Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Prolog: -------- Das laute Hupen eines Autos holt mich aus meinen verlorenen Gedanken und lässt mich aufschrecken. Kurz taumle ich und weiche zwei Schritte zurück, nur um sicherzugehen. „Hey, Vorsicht“, höre ich jemanden sagen. Die Stimme ist mir unbekannt. Ich nehme sie kaum wahr, zu tief sitzt mir der Schreck noch in den Gliedern. Unter meiner Hand, die ich mir im Reflex gegen die Brust gedrückt habe, schlägt mein Herz wie wild. Was war los mit mir? Bin ich weggedriftet? Am helllichten Tage? Und dann auch noch mitten auf der Straße, wo sich neben mir noch weitere Personen aufhalten? Das sieht mir gar nicht ähnlich. Ich bin so sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich nur am Rande wahrnehme, wie eine Gruppe junger Leute an mit vorbeizieht. Studenten, tippe ich. Nicht viel älter als ich selbst, vielleicht sogar jünger. Eines der beiden Mädchen wirft mir einen Blick zu, der mir sagt, dass sie meine Zurechnungsfähigkeit anzweifelt. Das andere Mädchen unterhält sich mit dem Jungen und ich nehme Wortfetzen wahr, die in etwa lauten: „Das hätte jetzt fast geklappt“ und „Schlimm, dass die Leute nie aufpassen können“. Mir dämmert, dass sie mich damit meinen. Jetzt erst sickert bei mir auch durch, dass ich kurz einen Druck gegen meinen Rücken gespürt hatte. Das war mir erst gar nicht aufgefallen. Vermutlich hätte ich einen von ihnen beinah angerempelt. Ich tippe auf den Jungen, der mich immerhin angesprochen hatte. Die Gruppe biegt um eine rotgeziegelte Mauer. Ich erkenne dann, dass sie sich abwärts bewegen. Im ersten Moment bin ich verwirrt, bis ich verstehe, dass sie die Treppe eines Geschäftes oder etwas in der Art hinuntergehen. Seltsam, ich bin doch sonst nicht so begriffsstutzig. Apropos: Wo bin ich eigentlich? Was mache ich hier, wo auch immer ich bin? Und was wollte ich eigentlich? Kurz schaue ich mich um. Ich stehe vor einem Treppenaufstieg, der nach oben zur Hauptstraße führt. Die Straße, in der ich stehe, sagt mir nichts, also suche ich nach anderen Anhaltspunkten. Unschlüssig gehe ich ein paar Schritte, bis ich vor der rotgeziegelten Mauer stehe. Tatsächlich befindet sich direkt dahinter ein Abstieg, direkt unter der Treppe nach oben. An der Ziegelwand erkenne ich ein Schild. „»Meido no Hitsuji«“, lese ich laut vor. Irgendwie dämmert es mir. Der Name sagt mir etwas. Japanisch? Ich kann noch gar keinen klaren Gedanken fassen, da höre ich eine laute Männerstimme rufen: „Hey, du!“ Ich fahre zusammen. Obwohl ich nicht weiß, ob ich gemeint bin, drehe ich mich nach der Person um. Ich erkenne einen hochgewachsenen Mann, den ich auf die Dreißiger tippe, mit kurzem brünetten Haar und Brille. Sein Gesicht wirkt streng, im einen Arm hält er eine Einkaufstüte, in der anderen Hand einen Holzstock. Aber was mich am meisten beunruhigt: Er sieht mich unverwandt an und steuert mit großen Schritten direkt auf mich zu. „Was stehst du hier draußen herum?!“, fährt er mich an. Seine Stimme erscheint mir von Nahem noch viel lauter und ich höre den Bass, der etwas nachklingt. Ich fühle mich sofort unbehaglich, irgendwie bedroht und wie unter Appell. „Dein Einsatz hat längst begonnen! Rückzug ist eine Niederlage! Der Feind wartet, zurück an die Front!“ „Wa–?