Vielleicht für immer von Anyi ================================================================================ Kapitel 6: Klärungsversuche --------------------------- Vor nicht einmal einer Woche war ich mir noch so sicher, dass es mir ausreicht, wenn ich ihn hin und wieder mal vom Weiten beobachten kann, doch jetzt sieht es anders aus. Ganz anders. Nur dieser eine Moment hat ausgereicht um mir klar zu machen, dass es genau das ist, was ich will. Nähe. Die Nähe zu ihm, die gerade jetzt zum Greifen nah und doch noch unüberwindbar, viel zu weit weg erscheint. „Sasuke … ich, also ich hab nur …“, unfassbar peinliches Gestammel verlässt meine Lippen, noch ehe ich richtig nachdenken kann, was ich überhaupt sagen will. Ätzend, da stehe ich nun vor ihm und es kommt nichts Vernünftiges bei raus. All die Tage und Wochen, in denen ich mir den Kopf über Worte zerbrochen habe, sind nutzlos gewesen. Schlimmer noch, ich sehe Sasuke an, dass er kurz davor ist wieder zu gehen. Sein Rückzug, seine Flucht liegt in jedem angespannten Muskel seines Körpers. „Ich will deine Erklärungen nicht hören, Naruto.“ „Aber …“ „Nein, Naruto, ich will, dass du verschwindest. Endgültig, hast du mich verstanden? Ich will, dass du aufhörst mir weiterhin aufzulauern und hinterherzurennen und deine bescheuerten Gründe dafür will ich auch nicht wissen. Ich will dich einfach nicht mehr sehen!“ „Woher weißt du, dass ich dir gefolgt …“ „Bitte, Naruto. Du bist so verdammt schlecht darin, dich zu verstecken. Zeitungen hältst du falsch herum und checkst nicht, dass deine Haare hinter dem Auto hervorstehen, weil du dich nicht tief genug dahinter hockst. Außerdem läufst du lauter durch die Gegend als eine Elefantenhorde im Porzellanladen, also halt mich bitte nicht für dumm.“ Er klingt zornig, dunkel – wirkt keines Falls versöhnlich. Noch nie habe ich erlebt, dass sich mein Körper so schnell bewegen kann, wie in diesem Moment. Ich greife reflexartig nach seinem Arm, halte ihn fest, versuche ihn am Gehen zu hindern, während mir mein Herz bis zum Hals schlägt. Es gibt nur diese eine Chance, das weiß ich. Ich sehe es. Wenn ich mich jetzt nicht erklären kann, dann vermutlich niemals. Seine Augen, sein Blick – was er denkt, ist unmissverständlich, aber er stößt mich auch nicht weg. Er hält stand, mit zusammengezogenen Augenbrauen und skeptischen Blick, doch er windet sich nicht aus meinem haltsuchenden, flehenden Griff. Dabei ist er alles andere als kräftig. Wenn er wollen würde, könnte er ihm mit Leichtigkeit entkommen. Will er nicht? „Bitte, Sasuke. Gib mir nur eine Chance. Nur eine“, bringe ich ihm entgegen und kann dabei nun wirklich nicht verhindern, dass meine Stimme mich verrät. Ich flehe, weil es für mich keine andere Art gibt, die ihm deutlich macht, wie wichtig mir dieses Gespräch ist. Wie wichtig er mir ist. „Du hattest schon eine“, entgegnet er hart. Worte, die mir die Vergangenheit schmerzhaft bewusst machen. Worte, die meinen Griff festigen und meinen Willen stärken. Ich weiß, was ich schon einmal verschwendet habe und ich bin wirklich bemüht, diese Fehler kein zweites Mal zu machen. Ich brauche nur eine Gelegenheit um es auch Sasuke begreiflich zu machen. „Ich weiß. Und trotzdem bitte ich dich, mir zuzuhören. Nur noch dieses eine Mal.“ „Es würde nichts ändern.“ „Okay, selbst wenn es nichts ändert, Sasuke, lass es mich erklären. Ich will nur sagen, wieso es so gekommen ist, nicht mehr. Und wenn du danach nichts mehr mit mir zu tun haben willst, dann verstehe ich das und werde gehen, versprochen.