Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 26: Zuckerschmaus und Funkensprung ------------------------------------------ Mein letztes Plunderstück ist mit etwas Aprikosenkonfitüre überzogen, jetzt muss es nur noch trocknen. Auch Ikki ist mit seinen Gebäckstücken fertig, wie ich mich erkundige, und wir betrachten gegenseitig unsere Werke. „Du bist gut darin“, stellt Ikki fest, was mich erfreut. „Naja, das war Teil meiner Ausbildung“, erkläre ich. „Ich habe einen Teil davon in einer Kleinbäckerei  gemacht, wo alles von Hand hergestellt wurde. Es war Teil unserer Arbeit, Gebäcke fertigzustellen. Pfannkuchen füllen, Zuckerguss zubereiten und überziehen … Wir haben auch selbst Pudding und Butterkrem hergestellt. Ich kenne noch ein paar der Dinge und wie man sie macht.“ „Das sieht man“, komplimentiert er mir lächelnd. Ich fühle mich gut bei seinem Lob. Wir melden uns bei dem Bäckersmann und er führt uns in einen Nebenraum. Dieser ist klein, mehr wie ein Zimmerchen, mit einigen gardinenverhangenen Fenstern. Wieder steht in der Mitte ein großer, hoher Holztisch, mit allerlei buntem Kram darauf. Der meiste Platz ist mit Bandrollen, Folien und verschiedenen Plastikkästchen zugestellt. Am Rand bleibt etwas Platz zum Arbeiten, es liegen endlos Scheren, Klebeband und Stifte bereit. Hier dürfen wir unsere eigenen Pakete gestalten, wird uns erklärt. Taka führt uns ein wenig herum, zeigt uns die verschiedenen Boxen und Schachteln und was uns alles zur Verfügung steht. Mir wird dezent mulmig bei dem Gedanken, jetzt auch noch basteln zu dürfen. Backwaren zu verzieren mag das Eine sein, damit habe ich Erfahrung. Aber wenn es ums Gestalten geht und etwas hübsch zu verpacken, da versage ich ganz. Ich bin kein Basteltyp, war ich nie und werde ich nie sein. Ich schmiede bereits Pläne, wie ich diese Masterquest bloß schnell heil hinter mich bringe. „Wenn Sie fertig sind, kommen Sie bitte in den Trockenraum. Ich stelle ihre Gebäcke dort ab zum Trocknen.“ Wir bedanken uns und Taka lässt uns allein. Wenig ambitioniert schleiche ich um den Tisch herum und mustere skeptisch, was mich hier erwartet. Glanzbandspulen, Geschenkpapierbögen, Schleifchen aus Stoff und Seide, vorgefertigte Schleifenblüten, Sterne in allerlei Formen und Stilen … zu viel. Was fängt man mit diesem ganzen Zeug nur an? Ein Grauen, hier komme ich niemals lebend heraus. „Am besten fangen wir mit den Boxen an“, holt mich Ikki aus meinem Unmut und ahnt gar nicht, welchen Albtraum er damit durchbrochen hat. „Schließlich müssen die Gebäcke irgendwo sicher abgelegt werden. Komm her, schauen wir uns die Größen an. Es steht alles dabei, was wir brauchen.“ Ich atme erleichtert auf und geselle mich an seine Seite. Wenigstens scheint es, als hätte Ikki mit Geschenkverpackungen ein sichereres Händchen als ich. Ich will mir nicht ausmalen, wie oft er schon dastand und irgendein Geschenk für irgendeine Frau herrichten musste. Oder halt, müsste es nicht eher umgekehrt sein, dass er mit Geschenken überhäuft wurde? Kennt er sich deswegen so gut aus? Ich lasse mir von Ikki alles zeigen und erklären, womit ich nichts anfangen kann. Wir beratschlagen uns einige Zeit, bis wir uns für eine Box entschieden haben. Wenigstens ein Anfang. Sie ist zweistöckig, wobei sich die obere Etage gut und einfach herausheben lässt. Ich denke, damit fahren wir ganz gut, selbst mit den sensiblen Sahnestücken. Er wählt eine blaue Version, ich eine violette. Wir besprechen, wie die Gestaltung aussehen soll, wobei ich beharre, dass wir nur die äußere Fassade schmücken. „Innen zählt nur, was drin ist“, erkläre ich. „Da achtet niemand auf Sticker oder anderen hübschen Krimskrams.“ Ikki befürwortet meine Meinung und so geht es ans Werk. Ich müsste mich freuen, dass ich die Hälfte Arbeit von mir gewiesen habe. Leider ändert das nichts daran, dass ich mich dennoch diesem Grauen stellen muss. Ich schnappe mir ein paar Stickerbögen und eine Rolle mit goldglitzerndem Klebeband. Von der Seite beobachte ich Ikki, wie er mit Bändern und Stickern hantiert. Trotz der Handschuhe, die er wieder trägt, ist er sehr geschickt in seinem Tun. Er kommt schnell voran, die erste Längsseite zeigt bereits ein Muster. Ich werde hinter ihm zurückfallen, wenn ich mich nicht beeile. „Du wirkst geübt“, merke ich von der Seite an, während ich mich meinem eigenen Paket zuwende. „Bei dir sieht das so einfach aus. Dekorierst du öfter solche Sachen?“ „Nicht so oft, wie du vielleicht annimmst“, spricht er vergnüglich. „Aber wenn du oft die Zeit hast, dir mit Mühe hergerichtete Dinge anzusehen, lernt man auf ganz theoretische Weise, wie es geht.“ Ich überlege, was das bedeuten könnte. Wie oft kommt es vor, dass Ikki einfach nur dasitzt und dekorierte Dinge besieht, die vor ihm stehen? Wann und wo hätte er die Gelegenheit dazu? Im Meido gewiss nicht, dort gibt es wenig Anschauungsmaterial und die Zeit hätte er zudem nicht. Zu Hause vielleicht? Meint er die Geschenke von seinen Freundinnen? Wenn ich es recht bedenke, möchte ich es lieber nicht wissen. Ich suche nach einem unverfänglichen Thema, über das wir uns unterhalten können. Mir fallen Dinge ein, die ich ihn zu Kento oder Rika fragen möchte, doch ich bin gehemmt. Ikkis Anmerkung von vorhin lässt mich vermuten, dass er diese Bäckerei schon einmal mit »mir« besucht hat. Wenn dem wirklich so ist, sitze ich gehörig in der Patsche. Er würde sich das nicht einbilden oder mich verwechseln, ausgeschlossen. Was, wenn er es bereits durchschaut hat? Wie gern würde ich es ihm sagen, einfach alles auf den Tisch legen. Aber wenn ich mich dadurch als Lügnerin entpuppe und sein Vertrauen verliere … „Ach Mist!“ Ich stoße ein lautes Fluchen aus. Zum vierten Mal schon löst sich dieses verdammte Glitzerband und will einfach nicht haften bleiben. Es fällt immer wieder herunter. Mir vergeht allmählich die Lust. „Brauchst du Hilfe? Warte, lass mich kurz machen.“ Protestlos überlasse ich Ikki das Feld und trete zur Seite. Mein Geduldsfaden war noch nie der längste, wenn es ums Basteln geht. Enttäuscht von meiner Ungeschicklichkeit beobachte ich Ikki, wie er das Massaker leichthändig behebt. Er gibt mir Tipps, wie es besser geht, doch ich nicke nur, ohne ihm richtig zuzuhören. Es ist unwahrscheinlich, dass ich mir diese Tortur so bald noch einmal gebe. Ein Abzug für meine Weiblichkeit.   