“, will ich einwerfen, komme aber nicht dazu, meine Frage zu stellen. Ohne Vorwarnung greift er nach meinem Handgelenk. In diesem kurzen Moment bemerke ich, dass er schwarze Stoffhandschuhe trägt. Das allein würde in mir schon alle Alarmglocken läuten lassen, würde sich mein klar denkender Verstand nicht gerade heftig mit meinem Erinnerungsvermögen fetzen. Sein Griff ist fest, aber nicht brutal. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich nicht daraus befreien. So habe ich keine andere Wahl, als ihm einmal um die Mauer herum zu folgen. Mein Kopf läuft Amok. Dieser Mann ist ein Fremder für mich. Er könnte mit seinen Handschuhen wirklich alles sein von Keimphobiker bis Krimineller. Nur eines ist gewiss: Er ist mir nicht so unbekannt, wie er es wohl sein sollte. Logisch betrachtet. Wir betreten einen Seiteneingang und stehen kurz darauf in einem hellen, schmalen Flur. Zeit bleibt mir keine, mich groß umzusehen. Ich registriere nur, wie die Luft von appetitlichen Gerüchen verschiedener Speisen erfüllt ist. Schon zieht mich der Mann weiterhin unbeirrt hinter sich her. Ich finde keinen Mut, Protest zu erheben, geschweige denn Gegenwehr. Von irgendwoher höre ich das typische Geräusch einer schwenkenden Pfanne mit etwas Brutzelndem darin. „Du hast fünf Minuten!“, appelliert er erneut, kaum dass er mich in einen Raum hineingezogen hat. Das Erste, was ich hier sehe, sind Spinde und Bänke, woraus ich einen Umkleideraum schlussfolgere. „Zieh dich um und rüste dich für den Feind! Wir werden auch die heutige Schlacht nicht verlieren! Fünf Minuten!“ Dann zieht er die Tür mit einem Knall zu.   Tja, und da stehe ich nun. Im Umkleideraum des »Meido no Hitsuji«, wie mir scheint. Ganz entgegen jeder Logik. Noch ganz verwirrt gehe ich zu den Spinden hinüber. An einem davon ist ein Schild mit meinem Namen darauf angebracht. Ich öffne ihn und sehe ein in Klarsichtfolie verpacktes rot-schwarzes Kostüm darin. Mir schwant, dass es meine Arbeitskleidung ist. „Was zum Geier ist hier los?“ Kapitel 1: Auf in den Kampf! ---------------------------- Ist alles richtig so? Ich bin mir nicht ganz sicher, denke aber, dass ich alles korrekt angezogen habe. Mit dem Kimono hatte ich so meine lieben Schwierigkeiten. Als Europäerin kenne ich mich mit dieser Mode schlicht und ergreifend nicht aus. Ich bin mir sogar sicher, dass ich ihn falsch gebunden habe. Allerdings bin ich ganz stolz darauf, wie ich meine eventuelle Unschicklichkeit mit der roten Schürze kaschieren konnte. Der Kragen sieht richtig aus und die Schürze liegt vernünftig über dem erstaunlich leichten und bequemen Stoff. Ich muss sagen, dass ich den Schnitt sowie die Konstellation sehr schick finde. Auch mit dem Rot-Schwarz-Farbthema kann ich sehr gut leben. Immer noch besser als etwas Knallbuntes tragen zu müssen. Weniger überzeugt bin ich von meinen Haaren. Zu meiner Erleichterung habe ich im Badezimmer eine Dose Haarspray gefunden. Damit war mein Pony, der nie liegen will, weniger das Problem. Aber was machte ich mit dem Rest? Kurzerhand habe ich mich dazu entschieden, sie hochzustecken. Eine schwarze Haarklammer ist vielleicht etwas zu schlicht für diese Arbeit, die ich ausführen soll, aber welche Wahl habe ich schon? So kann ich zumindest sicher sein, dass mir die langen Zotteln nicht ständig während der Arbeit in die Sicht fallen werden. Mein Haar war, trotz dass es eher glatt ist, noch nie gut zu bändigen gewesen. Mir