“ Oh Gott, es ist unglaublich schwer, ihn nicht einfach zu umarmen, wo er mir jetzt körperlich so nah ist. Der einzige Kontakt, der momentan zwischen uns besteht, ruht auf unseren Augen. Von ihm kommen kühle, resignierte Blicke, die ich hoffnungsvoll erwidere. Meine Hand hat ihn bereits losgelassen. „Dann rede“, sagt er knapp. Selbst ein Blinder würde an seiner Stimme erkennen, dass er sich gerade lieber die Zunge abgebissen hätte, als mir eine weitere Chance zu geben. Aber er hat es, oder? Hat er doch, richtig? Diese Erkenntnis bringt meine Gedanken zum Rasen. Ein wirres Chaos. Ein wildes Gemisch aus Worten, Gefühlen und möglichen Taten, die mich schwanken lassen. Fuck, ich will so viel sagen. So viel erklären. Doch alles ist durcheinander. Und verdammt, das dumme Schicksal meint es auch nicht wirklich gut mit mir, denn genau jetzt klingelt mein beschissenes Handy. Normalerweise würde mich das jetzt absolut nicht stören, aber ich erkenne am Klingelton, wer mich anruft. Es ist Karin, schon wieder. Immer im ungünstigsten Moment. Das Schlimmste an der Sache ist, dass die Erfahrung leider gezeigt hat, wie unpraktisch es ist, sie zu ignorieren, wenn ich mit Hikari allein bin, weshalb ich trotz längerem Zögern und tödlich wirkendem Blick von Sasuke mein Handy aus der Tasche fische. „Warte kurz“, bitte ich Sasuke und keine Sekunde später hallt mir Karins Stimme ins Ohr. Verdammt, sie klingt aufgebracht. Redet von irgendeinem Auftrag, der sie fertig macht, doch ich kann ihr gerade nicht wirklich folgen. Warum ruft sie überhaupt an? Wir wollten uns doch erst in zwei Stunden treffen! „Es ist grade etwas schlecht, kann ich dich gleich zurückrufen, Karin?“, unterbreche ich sie. Den Blick zu Sasuke habe ich keine Sekunde lang unterbrochen und alles an ihm verändert sich schlagartig, als ich Karins Name erwähne. Fuck. Seine Haltung wird grader, steifer – distanzierter. Er weicht zurück. Sein Blick verliert auch den letzten positiven Hauch, der nicht mehr zurückkommt. Auch nicht, nachdem ich Karins erneuten Versuch mit mir zu reden abgewürgt habe. „Möchtest du vielleicht einen Kaffee? Dann haben wir ein wenig Ruhe und stehen nicht so auf der Straße rum, während ich dir alles erkläre …“ „Spar es dir. Es war dumm von mir, dich überhaupt anzusprechen“, sagt er und klingt dabei wütender als zuvor. Seine Stimme bebt. Seine Halsschlagader pulsiert heftig. Wieso muss es so schwer und kompliziert sein? Warum sage ich nicht einfach, was ich fühle. Gottverdammte Scheiße, ich könnte mir für meine Unachtsamkeit auch gleich ein Grab schaufeln. „Sasuke, lass uns reden, bitte. Ich habe dir so viel zu sagen.“ Unbeabsichtigt werfe ich einen Blick auf mein Handy, das immer noch in meiner Hand liegt, als es vibriert. Eine SMS, die mir egal ist, nachdem ich den Absender überfolgen habe, doch Sasuke scheint was anderes zu denken. „Lass mich in Ruhe, Naruto. Du hast doch sowieso Wichtigeres zu tun.“ „Was? Nein, hab ich nicht. Echt nicht? Ich bin nur deinetwegen hier!“ „Vergiss es!“ Mit einem letzten Zischen dreht er sich weg und geht. „Sasuke … warte! Lass uns einfach reden, bitte. Wenn nicht heute, dann morgen, okay? Sasuke!“, rufe ich ihm hinterher, aber er reagiert nicht. Stur läuft er am Sportzentrum vorbei. In verschwitzten Trainingssachen. Scheiße! Was mach ich denn jetzt? Ich kann ihm nicht einmal hinterherrennen, weil Hikari noch da ist. Mit ihr bin ich zu langsam und sie einfach auf der Straße stehen lassen kommt nicht infrage. „Sasuke, verdammt, jetzt warte! Ich … ich habe noch immer die gleiche Telefonnummer, hörst du? Ruf mich an, bitte!