Bepackt mit unseren verzierten Gebäckboxen stehen wir vorne am Tresen und werden kassiert. Stolze 1700 Yen pro Person kostet uns dieser kreative Nasch-Bastel-Spaß, was mich kurz schnappen lässt. Für sechs Gebäckstücke in einer kunterbunten Pappbox … Ich bin mir sicher, das hätte ich anderswo auch günstiger bekommen. Aber sei’s drum. Ikki wollte, dass wir eine schöne Zeit haben, und die hat eben ihren Preis. Ich schlucke mein Entsetzen hinunter und greife mutig in die Geldbörse. Die letzten Geldscheine darin abzuzählen, tut weh. „Das geht zusammen“, höre ich Ikki sagen und schnappe erneut. Mein Kopf schnellt zu ihm in die Höhe, doch bevor ich etwas sagen kann, hebt er mir einen Finger vor die Lippen. „Später“, verspricht er und übernimmt die Bezahlung. Unsere Boxen werden noch jeweils in einer Hamsterkopftüte verstaut, dann verlassen Ikki und ich dankend den Laden. „Ikki …“, mache ich meinem Unmut Luft, kaum dass wir draußen sind. Zwei Schritte von der Eingangstreppe entfernt bleibe ich stehen. „Erst das Kino, jetzt das … Du weißt, dass ich es nicht darauf beruhen lassen kann.“ „Ich weiß. Und ich möchte verhandeln.“ Fragend hebe ich die Augenbrauen und er erklärt, ohne dass ich nachhaken muss: „Du gibst mir 1000 Yen zurück, und für den Rest gestattest du mir eine letzte Bitte.“ „Kommt ganz auf die Bitte an“, entgegne ich zögerlich. Er lächelt besänftigend. „Ich begleite dich nach Hause, die gesamte Strecke bis vor die Tür. Dort setze ich dich sicher ab, außer du möchtest, dass ich noch mit rein komme. Abgemacht?“ „Wow, und das für nur 700 Yen. Was für ein überaus günstiges Angebot“, erwidere ich zu Scherzen aufgelegt. „Wie könnte ich da Nein sagen? Na schön, abgemacht.“ Wir klären das Finanzielle sofort, dann geht es an den Heimmarsch. Ikki bietet mir an, dass wir ein Taxi rufen, aber das Wetter ist mild und ich strotze vor Enthusiasmus. Ich möchte keine Minute mit ihm verschenken, weswegen ich den Fußmarsch vorschlage. Wenn ich richtig schätze, gewinne ich dadurch um die vierzig Minuten; fünfzig, wenn wir langsam gehen. Bei dem Gedanken wächst mein Bedürfnis, noch so viel Zeit wie möglich rauszuschlagen. Eine zweite Gelegenheit wie diese bietet sich mir vielleicht nie wieder.   Auf dem Weg befragt mich Ikki, wie ich den Tag empfunden habe. Ich gestehe, dass mir das Basteln einige Schwierigkeiten bereitet hat, ansonsten hat es mir gefallen. „Das freut mich“, sagt er darauf und wirkt zufrieden. „Es war genau das, was ich gebraucht habe, um den Kopf ein wenig freizubekommen“, gestehe ich mit einem Lächeln. „Du warst mein Retter in dunkler Stunde. Danke für die spontane Einladung.“ „Ich hatte Sorge, dass es etwas zu spontan sei“, offenbart er, wobei er das Lächeln erwidert. Im nächsten Moment zeichnet sich Sorge auf seinem Gesicht, als er ernst wird: „Möchtest du darüber reden?“ „Worüber?“ „Was dich bekümmert“, ergänzt er. Schweigend wende ich den Blick zur Straße ab und konzentriere meine Gedanken. Wie gern würde ich mich ihm anvertrauen; offen und ehrlich über alles reden, was mich belastet. Auf der anderen Seite möchte ich nicht zur Sprache bringen, was sich gestern alles ereignet hat. Am wenigsten diese Balkongeschichte. Wenn er wüsste, dass ich beinah … Nur daran zu denken, lässt mich … „Ist es wegen deinem Freund?“ „Was? Nein“, sage ich leise und schüttle den Kopf. Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis ich spüre, wie etwas nach meiner Hand greift. „Du kannst mit mir über alles reden“, höre ich Ikki sagen, wobei sein Griff um meine Finger fester wird. Wir bleiben stehen und tauschen einen Blick, der mir trotz seiner Sonnenbrille bis unter die Haut geht. Es ist der Start eines heftigen Tauziehwettbewerbs in meinem Kopf zwischen »es ihm sagen« und »nichts sagen«. Mein ansteigender Puls applaudiert den eifrigen Kontrahenten. Hoffnung jubelt laut, Vernunft buht im Protest. Ich bin mit alldem überfordert. Was soll ich tun? Was ist richtig? „Danke“, sage ich leise und mühe ein Lächeln herauf. Sanft erwidere ich den Händedruck. „Es hat wirklich nichts mit Luka zu tun. Es ist … wesentlich komplizierter als das.“ „Kann ich helfen?“ Ich schüttle betreten den Kopf. „Nein, ich fürchte nicht.“ „Oftmals hilft es, wenn man über seine Sorgen spricht“, redet er behutsam auf mich ein. „Vielleicht weiß ich Rat oder kann welchen für dich einholen. Ich habe viele Kontakte. Und ich bin dir noch etwas schuldig.“ „Schon gut, Ikki“, beschwichtige ich. Seine Sorge und Bemühungen rühren mich, doch die Befangenheit wiegt schwerer. „Es gibt Dinge, über die kann man nicht reden. Mit niemandem, fürchte ich. … Leider. Auch wenn ich gern würde.“ Seine Miene verliert sich irgendwo zwischen Mitgefühl und Enttäuschung. Ich bereue, diesen Ausdruck an ihm erkennen zu müssen und hasse mich dafür. Wie gern würde ich es ihm sagen – ich will, ich will! –, aber wie soll ich es verkaufen? Im Übrigen, die Welt ist hinter mir her und will mich töten, weil ich aus einer anderen Welt stamme. Und ich bin übrigens auch nicht die, die du kennst. Oh ja, klar. Das kann ich ihm ohne Weiteres offenbaren und er würde es hinnehmen. Ohne den kleinsten Verdacht. Jegliche Glaubwürdigkeit, adé. „Ich kann dich nicht zwingen“, spricht Ikki nach einiger Zeit, in der ich ihm zur Seite ausgewichen bin. „Aber du sollst wissen, dass ich immer da bin, wenn du jemandem dein Herz ausschütten magst. Nicht nur, weil ich zurückzahlen will, was du für mich getan hast. Du sollst wissen, dass du auf mich bauen kannst. Komm, gehen wir weiter. Reden wir über etwas anderes. Hm, du hast mir noch gar nicht erzählt, woher dein Interesse für Idols kommt. Was macht für dich ein Idol aus?“ Wir reden über unverfängliche Themen, während wir den Straßen heimwärts folgen. Die Gespräche machen Spaß, hinterlassen jedoch ein Gefühl der Leere und Unzufriedenheit in mir. Idole, Pop-Sternchen und was sie ausmacht … das alles sind Themen, die zwar interessant sind, über die ich aber eigentlich nicht reden mag. Mich interessieren Dinge zu Ikki, was er macht, wie es ihm geht und wie seine Sicht der Dinge ist. Am liebsten will ich ihn zu Kento befragen, wie ihre Beziehung in Wirklichkeit ist, aber kann ich das gefahrlos? Was, wenn all die Fragen, die mir gerade in den Sinn kommen, schon von meinem vorherigen Ich gestellt wurden? Wenn Ikki sich deswegen wiederholt? Er schöpft jetzt schon Verdacht, da bin ich mir nach seiner Anmerkung in der Bäckerei sicher. Aber ich will es wissen, so unbedingt. Wieso muss ich hinter meinem anderen Ich zurückstecken? Das ist nicht fair. Das hier ist meine Gelegenheit. Ich will all diese Wunder nicht ungenutzt an mir verstreichen lassen …  „Erzähl mir etwas über dich und Kento“, werfe ich ein, als mir die Gelegenheit günstig erscheint. Zuletzt sprachen wir davon, dass Ikki selbst wie ein Idol wirkt, besonders wenn man die Zahl seines Fanclubs betrachtet. Er hat es mit aufgesetztem Humor genommen, jedoch betont, dass ihm diese Erhebung nichts bedeutet. Er habe nie darum gebeten, jedenfalls nicht um das, was es heute ist. „Was möchtest du denn wissen?