ist noch immer unwohl bei dem Gedanken an das mir Bevorstehende. Natürlich bin ich mehrere Alternativen durchgegangen. Gemessen aber an meiner Situation, dass ich nicht genau weiß, was hier los ist und warum, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es das Klügste ist, vorerst mitzuspielen. Ich wüsste sonst nicht wohin und generell frage ich mich, ob es überhaupt einen Ausweg für mich gibt. Aber vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, jemanden zu fragen? Die Frage ist nur, wen. Vorausgesetzt, dass ich richtig liege und dem Unmöglichen eine faire Chance einräumen muss, wird es hier einige Leute geben, die ich besser nicht befrage. Dafür gibt es viele Gründe, von vorsichtigem Respekt bis hin zur Panik vor Kontrollverlust. Ohne hierbei Namen nennen zu wollen, an welche Personen ich dabei denke. Aber noch ist nichts entschieden. Noch ist mir niemand weiter über den Weg gelaufen. Waka ausgenommen. Doch allein, dass ich mir bereits um die Identität meines harschen »Entführers« sicher bin, schließt nahezu jeden Zweifel in mir aus, wem ich noch begegnen werde. Auf kurz oder lang betrachtet. Zwangsweise. Vermutlich … Nein, höchstwahrscheinlich. Ich schüttle entschieden den Kopf. Nein, nicht darüber nachdenken! Besser nicht darüber nachdenken. Das macht es nur schlimmer. Und das wilde Herzklopfen, das ich schon wieder habe, macht es auch nicht gerade besser. Ist es Angst oder Vorfreude, die mein Herz so wild zum Schlagen bringt? Ich will es lieber gar nicht wissen, aber ich werde es wohl herausfinden. Schon sehr bald. Schnell werfe ich noch einen letzten Blick in den Spiegel. Die Haube bereitet mir Sorgen. Zum Glück handelt es sich bei ihr nur um einen schlichten Haarreif mit Rüschenverzierung, den ich mir nur aufsetzen brauchte. Die roten Schnüre an den Seiten brauchte ich nur zu großzügigen Schleifen zu binden. Aber wird das wirklich reichen? Hoffentlich hält sie und verrutscht mir nicht ungewollt. Aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr! Waka wird mir die Hölle heiß machen, wenn ich mich nicht beeile. Die fünf Minuten dürften längst rum sein. Ich hoffe inständig, dass er mich nicht in der Luft zerreißen wird, weil ich ein oder zwei Minuten länger gebraucht habe.   „Du bist zu spät!“ Sein Drill lässt meine Ohren schmerzen. Ich hatte ja geahnt, dass er wütend sein würde … aber muss er so laut brüllen? Wir sind allein hier, es ist fast unheimlich ruhig im Café. Eine normale Lautstärke hätte es auch getan. Naja, wir sind nicht ganz allein … So gut ich kann, beeile ich mich, vor dem Tresen Stellung zu beziehen. Bemüht, nicht zu stolpern, da der eng geschnittene Rock meines Kimonos mir Schwierigkeiten beim Laufen bereitet. Es ist mir unsagbar peinlich. Gleichzeitig fluche ich innerlich über die knapp bemessene Beinfreiheit, die ich habe. Na, das kann ja heiter werden. Hoffentlich blamiere ich mich nicht oder schlimmer noch: Jemand bemerkt, dass ich unvertraut mit dieser Kleiderordnung bin. „Tut mir leid“, zwänge ich eine leise Entschuldigung hervor, die mir mit einem scharfen „Hmpf“ quittiert wird. Brav beziehe ich eine gerade Haltung und lasse meinen Blick vorsichtig zu meinem Arbeitskollegen neben mir schweifen. Shin. Von allen Möglichkeiten muss es ausgerechnet Shin sein, mit dem ich heute offensichtlich Schicht habe. Allein. Es sind nur wir beide