Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 17: Fatalitè Déplorable - Opus II -----------------------------------------       Nocturn und Youma hatten das Zurück-Teleportieren zu Raria hinausgezögert. Nicht weil sie ihre Reaktion fürchteten – Nocturn hatte Youma versichert, dass sie schon früher von deren Gefühle füreinander gewusst hatte als sie selbst – sondern weil sie spürten, dass sie dann dem Ende unweigerlich näher kommen würden; teleportierten sie sich zurück und kehrten Paris somit den Rücken zu, ließen sie auch das Privileg zurück, kurzzeitig von all dem, was sie bedrückte, zu fliehen.   Aber es musste sein. Sie hatten nicht mehr viel Zeit.   Hand in Hand teleportierten sie sich zurück und schon sahen sie das große Haus vor ihnen in der Dunkelheit; nur in der Stube brannte noch Licht. Schweigend blickten sie beide zum Haus empor, doch obwohl sie sich beide bewusst waren, dass sie es eilig hatten, drückten sie die Hand des jeweils anderen fester, statt sie loszulassen. Nocturn wollte sich gerade, im Versuch die Stimmung ein wenig aufzulockern, neckend zu Youma herumdrehen, als das bereits aufflackernde Grinsen verschwand. Aufgeregt und mit einem intensiven Leuchten huschten Nocturns Augen in die Dunkelheit des Waldes hinein, durchdrangen sie; seine Gedankenlesefertigkeiten schossen wie ein Pfeil durch den Wald – aber Youma unterbrach sein Vorhaben.   Er hatte die plötzliche Veränderung in Nocturn nicht bemerkt; er war zu sehr in Gedanken vertieft gewesen – traurigen Gedanken, die ihn dazu gebracht hatten, Nocturns Hand gehen zu lassen, um ihn stattdessen zu sich zu ziehen. Nocturn wollte ihn davon abhalten, wollte ihn warnen, aber der Kuss und die verzweifelte Leidenschaft Youmas überrumpelten ihn. Als Youma seine Lippen wieder von Nocturns löste, hatte Nocturn sich dazu entschlossen, ihm nichts zu sagen – aber auch wenn er das Schweigen gewählt hatte; seine Augen schwiegen nicht und Youma verstand ihre Sprache. Aber er missinterpretierte den entschuldigenden Blick Nocturns. Er glaubte, er war genauso traurig wie er, weshalb er ihn auch noch einmal hatte küssen wollen und weshalb er nun auch seine Hand an Nocturns Wange gelegt hatte – ja, das war er wahrscheinlich auch, aber aus einem anderen Grund.   „Lass uns hineingehen. Nach… naja, du weißt schon… unserem nächtlichen Erlebnis solltest du auch nochmal duschen, ehe wir in die Dämonenwelt aufbrechen“, unterbrach Nocturn die Stille mit einem leichten, erröteten Grinsen, woraufhin die beiden sich herumdrehten und Seite an Seite zum Haus gingen.   Doch ehe sie die Tür hinter sich schlossen, warf Nocturn noch einen Blick über die Schulter. Skepsis und Argwohn lagen in seinem Blick, aber da war niemand, der diese Gefühle in Empfang nehmen konnte. Hatte er sich geirrt?   Genau wie Nocturn es versichert hatte, war Raria sich deren Gefühlen natürlich schon längst bewusst – dennoch kam Youma nicht drum herum, trotz der ernsten Situation rot zu werden, sobald die beiden das Haus betreten hatten und Raria vor ihnen stand. Sie sagte nichts; sie musterte die beiden nicht einmal besonders eindringlich, als wäre das reine Zeitverschwendung. Es tat immerhin nicht Not; wenn es vor diesem Abend noch irgendwelche Zweifel gegeben hatte, dann hatte Nocturns Nocturne alle Zweifel beseitigt. Dennoch schien Youma etwas sagen zu wollen und belustigt sah Nocturn dabei zu, wie er nach den richtigen Worten zu suchen schien, immer röter