Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 11: La Ténèbres et la Nuit - Opus II --------------------------------------------         „Sag mal, Youma-kun, dir ist schon klar, dass du nicht nur unter Geschmacksverwirrung leidest, sondern auch, dass sehr viele Zeichen dafür sprechen, dass Nocturn nach White verlangt, nicht wahr?“        Youma kam abrupt zum Stillstand, aber anstatt ihn zu fragen, was er damit meinte, verengte er skeptisch die Augen, sich natürlich bewusst, dass sein Gesprächspartner ihn sehen konnte, auch wenn das andersherum nicht der Fall war. „Wie kommt es eigentlich, dass Sie sich aktuell so für meine Gedanken und mein Tun zu interessieren scheinen?“ „Aber, Youma-kun, ich interessiere mich immer für alles, was du machst!“ „Die letzten Tage waren Sie ziemlich schweigsam und jetzt scheinen Sie alles, was ich denke und tue, zu kommentieren.“ „Das liegt daran, dass du vor wenigen Tagen noch nicht in dein Verderben gerannt bist.“   „Ob ich in mein Verderben renne oder nicht, ist immer noch meine Angelegenheit.“ „Das wird jetzt wehtun.“ „Wa-“ Aber da traf ihn schon Nocturns Faustschlag mit aller Wucht; die Gewalt des Faustschlags war so groß, dass es ihn gegen einen Baum warf. Youmas Kopf und Rücken dröhnten, aber seine Stimme fand er dennoch schnell wieder: „Was sollte das denn?!“ „Was das war? Ein Hinterhalt, würde ich meinen! Oder was verstehst du unter „Hinterhalt“? Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach werden würde... Ich habe eigentlich mit einem Ausweichen deinerseits gerechnet. Dass ich dich so einfach treffen konnte, wird Raria aber nicht gefallen.“ Ein spöttischer Kommentar des Namenlosen pflichtete dieser Aussage Nocturns bei, was dieser natürlich nicht hören konnte und Youma wählte es zu ignorieren, denn es war alles andere als schmeichelhaft. Die Lust, das Geschehene zu kommentieren, schien ihm auch zu vergehen, als er sah, wie Nocturn grinsend auf Youma zu ging, um ihm aufzuhelfen – und sein Gesicht verzog sich regelrecht, als er mitansehen musste, wie Youma die Hand Nocturns annahm. Nicht mit einem Lächeln, sondern mit einem erröteten Schmollen – was das Ganze noch schlimmer machte. Und dann drückte er seine Hand auch noch fester als es not tat.  Wo sollte das nur hinführen!?     Der namenlose Dämonenherrscher begutachtete die darauffolgenden Stunden des Trainings mit einem sehr skeptischen Blick, aber als hätte der Schlag Nocturns Youma erst einmal unbarmherzig zurück in die Realität geschlagen, so bemerkte er nicht irgendetwas, das... besorgniserregend war. Youma war vorerst zu seinem seriösen, praktisch denkenden Selbst zurückgekehrt – und der namenlose Dämonenherrscher würde auch dafür sorgen, dass es so blieb. „Frag ihn“, befahl er Youma mittels Gedankenübertragung, während Nocturn und Youma erschöpft vom Training im Dämmerlicht des schwindenden Tages auf dem Weg zurück waren. „Frag ihn, warum er White treffen wollte. Los, frag ihn, ich weiß ganz genau, dass es dich interessiert!“ Youma versuchte ganz offensichtlich, die ihn anherrschende Stimme zu ignorieren, aber sein Gönner ließ sich nicht ignorieren: „Ich werde dich die gesamte Nacht wachhalten, wenn du ihn nicht jetzt fragst – und wenn ich es in deinem Zimmer regnen lassen muss! Also – frag ihn!“ Er würde nicht aufhören, ihn zu plagen; das wussten sie beide, weshalb Youma sich dazu gezwungen sah, aufzugeben; und ja, es interessierte ihn ja auch, das konnte er nicht leugnen... „Nocturn, ehm...“ Der ehemalige Dämonenherrscher himmelte genervt mit den Augen; jetzt stotterte er schon wieder! „Ja?