hier. Ich bin nicht begeistert. Bisher kenne ich Shin als einen recht schroffen bis unhöflichen Charakter. Und irgendwie bezweifle ich, dass sich diese Version von meiner groß unterscheiden wird. Zum Glück werde ich nicht viel mit ihm zu tun haben, da er seine Kochuniform trägt. Er wird wohl die meiste Zeit über in der Küche sein. Immerhin. „Ist das dann damit klar? Ich erwarte wie immer von euch, dass ihr eurer Arbeit sorgfältig nachgeht. Der Kunde ist der Feind! Lasst ihn keine Sekunde aus den Augen!“ Ich seufze innerlich. Wie kann Waka mit solch einer Einstellung ein Café führen? Ich bin verwundert, dass die Kunden noch immer kommen. In meiner Vorstellung wäre das undenkbar. „Wir eröffnen das Schlachtfeld. Ihr dürft abtreten“, verkündet Waka und schlägt mit der Spitze seines Stocks kräftig auf dem hölzernen Dielenboden auf. Ich bemerke, wie Shin in eine tiefe Verbeugung vorfällt und ich beeile mich, es ihm gleichzutun. Etwas unschicklich, wie ich vermute, da ich zu wenig Zeit habe, um darüber nachzudenken, wie ich mich richtig zu verbeugen habe. Zu meiner Erleichterung sagt keiner der beiden etwas dazu. Waka stößt noch einen Laut aus, der als ein Kriegsschrei hätte durchgehen können, dann wendet er sich von uns ab, um das Geschäft für die Kunden zu öffnen. „Pass besser auf, dass du nicht noch mehr Dummes anstellst“, höre ich Shin sagen. Verwundert drehe ich mich nach ihm um. „Wie?“ „Wenn du dir heute noch mehr Patzer leistest, wirst du demnächst eine Doppelschicht schieben dürfen“, erklärt er mir, gänzlich unbeeindruckt. Anschließend zuckt er kurz mit den Schultern, ehe auch er sich abwendet. „Nicht, dass das mein Problem wäre. Aber heul‘ dann nicht rum.“ „Bitte?!“ Ich bin entrüstet. Wie stellt er mich denn bitteschön dar? Überhaupt, was erlaubt der Knirps sich, so mit mir zu sprechen?! Ich bin wesentlich älter als er. Geht der immer so mit mir um? „Ruhe!“, schallt Wakas laute Stimme durch den Raum. Ich zucke erschrocken zusammen. Mann, hat der Kerl ein Volumen! „Du!“, höre ich ihn zischen, als er an meine Seite tritt. Ich bereue sofort, meinen Kopf erhoben zu haben, denn er ringt mich regelrecht mit seinem stechenden Blick nieder. „Dafür, dass du dich verspätet hast, wirst du nach Abschluss deiner Tagesmission noch eine weitere Strafrunde leisten! Ich dulde keinen Fluchtversuch! Haben wir uns verstanden?“ „J-ja“, stammle ich leise. Verdammt, ich wage wirklich nicht, ihm zu widersprechen. Dabei gefällt mir der Ton, in dem er mit mir spricht, überhaupt nicht. Aber im Augenblick ist er mein Boss und ich kann schlecht Widerstand leisten. Oder davonlaufen. Oder nicht? „Hm!“, stößt er abfällig aus. Dann endlich entfernt er sich und ich bin von seiner Präsenz erlöst. Erleichtert atme ich aus. Doch es ist zu früh, um sich in Sicherheit zu wägen. Ich höre das melodische Glockenläuten der Tür und weiß, dass wir Kundschaft bekommen haben. Oh, Mist! Schnell – und so elegant es mir in dieser beengenden Kleidung sowie meinem Unwissen über das korrekte Maidverhalten möglich ist – eile ich zur Tür. Ich weiß nicht viel, das wird mir schlagartig bewusst, aber ich rufe einfach all meine Erinnerungen ab, wie ich mich richtig zu verhalten habe. „Willkommen zurück, mein Herr, Herrin“, begrüße ich die Gruppe junger Leute, die mir vorhin schon auf der Straße begegnet waren, und falle in eine tiefe, höfliche