Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 16: Fatalitè Déplorable - Opus I ---------------------------------------- Wie ungewohnt diese Luft war; so bleiern, so schwer, so erdrückend und von ihr verhasst. Mit Gesichtszügen, die die Ernsthaftigkeit dieses Augenblicks, ihrer Entschlossenheit, unterstrichen, blickte Raria auch mit einer Spur alter Melancholie hinauf in den roten Himmel der Dämonenwelt. Wie lange war es her, dass sie sich unter jenem roten Himmel befunden hatte? Ohne Zweifel war es lange gewesen, denn ihre Augen taten sich zunächst schwer, sich an das ewige Dämmerlicht dieser Welt zu gewöhnen, weigerten sich, sich dieser Welt anzupassen, genau wie Rarias Innerstes sich immer danach gesträubt hatte, hierhin zurückzukehren. Auch jetzt spürte sie das dringende Bedürfnis, sich wieder nach Frankreich zurück zu teleportieren; diese alte, zu einem alten Leben gehörende Uniform von ihrem Leib zu reißen – nein, verbrennen wollte sie sie. Raria hätte es schon damals tun sollen… aber sie hatte immer die Vorahnung gehabt, dass sie sie womöglich noch brauchen würde.   Und leider hatte sie sich nicht geirrt.   Aber dass es gerade so kommen würde… dass sie ihre alte Heimat gerade aus einem solchen Grund wieder besuchen würde – das hatte sie nicht geahnt. Aber sie war nicht nervös; Nervosität war nicht der Grund, weshalb Rarias lange Finger die olivfarbene Flasche in ihrer Hand fester drückten, als es not tat. Nein, es war Entschlossenheit.   Diese Entschlossenheit lag auch in ihren Schritten, die sie zielsicher über eine eigentlich recht hübsch dekorierte Holzbrücke führten, deren rote Lampions unwirkliche Schatten auf die Bretter warfen – aber die Ausstattung beeindruckte Raria nicht; sie hatte noch nie ein Faible für die japanische Kultur gehabt. Die hier lebenden Dämonen hatten sie bis jetzt unbehelligt passieren lassen, aber als Raria am Ende der Brücke angelangt war, stellte sich ein ihr bekannter, kräftiger Dämon mit einer zotteligen Kurzhaarfrisur in den Weg; der oberste Kommandeur Ri-Ils, Darius. Als sie Darius mit einem leicht irritierten Blick musterte, ärgerte sie sich über die doch ziemlich dämonischen Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen; Gedanken, von denen sie froh war, dass sie sie nicht in der Menschenwelt zu plagen brauchten: dass er trotz des ständigen Krieges immer noch am Leben war, dass er scheinbar gut in Form, sogar recht gesund wirkte und auch noch alle Glieder besaß. Genau solche Gedanken waren es gewesen, die sie aus dieser Welt vertrieben hatten; der ständige Kampf ums Überleben, der Krieg, der Sein und Denken einnahm und die Person Stück für Stück veränderte. Sie hatte all das nicht mehr gewollt; jetzt befand sie sich wieder mittendrin.   Aber nicht mehr lange.   Darius und sie kannten sich von früher; weshalb er sie genauso skeptisch musterte wie umgekehrt, immer wachsam, immer bereit anzugreifen. So ein entsetzliches Dasein. Aber damals war sie ein Teil davon gewesen; damals, als sie beide Lehrmeister gewesen waren, nur zu gegnerischen Horden hatten sie gehört. Nein – das war eigentlich nicht ganz richtig. Für eine kurze Zeit – damals hatte Raria die Zeit noch nicht berechnet – waren sie sogar auf derselben Seite gewesen, da ihre beiden Fürsten sich kurzweilig zusammengetan hatten, bis dieses Bündnis für Ri-Il nicht mehr lukrativ genug gewesen war. Raria hatte Ri-Il den Verrat nie verübelt. Warum sollte sie auch? Nein, sie hatte seinen scharfsinnigen Spürsinn bewundert und hätte sie nicht zur gleichen Zeit der Dämonenwelt den Rücken zugekehrt, hätte sie sein Angebot, Teil seiner Horde zu werden, geehrt angenommen.   