“, schreie ich beinahe über die ganze Straße, ohne Erfolg. Wie dämlich. Pure Verzweiflung. Ich weiß nicht einmal, ob er sie überhaupt noch hat. Fuck. Da geht sie, meine Chance. Sie läuft weg, von einer Sekunde auf die andere. Weil ich zu blöd war, um meinen Mund aufzumachen. Ich liebe dich, Sasuke. Ich habe Karin verlassen, Sasuke. Ich habe mich falsch entschieden, verzeih mir, Sasuke. Worte, die plötzlich wieder in meinem Kopf sind, aber nicht ausgesprochen wurden. Was übrig bleibt, ist kalter Wind, ein schreiendes Baby, weil sie ihre Rassel auf den Boden geworfen hat und ich, der sich einsam und verlassen fühlt. *** Die nächsten Tage sind der Horror. Nicht nur, dass sie viel zu langsam, viel zu träge und ereignislos vergehen, nein, sie erscheinen auch noch endlos lang und verhöhnend, weil uns draußen purer Sonnenschein eines wirklich späten Spätsommers durch den Tag treibt. Herrlich. Die Kinder, die jetzt Ferien haben, freuen sich bestimmt ganz furchtbar darüber, während ich hier sitze und beinahe pausenlos auf mein Handy starre und das Wetter verfluche, weil es mir absolut nicht aus dieser Scheißstimmung hilft. Seit ich feststellen musste, dass Sasuke leider nicht so einfach gestrickt ist, wie ich es mir gewünscht habe, ist meine Laune dauerhaft auf dem Tiefpunkt. Ich bin gereizt und jedes Mal kurz davor mein dummes Telefon gegen die nächste Wand zu werfen, wenn Karin oder Kiba mich anrufen, mir Nachrichten schreiben und sogar dann, wenn nur mein bescheuerter Wecker klingelt. Dabei will ich doch nur, dass sich Sasuke endlich meldet. Aber er tut es nicht. Und je länger ich warte, desto mehr schwindet die Hoffnung. Es ist ja auch nicht so, dass ich nicht daran gedacht habe, einfach selbst diesen Schritt zu gehen. Nachdem ich neulich auf der Straße immerhin ein paar Worte mit ihm gewechselt habe, gibt es für mich keinen Grund mehr, mich länger vor ihm zu verstecken. Sein Gesicht geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Sein Körper, seine nahezu perfekte Erscheinung ist etwas, auf das ich nicht mehr verzichten kann. Und seine Stimme zu hören, jeden Tag, jede freie Minute, ist für mich noch wertvoller und begehrenswerter geworden. Ich brauche Sasuke. Für jetzt und für immer, ganz egal wie kitschig es klingen mag. Deshalb habe ich ihn angerufen, seine Nummer gewählt, die ich nie aus meinem Handy gelöscht habe. Mein Herzschlag war noch nie so schnell und kräftig wie in diesem Moment. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt ein richtiges Wort herausbekommen hätte. Ehrlich, mein Mund war so trocken, meine Zunge seltsam belegt und mein Kopf war leer und gleichzeitig voller Hormone, bei denen mir schwindlig wurde. Unangebrachte Reaktionen meines Körpers, die ich nicht beeinflussen konnte. Allerdings wäre es noch enttäuschender gewesen, wenn ich mir über mögliche Worte vorher noch große Gedanken gemacht hätte, denn Sasuke hat sämtliche Möglichkeiten mit ihm in Kontakt zu treten ausgelöscht. Ausnahmslos. Angefangen bei Facebook, einer geänderten Adresse und natürlich seiner Telefonnummer. »Kein Anschluss unter dieser Nummer« Wie oft mir doch diese ätzende Computerstimme diesen Satz nun schon in mein Ohr geflüstert hat. Zu oft, zu häufig. Mittlerweile hört es sich verzerrt an. Verkehrt, nervig und Übelkeit erregend. Trotzdem kann ich es nicht lassen, muss immer wieder seine Nummer wählen, auch wenn sich an der Tatsache, dass ich ihn so nicht erreiche, nichts ändert. Es ändert gar nichts. Nur die Enttäuschung wird größer, während die Grenze zum haltlosen Ausbruch dünner wird. „Naruto, wenn du nicht sofort damit aufhörst, an Sasuke zu denken, schmeiß ich dich raus!“ Mein Gedankengerüst, das ich die letzten Stunden mühsam aufgebaut habe, stürzt unmittelbar in sich zusammen, als Kibas Gesicht vor mir auftaucht. Er sieht nicht gerade begeistert aus, was seine zuvor ausgesprochene Drohung bekräftigt. „Lass mich doch“, zische ich ihm entgegen und schiebe ihn beiläufig zur Seite, um meinen Blick wieder auf den Fernsehbildschirm zu heften. Mich interessiert es kein Stück, dass Yoshi, den ich mir ausgesucht habe, wie ein Irrer die ganze Zeit gegen die Fahrbahnabsperrung knallt, während Kiba scheinbar den ersten Platz gemacht hat. Bei dieser beschissenen Konkurrenz ist das leider auch keine Meisterleistung. „So macht zocken aber auch keinen Spaß!