“, antwortete Nocturn, mit der Hand bereits am Gartentor, sich nun zu Youma herum wendend. „Das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen... Warum wolltest du White eigentlich treffen?“ Nocturn sah ihn verwundert an, das Gartentor loslassend „Warum interessiert dich das jetzt? Das Thema ist doch gar nicht mehr relevant?“ Gute Frage, das musste Youma zugeben und wüsste er, wo genau er finster hinschielen müsste, um seinem Gönner einen Vorwurf für dieses Gespräch zu machen, dann würde er es tun. „Wie gesagt, es hat mich schon die ganze Zeit interessiert und ich mag keine ungeklärten Dinge.“ Youma wollte sich für diese souveräne Antwort stolz auf die Schulter klopfen, beließ es aber bei einem ruhigen Lächeln – was schnell zusammenschmolz, als er sah, wie Nocturn sich nervös zum Haus umblickte. „Das soll Raria besser nicht hören... lass uns uns zum Trainingsplatz am Meer teleportieren, einverstanden?“ Dem hatte Youma nichts entgegenzubringen und schon teleportierten sie sich an das kleine, steinige Stück Strand, wo Nocturn sich auf einen großen Stein setzte – Youma begnügte sich damit, sich an den Stein zu lehnen; vorerst jedenfalls. Es schien eine längere Geschichte zu werden.   „Ich kenne White. Ich habe sie schon einmal getroffen.“ Youma hörte ein triumphierendes Lachen in seinem Kopf, wahrscheinlich weniger wegen Nocturns Worten an sich, sondern wegen der Art, wie er sie aussprach; seine Stimme hatte wieder den verträumten Klang angenommen.   „Als ich zehn Jahre alt war, traf ich sie. Ich war verletzt, ich hatte sehr viel Blut verloren... ich hatte mich in die Menschenwelt geflüchtet. Es hatte geschneit. Das kannte ich nicht und... das klingt jetzt sicherlich albern, aber die Schneeflocken verwirrten mich nicht nur, sondern machten mir auch Angst. Ich suchte daher, verzweifelt und verletzt wie ich war, Unterschlupf in einer alten Kirchenruine.“ Nocturn machte ein sachtes Kopfnicken nach oben, wo auch das Haus lag: „Die Kirchenruine liegt nicht weit weg von unserem Haus.“ „Was für ein Zufall...“ „Ich bevorzuge es, es Schicksal zu nennen.“ Er lächelte und fuhr fort: „Dieser Tag änderte mein Leben und alles... fing mit White an. Ich bin ohnmächtig geworden; vielleicht wäre ich verblutet, aber... das Schicksal brachte White zu mir.“ Youma verstand wirklich nicht, warum sein Gönner wollte, dass er das erfuhr, denn das zu hören bestätigte seine... beginnende Verliebtheit für... Nocturn doch nur noch. Würde dieser Tonfall ihn sonst so schmerzen? „Sie erweckte mich zu neuem Leben. Ihr Gesicht war das erste, was ich sah, als ich die Augen wieder aufschlug; es war erleuchtet von dem Glasfenster hinter ihr... ihr weißes Antlitz, es strahlte förmlich. Sie sah mich an mit ihren großen weißen Augen, sie fragte mich, ob es mir gut ginge, fragte mich nach meinem Namen, mich... der doch zehn Jahre lang namenlos gewesen war.“ Youma verstand nicht, was er damit meinte, aber Nocturn ließ ihm nicht die Möglichkeit ihn zu fragen, denn er fuhr bereits fort: „Als White erkannte, dass ich ein Dämon war, eskalierte es und es kam zum Kampf zwischen uns. Seitdem... habe ich sie nicht mehr gesehen. Danach begann mein Leben bei Raria und auch wenn meine Tante immer versucht hat, mir alle Gedanken um White auszureden, vergessen konnte ich sie nie. Raria hat mir vieles gegeben und ich bin ihr aus tiefstem Herzen dankbar für alles, was sie für mich getan hat... aber meine Sehnsucht nach White konnte sie nie stillen.“ Nocturn hob den Kopf und sah mit einem sehnsüchtigen Blick in den Himmel: „In dem Moment, als ich die Augen damals in der Kirche aufschlug, von dem Moment an, als ich den ersten Atemzug in meinem neuen Leben nahm... seitdem liebe ich sie.