wurde, auffällig Luft holte – nur um dann schlussendlich zu verkünden, dass er gerne duschen wollte, aber natürlich nur, wenn Raria nichts dagegen hatte. Erst als er diese Frage stellte, verengten sich ihre Augen und kurz schien sie zu überlegen, ob sie ihm diese Bitte tatsächlich verweigern sollte; denn nur weil im Endeffekt alles gut gelaufen war, bedeutete das nicht, dass Raria Youmas Unverfrorenheit ihr gegenüber vergessen hatte. Aber sie ließ sich erweichen; allerdings weniger wegen Youma, sondern mehr um mit Nocturn noch einen kurzen Augenblick alleine zu sein.   Skeptisch wie immer wartete sie allerdings, bis sie das Rauschen des Wassers hören konnte, ehe sie Nocturn bedeutete, in die von einer einzigen entzündeten Lampe spärlich erhellte Stube zu gehen. Sie folgte ihm sofort und schloss sogar die eigentlich immer geöffnete Flügeltür hinter sich – dann begann Raria allerdings sofort ohne Umschweife mit der Frage, die ihn auch schon beschäftigt hatte: „Hast du etwas gespürt?“ „Gespürt nicht.“ Nocturn richtete seine glühenden Augen wieder auf den Wald: „Jedenfalls habe ich keine Aura vernommen.“ „Hast du womöglich Gedanken gehört, die hier nicht hingehören?“ Nocturn schüttelte den Kopf und spürte sofort, wie das schlechte Gewissen in ihm hochkam, immerhin… war das nicht die ganze Wahrheit. Es stimmte; er hatte keine Aura vernommen, aber genau wie Raria hatte er die Augen einer Person auf sich liegen gespürt… einer Person, die nicht an diesen Ort gehörte, weshalb er sofort hatte ihre Gedanken lesen wollen. Aber genau in dem Moment, als er gespürt hatte, dass er Verbindung mit der feindlichen Person gehabt hatte; kurz davor gewesen war, in deren Gedanken einzudringen, da… Nocturn wurde ein wenig rot und war froh, dass er im Schatten stand, womit seine Gesichtsfärbung wohl nicht sichtbar war. Es war ihm unangenehm und auch ein wenig peinlich, weswegen er nicht zugeben wollte, dass der Kuss Youmas ihn nicht nur in seinem Vorhaben unterbrochen, sondern ihn auch gänzlich abgelenkt hatte. Als er ihn geküsst hatte, da… da hatte er für einen kurzen Moment alles vergessen. Für einen kurzen Moment waren sie eins gewesen; sie hatten dieselben Gefühle geteilt und Youmas Trauer und die Furcht vor dem, was kommen würde, war für diesen allumfassenden Augenblick seine gewesen.   Es war nicht so, dass Nocturn sich für dieses Gefühl schämte und Raria nichts davon erzählen wollte – aber er schämte sich dafür, dass er sich von der Gewalt dieses Gefühlstrudels hatte mitreißen lassen und dabei nicht die unbekannten Gedanken hatte lesen können. Auch jetzt gelang es ihm nicht… aber das war wahrscheinlich, weil dieser Jemand nicht mehr da war.   „Aber es kann doch kein Dämon sein?“, fragte Nocturn Raria, um sich selbst zu beruhigen; um sich selbst zu vergewissern, dass er sie nicht noch einmal in Gefahr gebracht hatte. Aber Raria schwieg, nachdenklich aus dem Fenster sehend. „Ich habe jedenfalls keine Aura gespürt – und alle Dämonen haben doch eine Aura?“, bohrte Nocturn nach und war erleichtert, als Raria zustimmend nickte.   „Es stimmt, dass alle Dämonen – bis auf dich – eine Aura besitzen und ja, ich habe ebenfalls keine gespürt… Es ist mein Instinkt, der mich vor einem Augenpaar warnt, das mich beobachtet und es gefällt mir nicht, dass du es auch gespürt hast, kaum dass du das Grundstück betreten hast.“  „Aber jetzt spüre ich nichts mehr.“ Raria nickte zwar, aber ihr düsterer Gesichtsausdruck verriet ihm, dass das für sie nichts Positives war.  „Hat Youma darauf reagiert?“, fragte Raria und wieder spürte Nocturn, dass er rot wurde, aber er zwang sich, ernst zu bleiben – anscheinend nicht ernst genug: „Nocturn, ich gönne dir diese Erfahrung. Aber du musst dich konzentrieren. Du darfst dich nicht abbringen lassen – und wenn ich diese Röte sehen kann, dann können andere das auch. Also reiß dich zusammen! Ganz egal, was passiert ist und was passieren wird – du musst bei deiner Rolle bleiben!“ Schuldbewusst senkte Nocturn den Kopf, was Raria ungewöhnlicherweise erweichte: „Ich gönne es dir wirklich, Nocturn, es ist nur…“    Nocturn mochte das nicht hören. Diesen Tonfall. Diese Worte. Sie passten nicht zu ihr. So war sie nicht; so war sie nie gewesen – warum war sie jetzt so? Sie entschuldigte sich nicht; sie brauchte keine Ausreden suchen… dieser reumütige Tonfall – nein, er passte nicht zu ihr!    „Schon gut“, unterbrach Nocturn Raria eilends, ehe sie sich noch weiter von sich selbst entfernen konnte und hörte deutlich, dass sein eigener Tonfall anders war als sonst. Entschiedener. Aber gleichzeitig auch… aufgeregter, fahriger.  Er trat vor sie und zum allerersten Mal in all den Jahren, die sie nun schon zusammen gelebt hatten, bemerkte er, dass er größer war als sie. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Er war natürlich nicht plötzlich über Nacht größer geworden; aber vorher… hatte er den Größenunterschied nie bemerkt.  „Die Gefühle, die ich für Youma hege, sind mit meiner Rolle vereinbar. Ich werde sie spielen; du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe es dir versprochen… genau wie ich dir damals versprochen habe, dass ich alle deine Wünsche erfüllen werde. Egal, was du von mir verlangst – ich werde es tun.“  „Ich weiß, was ich dir aufbürde.“ Raria hatte wohl bemerkt, wie sehr ihr entschuldigender Tonfall Nocturns Innerstes in Aufruhr gebracht hatte, denn sie hatte ihn jetzt wieder aus ihrer Stimme getilgt, war wieder ernst geworden, wirkte wieder größer als er, besonders als sie sich herumdrehte, um ihm einen zusammengefalteten Haufen schwarzer Kleidung zu reichen. Verwundert blinzelte Nocturn, als sie ihm die Kleidung überreichte, weshalb Raria sich gezwungen sah, sich zu erklären: „Na, Nocturn, dir wird doch selbst bewusst sein, dass ein Anzug nicht gerade zur besagten Rolle passt, nicht wahr? Ich habe dir eine Uniform machen lassen, die dir hoffentlich…“  Was übte diese Nacht nur für eine ungewöhnliche Magie auf die Gefühle aller Beteiligten aus? Nocturn wusste es nicht; es war ihm, als würde der falsche Ton gespielt werden, ein Ton, der nicht passte, nicht richtig war, dem er sich aber dennoch nicht entziehen konnte – und Raria scheinbar auch nicht, denn als Nocturn sich plötzlich erstickt weinend in ihre Arme warf, tat seine Tante nichts, um ihn anzuherrschen, sich doch gefälligst zusammenzureißen. Nein, stattdessen legte sie ihren Kopf auf seinen und legte die Arme, die eigentlich immer so stählern gewesen und die eigentlich nicht für solche Zärtlichkeiten vorgesehen waren, um Nocturns bebende Schultern.  Und in dieser Vereinigung blieben sie, bis Youma sie fand. Der Vorhang war dabei, sich zu heben.  Youma befahl sich, ruhig zu bleiben; sich an Nocturn ein Beispiel nehmend, der bis zum letzten Moment überaus souverän seine Rolle gespielt hatte. Er hatte noch gut eine halbe Stunde Zeit – eine halbe Stunde, die ihn verrückt machen würde, wenn er nicht ruhig blieb.   