Abend und guten Appetit zu wünschen – und den würden sie haben, denn das Essen roch verlockend – aber Raria kam ihm zuvor: „Es gibt genug für drei. Du bist eingeladen. Ich weiß, du hast gerade etwas gegessen...“ Sie warf Nocturn einen Blick zu, um zu verdeutlichen, dass er ihr von dem Crêpe-Essen erzählt hatte: „... aber ein ausgewachsener Mann wie du wird sicherlich nicht von einem Crêpe satt sein?“   Kurz flammte die Stimme der Vernunft in Youma auf: er musste ablehnen – aber warum sollte er? Es war immerhin nicht so, dass es eine Uhrzeit gab, zu der er wieder in der Dämonenwelt sein musste und gestern Abend hatte Kasra ihm sogar ausrichten lassen, dass er ihn nicht sehen wollte; Youma wusste nicht wieso, aber da er ein Treffen mit Kasra nicht gerade herbeisehnte, war er einfach nur froh gewesen und hatte nicht nachgefragt.   Die kleine Stimme war nicht nur leise, sondern auch unbedeutend gewesen –er hatte seinen inneren Widerstand kaum gehört, ehe er sich für die Einladung bedankt hatte. Schon saß er einige Minuten später am gedeckten Speisetisch in der Stube, auf welchem nicht nur das deftige Essen – Lammragout mit Bohnen, Kartoffeln und brauner Soße mit Petersilie – förmlich glitzerte, sondern auch die hohen Kerzenständer und die vielen grünen Lampen in der Stube – Youma hatte ganz richtig gelegen; es war wirklich ein gemütlicher Raum, wenn alle Kerzen und Lampen ihr sanftes Licht spendeten.  Raria und Youma hatten sich bereits an den Tisch gesetzt; Nocturn war noch – ganz aus dem Häuschen, wie es Youma vorkam – in den Keller gerannt. „Gibt es einen Grund zum Feiern?“, fragte Youma, der immer noch über das gute Essen staunte, aber sich auch darüber wunderte, denn an den anderen Tagen hatte es nicht so ein ausgiebiges Essen gegeben und dieses war auch nicht in der Stube serviert worden. „Heute ist Herbstanfang.“ Das erklärte Youmas Frage nicht, weshalb er nachbohrte: „Und das ist ein Grund zum Feiern?“ „Für Nocturn schon.“ „Huh?“ Raria faltete ihre Serviette auf ihrem Schoss und erklärte, mit den Blick zum Gang, scheinbar auf Nocturn lauernd: „Der Herbst ist Nocturns Lieblingsjahreszeit und wir haben es zur Tradition gemacht, diese Jahreszeit mit dem Spielen von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ einzuläuten; natürlich mit den vier Stücken, die dem Herbst gewidmet sind.“ In diesem Moment kehrte Nocturn lachend zurück, beladen mit zwei Flaschen: „Das wird Youma nichts sagen, Raria – er ist ein Kunstbanause!“ Er warf ein neckisches Grinsen an seinen Trainingspartner und wurde sogar noch von Raria unterstützt, wenn auch zurückhaltender: „Dann ist das umso mehr ein Grund, um nach dem Essen noch zu bleiben. Man darf nicht von dieser Welt gehen, ohne „Die vier Jahreszeiten“ gehört zu haben. Ich hoffe, du hast nichts verlernt, Nocturn?“ Der Angesprochene stellte die beiden Flaschen auf den Tisch und sprang förmlich auf den Stuhl, womit er nun links von Youma Platz genommen hatte und Raria gegenüber saß, die er schmollend ansah: „Pah! Egal, wie viel ich trainiere und egal, wie viel Zeit vergeht; Musik ist in meinem Blut, in meinen Adern! Wie könnte ich also jemals auch nur die kleinste Note vergessen?“ „Das wollte ich hören - und jetzt schenk uns bitte ein, das Essen wird sonst kalt.“ Nocturn machte sich trotz Schmollmund sofort an die Arbeit und schenkte sich selbst und Raria Rotwein ein – gerade als er sich Youma zuwenden wollte, unterbrach dieser ihn, mit der Erklärung, dass er keinen Alkohol vertragen würde. „Aber das weiß ich doch – das hast du mir schon mal erzählt!“, erwiderte Nocturn feixend und hielt die andere Flasche hoch: „Daher habe ich ja auch den Traubensaft mit nach oben genommen!“ Youmas Augen zeigten zuerst Überraschung – aber die Überraschung verschwand schnell. Er lächelte, als er ihm die Flasche mit dem Beerenetikett abnahm. Ein dankbares, zufriedenes, ja, fast glückliches Lächeln, welches nicht einmal von der lautesten Stimme hätte vertrieben werden können.   Es war unglaublich, wie sehr die kleinsten Gesten einem das Herz erwärmen konnten.     