“ Dieses Mal hörte Youma kein Lachen in seinem Kopf; vielleicht drang es aber auch einfach nicht zu ihm vor. „Es war immer mein sehnlichster Wunsch, White wiederzusehen. Ich wollte mich für meine Rettung bedanken, ich wollte mich ihr jetzt richtig vorstellen, ihr sagen, dass ich nicht mehr namenlos bin und dass sie mich mit „Nocturn“ ansprechen könne... ich wollte so gerne, dass sie mal zu einem Konzert von mir kommt, dass sie meine Musik hört. Ich habe ihr viele Stücke gewidmet, in der Hoffnung, meine Hengdi wäre in der Lage, ihr meinen sehnlichsten Wunsch zu übermitteln. Aber kein Klang der Welt... sei er noch so gut gespielt... kann in den Himmel empor schweben.“   Sie schwiegen daraufhin sehr lange; Nocturn hatte ihm den Rücken zugekehrt und sah immer noch in den grauen, überaus fern wirkenden Himmel empor, als könne er die fliegenden Inseln der Wächter plötzlich mit dem bloßen Auge wahrnehmen. Youma wollte das Gespräch eigentlich beenden, aber stattdessen sorgte er dafür, dass es fortgesetzt wurde: „Und als du mich im Publikum sahst...“ Nocturn deutete ein leichtes Nicken an: „Ja, da sah ich meine Chance. Raria hat immer verhindert, dass ich mit magischen Wesen in Kontakt komme; genauso vehement, wie sie versuchte, mir jeden Gedanken an White auszutreiben. Sie war der Meinung, dass der Gedanke an White mir schaden würde... richtig verstanden habe ich es nie, aber...“ Youma sah, wie Nocturns Finger sich zu Fäusten ballten. „... mittlerweile verstehe ich es. Nur dass ich nicht nur mir, sondern auch Raria Schaden zugefügt habe.“         Eine 24-Stunden-Verliebtheit also. Nicht einmal, wenn Youma genauer darüber nachdachte. Ha, so schnell musste er also seine gerade erst entdeckten Gefühle aufgeben. Aber wahrscheinlich hatte sein Gönner recht; es war alles ziemlich unsinnig und passte so gar nicht zu Youma. Zum Glück hatte er das Gespräch provoziert, bevor noch mehr peinliche Dinge geschehen waren! Jetzt musste er diese Gefühle nur so schnell wie möglich wieder abschütteln; er musste Nocturn gegenüber normal sein. Kein lästiges Erröten mehr, kein Gestotter. Keine Hand, die sich nach ihm ausstrecken wollte. Nichts dergleichen. Sie waren Trainingspartner und... ja, Youma glaubte schon, dass er das behaupten konnte: Freunde. Und war das nicht... gut? Er hatte fünf Jahre lang keine andere Gesprächsperson gehabt außer seinen zynischen Gönner; niemanden, dem er sich in irgendeiner Form hätte öffnen können – warum sollte er das jetzt aufs Spiel setzen? Nur wegen einer Hand, die nicht wusste, wo sie hingehörte und ein wenig Herzklopfen? Nein, das war doch alles albern. Und abgehakt.   Als Youma am nächsten Tag – wieder erst am Nachmittag – in der Menschenwelt ankam, spürte er auch schnell, dass ihm das Ablenken von seinen Gefühlen leicht gemacht wurde: er war in einen Streit hineingeraten. Natürlich konnte er nicht verstehen, was sie sagten – nein, viel eher, was sie einander an den Kopf warfen – aber er hörte deutlich, dass sie sich sehr aufgebracht stritten und der Tonfall war ein anderer als damals, als der Teller zerbrochen war... er war verzweifelter, ernster... die lauten Stimmen der beiden beunruhigten Youma so sehr, dass er sich nicht traute, weiter ins Haus hinein zu gehen. Er blieb an der Tür stehen, als hielte ihn ein magischer Bannkreis davon ab, weiter zu gehen. Die beiden stritten sich so sehr, dass sie nicht einmal bemerkt hatten, dass er gekommen war. Gegen seinen Willen spitzte Youma die Ohren, um irgendein Wort herauszuhören... irgendeinen Anhaltspunkt... es war Nocturn, der verzweifelt klang... er war es auch, der am meisten sprach, er schrie nun förmlich – Raria antwortete, ebenfalls in einem lauten Tonfall, aber ruhiger als er; ob sie ihn beruhigen wollte? Es war schwer zu beurteilen, aber wirken tat es nicht: Nocturns Stimme wurde noch lauter und dann – „Assez, Nocturn, assez !