“, fragt er zurück. „Weiß nicht. Irgendwas. Was immer du erzählen magst.“ „Ich weiß nicht, wo ich bei ihm anfangen soll. Ich erzähle so viel über ihn, dass ich manchmal nicht weiß, wem ich schon was gesagt habe. Und dabei sind es nicht sehr viele Leute, mit denen ich über ihn rede.“ Sein Blick geht zu mir und er fragt verschmitzt: „Ken interessiert dich, hm? Darf ich fragen, warum?“ „Es geht mir nicht direkt um ihn“, widerspreche ich aufrichtig. „Wobei ich zugeben muss, dass er ein interessanter Charakter ist. Aber ich finde, dass ihr eine sehr besondere Freundschaft habt, die selten ist. Ich würde gern mehr darüber erfahren, wenn es dich nicht stört.“ „Solange es nur das ist. Ken ist ein toller Kerl“, lenkt er ein, wobei seine Stimme einen weichen Klang annimmt. „Ich verdanke ihm wirklich viel. Ohne ihn wäre ich nicht der Kerl, der ich heute bin. Er war nach einer langen Zeit der Erste, der mich wie ein normaler Mensch behandelt hat. Aber vermutlich habe ich dir das schon einmal erzählt.“ „Ich kann es immer wieder hören“, kontere ich, um bloß nicht den Faden zu verlieren. Ich will, dass er es mir erzählt. Ich will hören, was immer er mir anvertrauen mag. Ikki nickt akzeptierend, dann sieht er nach vorn, meine Hand weiterhin in seiner. „Was ich an ihm schätze, ist seine Aufrichtigkeit. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, kritisiert mich, fasst mich nicht mit Samthandschuhen an. Er widerspricht meiner Meinung und Ansichten, wenn es angemessen ist. Und er ist vor allem immer da, wenn ich ihn brauche. Sei es in guten oder schlechten Zeiten, wobei die schlechten wahrscheinlich überwiegen. Ich kann mich immer auf ihn verlassen, was es auch ist. Wenn er nicht wäre … ich wüsste nicht, wo ich heute wäre.“ Er fragt mich, ob ich mich daran erinnere, als er mir sagte, es sei Kento zu verdanken, dass er noch im Meido sei. Ich bestätige, obgleich mir diese Info neu ist. „Als das war, mit ihr … wollte ich im Meido kündigen“, erzählt er leise, wobei der Schmerz aus dieser Erinnerung klingt. „Ich habe dir das sicher schon erzählt, aber zu der Zeit dachte ich wirklich, ich könnte es nicht ertragen, weiter dort zu arbeiten. Denselben Arbeitsplatz wie sie zu teilen, sie regelmäßig zu sehen, immer wieder daran erinnert zu werden … Ich war bereit, zu kündigen, alles aufzugeben. Aber dank ihm, um Kens Willen, bin ich geblieben. Er ist ein grausamer Freund, mir so etwas zuzumuten.“ Er lächelt bitter. Ich schüttle vorsichtig den Kopf zur Abmilderung seiner Einleitung. „Bereust du es?“, möchte ich wissen und sehe ihn mitfühlend an. „Es gab eine Zeit, da habe ich es“, gesteht er. „Da habe ich meine Worte Ken gegenüber bereut und die Entscheidung, die damit einher gegangen ist. Aber irgendwann … wurde es besser. Das ist nicht gering dir zu verdanken.“ Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Mir fehlen die Erinnerungen, von denen er spricht. Bis auf die paar Flashbacks, die mich überkommen sind, habe ich nichts, um seine Worte auf irgendetwas zu beziehen. „Ich habe euch viel zu verdanken, dir und Ken. Ohne euch, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Ich hätte mich vermutlich aufgegeben.“ „Sag das nicht“, flüstere ich. Diese Dinge zu hören, schmerzt mich. Umso mehr, da ich es nicht greifen kann. Ich bin im Begriff, ihm zu sagen, dass er mir nichts zu verdanken hat. Dass es nicht meinetwegen war. Doch ich schlucke es hinunter. Ich bringe es nicht übers Herz. Er fragt mich, was ich noch wissen will, worauf ich abermals antworte, dass mir jedes Thema recht ist. Also erzählt er mir von irgendwelchen Wetten, die er in jüngeren Jahren mit Kento abgehalten hat. Und in welche Probleme sie einige davon gebracht haben. Die Stimmung lockert sich auf, wir lachen. Ich äußere ihm gegenüber, dass falls es sich jemals ergeben sollte, ich sehr gern einmal etwas mit ihnen unternehmen würde. Zu dritt, egal was. Außer Karaoke, darin bin ich schlecht. Aber ich glaube, wenn es mit ihnen ist, würde ich selbst das überleben – und genießen.   Wir biegen in die Straße, die in meine Wohngegend führt. Normal hätten wir uns an der letzten Kreuzung getrennt, aber nicht heute. Ich habe es versprochen. „So? Ein reiner Mädchenabend?“ „Ja“, bestätige ich und nicke. Gerade sprechen wir über unsere Pläne für das Wochenende und ich bin am Zug. „Allerdings muss ich zuvor diese Ausstellung hinter mich bringen. Und am nächsten Tag wieder arbeiten … Das wird ein langes Wochenende.“ „Was für eine Ausstellung willst du besuchen?“ „Eine Kunstausstellung“, seufze ich knapp. „Luka hat mich dahin eingeladen. Er wird dort als Künstler vertreten sein und ich soll ihn begleiten.“ „Wow, beeindruckend“, kommentiert er anerkennend. „Ich wusste nicht, dass er so gut ist. Dein Freund muss eine große Nummer sein. Du bist bestimmt stolz auf ihn.“ „Naja“, verwerfe ich mit einem Schulterzucken. „Beeindruckend ist es schon, aber …“ „Aber?“ „Ich fühle mich als Autor dort etwas fehl am Platz“, sage ich kleinlaut. „Alle werden über Kunst reden und Dinge auswerten und bewundern, zu denen ich vermutlich nicht viel sagen kann. Das ist in etwa, als würde man einen Hund in ein Affenhaus stellen.“ Er lacht auf hin meines Kommentars. „Heißt das, eine Kunstausstellung ist für dich wie ein Affenhaus?“ „So … so meinte ich das nicht!“, beteuere ich. Sein amüsierter Ausbruch stimmt mich verlegen. „Ich mache nur Spaß“, beschwichtigt er und fährt mit dem Finger unter seiner Brille entlang. „Ich denke, du machst dir an der Stelle zu viele Gedanken. Sind sich Malen und Schreiben denn so unähnlich? Beides ist Kunst und findet bestimmt einige Gemeinsamkeiten. Denkst du nicht, dass du dich lieber darauf konzentrieren solltest statt auf die Unterschiede?