“, murrt er beleidigt. „Dann lass es doch.“ Meine Stimme ist zu bissig, und das obwohl ich sein Gast bin. Ich habe seine Gesellschaft gesucht. Habe ihn um Ablenkung gebeten und zum Dank bekommt er meine miese Laune in vollem Ausmaß zu spüren. Kiba jedoch seufzt nur. „Ich verstehe ja, dass dich die Sache mitnimmt, aber das ist noch lange kein Grund meinen Controller derart zu vergewaltigen“, sagt er in mahnendem Ton und versucht besagten Gegenstand aus meinem festen Griff zu befreien. Meine Hand spüre ich kaum noch. Sie ist taub von den dauerhaften Vibrationen. Nur leider sind es die falschen Vibrationen. „Was weißt du schon? Du hast ja deine Hinata, die dich liebt und keine Sekunde ohne dich sein kann. Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle!“ Ich klinge unfair und giftig, das weiß ich und Kibas Gesichtsausdruck, der sich innerhalb von Sekunden verändert, beweist es. „Zwischen mir und Hinata lief es auch nicht immer rosig, das weißt du.“ „Kleinigkeiten“, erwidere ich eingeschnappt. Wie kann er seine Probleme mit meinen vergleichen? Er hatte schließlich immer die Möglichkeit mit Hinata zu reden, ganz im Gegensatz zu mir. Ich erreiche Sasuke überhaupt nicht mehr. Selbst beim Sport war er die letzten Tage nicht. Zum Kotzen. Hab ich es jetzt wirklich versaut? Für immer? Dieser Gedanke treibt Magensäure unangenehm in meine Speiseröhre. „Weißt du, Naruto, wenn du nur vorbeigekommen bist, um mich mit deinem Selbstmitleid zu nerven, dann kannst du eigentlich auch wieder gehen. Ich hab keinen Bock drauf, mich deinetwegen zu ärgern.“ In Kibas Stimme liegt Endgültigkeit. Harte, entschlossene Endgültigkeit, die er mit einem eisernen Blick versiegelt, ehe er die Konsole ausstellt und alles ordentlich wieder zurück ins Regal legt. „Von mir aus, dann geh ich halt wieder!“, höre ich mich genervt sagen und stehe auf. Dabei will ich das doch gar nicht. Ich will nicht, dass sich zwischen mir und Kiba ebenfalls eine schlechte Stimmung ausbreitet. Ich will nicht gemein oder zickig sein und eigentlich will ich auch nicht gehen, doch als Kiba mir ein „Dann geh eben“ entgegenschleudert, fühle ich mich mehr oder weniger gezwungen tatsächlich zu gehen. Super toll gemacht, Uzumaki. Wir haben Vollmond und die Straßen sind nicht halb so düster und beängstigend, wie sie es sonst sind, wenn man mitten in der Nacht noch durch die Gegend schlendert. Mich treibt im Moment absolut gar nichts nach Hause. Die ruhige, schläfrige Nacht bietet eine angenehme Gelegenheit für einen ausgelassenen Spaziergang, bei dem man seine Gedanken ziehen lassen kann, ohne dass sich andere daran gestört fühlen. Na gut, ein wenig bereue ich schon, wie es bei Kiba gelaufen ist. Im Grunde habe ich das schon gleich, nachdem ich sein Wohnhaus verlassen hatte. Seitdem führen mich meine Füße unentwegt durch verlassene Gassen. Weit ab von den lichtüberfluteten Hauptstraßen, im Dickicht der engstehenden Häuser, dringt kaum noch ein Mondstrahl bis auf den Boden. Hier wirkt alles einsam und verlassen, traurig real. Ich kann nicht sagen, warum es mich ausgerechnet in diese Gegend verschlagen hat. Sie liegt viel zu weit weg von meinem Zuhause, befindet sich sogar in entgegengesetzter Richtung. Hier und da huschen Ratten durch mein Sichtfeld, verschwinden raschelnd unter Papierhaufen und ich merke, wie sich meine Schritte beschleunigen. Wind pfeift durch vernagelte Fenster und Türen, irgendwo am Ende der Gasse heult und winselt ein Hund. Kläglich. Meine Kehle ist trocken und als ich einen Blick über die Schulter werfe, sehe ich Schatten. Dunkle, abstrakte Schatten, die sich seltsam an den Wänden entlangschlängeln. »Arschloch« Ein einziges Wort blinkt mir