Um die gewünschte Ruhe zu erreichen, wollte er alles noch einmal Revue geschehen lassen, aber seine so oft angewandte Technik erwies sich als wirkungslos, denn immer wieder schob sich Kasras selbstgefälliges Grinsen vor sein inneres Auge… es hatte ihm etwas sagen sollen. Aber Youma wusste nicht, was – und das machte ihn noch nervöser.  Raria hatte alles so gut durchdacht und bis jetzt war alles auch genau so gelaufen, wie sie es vorausgesehen hatte. Ihr Plan sah wie folgt aus: sie würden Kasra den versprochenen Kampf liefern – Nocturn gegen Youma – genau wie die offizielle Planung aussah. Wer von ihnen eigentlich der bessere Kämpfer war, war in diesem Fall gleichgültig, hatte Raria erklärt, denn es wäre von Nöten, dass Nocturn gewinnen solle und es läge an Youma, es glaubhaft aussehen zu lassen, damit Nocturn tatsächlich den versprochenen Posten in Kasras Horde erhalten würde. War der Kampf erst einmal hinter ihnen und Kasra überzeugt davon, dass es sich lohnte, seinem Volk Nocturn als seinen Sohn vorzustellen, dann gewannen sie dadurch viel Zeit: Kasra würde nämlich erst einmal abgelenkt sein und Nocturn würde sich somit in Kasras Nähe befinden, was es einfacher machen würde, einen Moment zu finden, in dem er ihn angreifen und es somit unweigerlich zum Kampf kommen würde, denn keiner der Beteiligten glaubte daran, dass ein einfacher Überraschungsangriff genügen würde, um den König der Dämonen zu besiegen.  Das Wichtigste bei all dem war, dass Youma und Nocturn sich nichts von ihren Gefühlen für den jeweils anderen anmerken lassen durften. Wie oft hatte sie das nicht betont? Es wäre das gefundene Fressen für ihn, auf das er sich erbarmungslos stürzen würde. Sogar vor dem kleinsten Anzeichen von Freundschaft warnte Raria sie. Natürlich mussten sie auch auf Kasras kranken Erfindungsgeist gefasst sein, was auch Youma ausdrücklich betont hatte. Kasra könnte all ihre Pläne zerstören; sie mussten daher darauf gefasst sein, dass alles anders kommen konnte. In diesem Fall mussten sie bereit sein, sofort gegen ihn in den Kampf zu ziehen – wenn möglich sollte das aber vermieden werden. Das Überraschungsmoment war ein Vorteil, den sie brauchten und umso mehr Zeit sie gewannen, umso besser würden sie werden; besonders Nocturn, der, sollten ihre Pläne mit Erfolg gekrönt sein, immerhin Teil von Kasras Horde werden würde und so genug Gelegenheit hatte, an seinen Techniken zu feilen, um besser zu werden. Im Endeffekt mussten sie gemeinsam gegen ihn antreten. Das war ihr größter Vorteil ihm gegenüber. Aber auch deren Schwäche, wie Raria ernst beschwor.  Der Abschied von Raria und Nocturn war eigenartig gewesen, dachte Youma vor dem einzigen hohen Fenster des ovalen Raumes, in dem er darauf warten musste, dass der Kampf begann, zum Stillstand kommend – der Abschied… er war so… ruhig gewesen. So vorbereitet. Waren die beiden etwa so gute Schauspieler? War das möglich? Sie hatten einfach nur voreinander gestanden; sich tief in die Augen sehend und ohne ein Wort zu sagen, hatte Raria Nocturn seine Hengdi gereicht. Kein „Pass auf dich auf“, kein „Viel Glück“ – kein einziges Wort der Erbauung oder Ermunterung. Youma spürte, wie ihn das Mitleid für Nocturn regelrecht übermannte – das war alles, was sie ihm gab? Kein einziges Wort, wo sie sich doch wahrscheinlich nicht wieder sehen würden, denn der Plan beinhaltete keine Lücke, die ihnen Zeit geben würde, nach Frankreich zurückzukehren? Würde sie etwa