“ „Wow, du klingst gerade wie eine Figur, zu der ich aufsehe“, stoße ich aus. Leise bereue ich, nicht gegoogelt zu haben, ob diese Welt etwas mit Pokémon anfangen kann. Was, wenn ich Nyasu erwähne und ihm darauf erklären darf, was ein Mauzi und Team Rocket sind? Verwerfend schüttle ich den Kopf und lächle anschließend. „Du hast ja recht. Wahrscheinlich mache ich mich nur unnötig verrückt. Es wird bestimmt gut werden und ich kann eine ganze Menge lernen. Ich versuche, das Beste daraus zu machen. Es ist immerhin auch eine seltene Gelegenheit, darauf sollte ich stolz sein.“ Er nickt befürwortend. „So ist es richtig. Es wäre eine Vergeudung, wenn du diese Gelegenheit nicht nutzen würdest. Es ist nicht nur eine gewöhnliche Ausstellung, du wirst alles aus nächster Nähe erleben und kannst dir Informationen aus erster Hand einholen. Das ist etwas sehr Besonderes. Deinem Freund liegt vermutlich viel daran, dass er so ein wichtiges Ereignis mit dir teilen will.“ Seine Worte versetzen mir einen Stich. Betroffen sehe ich zur Seite weg und verfluche das leise Stimmchen, das mir ein schlechtes Gewissen einzureden versucht. Ausgerechnet jetzt muss ich mich fragen, ob ich Luka Unrecht tue. Wieso muss Ikki auch so viel daran setzen, ihn mir gut zu reden? „Ist alles okay?“, holt mich seine Stimme aus meinem inneren Zwiespalt zurück. „Du bist auf einmal so still.“ Steif schüttle ich den Kopf. „Nein, schon okay.“ „Hm.“ Obgleich mir der Zweifel in Ikkis Laut nicht entgangen ist, sage ich nichts. Ich will nicht an Luka denken, ich will nicht über meine Einstellung zu ihm nachgrübeln. Eigentlich will ich im Augenblick an gar nichts denken; ich will einfach nur meine Zeit mit Ikki genießen. Doch warum, verflucht, lässt mich mein Kopf mit diesen vorwurfsvollen Gedanken einfach nicht in Frieden?   Schweigen war zwischen uns eingekehrt, von dem ich nicht wusste, ob es Ikkis stillem Warten auf einen nachgeschobenen Kommentar zu unserem letzten Thema entsprang. Die Atmosphäre wurde mir zu angespannt, weswegen ich auf unsere Gebäcke zu sprechen kam. Ich wollte wissen, was Ikki mit seinen Stücken vorhatte, doch er schien sich darüber noch keine Gedanken gemacht zu haben. „Es ist nicht, dass ich kein Vertrauen in meine Fähigkeiten hege“, erzählt er, worauf er den Kopf dreht und mich spitzbübisch besieht, „aber ich würdige lieber die Bemühungen anderer um mich als meine eigenen.“ „Soll das eine Anspielung sein?“, gebe ich zurück und bemerke, wie es in meinem Bauch aufgeregt flattert. Allein die Vorstellung, dass Ikki es auf meine Gebäcke abgesehen haben könnte, genügt, um mich in ein naives Schulmädchen zurückzuversetzen. „Damit das klar ist“, füge ich rasch hinzu, „wenn, dann machen wir halbe-halbe. Gleiches Recht für beide.“ Ikki stößt ein kurzes, volles Lachen aus. „Ist das ein Angebot?“ „Na aber hallo!“, unterstreiche ich, weiche dann jedoch zur Seite aus. Verdammt, gerade komme ich mir wirklich wie ein Schulmädchen vor. Ich führe mich unmöglich auf, für meine Verhältnisse zumindest. Peinlich irgendwie. Verflucht, Ikki! Lass doch mal das arme Fangirl in mir in Ruhe! „Nun, wenn du darauf bestehst“, säuselt er lieblich, wofür ich ihm dutzend stille Flüche ausspreche. „Wie kann ich da Nein sagen? Lass sie uns später aufteilen, wenn ich dich abgesetzt habe. Wir sind ja gleich da.“ Die Straße, in die wir als Nächstes einbiegen, bestätigt seine Worte. Ich erkenne die Häuser zu den Seiten und weiß, dass wir in wenigen Minuten bei mir sind. Bedauern macht sich in mir breit, denn jetzt, da sich der Tag dem Ende neigt, denke ich, dass die Zeit einmal mehr viel zu schnell vergangen ist. Die letzten Meter sind bald hinter uns gebracht und ich spüre den Trotz in meinen Beinen sitzen, als wir vor Hausnummer 20 auf dem Gehweg stehen bleiben. Ich will den Abend nicht beenden, aber der Abschied kommt, ob ich will oder nicht. ‚Naja, du wirst ihn ja wiedersehen‘, versuche ich mich zu trösten. Morgen, wenn ich mich recht erinnere. Das ist doch was, wenn es auch nicht dasselbe sein wird wie heute. „Da wären wir“, leitet Ikki ein und dreht sich zu mir. Ich spüre seinen Blick und zwinge mich, zu ihm aufzusehen. „Soll ich noch mit rauf kommen?“ „Scherzkeks“, sage ich und spüre, wie sich ein Stich durch meine Brust zieht. Ich hätte ihn gern auf ein Getränk mit hoch genommen, aber ich erinnere mich, dass Ukyo sehr wahrscheinlich daheim wartet. Und Orion. Wie sollte ich das Ikki erklären? „Das würde zu spät. Als ob ich dann noch zum Schlafen käme.“ „An was denkst du, was ich mit dir mache, wenn du mich in deine Wohnung lässt?“, schmunzelt er süffisant. In dem Moment wird mir bewusst, wie unglücklich mein Kommentar war. „Argh nein, so war das nicht gemeint!“, wehre ich schnell ab und hebe die Hände vor den Körper. „Ich meinte nur, dass es spät wird, weil wir uns bestimmt verquatschen. Und dann bin ich zu aufgewühlt zum Schlafen und komme morgen nicht aus den Federn.“ Ikki lacht und ich verstumme. Besser nichts mehr dazu sagen, es kann nur schlimmer werden. Egal, was ich zu korrigieren versuche, aus diesem Schlamassel komme ich nicht mehr heraus. „Na gut, ich verstehe“, bringt er gezwungen unter seinem Gelächter hervor. Ikki seufzt einmal aus voller Brust, worauf er mich sanftmütig besieht. „Ich hatte heute sehr viel Spaß“, meint er und lässt mein Herz höher schlagen. „Es tat gut, wieder so viel mit dir zu lachen. Unsere Gespräche haben mir sehr gut getan.“ „Mir auch“, erwidere ich und lächle. „Danke für diese schöne Zeit.“ Ich nicke. Am Rande bemerke ich, wie Ikki meine Hand drückt. Unbewusst halte ich den Atem an, in Erwartung auf irgendwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Hinter den dunklen Brillengläsern vermute ich, dass Ikkis Blick ernster wird. „Bist du dir wirklich sicher, dass es nichts gibt, worüber du reden möchtest?“ Seine Frage schneidet tief und bringt meine Emotionen in Aufruhr. Da ist er wieder, dieser Zwiespalt, der mein drängendes Bedürfnis nach Aussprache mit Schild und Speer zu bekämpfen versucht. Ich schlucke. „Ich …“ Doch ich komme nicht zu Wort. Ich bemerke nicht, was hinter mir passiert, nur dass Ikki mich plötzlich an den Armen packt und mit einem Ruck zur Seite zieht. „Vorsicht!“ Etwas peitscht. Keinen Meter neben uns zieht etwas zischend vorbei. Dann knallt es irgendwo hinter uns. Alarmsirenen eines Autos gehen los, im selben Moment wird es dunkel um uns herum. Die Straßenlaternen, die Lichter aus den Häusern in der Nachbarschaft – alles erlischt. Die Nacht ist schwärzer, als ich sie wahrgenommen hatte. „Bist du okay?