von meinem Handy entgegen und bringt mein Herz zusätzlich noch mehr aus dem Takt. Warum verdammt nochmal, habe ich überhaupt nachgesehen? Wieso konnte ich nicht einmal diesem dummen Drang widerstehen? Scheiße. Hinter mir knackt es. Vor mir wird die Gasse von bedrängender Dunkelheit verschluckt. Und die Nachricht in meiner Hand enthält keinen Absender. In gehetzter Eile drücke ich sie weg, ohne darauf zu antworten. Warum auch? Seit wann muss man auf anonyme Beleidigungen antworten? Im besten Fall ist es sowieso nur jemand, der sich versehentlich in der Nummer geirrt hat. »Bastard« Ich stolpere ungewollt über einen Haufen alter Blechdosen und einem verbeulten Einkaufswagen, als ich mit weit geöffneten Augen die neue Nachricht lese. Fuck, das ist echt nicht lustig. Schweiß legt sich auf meine Stirn. Feuchter Angstschweiß, der in meinen Augen brennt. Es ist heiß und kalt zugleich und ich verfluche mich dafür, dass ich nicht doch gleich nach Hause gegangen bin. »Wichser« Okay, jetzt reicht es! Gerade als ich das Ende dieser fürchterlichen Gasse erreicht habe, vibriert es erneut. Was zum Teufel soll das? Ich kenne die Nummer nicht und auch das Licht der Laternen, das sich auf den asphaltierten Straßen spiegelt, bringt mir nur bedingt Erleichterung. Wirklich sicher fühle ich mich nicht. Mein Blick versucht überall zu sein. Hinter mir, vor mir, seitlich von mir – sogar über mir. Nur da ist niemand. Nirgends. Aber mein Handy vibriert trotzdem, kündigt eine neue Nachricht an und wäre es nicht vollkommen absurd, würde ich denken, da hätte jemand ganz besonderen Spaß an meinen Reaktionen. »Du bist echt so ein Wichser, weißt du das, Naruto?« Und damit zerschlägt es meine Vermutung und Hoffnung von einer Verwechslung der Nummern. Wer auch immer das ist, meint tatsächlich mich? »?« Das ich ihm so umfangreich zurückschreibe ist reine Verzweiflung. Ich muss hier weg. Nach Hause, ganz schnell. »Ich sagte, du bist ein Arschloch, Bastard und Wichser« »Und wer bist du? « Ich weiß nicht, damit hab ich mir jetzt bestimmt keinen Gefallen getan. So unbedarft in die Offensive zu gehen, ist nicht immer gut. Vielleicht sollte ich mir das endlich mal merken und demnächst erst nachdenken, bevor ich handle. »Jemand, der so dumm war dir zu vertrauen« Was? Schlagartig bleibe ich stehen. Meine Umgebung verschwimmt in eine unbeachtete Nebensächlichkeit. Diese Worte. Dieser Inhalt. Mir wird schlecht, je länger ich diese Nachricht anstarre. In diesem Moment hätte ein ganzes Dutzend wutentbrannter Serienkiller auf mich zu stürmen können, ich wäre nicht einmal imstande dazu gewesen, mich zu ducken. Die Erkenntnis, über denjenigen, der mir geschrieben hat – so plötzlich und niederschmetternd – lähmt meinen Körper. »Sasuke? Bist du das wirklich?« »Und wenn schon…« Mein Herz pocht wild, schlägt schneller und das hat nichts mehr mit der Panik zu tun, die mich eben in der abgestandenen Gasse beherrscht hatte. Jetzt zählt nur noch eins. Sasuke hat sich gemeldet. Wahrhaftig. Ich hatte die Hoffnung beinahe aufgegeben, hätte mich fast schon mit dem Gedanken abgefunden, dass ich ihn verloren habe, aber jetzt überwiegt die Freude. Jetzt ist sogar egal, dass er mich nur kontaktiert hat, um mich mit Beleidigungen zu überhäufen. Es spielt überhaupt keine Rolle, denn Sasuke hat sich gemeldet. Von sich aus! »Können wir reden? Bitte!