“   Nocturn kam aus der Stube gerannt; er bemerkte Youma nicht, er sah sich nur noch einmal nach Raria um – wie verletzt und traurig er aussah – ehe er die Tür zum Auditorium öffnete und sie mit einem Donnergrollen hinter sich zuschlug. Kurz darauf folgte auch Raria; sie allerdings bemerkte Youma und warf ihm einen ernsten Blick zu, sich natürlich bewusst, dass er schon eine Weile dort stand. Sie schlug die Augen nieder und erwiderte auf Youmas verwirrten und auch besorgten Gesichtsausdruck: „Du kannst wieder zurückkehren. Heute wird er nicht mehr herauskommen.“ Sie warf einen düsteren Blick über die Schulter und seufzte aufgebend: „Ich habe viel zu viele kindische Seiten an ihm zugelassen...“ „Was ist passiert? Weshalb ist er so...“ „Eine Familienangelegenheit.“ Genauso gut hätte sie sagen können „Misch dich nicht ein“. Youma und sie blickten sich ernst an; er wusste, dass er kein Recht darauf hatte nachzubohren, denn wenn sie sagte, dass es eine interne Familienangelegenheit war, dann war es wahrscheinlich wirklich nicht für seine Ohren bestimmt. Aber dennoch... „Er wirkte sehr traurig.“ „Ja, das ist er wahrscheinlich auch. Daher ist es auch am besten, wenn er jetzt in Frieden gelassen wird, damit er einfach spielen kann, denn so kompensiert er seine Gefühle am besten.“ Youma konnte nichts dagegen tun, dass sich zweifelnd seine Augenbrauen hoben; das Problem hatte nicht danach geklungen, dass es sich mittels ein bisschen Musizieren lösen ließ. Aber Youma gab nach – jedenfalls tat er so als ob.   Statt sich aber in die Dämonenwelt zurück zu teleportieren, teleportierte er sich auf die andere Seite des Hauses. Selbstverständlich war ihm bewusst, dass Raria sicherlich bemerkt hatte, dass seine Aura sich nach wie vor auf ihrem Grundstück befand, aber er musste es einfach versuchen; er musste darauf hoffen, dass sie nicht sofort handelte. Er konnte jetzt nicht einfach verschwinden.   Da das Auditorium direkt an der Klippe lag, gab es nur einen sehr kleinen Vorsprung, auf dem Youma nicht hätte entlangbalancieren können; aber zum Glück konnte er ja fliegen. Er ging also so weit er konnte und legte den letzten Rest schwebend zurück; ein ganz schöner Aufstand, nur um wahrscheinlich gleich unter großem Geschrei herausgeworfen zu werden. Aber als er Nocturn hinter den Glasscheiben des Auditoriums entdeckte, wusste er, dass es den Aufstand wert war. In sich gekauert hockte dieser an dem großen Flügel, welcher sich in der Mitte des Zimmers befand und starrte auf die Tasten. Es sah wirklich nicht danach aus, als würde er irgendwie musizieren wollen. Er hatte sogar Youma nicht bemerkt; er musste an der Fensterscheibe klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen. Erst da hob er ruckartig den Kopf und seine geröteten Augen trafen seine. Er sah kurz verbissen weg, doch dann durchquerte er entschlossen den Raum, sich dabei die Augen trocken wischend.   Als er Youma das Fenster öffnete, zwang er sich sogar zu einem Grinsen: „Was machst du denn am Fenster? Das Auditorium hat zwei Doppeltüren, die sind eigentlich vom Gang nicht zu übersehen?“ „Deine Tante hat mich vor die Tür befördert.“ „Oh, dann sollte ich dich eigentlich nicht hereinlassen...“ „Ich nehme die Verantwortung und ihre Wut auf mich.“ „Sehr gewagt.