Das Essen hatte vorzüglich geschmeckt; Raria war eine gute Köchin. Dass sie aber nicht nur eine gute Köchin und Lehrmeisterin war, bewies sie knapp eine Stunde später im Auditorium – was für ein schöner Raum! – nachdem sie die Geige angelegt hatte und Nocturn Youma mit an die Wand gezogen hatte, wo er sich und den anderen Dämon auf eine niedrige Bank platzierte. Youma hatte eigentlich geglaubt, dass die beiden zusammen spielen würden, aber scheinbar hatte er sich geirrt. Er kam auch nicht dazu, irgendwelche Fragen zu stellen, denn Nocturn bedeutete ihm mit einem aufgeregten Zeigefinger, dass er jetzt ganz still sein solle. Wow, wie seine Augen strahlten! Als würde er kurz davor stehen, das größte Geschenk seines Lebens zu erhalten...   ... als Raria begann, verstand er, warum eine so musikliebende Person wie Nocturn sich darauf gefreut hatte, seine Tante spielen zu hören. Es war unglaublich, was sie diesem Instrument entlocken konnte! Nocturn hatte ihm zuvor erklärt, dass dies sein Lieblingslied war – er nannte es den „Herbststurm“, auch wenn das wohl falsch war, wenn Youma Rarias Worten glaubte. Dieses Stück gehörte wohl noch zum „Sommer“ und stellte den Übergang zwischen den zwei Jahreszeiten dar; jedenfalls laut deren Interpretation. Youma hatte nicht verstanden, wie man so konkret über Musik sprechen konnte oder wie Töne sich irgendwie an eine Jahreszeit knüpfen konnten... aber jetzt verstand er es; jetzt, wo seine Ohren es hörten und die Klänge Bilder vor seinen Augen malten. Er sah wirklich einen Sturm vor sich; nein, er befand sich regelrecht in einem, genau wie vor wenigen Tagen; er sah, wie der Himmel sich verdunkelte, spürte, wie der Wind aufbegehrte, den Regen auf seiner Haut, den Höhepunkt des Unwetters... und dann das langsame, unheilschwangere, fast unheimliche Ausklingen des Sturms... des Liedes.   Youma war ganz perplex, als Raria langsam die Geige senkte und die letzten Töne noch nachzuhallen schienen. Das war wirklich... unglaublich. In der Erwartung, dass Nocturn höchstwahrscheinlich zu Tränen gerührt war, drehte Youma sich auf der Bank zu ihm herum – und erschrak. Nocturns Augen waren tatsächlich glasig geworden, aber... nicht aus Glück. Er sah aus, als würde er leiden. Zutiefst leiden. Zerbrechen. „Si inexorable...“   Auch Raria sah ihn an; beide wirkten auf irgendeine Art zutiefst traurig; so traurig, dass sie Youmas Anwesenheit zu vergessen schienen. Als Raria endlich etwas sagte, war ihre Stimme sanft wie nie: „Komm, Nocturn – du musst jetzt deinen Part spielen.“     Raria hatte Nocturn und Youma als Strafe dafür, dass sie ihre Zeit in Paris „verschwendet“ hatten, tatsächlich nach dem Musizieren noch einmal vor die Tür gejagt – auf die Worte, dass sie doch nicht mit vollem Magen kämpfen konnten, antwortete sie mit einer Predigt darüber, dass ein potentieller Gegner sie auch beim Essen überraschen könne und sich sicherlich nicht darum scheren würde, in welchem Zustand ihre Mägen seien. So hatten sich die beiden im Dunkel der Nacht wieder ans Training gemacht – aber schon nach einer halben Stunde ließen sie sich erschöpft in Gras fallen. „Ich kann nicht mehr!“, klagte Nocturn rechts neben ihm und Youma musste ihm zustimmen. „Warum lässt sie uns auch unter diesen Bedingungen kämpfen!“ „Es ist Raria – wunderst du dich allen Ernstes, Nocturn?“ „Haha, nein, eigentlich nicht... wer hat jetzt eigentlich gewonnen?“ „Keine Ahnung... du hast mehr Treffer gehabt.“ „Aber deine Ausweichtechniken waren besser. Darauf achtet Raria doch immer.“ „Sagen wir unentschieden.“ „Klingt gut.“   Und dann schwiegen sie. Jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, die Augen Richtung Firmament, wo die Sterne erwacht waren. Wie ruhig es war. Man hörte nur das stille Rascheln der Blätter hinter ihnen im Wald und das Rauschen der Wellen weit, weit unter ihnen, dort, wo sie bis heute noch trainiert hatten. Beide hatten ihre Hände auf ihren sich langsam hebenden und senkenden Brustkorb gelegt und sahen zu den Sternen empor. Sogar Nocturn empfand diese Stille als eine sehr angenehme, vielleicht weil es dieses Mal keine schweigsame Stille war... sondern eine Stille, die für sich sprach. Die sie zusammen genossen unter dem strahlenden Firmament.       