« Ich bin nervös. Meine Unterlippe ist bereits taub vom vielen Draufrumbeißen. Ganz nebenbei erreiche ich die nächste Bushaltestelle und setze mich auf die harten, unbequemen Stahldinger, während ich auf den nächsten Nachtbus warte. Mein Handy schwebt mit leuchtendem Display vor meiner Nase, doch Sasukes Antwort bleibt aus. Fuck. Es juckt mir in den Fingern, ihn einfach anzurufen. Ich will mit ihm reden. Jetzt. Unbedingt. Ich will ihn hören, aber ich bezweifle, dass er es mir so einfach machen wird. Noch fünfundzwanzig Minuten bis der Bus kommt, und der erste Anruf geht ins Leere. Ich seufze. Theoretisch könnte ich ihm jetzt auch alles über SMS erklären, doch das wäre irgendwie nicht richtig. Es war schon feige genug mit ihm per Zettel schlusszumachen. Genau jetzt will ich einmal alles richtig machen. Noch zwanzig Minuten bis der Bus kommt, und auch der zweite Anruf bleibt unerwidert. Er drückt mich weg, ein weiteres Mal. Nur kommt jetzt wenigstens etwas zurück. Eine neue Nachricht von Sasuke. »Nicht mehr reden, Naruto … Du bist so ein Arsch, lass mich einfach … und mach es nicht noch schlimmer« Es tut weh, sowas von ihm zu lesen und zu wissen, dass man selbst daran schuld ist. Mir tut das alles so leid. Unendlich. Und ich habe mehr denn je das Bedürfnis alles wieder gut zu machen. Vermutlich wähle ich nur deshalb erneut seine Nummer. Irgendwann, so hoffe ich, muss er doch nachgeben. „Was soll das, Naruto … was fällt dir ein … ich hab doch gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst! Ich. Will. Nicht. Reden. Gott, du bist so lästig und dumm. Ich kann …“, er bricht ab und legt auf. So schnell. Ich hatte kaum Zeit seine Worte richtig wahrzunehmen. Er klang müde und resigniert, aber auch Wut mischte sich zwischen Clubmusik und fremde Stimmen. Sasuke war gerade definitiv nicht zuhause und seine Worte kamen schwer, fast mühselig rüber und ich glaube zu ahnen, weshalb. »Sasuke? Hast du getrunken?« »Und wenn schon? Was interessiert’s dich denn?« »Du warst derjenige, der mich angeschrieben hat und du bist mir wichtig! Du bedeutest mir was, Sasuke. Und ich will nicht, dass es dir schlecht geht« Gott, mein Herz klopft zu stark. Die ganze Zeit. Es rauscht in meinen Ohren. Alles ist still und gleichzeitig zu laut. Der Nachtbus fährt mit quietschenden Reifen an mir vorbei, während ich mein Handy hypnotisiere, weil ich mehr als gespannt bin, wie Sasukes Reaktion ausfällt. »Du redest immer noch zu viel Blödsinn … Außerdem hast DU es versaut … jetzt leb auch damit« Ich schlucke betroffen. Ich kann nicht. Ich kann ihn nicht so einfach aufgeben. Nicht jetzt. Nicht mehr. »Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, wirklich. Lass uns treffen, bitte« »Warum?« »Weil ich dir alles erklären will. Aber nicht über Chat, den Fehler mache ich nicht nochmal. Und wenn es nur dafür sorgt, dass du mit mir abschließen kannst« »Ich habe abgeschlossen! Mit dir. Mit deinem Brief. Mit allem!« »Und warum trinkst du dann?« »Weil ich es kann?« Geschockt und ungläubig sehe ich auf die Worte. Er provoziert. Ganz absichtlich. Mir fällt es schwer, ihm etwas entgegenzusetzen. Was er macht, ist nicht richtig und Sasuke ist sich dessen vermutlich mehr als bewusst. Gerade Sasuke … »Sasuke …« »Was, Naruto? Willst du mir jetzt auch noch verbieten zu trinken?« »Nein, aber du trinkst sonst nie!« »Jeder trinkt mal« »Und wenn es nicht gut endet?« »…« Ich kann nicht verhindern, dass ich mir Sorgen mache. Seine Nachrichten stimmen mich traurig und zeigen mir auf, wie machtlos ich bin. Ich kann nichts tun, dabei würde ich ihn jetzt am liebsten einfach nur in den Arm nehmen – ihn halten und spüren lassen, wie sehr ich mein damaliges Verhalten bereue. Nur lässt er mich nicht. Da ist absolut keine Möglichkeit, denn Sasuke weigert sich schon wieder verbissen mir zu antworten. Anrufe drückt er weg und mittlerweile wird mir kalt. Es nieselt leicht und ein sanfter Nebel legt sich auf die nassen Straßen, als ich mich von der Haltestelle entferne und den Heimweg zu Fuß antrete. »Ich bin morgen im Café neben dem Sportzentrum. Wenn du mir noch eine Chance gibst, dann triff mich dort. Ich warte auf dich, wenn es sein muss sogar den ganzen Tag!