“, höre ich Ikki fragen. Seine Stimme ist das Einzige, das mich im Hier behält und vor einer Panikattacke bewahrt. Unter dem kühlen Stoff seines Mantels spüre ich seinen Herzschlag nah an meinem Ohr. Für einen kurzen Moment frage ich mich, welches Herz wohl schneller schlägt: seines oder meines? Gott, ich hätte vor Schreck schier sterben können, wenn es nicht Ikki wäre, der mich hier sicher in den Armen hält. „Was ist passiert?“, frage ich versetzt, weiterhin unfähig mich zu rühren. Von Ikkis Körper geht eine angenehme Wärme aus. Er, seine Kleidung, alles an ihm riecht so gut. Beruhigend, wenn nur die Gewissheit nicht wäre, dass gerade irgendetwas Schreckliches passiert ist. Außerhalb meiner Wahrnehmung. „Schau.“ Nur widerwillig dränge ich mich von ihm, gerade so weit, dass ich um mich blicken kann. Es ist schwer, in der Dunkelheit gescheit zu erkennen, doch mir fällt ein Flackern ins Auge. Ein Blitzen, das unregelmäßig in einiger Entfernung von der gegenüberliegenden Straßenseite kommt. Vielleicht noch halb von der Straße, wenn ich den Abstand bedenke, der zu dem schrillenden und warnblinkenden Auto in nächster Nähe besteht. „Das hätte verdammt schief gehen können“, kommentiert Ikki, was mich wieder zu ihm sehen lässt. „Einen Schlag aus so einer Leitung überlebt man nicht. Das war zu knapp. Hätte ich nur eine Sekunde zu spät reagiert …“ „Was ist passiert?“, wiederhole ich, nicht fähig die Puzzleteile zusammenzusetzen. „Das Kabel“, sagt Ikki und ich folge seinem Blick, der in Richtung der Häuser nach oben geht. „Es muss sich von dort oben gelöst haben. Seltsam, normalerweise sollten die Freileitungen gut gesichert sein … Bist du auch wirklich in Ordnung?“ „Mh“, mache ich und nicke zaghaft. „Nichts passiert, nur erschrocken.“ „Schon okay“, spricht Ikki sanft und zieht mich in seine Umarmung zurück. Seine Hand legt sich tröstend auf meinen Hinterkopf, was mich veranlasst, mich etwas näher an ihn zu schmiegen. „Es ist alles in Ordnung. Dir passiert nichts, das verspreche ich.“ Ich will ihn piesacken. In mir flammt die Frage auf, wie vielen Mädchen er das schon gesagt hat, während er sie für irgendwas in die Arme genommen hat. Doch das Bedürfnis ist gering und wird von dem Wohlgefühl übertrumpft, das Ikkis Nähe in mir auslöst. Soll er mich einfach halten und mir so den Mund verbieten, ich habe nichts dagegen. Nichts Besseres ist mir bisher in dieser Welt widerfahren und wird wohl je passieren.  Das hier, genau das, ist exakt das, was ich will und gerade brauche. Unbedacht der Umstände. Um uns herum wird es lebhaft. Ich höre Stimmen aus der Ferne, die aufgeregt durcheinander reden. Es wäre angemessen, die Umarmung jetzt zu lösen, doch ich will sie noch ein wenig länger haben. Nur wenige Sekunden, bis ich mich damit abgefunden habe, dass der Vorwand beendet ist. „Shizana?“, höre ich meinen Namen aus dem Gemenge heraus und drehe mich um. In dem Menschengewirr ist nicht viel zu erkennen, die Dutzenden Taschenlampen irritieren mich zusätzlich. Eines der Lichter hält direkt auf mich, was mich blendet. Bemüht blinzle ich gegen die Helligkeit an, um jemanden dahinter ausmachen zu können. „Ist bei dir alles okay? Die Lichter gingen plötzlich aus und jetzt liegt die ganze Nachbarschaft im …“ Endlich erkenne ich die Stimme, die eindeutig Ukyo zuzuordnen ist. Er eilt in meine Richtung und erzählt aufgeregt, doch kommt zu einem abrupten Stopp, als er wenige Meter vor mir stehen bleibt. „Ukyo-san?“ „Oh, Ikki-kun“, bemerkt Ukyo überrascht und wirkt mit einem Mal überfordert. „Ha-hallo. Du hier? Ich … ich wusste nicht, dass du … dass ihr … Ä-ähm, ahaha …“ Irritiert lege ich den Kopf schief. Worüber ist Ukyo so aufgebracht? Wusste er wirklich nicht, dass ich mit Ikki unterwegs war? Gut, ich hatte es ihm nicht erzählt, er war ja nicht zu Hause gewesen. Aber Orion wusste es und ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihm nichts gesagt hat. „Ukyo-san“, setzt Ikki neben mir an, „was machst du hier? Wohnst du etwa in der Gegend?“ Pling. Oh mein Gott! Stimmt ja, Ikki weiß gar nichts davon, dass Ukyo und ich zusammenleben. Glaube ich. Nein, jetzt bin ich mir ziemlich sicher. Oh Mist, was jetzt? Wie kommen wir da wieder heraus? „Ä-ähm, ich … also … So ein Zufall, oder? Haha“, stammelt Ukyo nervös. Er wirkt so hilflos, wie er immer wieder zu mir sieht, als hoffe er, in meinem Gesicht die Antwort auf dieses Dilemma zu finden. Zu meinem Bedauern fürchte ich, dass er vergeblich sucht. Prüfend schiele ich zu Ikki. In dem schnittigen Licht der Taschenlampe interpretiere ich seine Gesichtszüge als überrascht, vielleicht auch verwirrt. Ich glaube nicht, dass er bereits entschlüsselt hat, was wirklich hinter Ukyos Auftauchen steckt. Und ich, ich bin unschlüssig, ob ich es ihm sagen will oder nicht. „Störe ich?“, klingt Ukyos Frage vorsichtig und lenkt meine Aufmerksamkeit auf ihn zurück. „Keineswegs“, antwortet Ikki. Sein Blick richtet sich auf mich. „Ich habe sie nur nach Hause gebracht. Ich denke, ab hier kann ich dich allein lassen. Wir wollen ja, dass du ausreichend Schlaf bekommst.“ Er versieht diese Botschaft mit einem vielsagenden Zwinkern. „Wirst du allein zurechtkommen?“ „Mh“, nicke ich und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mich diese Zweideutigkeit verlegen stimmt. „Ich denke, ich habe noch Kerzen im Haus. Und mein Handy hat eine Taschenlampe.“ „Es wird sich bestimmt bald jemand darum kümmern. Ein Stromausfall wird in der Regel schnell bemerkt, keine Sorge. Sei nur vorsichtig, wenn du dich bewegst. Nicht, dass du noch stürzt oder irgendwo gegenstößt und dich dabei verletzt. Ach, und nimm das hier.“ Auffordernd hält er mir die Hamsterkopftüte entgegen, die von der Hektik einige unschöne Dellen davongetragen hat. Fragend sehe ich ihn an. „Wollten wir nicht halbe-halbe machen?“ „Es ist zu dunkel, um das jetzt zu machen. Nimm dir einfach, was du haben magst, den Rest bringst du mir morgen auf Arbeit mit. Einverstanden?“ „Na gut“, gebe ich bei und nehme die Tüte entgegen. Mir ist etwas unwohl dabei, doch ich sehe ein, dass es das Vernünftigste ist. „Dann … schätze ich, war’s das jetzt. Ich habe dir wirklich sehr für den Tag zu danken. Es hat Spaß gemacht.“ Er nickt zustimmend, worauf ein versetztes Lächeln folgt. „Sicher, dass ich dich nicht doch noch nach oben begleiten soll?