“     Er versuchte also, alles normal klingen zu lassen, aber sein Lächeln war gezwungen; das erkannte Youma überraschend leicht, weshalb er auch nicht willig war, sich auf Nocturns Theaterspielen einzulassen. „Was ist passiert? Weshalb habt ihr euch gestritten?“ Nocturn hatte sich wieder auf die kleine Bank vor dem Flügel gesetzt und antwortete Youma mit einem galanten Lächeln, dass es eben ab und zu mal vorkäme, dass sie sich stritten. Der Angesprochene fiel darauf natürlich nicht herein und setzte sich ohne um Erlaubnis zu fragen zu ihm auf die Bank. Darauf, dass die Bank eigentlich nicht für zwei Personen geeignet war, achtete Youma im Moment nicht; auch darauf nicht, dass sich ihre Oberschenkel nun zwangsweise berührten. „Ihr habt euch wegen etwas anderem gestritten und zwar wegen demselben, weshalb du immer mal wieder so traurig aussiehst; dem gleichen Grund, weshalb du bei ihrem Spiel so niedergeschlagen warst! Verkauf mich doch nicht für blöd, ich merke doch, dass hier was nicht stimmt?!“ Wie deutlich es in Nocturns Augen abzulesen war, dass ihn das, was Youma gerade gesagt hatte, überrascht hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm sein Verhalten aufgefallen war; er hatte geglaubt, dass er perfekt gespielt hatte. Und die Frage, was er falsch gemacht hatte, stand plötzlich deutlich in sein schockiertes Gesicht geschrieben. „Nocturn, wenn du es mir nicht sagen kannst...“ Er wandte seinen Blick ab, sah wieder wie versteinert auf die weißen Tasten, auf seine darauf liegende Hand. „... dann sag mir wenigstens, was das Wort „roi“ bedeutet.“ Als dieses Wort plötzlich im Raum ertönte, folgte auch ein lauter, heller Ton des Flügels; Nocturn war mit der Hand weggerutscht. Youma beobachtete ihn genau, er sog jedes noch so kleine Detail seiner Körpersprache in sich auf; wenn er es schon nicht mit Worten sagen konnte, dann vielleicht anders. Youma war auf der richtigen Spur, er spürte es förmlich. Wenn das Wort, was so oft in ihrem Streitgespräch gefallen war, das bedeutete, was er glaubte, dann... „Es bedeutet nicht zufällig „König“?“ Youma hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen: Nocturn war erstarrt, hatte dann langsam den Kopf gehoben, mit einem verwirrten, überraschten Gesichtsausdruck, den Youma aber nicht lange sah, denn er war schon aufgestanden. Aber nicht ohne vorher noch einmal fest Nocturns Schulter zu drücken. Das durfte er doch als Freund, oder? Das war doch noch im Rahmen des.... Annehmbaren? „Was hast du vor?!“, rief Nocturn ihm hinterher, auf der kleinen Bank zu ihm herumwirbelnd. „Ich werde gegen die Löwin antreten.“   Sie erwartete ihn bereits mit gefletschten Zähnen. Mit den Armen vor der Brust verschränkt stand Raria auf ihn wartend vor der Tür zum Auditorium. Natürlich hatte sie gespürt, dass er sich nicht in die Dämonenwelt aufgemacht hatte; umso größer war Youmas Verwunderung, dass sie ihn nicht davon abgehalten hatte, mit Nocturn zu sprechen, denn sie war scheinbar alles andere als glücklich darüber, dass Youma nun mehr wusste, als sie es geplant hatte – denn auch das wusste sie, er sah es in ihren Augen, in ihrer Wut. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und bedeutete ihm tonlos, ihr in die Stube zu folgen, wo sie auch ohne Umschweife begann: „Wie hast du es aus Nocturn herausbekommen?“ „Er hat mir nichts gesagt. Ich habe es an seiner Körpersprache erkannt.“ „Lüg nicht!“, warf sie ihm wutentbrannt entgegen und Youma spürte, wie er tatsächlich das Gefühl hatte, kleiner zu werden, aber er hielt seine ernste Miene aufrecht, nicht gewillt sich einschüchtern zu lassen; oder jedenfalls sich anmerken zu lassen, dass er es war. „Nocturn würde niemals zulassen, dass irgendetwas an seiner Körpersprache abzulesen wäre! Wenn er eine Rolle spielt, dann spielt er sie auch perfekt...