Aber gerade wegen diesem Scharfsinn war sie sich bewusst, dass sie Acht geben musste. Viel hing von dem Erfolg dieses Vorhabens ab; nein – alles.   „Ich brauche keine Eskorte“, grüße Raria Darius kühl, als sie sich dazu entschlossen hatte, dass sie sich lange genug gemustert hatten. „Ich habe eine Verabredung mit deinem Fürsten. Er weiß, dass ich komme und dass ich nicht hier bin, um seinem Gebiet Schaden zuzufügen.“ Darius schien das lieber selbst beurteilen zu wollen; jedenfalls wenn sie seine gerunzelte Stirn richtig deutete. „Ich weiß von eurer Verabredung.“ Stolz war aus seiner Stimme zu vernehmen; wahrscheinlich darüber, dass er eingeweiht war in solche Dinge. Aber obwohl er wusste, dass Ri-Il und Raria eine Verabredung hatten, konnte er sich einer gewissen Skepsis wohl nicht erwehren; wahrscheinlich weil er Ri-Ils damaligen Verrat nicht vergessen hatte und fürchtete, dass in Raria irgendwelche Rachegelüste schlummerten, die sie gegen Ri-Il und das ihm unterstellte Gebiet richten könnte. Er könnte nicht falscher liegen.   Auch wenn Raria es wurmte, dass Darius sie nicht alleine gehen lassen würde, ließ sie es nun ohne weiteres Kommentar geschehen – sie hatte keine Zeit, sich an Darius aufzuhalten und wenn er gerne den Wachhund spielen wollte, dann ließ sie ihm den Spaß. Er war wirklich ein sehr pflichterfüllender Wachhund; er führte sie nicht nur auf dem schnellsten Wege zu Ri-Ils Büro, er scannte obendrein auch noch jeden ihrer Blicke, als wären ihre Augen an sich eine Gefahr.   Ri-Il dagegen strahlte eine ganz andere Aura aus, die im starken Kontrast zu seiner eigentlichen, überaus mächtigen Aura stand. Als Darius die Schiebetür geöffnet hatte, erhob der eigenartig aussehende Dämon sich gelassen von seiner Papierarbeit – nahm sich obendrein Zeit, seinen Tintenfüller sorgfältig zuzudrehen und seine Papiere geordnet auf die linke Seite seines Schreibtisches zu legen – und schlenderte auf Raria und Darius zu, die eben vor der Schiebetür stehen geblieben waren. Auch wenn Raria großen Respekt vor Ri-Il hatte; seine undurchschaubare Heiterkeit, sein mysteriöses, alles zu wissendes Grinsen… all das mochte sie nicht. Es machte sie nicht nervös oder unsicher; es übte eine ungeheure Anspannung auf sie aus. Ja, seine mächtige Aura war beklemmend, aber Raria fand viel eher, dass sein Auftreten, seine Art, seine Ausstrahlung das waren, was die Gefahr begründete, die sie jetzt in seinem Beisein spürte – und auch damals schon verspürt hatte.   „Guten Abend, Raria-san.“ Er verneigte sich vor der Dämonin und seine Zöpfe wackelten dabei ein wenig – seine Höflichkeit war etwas, was sie allerdings sehr schätzte. Trotz aller Anspannung, die er bei seinem Gesprächspartner auslöste, so war er doch wenigstens ein Dämon, mit dem man reden konnte – und Geschäfte machen konnte.   Seine Horde war scheinbar immer noch gut erzogen, denn Darius zog sich ohne ein Wort von Ri-Il zurück; jedoch nicht, ohne Raria noch einen skeptischen Blick zugeworfen zu haben. „Guten Abend“, erwiderte Raria und folgte seiner galanten Aufforderung zu einer Ansammlung von Sitzkissen rund um einen niedrigen Holztisch. Schon wieder diese japanische Kultur; warum fand er nur so Gefallen an ihr? Aber Raria ließ sich ihren Widerwillen, sich auf die Knie zu setzen, nicht anmerken und nahm auf dem Sitzkissen Platz, welches er ihr angeboten hatte. Ri-Il selbst blieb allerdings stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.   „Kann ich Ihnen Tee anbieten?“ „Nein, danke“, antwortete Raria und übergab ihm auch sofort die Weinflasche, um zu verdeutlichen, dass sie wegen anderen Dingen hier war als der Gemütlichkeit wegen. „Sie haben einen exklusiven Geschmack, wenn ich das anmerken darf. Ich musste ein wenig länger nach diesem Jahrgang suchen.“ „Oh“, entfuhr es Ri-Il, nachdem er kurz die Augen einen Spalt breit geöffnet hatte, um die Flasche in Augenschein zu nehmen, sich nun ebenfalls setzend, was Raria um einiges lieber mochte: „Das bedauere ich natürlich; ich wollte Ihnen keine Umstände machen, Raria-san, weshalb ich mir Wein als Gastgeschenk ausgesucht hatte, wo Sie doch im Land des Weines leben.“ Dieser verdammte Fuchs, schoss es Raria abermals durch den Kopf. Nicht nur, dass er ihr nun schon zum zweiten Mal förmlich unter die Nase rieb, dass er wusste, wo sie lebte – und er würde ihr wahrscheinlich wie beim ersten Treffen nicht sagen, woher er das wusste –  nein, er hatte auch noch einen Wein für mehr als 300 Francs bekommen; als „Gastgeschenk“, das er sicherlich gut in irgendeinem anderen Tauschhandel einsetzen können würde, denn er trank keinen Wein. Er trank Sake, wie sie wusste. Aber obwohl sie beide von deren Geschäft profitieren würden, hatte Ri-Il natürlich die Chance genutzt, um noch ein wenig… extra abzugreifen. Eigentlich hatte sie ablehnen wollen, als er sie bei ihrem letzten Treffen, freundlich und höflich natürlich, darum gebeten hatte, ihm diesen Wein „mitzunehmen“ – „sie kenne sich doch sicherlich aus“. Ja, sie hätte wirklich ablehnen sollen, aber stattdessen spielte sie mit.   Es stand zu viel auf dem Spiel.          Kurz atmete Raria tief durch, als sie sich wieder in ihrem geliebten Frankreich, in ihrer geliebten Menschenwelt befand, auf der Veranda ihres Anwesens; völlig in Gedanken versunken legte sie den Kopf in den Nacken und als hätte der Wind sie gehört, erfasste er genau in diesem Moment ihre schwarzen Haare und tief, mit einem leichten, traurigen Lächeln, atmete Raria die Luft des Meeres ein. Die Luft war schon sehr kühl; der Winter würde bald kommen. Er lag in der Luft.   „Ihre Entscheidung ist sehr bedauernswert, Raria-san. Aber ich zolle Ihnen für diese Entscheidung meinen Respekt. Bedauernswert bleibt es allerdings dennoch…“    Raria seufzte, als diese letzten Worte Ri-Ils ihr noch einmal durch den Kopf huschten – und zwang sich dann, an etwas anderes zu denken. Sie hatten viel zu tun: das Training, Nocturns letztes Konzert… und deshalb wollte Raria sich gerade ins Haus zurückziehen, um sich schnell umzuziehen, um dann das Training von Nocturn und Youma zu überwachen, als sie bemerkte, dass die beiden gar nicht trainierten. Hatte Nocturn Youma etwa nicht mitgeteilt, dass sie auch ohne sie trainieren sollten?!   Raria wollte gerade wütend auf sie zu stampfen, um die beiden zurechtzustutzen; die beiden herum albernden Dämonen, die sie noch gar nicht bemerkt hatten, die doch tatsächlich ihre wertvolle Zeit damit verschwendeten, über Äpfel zu lachen, dicht nebeneinander unter dem Apfelbaum saßen… gänzlich von jedem Unglück isoliert.   Rarias Wut flaute ab; sie verschwand und hinterließ nur Trauer.   „Wie bedauernswert…“     Nocturn schreckte auf, als er spürte, wie Youma seine Hand nahm. Er war weit weg mit seinen Gedanken gewesen; aber jetzt war er wieder zurückgekehrt, war wieder in Paris, auf der Brücke Pont de Bir-Hakeim, die der Metro Linie 6 als Überführung diente und nun, hell erleuchtet von ihren herunter hängenden Lampen, die Szenerie von Youmas und Nocturns nächtlichem Spaziergang war.   