« *** Aufgeregt und hibbelig stehe ich im Flur, wartend und nervös mit meinen Fingern spielend, weil sich Karin viel zu viel Zeit lässt. Eigentlich wollte ich schon lange weg sein. Habe Sasuke sogar extra nochmal eine Nachricht geschrieben, dass ich ab zehn Uhr dort sitzen werde und jetzt lässt sich Karin feiern. Dabei wollte ich doch nur meinen Arbeitsplan mit ihrem abklären, einfach nur für den Fall möglicher Missverständnisse, die gegebenenfalls auftreten könnten. „Karin … jetzt mach endlich!“, rufe ich durch den Flur, beuge mich dabei nach vorn, um sehen zu können, was sie dahinten gerade so treibt. Nur sehe ich nichts. Ich höre sie nur fröhlich summen. Frauen! Ganz ehrlich, wenn es genauso absichtlich gedacht ist, wie es sich anhört, dann … dann … Shit, mir fällt im Moment nicht einmal eine passende Bestrafung ein. Dafür ist meine Konzentration eindeutig zu wenig. An ausgiebigen Schlaf war nämlich nicht mehr zu denken. Ständig schwirrte mir Sasuke durch den Kopf. Wie er aussehen wird, wenn er wirklich auftaucht. Was er sagen wird. Ob er mir verzeihen wird. Ich habe mir in aller Einzelheit vorgestellt, was ich sagen will. Tausendmal bin ich in dem kläglichen Rest der Nacht, die mir nach dem übertrieben langen Spaziergang geblieben ist, sämtliche Dialoge durchgegangen. Immerhin weiß ich jetzt, trotz Müdigkeit ziemlich genau, was ich ihm sagen will. Einzige Voraussetzung bleibt, dass er auch auftaucht. „Nächsten Freitag ist der Geburtstag meiner Mum!“, ruft Karin mir zu und läuft vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, an mir vorbei und wieder zurück. Was zum Teufel soll das? Sie benimmt sich wie ein läufiger Tiger im Kleintiergehege. Mit einem Augenrollen und zustimmenden Brummen nehme ich ihre Aussage zur Kenntnis. „Kannst du sie dafür von Sonntag bis Montag nehmen?“ „Wenn du sie mir vorbeibringst? Ich muss am Sonntag bis Mittag arbeiten“, nuschle ich und verfolge ihre hektischen Bewegungen mit ungeduldigen Blicken. Ich traue mich nicht einmal auf die Uhr zu sehen. Mein Gefühl sagt mir, dass ich schon eine Ewigkeit hier bin. Dabei will ich doch nur diesen blöden Zettel mit ihren Arbeitszeiten haben. „Geht klar…“, trällert sie fröhlich. Irgendwie ist sie seltsam gut gelaunt in letzter Zeit. Und manchmal scheint sie sich auch wieder richtig herauszuputzen, wenn sie mir Hikari übergibt. Angeblich ist das alles nur Verkaufsstrategie, auf die man bei wichtigen Meetings nicht verzichten kann. Schon klar! Wem will sie denn sowas erzählen? „Karin! Ich muss echt langsam mal los!“, zische ich jetzt gepresst, nachdem sie Anstalten macht im Bad zu verschwinden. Sowas muss immer schnell verhindert werden, wenn man noch etwas von ihnen möchte. Denn, wenn Frauen im Bad sind, dann dauert es nie einfach nur fünf Minuten. So viel Erfahrung durfte ich immerhin sammeln. Sie sagen, sie gehen nur noch schnell für kleine Mädchen – was unter uns gesagt eigentlich eine Aktion von nicht mal zehn Minuten ist – aber in Wirklichkeit glätten sie sich nochmal die Haare, pudern sich die Nase neu und ziehen den Kajalstrich nach, obwohl es vorher genauso perfekt aussah. „Gibst du mir jetzt endlich deinen Zettel oder soll ich morgen nochmal kommen? Ich hab nämlich keine Zeit mehr.“ „Achso, er liegt doch auf der Anrichte“, sagt sie lächelnd, zuckersüß. „Warum sagst du das nicht gleich?“, fahre ich sie genervt an. Meine Fresse, sie hat mich jetzt nicht ernsthaft hier rumstehen lassen … für nichts? Ich spüre, wie meine Augenbraue zuckt, als ich meinen Blick von ihr abwende. Der Zettel liegt tatsächlich da. Richtig auffällig. Ich Idiot. „Du hättest doch nur was sagen müssen.