“ Raria unterbrach sich selbst; ihr war ein Gedanke gekommen; ein Gedanke, der ihr nicht zu gefallen schien. Kurz schwieg sie, gänzlich mit diesem einen Gedanken beschäftigt, dann warf sie Youma plötzlich einen so wutentbrannten und düsteren Blick zu, dass er das Gefühl bekam, ein Speer hätte ihn durchbohrt.   Aber diese überaus finsteren Gedanken, die sie für Youma auf einmal zu nähren schien, schien sie nicht in Worten ausdrücken zu wollen – stattdessen wandte sie sich ab, erschöpft, wie es Youma schien, denn sie seufzte tief und überaus verärgert. Eine Gelegenheit, die Youma nutzte, um das Thema anzureißen, über das er eigentlich sprechen wollte; auch wenn ihre Reaktion recht furchteinflößend war, er benötigte Klarheit: „Raria-san, ich bitte Sie darum, mir zu erklären, was genau Sie mit Nocturn und mir vorhaben und worauf das Training hinausläuft. Was bezwecken Sie mit dem Ganzen?“ Da sie nicht antwortete und es auch nicht zu wollen schien, fuhr Youma fort, denn er hatte sich natürlich schon so seine Gedanken gemacht: „Was genau Sie bezwecken ist mir nicht klar, aber es ist offensichtlich, dass Nocturn eine entscheidende Rolle in Ihren Plänen einnimmt, ansonsten würden Sie ihn nicht extra hart kritisieren. Aber was auch immer Sie mit ihm vorhaben, so scheint er ganz offensichtlich gegen Ihre Pläne zu sein. Wäre er sonst so oft bedrückt? Es muss etwas sehr Entscheidendes, Unwiderrufliches sein, ansonsten würde er sich nicht mit Ihnen, die er so sehr verehrt, streiten! Was ist es?!“ „Denkst du wirklich, dass dich das was angeht?“ Youma war nicht gewillt, sich von so einer Antwort abspeisen zu lassen: „Ja! Ja, das denke ich in der-“ Raria unterbrach ihn, nicht länger wütend, wie es Youma vorkam, sondern sehr ernst: „Dir muss bewusst sein, Junge, dass sich deine Rolle in diesem Stück dann entscheidend verändert. Bis jetzt warst du ein Zuschauer, der über ein wenig mehr Wissen als andere Zuschauer verfügte, aber wenn du mehr erfährst, wirst du zu einem Mitspieler. Ist es das, was du willst? Überlege es dir gut, denn es gibt dann kein Zurück mehr.“ Als ob er diesen Punkt nicht schon längst überschritten hätte – und gerade deshalb war seine Antwort auch von felsenfester Härte:  „Ich habe mich schon längst entschieden. Also sprechen Sie!“ Raria, die sich seitlich von Youma abgewandt hatte, drehte sich nun wieder zu ihm herum, legte den Kopf in den Nacken und gab Youma die langersehnte Aufklärung:     „Ich bilde Nocturn dazu aus, Kasra töten zu können.“     Youma sah Raria genauso schockiert an wie Nocturn es getan hatte, als Raria es ihm erzählt hatte.   „Ich? Den... Dämonenkönig töten?“ Ein eigenartig gezwungenes Lächeln tauchte auf Nocturns Gesicht auf, was Raria nicht erweichte. Sie stand vor ihm, die Hand auf seiner Schulter, mit einem Blick, der von nichts erweichbar schien. Ihr war daher ganz und gar nicht nach Spaßen zumute. Nocturn glaubte auch nicht, dass sie Spaß machte – und das machte das Ganze umso schlimmer; noch unglaublicher. „Ich kann ja nicht einmal seine Gedanken lesen... Ich bin nicht stark genug, um gegen ihn anzukommen! Er ist doch nicht umsonst der Herrscher der Dämonen; wie könnte ich, der gar kein Leben als Dämon führt, ihn mit klarem Verstand herausfordern und wie könnte ich... überhaupt darauf hoffen, zu gewinnen?“ „Du brauchst ihn nicht herauszufordern. Er wird sowieso irgendwann versuchen, dich umzubringen. Deswegen musst du vorbereitet sein und ihm zuvorkommen. Dieser Weg ist der einzige, der uns übrig bleibt zu gehen.