“, setzt er nach, als amüsiere ihn der Gedanke. „Ich komme schon klar“, wehre ich ab, die Idee hektisch beiseite schiebend. Oh Gott, ich hätte ihn wirklich gern noch etwas länger bei mir, aber … Nein, jetzt erst recht nicht! Nicht bei dem Chaos und all den unangenehmen Umständen. Zumal ich das schlecht mit Ukyo und Orion vereinen könnte. „Ich kann sie auf ihre Wohnung begleiten“, schlägt Ukyo vor, was mich zu ihm sehen lässt. Ich bin erstaunt, dass seinem Gesicht keinerlei Regung abzuerkennen ist, die auf sein Flunkern hindeuten lässt. Plötzlich ist er wieder ganz entspannt und die höflich-nette Person, wie man ihn kennt. Wow. Ikki hebt den Blick zu ihm und es scheint, als prüfe er ihn einen Moment. „Ich bin überrascht, Ukyo-san. Neuerdings so offensiv, hm?“, spricht er ruhig, doch es wirkt dezent stichelnd auf mich. Ukyo lässt sich davon augenscheinlich nicht beirren und schüttelt verwehrend den Kopf. „Nein, wir wohnen nur im selben Haus. Ich würde sie ohnehin begleiten. Es macht also keine Umstände.“ Mir klappt die Kinnlade herunter, geistig zumindest. Zwar entspricht seine Erklärung noch immer nicht ganz der Wahrheit, kommt ihr aber schon sehr nahe. In keinem Szenario hätte ich damit gerechnet, dass er so weit gestehen würde. „Ah“, äußert Ikki akzeptierend. Überrascht, aber weit empfänglicher, als ich ihm zugetraut hätte. „Das nenne ich mal eine Neuigkeit. Davon wusste ich nichts. Nun, in dem Fall würde ich dich bitten, das zu tun. Ich möchte wirklich nicht, dass ihr etwas zustößt. Das eben war gefährlich genug gewesen.“ „Ich passe auf“, bekräftigt Ukyo mit einem Kopfnicken. Vorsichtiger sieht er zu mir. „Das eben? Was ist passiert? Warst du … in Gefahr?“ Mir wird unwohl bei seinem Blick. Unwillkürlich weiche ich zur Seite aus. „Das Kabel ist ziemlich nah an uns vorbeigezischt“, erkläre ich knapp. „Wie bitte?“ „Alles okay, Ukyo-san“, wirft Ikki beschwichtigend ein. „Es ist nichts passiert. Niemand wurde verletzt.“ „Ikki hat gute Reflexe“, nuschle ich leise. Ukyo scheint den Hinweis zu verstehen. Sein Blick richtet sich an Ikki. „Dann hast du sie beschützt? Ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich dir dafür bin. Danke vielmals.“ „Kein Grund, so förmlich zu werden, Ukyo-san“, entgegnet Ikki, eine Braue skeptisch erhoben aufgrund Ukyos tiefer Verbeugung. „Ich hatte ein eigenes Interesse daran, dass sie unversehrt bleibt. Wenn einem Mädchen in meiner Gegenwart etwas zustieße, das könnte ich mir niemals verzeihen. Ich hätte nie zugelassen, dass sie ernsthaft in Gefahr gerät.“ Durch meine Brust zieht ein Stich. Ich weiß nicht, woher die Eifersucht rührt, dass Ikki mich mit jedem anderen Mädchen gleichgesetzt hat. Was habe ich erwartet? Dieses Gefühl widerspricht allem, zu dem ich bisher gestanden hatte. Ich wollte nie das besondere Mädchen für ihn sein, nun aber offensichtlich doch? Was will ich überhaupt? Wieso kratzt mich so ein kleines Detail? Ukyo bedankt sich abermals, was Ikki weiterhin abweist. Er verabschiedet sich anschließend, förmlicher als ich gehofft hatte, und wünscht uns eine gute Nacht. Ich bitte ihn, auf seinem Heimweg vorsichtig zu sein, und verfolge sehnsüchtig, wie er auf der dunklen Straße verschwindet. „Ist dir wirklich nichts passiert? Wenn ich gewusst hätte, dass du hier draußen bist …“ „Schon gut“, weise ich Ukyos Sorge zurück und bemühe mich um ein Lächeln. „Mir geht’s gut, es ist nichts passiert. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. … Nicht schon wieder.“ Ukyo setzt zum Sprechen an, verschließt jedoch die Lippen. Nach einigen Sekunden nickt er und gestikuliert eher halbherzigen in Richtung Haus. „Gehen wir? Orion ist noch oben“, spricht er leise, zaghaft, als behage ihm etwas nicht. Ich seufze schwer und nicke dann. „Ist gut, gehen wir.“   In der Wohnung wartet bereits ein aufgebrachter Orion. Beim Flur angefangen sind in jedem Raum Kerzen aufgestellt worden, die ein wärmendes Licht in die Düsternis aussenden. Es riecht angenehm, rein von dem Wachs, der seinen eigenen Duft verströmt. Ich erkenne keine bestimmte Note heraus, was die Idee von Duftkerzen ausschließt. Egal, ich bin froh, dass wir nicht völlig im Finsteren sitzen müssen. „Was ist passiert?“, will Orion sogleich wissen, während ich in die Küche steuere, um warme Getränke für uns aufzusetzen. Blöd, wie ich schnell bemerke, denn wir haben ja keinen Strom. Aus einem süßen Cappuccino und warmes Abendessen wird wohl nichts. „An einem der Masten ist ein Kabel gerissen“, erklärt Ukyo an meiner statt. Ich bin ihm dankbar, denn ich denke nicht, dass ich sehr viel hätte erläutern können. „Das ganze Haus hat kein Licht und in den Nachbarhäusern sah es ebenfalls dunkel aus. Die Laternen an den Straßen sind ebenfalls ausgefallen. Die Sirenen stammen von einem Auto, das wohl vom Kabel getroffen wurde.“ Ich höre, wie Orion entsetzt Luft holt. „Wie konnte das passieren?“ „Ich weiß nicht“, meint Ukyo gedrückt. Als ich zu den beiden zurückkehre, ganz ohne einen Erfolg in der Küche erzielt zu haben, bemerke ich, wie er sich nachdenklich eine Hand unters Kinn legt. „Hier hat es noch nie einen Stromausfall gegeben. Überhaupt habe ich das nur einmal erlebt, als ich …“ „Das kann vorkommen“, werfe ich ein und lenke ins Wohnzimmer, ohne einen von ihnen anzusehen. Ich lasse mich auf die weichen Couchpolster sinken und hebe die beiden Tüten, die Ikki und mein Backwerk enthalten, vor mir auf die niedrige Tischplatte. Während ich mich ans Auspacken mache, erzähle ich unter lautem Papiergeraschel: „Ich habe schon den einen oder anderen Stromausfall erlebt. Normal dauert er maximal einige Stunden, aber es ist schon recht spät. Ich weiß nicht, ob sich heute noch jemand darum kümmern wird, wohlmöglich haben wir erst morgen wieder Strom. Ist ja nicht nur ein Schalter, den man umkippen muss. In der Küche geht übrigens nichts mehr, nicht mal der Herd.“ Nacheinander gesellen sich auch Orion und Ukyo zu mir. Wie üblich findet Orion seinen Platz neben mir, Ukyo uns gegenüber auf einem der Stoffhocker. „Ich hatte ein schlimmes Gefühl, kurz bevor das passiert ist“, erzählt Orion, wobei er sich die Arme um die Brust schlingt, als sei ihm kalt. „Es war, als würde gleich etwas ganz Schlimmes passieren. Ich kann es nicht genau beschreiben … Plötzlich war mir kalt und ich hatte Angst.“ „Das nennt man eine Vorahnung“, kläre ich auf. Aus großen Augen sieht er mich an. „Eine Vorahnung?“ „Ja. So etwas haben einige, kurz bevor etwas Schlimmes passiert. Sie haben ein Gefühl, das sich nicht richtig beschreiben lässt, intensiv und unbehaglich ohne ersichtlichen Auslöser. Manchmal bewahrheitet sich so ein Gefühl und irgendwo passiert wirklich etwas Schlimmes.“ „Ist ein Stromausfall denn etwas Schlimmes?