Youma fühlte sich in diesem Moment so wohl... so zeitlos... dass er fast vergaß, dass der Ort, an den er geknüpft war, ein anderer war. Widerwillig wandte er sich von dem schönen Firmament ab und drehte sich zu Nocturn herum, um sich zu verabschieden – als er mit Erstaunen bemerkte, dass Nocturn ihn ansah statt dem Nachthimmel. Als er Youmas Blick traf, lächelte er anstatt sich irgendwie für das Anstarren zu entschuldigen.   „Jetzt weiß ich, woran ich immer denken muss, wenn ich dich ansehe“, flüsterte er, mit einem sanften Lächeln und einer Stimme, die deutlich offenbarte, wie sehr er sich freute, es endlich herausgefunden zu haben. Youma brachte es allerdings zu einem belustigten Stirnrunzeln: „Du musst an etwas denken, wenn du mich ansiehst?“ „Ja“, antwortete Nocturn ohne Umschweife: „Ich muss immer daran denken, wie schön du bist. Genauso schön wie die Nacht.“   Youmas Augen weiteten sich vor Überraschung, das zu hören; das aus Nocturns Mund zu hören; von Nocturn, der ihn gerade so selig anlächelte, als gäbe es nirgends auf der Welt irgendein Leid. „Wenn ich dich ansehe, habe ich das Gefühl, ich würde die Dunkelheit in Person sehen. Eine Dunkelheit, die düster und tief ist, aber auch das schönste Strahlen hervorbringen kann, genau wie die Sterne, deren Leuchten man nur in der Nacht sehen kann. Weißt du, wie ich darauf komme?“ Er hatte absolut keine Ahnung – absolut gar keine. Was ging hier vor sich? Als Youma immer noch mit geweiteten Augen, aber langsam röter werdenden Wangen den Kopf schüttelte – er brachte eigenartigerweise keinen Ton mehr heraus – drehte Nocturn sich grinsend auf den Bauch, stützte seinen Oberkörper mit seinem rechten Ellenbogen ab und streckte die linke Hand plötzlich nach Youmas Gesicht aus. Alles ohne zu zögern, ohne beschämt zu sein – aber kurz bevor er davor war, Youmas Gesicht zu berühren, hielt er inne.   „Darf ich?“ Eine reine Höflichkeitsfrage, die Youma zwar nicht verstand, weil er alles an diesem Moment nicht verstand, aber er deutete dennoch ein verwirrtes Kopfnicken an.   Flüchtig berührte Nocturns magere Hand seine Haut. Was war das? Was ging hier überhaupt vor sich? Youma wusste, unter welchen Bedingungen sich das Herz eigentlich beschleunigte, aber... das konnte doch nicht sein... was war nur mit seinem Körper los? Als würde Nocturn weder die wirren Gedanken Youmas noch seinen schnellen Herzschlag bemerken – vielleicht tat er es ja auch wirklich nicht – strich er Youma die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Jetzt grinste er nicht mehr; er lächelte wieder. Ein verträumtes Lächeln, als wäre er woanders. In diesem Moment, als Youma diesen Blick sah, direkt in Nocturns Augen sah, da spürte er, dass nicht nur sein Herz ihm einen Streich spielte, sondern auch seine Hand. Von Nocturn unbemerkt hatte er diese erhoben… sie näherte sich seinem Nacken, sehr zögerlich, immer wieder zurück beordert von sich selbst, weil er es einfach nicht glauben konnte – er wollte Nocturn zu sich runter ziehen. Er wollte ihn spüren. Jetzt.   „Ich komme darauf, weil deine Augen erst jetzt im Dunkel der Nacht zu strahlen begonnen haben. Ganz genau wie die Sterne über uns.“   Als wäre Nocturns Stimme ein Kommando gewesen, ein Weckruf, um wieder in die Realität zurückzukehren, zog Youma hastig seine Hand zurück, völlig von sich selbst schockiert. W-Was hatte er da gerade... was... und Nocturn hatte nichts bemerkt, er zog sich einfach wieder zurück, grinste unschuldig.           Und während Youma rot bis über beide Ohren wurde und Nocturn stammelnd fragte, wie er denn auf so etwas käme, dieser aber einfach nur unschuldig erwiderte, dass es eben sein Eindruck von ihm sei, konnte Ri-Il in der Dämonenwelt Erfolg verbuchen. Mekare grinste genau wie ihr Vorgesetzter es tat; sie wusste, sie hatte einen Volltreffer gelandet – und sie war stolz darauf. Sehr stolz sogar. „So so...“ Ri-Il war so erfreut, dass er ein Kichern nicht unterdrücken konnte, obwohl ihm natürlich klar war, dass diese Information keinen Erfolg garantierte – aber alleine das Wissen, dass Kasra alles getan hatte, um jede Wissensquelle, die diese Information preisgeben konnte, in der gesamtem Dämonenwelt auszulöschen und dass er trotzdem daran gekommen war, war einfach... ein zu genüssliches Gefühl von Triumpf, dass es schwer war, nicht zu lachen. „...deshalb also die plötzliche Sehnsucht nach einem Sohn!“                Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)