“ Wahrscheinlich sollte Nocturn darüber überrascht sein, dass der Dämonenkönig, mit dem er kaum ein Wort gewechselt, den er bis jetzt nur einmal gesehen hatte und der sogar von ihm angetan zu sein schien, ihn irgendwann umbringen wollte, aber das war er nicht. Er hatte zwar seine Gedanken nicht lesen können, aber die Boshaftigkeit, die er gespürt hatte, als er es versucht hatte, war zu allumfassend, als dass Nocturn es anzweifeln würde.   „Warum soll das die einzige Möglichkeit sein?“, fragte nicht Nocturn, sondern Youma, als Raria das Gespräch wiedergab. Nocturn hatte die Antwort auf diese Frage nicht interessiert; wenn Raria sagte, dass es die einzige Möglichkeit war, dann war es auch die einzige. Aber Youma vertraute ihrem Urteil nicht; jetzt erst recht nicht, nachdem er von ihrem Vorhaben erfahren hatte. Nocturn war ein guter Kämpfer, ganz ohne Zweifel, aber man musste mehr als „ein guter Kämpfer“ sein, um sich einbilden zu können, gegen Kasra anzukommen; gar ihn umbringen zu können. Nocturn hatte recht; Kasra war nicht umsonst der Herrscher der Dämonen. Er war es, weil er der stärkste und mächtigste Dämon war! Was war nur in Raria gefahren?! „Weil Kasra Nocturn umbringen wird, daher muss er getötet werden, ehe er dies tun kann.“ Ein hohles, Youmas Wut kaum zurückhaltendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus: „Ha, wohl doch noch sehr dämonisch veranlagt? Das ist jedenfalls ein sehr dämonisches Herangehen…“ Aber Raria war selbst gereizt, weshalb sie genauso wenig ein Blatt vor den Mund nahm wie umgekehrt: „Oh, die Meinung eines Wächters würde mich sehr interessieren – was wäre denn dein Vorschlag?“ Youma, der nicht davon ausgegangen war, dass sein Wächterblut so auffällig war, da er recht gut gelernt hatte, es zu verbergen, war überrascht über diese Aussage und seine Wut wich der Überraschung: „Woher…“ „Als ob das so schwer zu bemerken wäre! Ich habe an den Kriegen teilgenommen! Ich habe gegen Wächter gekämpft, ich habe Wächter getötet – ich erkenne Wächter, wenn ich vor ihnen stehe!“ Fiel sie ihm ins Wort und fuhr weiter aus: „Das ist jetzt auch gänzlich nebensächlich; ich möchte deine Vorschläge hören, Youma! Erzähl mir, was du getan hättest, damit ich dämonisches Wesen etwas dazulernen kann!“   Es gab keinen Weg daran vorbei: auch wenn Youma Rarias Entschluss und ihre Vorgehensweise anzweifelte, so war sie dennoch überaus einschüchternd. Dennoch riss er sich zusammen: „Der König ist sehr angetan von Nocturn. Natürlich, es gibt bei Kasra keine Überlebensgarantie, aber solange er sich in seiner Horde gut bewährt, sollte die Gefahr, dass er stirbt, nicht allzu hoch sein – und wenn Nocturn seine Arbeit gut macht, dann hat Kasra sicherlich auch kein größeres Interesse an Ihnen und während Nocturn am Krieg teilnimmt, können Sie hier weiterhin Ihr gemütliches Leben führen. Ich denke, das wäre durchaus möglich und eine realistischere Alternative als Nocturn in die Höhle des Löwen zu schicken! Sie schicken ihn in den sicheren Tod!“ „Du auch!“ Mit entschlossenen Schritten verringerte Raria den Abstand zwischen ihnen, sich weiterhin mit verschränkten Armen direkt vor ihn stellend. Ein zutiefst ernster Blick lag auf ihm, durchbohrte ihn. Ihre Augen zeigten Ruhe und zugleich tiefste Wut; nur war ihre Wut nicht zügellos, wie es bei den meisten der Fall war; sie war kontrolliert und genau aus diesem Grund war sie in der Lage, ihre Argumente überaus treffend zu formulieren: „Ich weiß, dass Kasra glaubt, dass Nocturn das Kind von ihm und Menuét ist und ich weiß auch, dass das der Grund ist, weshalb du ihn überhaupt gesucht und schlussendlich gefunden hast.“ Youma sah verwirrt aus: „Ja, das ist wahr, aber was hat das damit zu tun?