“, will er wissen. „Naja“, hapere ich und wäge meine Worte ab. „An sich nicht, es ist für die meisten höchstens ein nerviger und unglücklicher Umstand. Aber … zu dem Zeitpunkt, als der Strom ausfiel, oder eher davor … Es könnte sein, dass sich deine Vorahnung auf mich bezogen hat.“ Orion wird blass um die Nase, so zumindest erscheint es mir. Auf jeden Fall wird das Entsetzen in seinen Augen deutlich, die noch etwas größer geworden sind. „Wie meinst du das?“ „Das Kabel“, sage ich zögernd. „Es hätte mich vermutlich getroffen. Aber Ikki hat mich zur Seite gezogen, gerade rechtzeitig.“ „Was?!“ „Alles okay, Orion“, will ich ihn besänftigen. Ich weiß nicht wie, aber ich will verhindern, dass er sich aufregt. „Nichts passiert, mir geht’s gut. Vielleicht hätte es mich auch gar nicht getroffen, das weiß niemand. Es ist nur sehr nah an mir vorbeigesaust.“ „Aber … ist das nicht gefährlich?“, wirft Orion ein und sieht besorgt zu Ukyo hinüber. „Was passiert, wenn einen so ein Kabel trifft? Da läuft doch Strom durch, oder nicht? Hätte sie nicht verletzt werden können?“ Ich folge seinem Blick und lese in Ukyos Gesicht, dass er sich vor einer Antwort drückt. Erst in dem Moment wird mir bewusst, was wirklich passiert ist. Es ist nicht einfach nur ein Kabel gerissen. Hätte es mich getroffen, ja, was wäre dann gewesen? Wie viel Strom fließt durch so eine Leitung? Und selbst wenn man diesen Punkt ausblendet, laut dem Geräusch, was ich gehört habe, ist es mit einer sehr hohen Geschwindigkeit an uns vorbeigeschnellt. Was, wenn der Schlag mich erwischt hätte? Ich … hätte ernsthaft verletzt werden können, oder nicht? Ausreichend, um zu sterben? ‚Oh nein‘, geht es mir durch den Kopf. Ich schlucke hart. ‚Nicht schon wieder. Das war kein Zufall, oder?‘ Was für ein blöder Ausklang für ein Traumdate. Man gönnt mir auch wirklich nichts in dieser Welt, scheint mir. „Wir müssen es Niel-sama sagen!“ „Was?“, frage ich und sehe verdutzt zu Orion. Dieser ist von der Couch aufgesprungen und baut sich an der Seite auf, von wo aus er Ukyo und mich gut im Blick hat. „Wir müssen zu ihm und es ihm sagen! Er hat gesagt, sollten seltsame Dinge um dich geschehen, soll ich zu ihm kommen und es ihm sagen. Gestern war das mit dem Balkon, heute ein Stromkabel … Findet ihr nicht, dass das verdächtig ist?“ „Es könnten immer noch Zufälle sein“, gebe ich zu bedenken und schelte mich gleichzeitig eine Närrin. Nach allem, was ich aus der Serie weiß, glaube ich nicht an Zufälle in dem Bezug. Die Welt hat es auf mich abgesehen, da besteht gar kein Zweifel. Wenn ich recht überlege, ist es sehr offensichtlich. Neben Ikki und mir war niemand sonst auf der Straße gewesen, den das Kabel hätte treffen können. Und auch gestern wurde neben mir niemand beim Balkoneinsturz gefährdet. All diese Unfälle passieren nur, wenn sie mich gezielt ereilen können, oder irre ich mich? Bilde ich mir das nur ein? Wie war das bei Ukyo und Hanna gewesen? Abwehrend schüttle ich den Kopf. Das tut jetzt auch nichts zur Sache. Viel wichtiger ist die Frage, was Niel großartig dagegen tun sollte. Hatte er irgendetwas tun können, als Ukyo denselben Albtraum durchleben musste wie ich? – Nein, hatte er nicht. Und ganz sicher würde er auch jetzt nichts tun können. „Ukyo?“, richtet sich Orion hoffnungsvoll an ihn, als erhoffte er seinen Zuspruch. „Mh“, bestätigt dieser und nickt. Es fühlt sich an, als stieße ein Dolch in meinen Rücken. „Ich stimme Orion zu. Wir sollten Niel einbeziehen.“ „Aber wieso?“, presse ich hervor. Ungläubig, dass sie diesen Weg gehen wollen. Fest sieht Ukyo mich an. „Ich glaube nicht, dass es Zufälle sind. Es fällt mir schwer, das zu glauben … Niel hat mit so etwas Erfahrung. Wir sollten ihn zumindest hinzuholen und befragen, was wir tun sollen. Es geht um deinen Schutz.“ Er senkt den Kopf und fügt etwas leiser hinzu: „Ich habe es ihm versprochen, dass ich dich beschütze.“ Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Mir fehlen die Argumente. Ebenso fehlt mir der Glaube, dass es irgendetwas bewirken würde. Wenn es die Welt ist, die mich jagt, übersteigt das Niels Fähigkeiten. Was sollte er tun können, um diese Kette an Anschlägen zu unterbinden? „Ich will das nicht“, trotze ich leise. ‚Aber ich will auch nicht sterben‘, fügt mein Kopf im Stillen hinzu. In mir entbrennt eine Debatte, dass ich Niel in diese Sache nicht hineinziehen will, aber wenn, dann ist er vermutlich der Einzige, der uns helfen kann. Auch wenn ich nicht daran glaube. Welch andere Option haben wir? „Bitte“, wirkt Orions Flehen auf mich ein und ich spüre seine kleinen Hände warm auf meinen. „Du musst es ihm sagen. Ich begleite dich auch, wenn du es möchtest. Und Ukyo hilft dir bestimmt auch. Bitte. Ich will nicht, dass dir etwas passiert …“ „Lasst uns erst darüber schlafen“, lenke ich zu einem Kompromiss ein. Ich sehe abwechselnd zu ihnen, hoffend, dass sie mich nicht weiter zu einer Entscheidung drängen werden. „Es ist schon spät und wir sind alle aufgebracht. Ich denke darüber nach, aber unternehmt bitte nichts ohne mein Einverständnis. In Ordnung?“   In einer stillen Übereinkunft wurde der Vorfall für den restlichen Abend auf Eis gelegt. Orion sorgte für Lockerung, indem er sich nach meinem Treffen mit Ikki erkundigte. Neutral berichtete ich den beiden, was wir unternommen hatten, und erzählte ein wenig von dem Film und der besonderen Bäckerei. Während ich berichtete, teilten sich Orion und ich einige der Gebäckstücke, wogegen Ukyo dankend ablehnte. Orion probierte sich an einem Donut von mir, während ich nach einem von Ikkis Plunderstücken griff. Ich tat einen vorsichtigen Bissen, nur um erleichtert festzustellen, dass der erwartete Geschmackschock ausblieb. Der blättrige Teig war schön zart, die Aprikosenkonfitüre schmeckte süß mit leicht bitterer Note und der Zuckerguss war nicht zu dick aufgetragen. Ein gelungenes Werk, ganz im Gegenteil zu dem Tortenstück beim Meido-Event, das ich im Nu verputzte. Ich ließ dem einen Windbeutel folgen, der nicht so übersüßt wie der von Kento schmeckte und ein sahniger Genuss war. Nur kurz beschlich mich der Gedanke, ob es genauso gut geworden wäre, hätten wir alles von Grund auf selbst machen müssen. Egal, es war vorzüglich und ich hoffte, dass Ikki dasselbe von meinen Gebäckstücken dachte, wenn ich sie ihm morgen mit auf Arbeit brächte. Der Abend zog sich dahin, bis Ukyo verkündete, sich früh ins Bett zu legen. Er fühlte sich müde, und das sah man ihm an, weswegen niemand Einwände erhob. Ich gönnte mir noch eine abschließende Dusche bei Kerzenschein, mehr dem Wohlbefinden wegen, bevor auch ich mich auf mein Zimmer zurückzog. Gern hätte ich mir noch eine Zigarette auf dem Balkon gegönnt, aber ein Blick durch die Fenster genügte, um mir diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Dann eben ohne Zigarette. Als ich mein Handy zum Überprüfen der Uhrzeit in die Hand nehme, bemerke ich, dass ich eine Nachricht erhalten habe. Ich öffne sie und bin verblüfft, dass sie von Ikki stammt. Er hat mir ein Foto gesendet, das einen köstlich aussehenden Cocktail in orangener Farbe zeigt, und den Text dazu: »Schade, dass du nicht hier bist. Mit dir würde er bestimmt noch besser schmecken.