mitkommen? Sie hatte nichts Derartiges gesagt oder angedeutet… aber Youma glaubte nicht, dass sie ihren geliebten Nocturn alleine gehen lassen würde. Das konnte er sich einfach nicht… Ein Schaudern ging durch Youmas Glieder, als er – gut 15 Minuten zu früh – hörte, wie die Tür sich hinter ihm öffnete; aber… er hatte gar keine Aura gespürt und spürte sie auch jetzt nicht, als er sich herumwandte und Kasra vor sich stehen sah. Aber… wie war das möglich?! Seine Aura war doch sonst immer so deutlich zu vernehmen; man konnte sie schon von Weitem spüren – und jetzt spürte er sie nicht einmal, wo er doch vor ihm stand? Das konnte nicht möglich sein; seine Sinne mussten ihm einen Streich spielen… vorhin, als Kasra Nocturn und Youma zusammen mit Karou begrüßt hatte, da hatte er eindeutig eine Aura gehabt, wie…  Die Tür fiel hinter Kasra ins Schloss, womit die beiden alleine an diesem Ort waren - und kaum, dass die Tür sie vor der Außenwelt abgeschottet hatte, konnte Kasra ein zufriedenes, erheitertes Lachen nicht unterdrücken angesichts von Youmas offensichtlicher Verwunderung, nein, dem Schock darüber, dass er keine Aura spüren konnte. Er wollte es verbergen; wollte ihm diese Genugtuung nicht gönnen, aber es gelang ihm nicht.  „Na, Youma –  überrascht?“ Der Angesprochene sagte sich selbst, dass er sich zusammenreißen müsste: natürlich, es war ein Unding der Natur, an einem magischen Wesen keine Aura spüren zu können, aber er kannte es immerhin von Nocturn, doch… irgendwie war das etwas anderes. Nocturns Auralosigkeit war ungewohnt, aber nicht beunruhigend – Kasras Auralosigkeit verstörte Youma regelrecht und mit einem Mal wusste er auch, warum: er hatte Nocturn nie ernsthaft gefürchtet; wer sich aber vor Kasra nicht fürchtete, war dumm – und nun war es diesem mächtigen Dämon, der Überraschungen mit einer sadistischen Freude liebte, auch noch möglich, seine Opfer aus dem Hinterhalt anzugreifen, ohne dass sie sich darauf vorbereiten konnten.   Wie lange konnte er das schon? Wie viel „Spaß“ hatte er damit schon gehabt?  „Beeindruckend, Eure Hoheit…“ Youma zwang sich zu einem Lächeln: „…eine wirklich sehr nützliche Fähigkeit, möchte ich anmerken. Besonders im Kampf gegen die Wächter ist das natürlich ein großer Vorteil.“  „Oh, das ist gar nicht so sehr für die Wächter, muss ich zugeben…“ Er begann, um ihn herum zu schlendern. Oh, wie Youma das nicht gefiel; wie ihm das absolut gar nicht gefiel. Wenn er hinter ihm stand, wusste er nicht, was er tat, er konnte ihn nicht mehr spüren, das… war eine enorme Gefahrenquelle. Auch wenn er damit deutlich seine Furcht vor ihm zur Schau stellte, sah Youma sich dazu gezwungen, sich mit ihm herumzudrehen, so dass kein toter Winkel entstand. Und wie Kasra das freute; sein Lächeln verriet es. Breit, triumphierend und voller Hohn.  „… das ist eher eine kleine…Spielerei meinerseits, an der ich und Karou momentan ein wenig herumwerkeln. Aber praktisch, nicht wahr? Ich habe unsere Aura immer als etwas überaus Irritierendes empfunden. Es macht das Ganze doch so… langweilig.“ Am Fenster blieb er stehen, die Arme hinter dem Rücken, unter seinem golden verzierten Umhang verborgen, der nun, wo er stehen geblieben war, auf seinen Platz zurückfiel.  „Ich muss sagen, ich bin sehr gespannt auf den Kampf von euch beiden...“  „Ich hoffe, Eure Hoheit, dass wir Euch nicht enttäuschen werden.“ „Keine Sorge, Youma, das glaube ich nicht.