“ Darauf erwidere ich nichts. Nur einen letzten, wütenden Blick schenke ich ihr, ehe ich den Zettel von der Anrichte ziehe und aus ihrer Wohnung stürme. Mein Gott, das ist doch echt unfassbar. So typisch. Ich fass es einfach nicht. Die ganze Zeit stand ich da oben unnötigerweise rum. Fuck, Mann. Das war alles verdammte Zeitverschwendung, echt jetzt. Wenn ich nicht wüsste, was für mich auf dem Spiel steht, würde ich vermutlich darüber lachen, mich verlegen am Hinterkopf kratzen und mich für meine Dummheit nicht einmal schämen. Jetzt hingegen bin ich sauer, wütend und aufgebracht. So eine Scheiße. Ich erkenne die Ziffern kaum, als ich auf mein Handy sehe und zeitgleich durch die Straßen renne. Immer wieder muss ich mich durch viel zu langsam laufende, alte Menschen schlängeln, die vormittags mit ihren sperrigen Rollatoren die Gehwege blockieren. Als könnten sie nicht auch in der Woche ihre vier Lebensmittel einkaufen. Nervig. Einfach nervig. Ich ahne bereits, als ich über eine rote Ampel laufe, und mir empörte Rufe eines alten Opas hinterherschallen, dass ich nicht mehr rechtzeitig ankommen werde. Ich hoffe nur, dass Sasuke dieses Mal nicht pünktlich erscheint. Irgendwie glaube ich fast, dass er mich warten lassen wird. Ich glaube es nicht nur, ich hoffe es gerade inständig. Es ist kurz nach zehn, als ich das Café erreiche und durch die Tür in den warmen Innenbereich stolpere. Noch immer bin ich innerlich so aufgewühlt und aufgebracht, dass ich am liebsten alle Schuld auf Karin schieben würde. Was mir natürlich nichts bringt, aber … scheiße, ich muss mir ganz dringend einen klaren Kopf verschaffen, bevor Sasuke da ist. Ich konnte es nämlich nicht lassen und habe gleich als erstes meinen Blick durch den Raum gleiten lassen, während ich jede Person dabei eingehend geröntgt habe. Von Sasuke keine Spur. Obwohl es erleichternd sein könnte, ist es das nicht. Normalerweise kenn ich Sasuke als eine Person, die immer pünktlich erscheint. Wenn möglich sogar noch vor Terminbeginn. Nur heute nicht. Heute glänzt er mit Abwesenheit – selbst eine Stunde später noch. Was habe ich erwartet? Ein Seufzen, verzagt und zweifelnd, verlässt meine Lippen. Mein Telefon zeigt keine neue Nachricht. Keine Zusage. Keine Absage. Nichts. Und ich warte. Würde ohne Umschweife meine Worte in die Tat umsetzen und ohne zu zögern den ganzen Tag hier sitzen und warten. Ich bestelle mir in den nächsten anderthalb Stunden zwei Cappuccino, drei Schokomuffins und ein Stück Blaubeerkuchen und noch immer gibt es von Sasuke keinerlei Anzeichen darauf, dass er kommen wird. Über die Möglichkeit, dass er vielleicht gar nicht kommt, habe ich bisher noch nicht wirklich nachgedacht. Wenn ich ehrlich bin, würde ich das auch jetzt nicht machen wollen. Er wird kommen. Er muss kommen. Mein Blick hypnotisiert die kleine Uhr über dem Tresen. Die Zeiger stehen bereits auf halb sechs. Das Café schließt in einer halben Stunde und ich bin mittlerweile total abgebrannt. So langsam glaube ich, dass Sasuke vielleicht wirklich nicht mehr auftaucht. Aber mein Bauch ist dagegen, sowas zu glauben. Ganz im Gegensatz zu meiner Blase, die mittlerweile übervoll ist. Aber ich kann jetzt nicht gehen. Nicht jetzt, vielleicht taucht er ja doch noch auf. Vielleicht hat er sich ganz absichtlich dafür entschieden kurz vor Feierabend zu kommen? Vielleicht will er auf diese Weise verhindern, dass wir ewig um den heißen Brei herumreden? Womöglich will er mich testen? Meine Ausdauer, meinen Willen überprüfen? Ich hoffe, dass es so ist, und sehe zum gefühlt tausendsten Mal heute auf, als die kleine Klingel an der Tür signalisiert, dass ein neuer Gast eingetreten ist. So schnell, wie in diesem Moment, war mein Puls bestimmt noch nie von null auf hundert. Das würde ich vermutlich sogar unter Eid bezeugen. Sasuke steht in der Tür. Trägt einen schönen, schwarzen Mantel, den er sich zügig aufknöpft, ehe sich unsere Blicke treffen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)