Youma hatte Nocturns verwirrten Gesichtsausdruck falsch gedeutet und ließ die Hand los, die er eben noch so beherzt genommen hatte. „Entschuldige“, begann er, rot werdend, wie Nocturn im gelben Licht der Lampen und des Eiffelturmes deutlich erkennen konnte. „Ich dachte nur… nun… also, da wir…“ Youma suchte nach den richtigen Worten, schien sie aber nicht zu finden, was ihm peinlich zu sein schien und verärgert über sich selbst wollte er sich wegdrehen, den Weg über die Viadukt-ähnliche Brücke fortsetzen, aber da verstummte er, hielt inne, als er einen Augenblick lang auf Nocturns Hand sah, die seine gerade genommen hatte. Diese kleine Verbindung zwischen ihnen brachte sie beide kurz zum Schweigen und sie trauten sich nicht einander anzusehen, als ob sie einander nicht zeigen wollten, wie rot sie geworden waren.   Wie albern diese Situation doch war! Immerhin hatten sie vor knapp einer Stunde weitaus deutlichere Zeichen der Liebe ausgetauscht und nun scheuten sie sich davor zuzugeben, dass sie sich über dieses kleine Zeichen der Verbundenheit freuten. „Mach ich es… richtig?“, fragte Nocturn nach einigen peinlichen Minuten. „Was könntest du denn daran falsch machen?“ „Das weiß ich nicht; den Händedruck… vielleicht? Die Platzierung der Finger?“ Youma schüttelte den Kopf und zwang sich dazu, eben diesen auch wieder zu heben, obwohl  der Gedanke, dass Nocturn seine Hand tatsächlich vor einer Stunde sehr fest gedrückt hatte, ihm noch heißer werden ließ als ohnehin schon. „Es ist so eigenartig…“ Nocturn sah immer noch nach unten, wie Youma bemerkte – sah er auf deren ineinander verschlungene Hände? „… ich weiß gar nicht, was ich hier mache… ich habe eine solche Rolle noch nie gespielt…“ Youma stutzte ein wenig über sich selbst, musste sich beinahe selbst beschmunzeln, weil er sich gar nicht wie sonst über Nocturns eigentümliche Wortwahl pikierte, als wäre es plötzlich einfach etwas, was er akzeptierte, weil er… oh Gott, er konnte es plötzlich gar nicht fassen. Er hatte sich in ihn verliebt – in einen so kuriosen Dämon, für den er sogar sein Leben riskierte.   Als könnte Nocturn plötzlich doch seine Gedanken lesen, riss er auch genau dieses Thema an, welches, seitdem Youma es im Badezimmer verkündet hatte, nicht mehr zur Sprache gekommen war. Jetzt, in diesem Moment, als Nocturn seinen Blick wieder von deren Händen löste und Youma ansah, wieder ernst geworden war, kam es wieder an die Oberfläche. „Du bist dir sicher?“ „Natürlich“, antwortete Youma und die beiden begannen wieder, die Brücke hinunter zu gehen; jetzt allerdings Hand in Hand. „Ich habe dir gesagt, dass wir zusammen gegen Kasra kämpfen werden und das habe ich auch so gemeint. Ich lasse dich nicht alleine gehen. Wir werden, genau wie wir jetzt diese Brücke entlang gehen, zusammen kämpfen.“ Ein kurzes, gerührtes Lächeln huschte Nocturn über das Gesicht und er drückte Youmas Hand ein wenig fester – dann lachte er in die kühle Nachtluft hinein, Youmas Schulter mit seiner berührend, ihn angrinsend: „Na! Ich hoffe doch, dass du Kasra nicht mit ein bisschen Schlendern besiegen willst! Ein wenig hat der Herr in den letzten Tagen ja wohl doch gelernt, oder?“      Und dann neckten sie sich wieder, trietzten den jeweils anderen, doch ohne einander loszulassen. Es war geschehen. Das Band war geschmiedet.     Es war wirklich ein bedauernswertes Schicksal.    Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)