Verbeugung vor. Ich stutze. Ist das wirklich richtig so? Die Begrüßung klingt so seltsam in meinen Ohren. Etwa, weil sie nicht auf Japanisch ist? Aber es fühlte sich richtig an, es so zu sagen. … Moment, welche Sprache spreche ich eigentlich? Können mich die Kunden überhaupt verstehen? Mich überfällt ein Anflug leiser Panik. Aber Waka hatte mich doch auch verstanden, oder nicht? Wir haben zwar nicht viel gesprochen – er hatte mir ja gar keine Möglichkeit dafür gelassen –, aber er hätte doch sicher etwas gesagt, wenn ich für ihn komisch geklungen hätte? Plötzlich spüre ich, wie mir ein eiskalter Schauer über den Rücken fährt. Mir kommt der Gedanke in den Sinn, dass jemand versuchen würde, mich von hinten zu erdolchen. Schnell richte ich mich in eine kerzengerade Haltung auf. Ich wage es kaum, aber ich werfe einen vorsichtigen Blick über meine Schulter zurück. Hinter dem Tresen steht Waka und fixiert mich stechend durch seine Brille hindurch. Unwillkürlich schlucke ich.  Verdammt, ich war so mit meinen Zweifeln beschäftigt gewesen, dass ich nicht bemerkt habe, wie die Gruppe längst an mir vorbeigegangen ist. Oh verdammt, verdammt! Und vermutlich hat Waka alles gesehen. Gar nicht gut! Wieder beeile ich mich, in Bewegung zu kommen. Meine Kundschaft hat sich derweil selbständig einen Sitzplatz ausgesucht. Ich habe die Hoffnung, dass es sich entweder um Lauf- oder sehr tolerante Stammkunden handelt. Zumindest wirken sie nicht so, als wäre ihnen mein unprofessioneller Fehler wirklich aufgefallen. Höflich trete ich an ihren Tisch heran und zücke Block und Stift hervor. „Wie darf ich zu Diensten sein? Haben Sie bereits einen Wunsch?“ Wieder trifft mich ein eiskalter Dolchstoß mitten zwischen die Schultern. Ich erschauere, während sich meine Haltung versteift. Was habe ich denn dieses Mal falsch gemacht? „Ich hätte gern einen Kaffee“, bestellt der Junge. „Ich eine heiße Schokolade und ein Stück Käsekuchen, bitte“, das Mädchen neben ihm. Brav notiere ich ihre Bestellungen und lächle tapfer. „Hm, ich hätte Lust auf etwas Neues. Können Sie mir denn etwas empfehlen?“ Ich gefriere an Ort und Stelle. Unter anderen Umständen hätte ich den Stift aus meinen Fingern verloren, wäre er gerade nicht das Einzige, an das ich mich krampfhaft klammern kann. Oh, verdammt! Empfehlen? Ich weiß noch nicht einmal, was dieses Café überhaupt im Sortiment hat. Geschweige denn, ob es so etwas wie ein spezielles Tagesangebot gibt. Mist, was mache ich jetzt? „Ähm …“ Ich spüre den fragenden Blick des Mädchens auf mir. Und nicht nur ihren, auch die anderen beiden ihr gegenüber sehen mich erwartungsvoll an. Zu allem Überfluss ist da diese kalte Aura, die mir bedrohlich im Nacken sitzt. Mir wird fast schlecht von der Panik, die durch meine Venen jagt. „Viele unserer geehrten Kunden schätzen unseren Latte Macchiato“, lüge ich schnell und gebe mir wirklich allergrößte Mühe, es ruhig und souverän klingen zu lassen. Mit Kunden kenne ich mich immerhin aus. Verkauf und Überzeugung sind vertrautes Terrain für mich. Ich hoffe nur, dass diese Erfahrungswerte genügen werden, um mich aus dieser verzwickten Situation herauszuwinden. „Wir verwenden spezielle Bohnen für unsere kaffeehaltigen Getränke. Dazu kann ich Ihnen ein Stück Maidkuchen empfehlen oder ein erfrischendes Fruchtparfait nach Art des Hauses. Natürlich stellen wir all unsere Gerichte von Hand her. Frisch auf Bestellung des Kunden.