“ „Was glaubst du, was passiert, wenn Kasra herausfindet, dass Nocturn nicht mit ihm verwandt ist?“ Youmas Verwirrung nahm zu, was Raria beinahe mit grimmiger Genugtuung beobachtete, denn er verstand plötzlich, worauf sie hinauswollte: „Dann… dann würde Kasra Nocturn unweigerlich töten. Aber… das kann nicht sein, Karou hat bestätigt, dass Nocturn der Sohn des Königs ist – natürlich wollte Kasra auf Nummer sicher gehen und Karou meinte, es gäbe keinen Zweifel!?“ „Natürlich behauptet Karou das!“, rief sie: „Aber das ist gelogen. Nocturn ist Menuéts Sohn. Aber nicht Kasras.“ Geschockt über diese Neuigkeit starrte Youma sie an, langsam begreifend, dass es, so wie die Dinge verlaufen waren, tatsächlich darauf hinauslaufen würde, dass Nocturn Kasra unweigerlich gegenüber... oh Gott.     „Verstehst du jetzt, warum es keine Alternative gibt? Vielleicht wäre es gut gegangen; vielleicht sogar ein paar Jahre, aber Kasra ist ein misstrauischer und intelligenter Dämon – ein Funken Skepsis hätte genügt und Karous Worte wären nichtig gewesen!“ Youma, der das Bild eines gegen Kasra kämpfenden und sterbenden Nocturns nicht aus dem Kopf bekam, antwortete mit leiser Stimme: „Aber selbst wenn Nocturn stark genug sein sollte, um Kasra zu besiegen… Das Gesetz der Dämonenwelt schreibt vor, dass er dann der nächste König werden würde.“ Raria antwortete nicht. Sie musterte ihn schweigend, erwiderte seinen Blick immer noch ernst und undurchdringbar – dann wandte sie ihm den Rücken zu und entfernte sich von ihm, ganz so, als wäre das Thema beendet, aber das war es nicht für Youma: „Das ist es doch nicht, was er will! Er will kein Leben als Dämon, er will hier bei Ihnen leben, mit seiner Musik, in dieser Welt!“ „Das ist der Preis, den er für seine Dummheit zahlen muss.“ „Was?!“ „Er hätte dich nicht ansprechen dürfen. Er hätte ein gut erzogenes Kind sein sollen und sich hierher zurückbegeben sollen, genauso wie ich es ihm eingebläut habe zu tun, sobald er Dämonen spürt. Dann wäre all das nicht passiert. Aber nein, er musste sich unbedingt an Traumgebilde klammern und einer Wächterin hinterher rennen, die sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an ihn erinnert, obwohl ich ihm auch das verboten habe.“   „Weil er sie liebt!“ Raria sah über die Schulter hinweg und zurück zu ihm, mit einem undefinierbaren Blick: „Er liebt sie! Ich habe keine Ahnung warum, aber er tut es! Natürlich ergreift er jede Möglichkeit, sie wiederzusehen! 14 Jahre hat er nun schon gewartet, sie vermisst! Wissen Sie überhaupt, wie sehr er sich nach einem Treffen mit ihr sehnt?! Natürlich war es naiv von ihm, aber es war ein Wunsch, der seinem verliebten Herzen entsprungen ist! Er hat keine Untat begangen, nur weil er ein Treffen mit ihr möglich machen wollte – Sie hätten es von Anfang an nicht unterbinden dürfen!“ „Was ich unterbinde und was nicht, das liegt ganz alleine in meinem eigenen Ermessen.“ Sie drehte sich nun zu ihm herum und zeigte mit einem eiskalten Blick auf die Tür: „Und jetzt verlässt du mein Haus. Morgen erscheinst du pünktlich und weniger frech zum Training, verstanden?!“   Zorn stand in Youmas Gesicht geschrieben; der Regen trommelte auf seine Schultern, durchnässte seine Haare, seine Kleidung – aber er war zu wütend, um darauf Acht zu geben. Er wusste, was zu tun war. Er wusste, wo er hinmusste. Sein Gönner wusste es auch; er war dagegen, aber er spürte, dass es keinen Sinn machte, Youma davon abhalten zu wollen. Es war ohne Zweifel dumm. Aber aus Liebe tat man nun einmal oft Dinge, die rational gesehen nicht erklärbar waren.      Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)