“ Er grinste immer noch – dasselbe Grinsen, das er schon die ganze Zeit auf dem Gesicht gehabt hatte; schon seitdem er Nocturn und Youma gesehen hatte – ja, das war es. Youma fiel es plötzlich ein; dieses Grinsen war entstanden, als er sie beide zusammen gesehen hatte, aber…  „Im Gegenteil sogar!“ Er ging auf ihn zu und obwohl Youmas Körper das Bedürfnis hatte zurückzuweichen, widerstand er diesem Drang. „Ich bin davon überzeugt, dass ihr eine großartige Unterhaltung sein werdet. Ihr habt doch so viel trainiert und immerhin war ja schon der letzte Kampf auf seine eigene Art sehr spannend und auf jeden Fall unterhaltsam! Also! Warum sich Sorgen machen, whahaha!“ „Training, Majestät?“   Oh nein, oh nein, zitterte seine Stimme da etwa? Ja, sie tat es, er konnte seine Nervosität nicht gut unterdrücken; sie wurde zu groß - jetzt wuchs sie noch mehr, als ihm bewusst wurde, dass Kasra die ganze Zeit gewusst hatte, dass er trainierte; dass er etwas getan hatte, was Kasra nicht erlaubt hatte... „Ja, Training - ich gehe doch einfach mal davon aus, dass du meinen Sohn bei seinem Training unterstützt hast?“ Zusammenreißen, befahl Youma sich - er musste sich zusammenreißen, seine Stimme festigen und ihm in die Augen sehen. „Ja, das erschien zweckmäßig.“ Er festigte seine Stimme, seine Augen, ohne sich von Kasras dünnem, zufriedenen Lächeln aus der Ruhe bringen zu lassen - oder jedenfalls versuchte er es. „Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, dass Training für einen Botschafter, wie ich es bin, nicht notwendig ist.“ Kasras Mundwinkel zuckten: es schien ihm zu gefallen, dass Youma so bereitwillig zugab, dass er sich einem Befehl... „Warum so reumütig, Youma? Ich habe dir nie verboten, Training zu erhalten; du hättest den Wunsch nur äußern müssen - wenn du mich auf die richtige Art gebeten hättest, hätte ich es dir auch erlaubt.“ Auf die richtige Art? Was war denn die "richtige Art"? Auf den Knien darum betteln?!   Bei diesem Gedanken alleine blitzte kurz Zorn auf in den Augen Youmas, doch er befahl sich ruhig zu bleiben, denn im gleichen Moment, wo er den Zorn kurz in sich gespürt hatte, hatte etwas... Gefährliches in Kasras Augen aufgeleuchtet. „Ganz im Gegenteil, Youma...“ Kasras Stimme klang aber ruhig, stand im Gegensatz zu seinen Augen, als er auf ihn zu ging: „Ich bin ganz erpicht darauf zu sehen, was so in dir schlummert.“   Väterlich, aber mit etwas zu viel Kraft, schlug Kasra Youma auf die Schulter und als sie beide den Gong hörten, der den kommenden Kampf einläutete, wollte er sich gerade von ihm entfernen, als  seine linke Hand plötzlich noch einmal herunter wanderte und Youmas Schulter packte. Obwohl sein Griff überaus fest war, klang seine Stimme recht heiter, wie er seinen linken Zeigefinger plötzlich in die Luft erhob, wie um zu unterstreichen, dass er etwas vergessen hatte. „Haha, ich rede zu viel! Ich hätte doch fast vergessen, weshalb ich eigentlich zu dir gekommen bin!“ Youma bereitete sowohl seine Seele als auch seinen Körper auf alles vor –  würde er wieder seine Hand brechen? Oder war der feste Griff Kasras der Vorbote für eine ausgekugelte Schulter? Aber nein, es kam anders; ganz anders, als er es befürchtet hatte.    Eigentlich hätte Youma darauf vorbereitet sein müssen. Eigentlich hätte er es gar nicht so weit kommen lassen dürfen.   Er hätte es stoppen sollen, ehe es sie zu Fall brachte.   „Wie ist es so, mit meinem Sohn zu schlafen? Hat es dir Spaß gemacht? War der Sex mit so einem dürren Klappergestell gut?