“ Sie wirkt nicht sehr glücklich mit meiner Antwort. Die Art, wie sie mit der schmal-länglichen Speisekarte herumspielt, lässt mich das Schlimmste vermuten. Aber was bleibt mir schon anderes übrig? „Ein Sandwich wäre mir lieber“, sagt sie dann, zu allem Überfluss. Es klingt wie ein Todesurteil für mich. „Haben Sie nicht so etwas in der Art?“ Fest presse ich die Lippen aufeinander. Woher soll ich das denn wissen? Ich weiß ja nicht einmal, was ich hier mache. „Sie entschuldigen.“ Ich sterbe gefühlt tausend Tode, als plötzlich Waka neben mir aufgetaucht ist und das Kundengespräch an sich reißt. Unwillkürlich versteife ich mich und wage nicht, zu ihm aufzublicken.  „Gestatten? Mein Name ist Waka. Ich bin der Geschäftsführer dieses Cafés. Kann ich vielleicht irgendwie behilflich sein?“ Wow. Ich bin wirklich erstaunt. Waka kann also auch höflich sein? Auch wenn seine Stimme klingt wie das Klimpern von Eiswürfeln, so spricht er zumindest förmlich mit der Kundin. Zudem ist er genau im richtigen Moment eingesprungen. Mein ersehnter Retter in der Not! Gott sei Dank. „Ich hätte Lust auf ein Sandwich“, erklärt sie. Ich bin nicht sicher, ob ich zu viel hineininterpretiere, aber sie macht den Eindruck auf mich, als sei sie ein bisschen von meinem Boss eingeschüchtert. Sie sieht nicht zu ihm auf, sondern prüft lieber den Inhalt der Speisekarte. „Haben Sie hier so etwas?“ „Selbstverständlich“, gibt sich Waka höflich. Sein Blick richtet sich auf mich, als er sagt: „Ich übernehme hier. Gib der Küche schon einmal die übrige Bestellung.“ „J-ja“, antworte ich schnell, verbeuge mich brav vor der Kundschaft, ehe ich mich abwende. Das Herz ist mir bis in die Hose gerutscht bei dem, was sich soeben abgespielt hat. Ich bin Waka wirklich ausgesprochen dankbar dafür, dass er mich erlöst hat. Neben dem Türrahmen zum Hinterbereich wartet bereits Shin auf mich. „Sag mal, was sollte das denn gerade darstellen? Man hatte das Gefühl, du arbeitest den ersten Tag hier“, tadelt er mich. ‚Ach nee!‘, will ich ihm am liebsten entgegenschmettern, verkneife es mir jedoch. Etwas sagt mir, dass ich mir besser nicht anmerken lassen sollte, dass ich tatsächlich keinen blassen Dunst von meinem Tun hier habe. Das vorhin war schließlich auch nur hohes Pokern von mir gewesen, mehr nicht. Und ich habe das Spiel zu allem Überfluss auch noch verloren. „Hier ist die Bestellung“, lenke ich vom Thema ab und trenne den Zettel aus meinem Block heraus, um ihn Shin zu überreichen. Nur kurz wirft er einen Blick darauf. „Was ist das?“, fragt er mich. „Was?“, frage ich irritiert zurück. Shin wendet das Blatt in seiner Hand und hält es vor mir in die Höhe. „Die Schrift“, bemerkt er. Unmissverständlich deutet er mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand auf mein Geschriebenes. „Lateinschrift? Ist das dein Ernst?“ Mich durchfährt ein Schock. Ich hatte gar nicht darauf geachtet, wie ich schreibe. Vielleicht ging ich davon aus, dass wenn ich – wie es scheint – eine andere Sprache spreche, ich sie auch automatisch schreibe. Da lag ich wohl falsch. „Es musste schnell gehen“, presse ich leise hervor. Was sonst soll ich auch dazu sagen, ohne dass es wie eine offensichtliche Lüge klingt? Skeptisch senkt er die Augenbrauen. Mir scheint, als wolle er mich in meiner Überzeugung prüfen. Dann endlich seufzt er geschlagen und zuckt abtuend mit den Schultern. „Wenn du meinst.