« Ich schmunzle einen Moment, bevor ich eine Antwort tippe: »Sieht gut aus. Bist du etwa noch unterwegs?« Ich warte geduldig auf Antwort, die wenig später folgt: »Ich habe unterwegs nach Hause einige Mädchen aus dem Club getroffen. Sie haben mich gebeten, noch etwas mit ihnen zu unternehmen.« Durch meinen Körper geht ein Ruck. Ikki ist also noch mit einigen Mädchen aus dem Fanclub unterwegs. Der Gedanke will mir nicht gefallen. Unweigerlich frage ich mich, ob er das wirklich gewollt, oder nur wieder kein Nein übers Herz gebracht hat. Ich seufze und schreibe, dass er es nicht übertreiben soll. Er will doch sicher nicht, dass er morgen mit einem Kater aufsteht. »Machst du dir Sorgen um mich?«, fragt seine nächste Nachricht unverblümt, was mein Herz einen Ticken höher schlagen lässt. Ich überlege noch nach einer Antwort, da folgt die nächste Nachricht: »Ich wünschte mir, dass du dich um mich sorgst. Ist das egoistisch von mir? Mir ist wichtig, was du über mich denkst.« »Ich denke nicht schlecht von dir«, schreibe ich zurück und lese erneut über seine Nachricht. Mich beschleicht eine Vermutung, die ich in Worte fasse: »Bist du betrunken?« Die nächste Übermittlung bestätigt meinen Verdacht: »Ein wenig.« Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Sollte ich ihn schelten, nachbohren, seinen Zustand verharmlosen? Laut Serie und Drama-CD war es nicht unüblich, dass Ikki gelegentlich trank, allem voran wenn er Kummer hatte. Wie stand es jetzt um ihn? Hatte er Kummer oder genoss er einfach nur eine gute Zeit, die vollkommen harmlos war? »Ehrlich gestanden, mache ich mir Sorgen.« »Worüber«?, will ich wissen. »Dich und Ukyo-san«, schreibt er zurück, was mich kurz stutzen lässt. »Ihr wohnt im selben Haus? Ihr versteht euch ganz gut, oder?« Huh? Wie ist diese Frage zu deuten? Er ist doch wohl nicht … eifersüchtig oder so? »Ja, aber wir sind nur Freunde«, schreibe ich und bin skeptisch, ob das wie eine Rechtfertigung klingt. »Ukyo hilft mir sehr in vielen Angelegenheiten. Ohne ihn wäre es schwerer gewesen, mich hier zurechtzufinden.« Ich sende die Nachricht mit einem unwohlen Gefühl ab. An sich habe ich die Wahrheit geschildert, aber ich habe Bedenken, dass Ikki sie falsch auffassen könnte. Vielleicht bilde ich mir auch nur etwas ein. Wohlmöglich bin ich es, die Ikkis Interesse falsch interpretiert. Kein Grund, sich so in etwas hineinzusteigern. »Ich würde dir immer helfen, sofern ich es kann«, verkündet seine nächste Nachricht, was mich unvorbereitet bei den Gefühlen packt. »Sag mir nur, was ich tun soll. Egal wann, egal was. Ich tue alles. Bau auf mich.« Mein Herz krampft sich zusammen. So schön diese Worte auch sind, sie wiegen schwer. Zu wissen, dass ich nichts getan habe, um diese Versprechen zu verdienen, ist unerträglich. Er gibt sie der falschen Person. Ich bin nicht diejenige, die irgendetwas geleistet hat. »Danke«, schreibe ich dennoch und warte einige Zeit, ob etwas zurückkommt. Nichts tut sich im Verlauf, weswegen ich das Handy sperre und schließlich zur Seite lege. Ein bleiernes Gefühl von zermürbender Traurigkeit bleibt in mir zurück. Ich bin enttäuscht, dass ich nicht ehrlich zu ihm sein kann. Ich verfluche diesen Umstand zutiefst. „Schläfst du schon?“, meldet sich Orion hinter mir zu Wort, der gerade durch die Tür in mein Zimmer tritt. Flüchtig schüttle ich den Kopf. „Nein, aber ich wollte mich gerade hinlegen. Kommst du auch?“ Er bejaht meine Frage und zusammen richten wir unsere Betten her. Wir reden noch einige Zeit über Unverfängliches, bis Orion gähnt und wenig später vollkommen ruhig geworden ist. Schwerfällig drehe ich mich auf die Seite und blicke starr in die Dunkelheit. Nach Schlafen ist mir lange nicht zumute, zu viele Dinge gehen mir im Kopf herum. Der Gedanke, dass ich zwei Tage nacheinander seltene Unfälle erlebt habe, verfolgt mich. Mir wird bewusst, wie viel Glück ich habe, jetzt noch am Leben zu sein. Zugleich beschleicht mich die Angst, was passiert, wenn es beim nächsten Mal nicht so ist. Was, wenn morgen das nächste Unheil geschieht und ich nicht wieder nur mit dem Schrecken davonkomme? Wenn ich dieses Mal wirklich sterbe? Was wird dann aus mir? Was wird aus meinem Leben, meiner Welt? War’s das dann für immer? Ich kämpfe gegen diese düsteren Gedanken an. Ich versuche an andere Dinge zu denken, an Ikki, an Ukyo, an irgendwas. Der Erfolg ist mäßig, denn wo ich auch lande, an allem haftet etwas Negatives. Nach einem Ruhepol suche ich vergebens. Schließlich strecke ich den Arm nach der Schrankablage aus und ertaste mein Handy. Kurzerhand wähle ich mich in die Nachrichten ein und öffne den Verlauf mit Ikki. Mir bleiben nur Sekunden, bis mein Verstand sich einschalten und mich abhalten würde, weswegen ich mein Bedürfnis schnell in wenige Worte fasse: »Ikki, ich war nicht ehrlich zu dir. Es gibt Dinge, über die ich reden will.« Und senden. Warten. Wenige Minuten später meldet sich mein Benachrichtigungston. Ikki hat geantwortet. »Erzähl es mir, sobald du dazu bereit bist. Egal wann. Ich werde dir zuhören.« Ich atme aus, lang und langsam. Endlich. Es fühlt sich an, als würde eine schwere Last von meiner Seele purzeln. Ich wollte unbedingt, dass Ikki weiß, dass ich ihm einige Dinge erklären muss. Jetzt weiß er es, und was es auch anrichtet, für den Moment fühlt es sich gut an. Es war richtig. Ich bin es leid, Opfer dieser Lügen und ständiger Heimlichtuerei zu sein. Zärtlich drücke ich mein Handy gegen die Brust und kuschle mich zurück unter die Decke. In Gedanken zähle ich auf, was ich Ikki gerne sagen würde. Ich wiederhole diese Sätze wieder und wieder, bis ich merke, wie die Müdigkeit mich überkommt. Dankbar übergebe ich mich ihr und versinke in willkommener Ruhe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)