“   Jetzt war es zu spät.   Lachend löste Kasra sich von dem komplett zu Eis erstarrten Youma, der nichts anderes tun konnte, als fassungslos geradeaus zu starren, während sein Herrscher sich von ihm entfernte, rückwärts, um selbst die kleinste Gesichtsregung Youmas nicht zu verpassen, um jede einzelne Sekunde vollends auszukosten. „Nach dem Kampf musst du mir unbedingt mehr davon erzählen, Youma! Ich habe nicht so viele Erfahrungen mit Männern; ich ziehe Frauen vor, die schreien doch besser! Aber ich bin neugierig, das weißt du ja; ich hoffe, du wirst dich nicht zurückhalten. Aber erst einmal will ich einen spannenden Kampf sehen, ohja!“ Spöttisch lachend verließ er den Raum. Youma hätte es auch nicht länger ausgehalten; seine Beine ergaben sich, knickten ein und er sank auf den steinernen Boden. Das war eine Drohung gewesen; deutlicher hätte sie gar nicht sein können. Youma hatte Kasra das perfekte Werkzeug förmlich in die Hände gelegt; das perfekte Werkzeug, um ihn zu quälen. Er hätte auf seinen Gönner hören sollen; jetzt war es zu spät. Zu spät, zu spät---   Jetzt sah er noch Nocturns lächelndes Gesicht vor sich; er erinnerte sich jetzt noch deutlich daran; es lag ja auch nur wenige Stunden zurück. Bis jetzt war er sich sicher gewesen, dass er diese Erinnerung immer in sich tragen würde. Nocturns Gesicht, liegend im Halbdunkel, ein wenig erleuchtet vom Licht der Fenster, sorgenlos lächelnd, neben ihm, den Kopf zu ihm gewandt. Youma hatte sich gewünscht, dass er dieses Bild noch einmal würde sehen können. Noch einmal – und noch einmal. Das war doch auch der Grund, dass er sich dazu entschieden hatte, Nocturn in diesem Kampf zu unterstützen, ganz gleich wie unrealistisch die Aussicht auf einen Sieg war; um dieses Bild zur Normalität zu machen. Er wollte es noch einmal sehen. Er wollte es nicht nur in sich speichern; er wollte es wieder und wieder sehen. Wieder, wieder sehen und wieder und wieder spüren.   Jetzt wusste er, dass das nur Wunschträume waren. Dieses Bild, das er so gerne in sich gespeichert hätte… dieses Bild würde bald verschwinden. Dieses Lächeln. Diese Ruhe. Diese Sorglosigkeit. Die Zärtlichkeit. Es würde alles bald verbrennen. Er würde alles verbrennen. Ihm alles nehmen; diesen kleinen Funken Licht, der ihm in dieser Hölle vergönnt gewesen war… Youma würde dieses Bild nicht wieder sehen; er würde es nicht einmal mal mehr aufrufen können, geschweige denn dass er es noch einmal erleben würde. Kasra würde es unmöglich machen. Er würde das Bild auslöschen.   Die Zärtlichkeit würde verschwinden. Es würden nur noch Gräuel übrig bleiben.     Karou hatte nicht gefragt, warum Kasra ihn als einzigen Zuschauer des Kampfes „eingeladen“ hatte; er hatte auch nicht gefragt, warum sein König so erpicht darauf gewesen war, dass der Kampf dieses Mal absolut nicht von anderen Dämonen gesehen werden durfte. Warum sollte er auch fragen? Er wusste es. Kasra zeigte wieder einmal, wie vorsichtig er war: er hatte es nicht nur vor der Öffentlichkeit verschwiegen – vorneweg vor den Hohen – sondern auch noch kurzfristig den Termin verlegt und auch das Stadium war ein anderes: ein unter der Erde liegendes, direkt im Keller des Schlosses, wo sich wohl kaum ein anderer Dämon hinverirren würde… besonders Ri-Il nicht. Auch dass Karou anwesend war, war eine Sicherheitsmaßnahme; er sollte alle Daten des Kampfes aufnehmen und sie noch vor Ort verwerten: und Kasra wollte dabei sein. Er ließ keine Lücken zu. Es stand auch für ihn zu viel auf dem Spiel und vertrauen tat er sowieso niemandem – und er tat gut daran.   „Ich muss dir danken“, begann Kasra, auf seinem Thron Platz nehmend, hinter den sich Karou gestellt hatte: „Deine kleine Erfindung ist Gold wert! Ich bin ihr schon absolut verfallen.“ „Sie ist noch nicht ausgereift“, erwiderte Karou nüchtern, Youma und Nocturn dabei beobachtend, wie sie über den Platz schritten. Nocturn wirkte ziemlich selbstbewusst; ja, wüsste Karou es nicht besser als alle Anwesenden, so könnte man anhand seines Lächelns tatsächlich glauben, er wäre Kasras Sohn. Youma dagegen wirkte sehr blass – oder bildete Karou sich das nur ein? Seine gesundheitlichen Werte waren gut; die Hand, die seine Sense führte, war verheilt. „Oh, ich bin ganz zufrieden mit ihr.“ Kasra lachte in sich hinein und es schien Karou, als hätte er an diesem Tag ganz besonders gute Laune: die Augen, die unablässig auf Youma lagen, schienen förmlich zu glühen. Warum lagen sie nur auf Youma? War nicht Nocturn das Ziel des Ganzen?   Dank seiner Position als Kasras Leibarzt war Karou einer der wenigen, die dasselbe wussten, was Ri-Il vor kurzem herausgefunden hatte und was er just in diesem Moment Lycram berichtete. Nicht in Lerenien-Sei. Nicht in einem ihrer Gebiete, denn auch Ri-Il war auf dem Höhepunkt seiner Skepsis: Er hatte Lycram zu einem Alkoholtesten in der Menschenwelt eingeladen, was zum einen seiner eigenen Erheiterung diente und natürlich auch dem unauffälligen Informationsaustausch in absoluter Diskretion, sich bewusst, dass Kasra seine Augen auf ihn gerichtet hatte. Natürlich wusste Ri-Il, wie absolut wertvoll die Information war, an die er gelangt war.   Die Information, welcher Rasse Kasra angehörte. Eine Rasse, deren Lebenszeit durchschnittlich gesehen kürzer war als die anderer Dämonen. Das Wissen, dass es etwas gab, was Kasra fürchten musste: keinen Anschlag, keine Schlacht, keine Vergiftung – sondern sein eigenes Alter, das begann, gegen ihn zu spielen.   Karou und Ri-Il vermuteten beide, dass er daher so ein großes Interesse an Nocturn hatte. Kasra wollte nicht, dass der Thron, den er so lange verteidigt und geprägt hatte, an „irgendwen“ überging. Er wollte selbst bestimmen, wer als nächstes die Krone tragen würde – er wollte, dass sein Fleisch und Blut die Krone trug. Mit anderen Worten wollte er etwas einrichten, das es seit Tausenden von Jahren nicht mehr in der Dämonenwelt gegeben hatte: eine Erbfolge.   Aber langsam begann Karou, noch etwas Anderes zu vermuten. Hatten Karou und Ri-Il etwa Nocturn zu viel Beachtung geschenkt?   Karous gelbe Augen verengten sich skeptisch, Kasra weiterhin beobachtend, sich nicht bewusst, dass auch er beobachtet wurde. Karou verließ sich nicht auf Vermutungen und Bauchgefühl. Er verließ sich eigentlich auch nicht auf Eindrücke – aber dennoch konnte er den Gedanken einfach nicht von sich schütteln, dass Kasras Blick und besonders seine Augen ihn an einen Dämon erinnerten, der sich gänzlich seinem Verlangen hingab… und dass Youma die Quelle dieses Verlangens war.   Ein Verlangen, welches beiden Kehrseiten beinhaltete; das An-sich-ketten-Wollen. Das Zerstören-Wollen.   Der unsichtbare Beobachter lächelte. Karou war wegen seiner Nüchternheit und seinen kaum vorhandenen Gefühlen eine Schachfigur, die er missachtete – aber ganz ohne Zweifel war er eine seiner interessanteren Figuren.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)