“ „Ah, Shin!“, rufe ich ihm eilig nach, gerade als er sich umgedreht hat und zum Gehen ansetzt. Mit einer Mischung aus Verwirrung und Gereiztheit sieht er zu mir zurück. „Was ist noch?“ „Ähm, also …“ Es ist mir äußerst unangenehm, ihm diese Frage stellen zu müssen. „Die Kundin eben hat mich gefragt, was ich ihr empfehlen kann … Haben wir so etwas wie ein Tagesangebot oder so?“ Ich erkenne die Skepsis in seinem Blick. „Was ist heute nur los mit dir?“, macht er mir zum Vorwurf. Es folgt eine kurze Pause darauf. Schlussendlich seufzt er geschlagen und wendet sich mir noch einmal zu. „Du verhältst dich heute wirklich seltsam. Natürlich haben wir ein Tagesangebot. Inzwischen solltest du das wissen.“ Ja, vermutlich sollte ich das. Ich hatte schon vorher die Vermutung, dass ich schon länger hier arbeiten musste. Zumindest laut Ansicht der anderen. Shin bestätigt mir nur, was mir Waka bereits durch das Dornengebüsch zu verstehen gegeben hatte. So viel hatte selbst ich bis hierhin begriffen. „Aber wer lieber zu spät kommt, als seine Verpflichtungen ernst zu nehmen, kann das natürlich nicht wissen. Dummkopf!“ Ich beiße fest die Zähne aufeinander. Mir liegt ein Kommentar zu seiner abfälligen Art auf der Zunge, aber ich verkneife ihn mir lieber. Vorerst. „Wenn der nächste Kunde fragt, kannst du ihm sagen, dass wir heute Frühlingssuppe im Angebot haben. Wenn er dazu nach einem passenden Getränk fragt, biete ihm Grünen Tee oder Earl Grey an. Desserts haben wir aktuell noch Käsekuchen, Rote Bohnenkuchen und Eclair. Muffins bereite ich gleich noch auf, anschließend werde ich Windbeutel zubereiten. Biete den Kunden heute bitte keine Ciabatta an, der Bäcker hatte keine. Du kannst alternativ Toast anbieten oder ich backe Minibrote auf. Ansonsten das Übliche.“ Stumm nicke ich, während ich ihm aufmerksam zuhöre. Ich denke, dass ich mir die Dinge merken kann. Für den Anfang muss es genügen, wenn ich mich auf das konzentriere, was er mir anrät. „Soll ich dir den Rest der Speisekarte auch noch aufzählen?“, will Shin wissen und gibt sich ganz bewusst keinerlei Mühe, seinen vorwurfsvollen Unterton vor mir zu verbergen. Leise schnaube ich durch die Nase aus. „Nein, danke“, lehne ich ab. „Das sollte fürs Erste genügen. Alles andere kann ich ja notfalls nochmal nachlesen. Hab‘ vielen Dank für deine Hilfe.“ „Wenn noch etwas ist, komm mich fragen.“ „Danke, mache ich.“ „Also dann.“ Er wendet sich ab und verschwindet in Richtung Küche. Ich gestehe es ungern, aber ich bin Shin wirklich sehr dankbar für seine Hilfe. Auch, dass er so viel Nachsicht mit mir gezeigt hat. Wenngleich er es auch mit etwas mehr Nettigkeit hätte versehen können. Aber naja, sei’s drum. Ich hatte mir nichts anderes von ihm erwartet. Wenn ich ehrlich bin, sogar weit weniger als das. Vielleicht ist Shin ja doch kein so schlechter Kerl, wie ich ihn immer zu sehen versuche. Ein erstes Lächeln zaubert sich mir an diesem verrückten Tag auf die Lippen. „Hey!“ Und stirbt auch schon eines erbarmungslosen Todes. „Was gibt es zu lächeln? Was stehst du hier überhaupt unnütz herum?! Kehr auf der Stelle auf das Schlachtfeld zurück! Unser Kampf hat gerade erst begonnen!“ „J-jawohl!“ „Im Übrigen …“ Ich halte abrupt inne. Waka hat wirklich ein perfektes Timing. Gleich an seiner Seite stehe ich wie festgewachsen und kann nicht verhindern, dass ich sein frostiges Raunen direkt an meinem Ohr vernehme. „Für deine Unzulänglichkeit eben wirst du zur Rechenschaft gezogen werden. Die Anzahl deiner Strafrunden hat sich soeben verdoppelt.“ Mir ist wirklich zum Heulen zumute. „Jawohl …“   Mit jedem Kunden, den ich bediene, werde ich sicherer in meiner Arbeit. Die Begrüßung fällt mir leichter und ich verpasse es kein zweites Mal, die Kundschaft an ihren Platz zu führen. Mit der Annahme der Bestellungen bin ich noch etwas unsicher, doch ich nutze die freien Minuten, um hinter dem Tresen das Angebot unserer Speisekarte zu studieren. Ich bin mir sicher, wenn ich die ersten zwei oder drei Tage heil überstanden habe, werde ich meine Arbeit gut machen. Zumindest gut genug, dass Waka mich nicht mehr ständig im Auge behält. Ich spüre jeden einzelnen Moment, in dem sein Blick auf mir ruht. Und genauso befreiend ist es jedes Mal, wenn er für einige Zeit in der Küche verschwindet, vermutlich um nach Shin zu sehen. Wobei es fraglich ist, ob ich überhaupt so lange in dieser Welt bleiben werde. Darüber nachzudenken, mich an diese Schoße gewöhnen zu wollen, erscheint mir irgendwo lachhaft. Das wäre absurd, oder nicht? Es ist wahrscheinlicher, dass ich träume, wenn sich auch alles ziemlich real anfühlt. Aber ich rede es mir ein, ich versuche es zumindest. Anders lässt sich diese Situation nicht erklären. Sie ist nicht logisch, in keinem Punkt. Schlussfolgernd muss es ein Traum sein, und er wird enden. Früher oder später. Doch bis es soweit ist, will ich das Beste daraus machen. Allein schon, weil ich zu stolz bin, in meinem eigenen Traum zu versagen. Und, hey, es könnte schlimmer sein! Das hier ist immerhin das Amnesia-Universum. Ich wäre dumm, mich zu beklagen. Zu meiner Erleichterung fällt mir das Bewegen im Kimono allmählich leichter. Das Schuhwerk ist zudem sehr bequem, womit ich nicht gerechnet hätte. Lediglich das stetige Aufrechtgehen mit kleinen Schritten gestaltet sich für mich anstrengend. Ich rechne jetzt schon damit, am Abend Rückenschmerzen zu haben. Ein kleineres Übel, wie mir scheint. Omelette stellte sich mir schnell als die meist verhasste Bestellung heraus. Beim ersten Mal hatte ich ganz vergessen, dass es Tradition in Japan ist, das simple Eigericht auf Kundenwunsch mit einem kleinen Ketchup-Motiv zu verzieren. Und das, wo ich zwei künstlerisch linke Hände habe … Aber die Kunden des »Meido no Hitsuji« scheinen allesamt sehr nachsichtige Leute zu sein. Keiner hat sich über meine mangelhafte Kunst bislang beschwert.   Zum späten Nachmittag hin füllt sich das Café zusehends. Seit einer halben Stunde habe ich Mühe, mit dem Kundenempfang, der Bestellungsaufnahme, dem Servieren, Abräumen und Säubern hinterherzukommen. Der Abwasch am Tresen ist gänzlich liegen geblieben, seit Waka in der Küche verschwunden ist, um dort Shin unter die Arme zu greifen. Ich hoffe auf einen baldigen ruhigen Moment, um diese Arbeit nachzuholen. Bei meinem letzten Kundenpärchen habe ich gesehen, dass mir allmählich Gläser und Becher ausgehen. Nicht gut. Ich kehre gerade in Richtung Küche zurück, um Shin die nächste Bestellung zu übergeben, als mir in der Tür ein unerwartetes Hindernis in die Quere kommt. Ich kann in meiner Eile nicht mehr rechtzeitig bremsen und laufe der Person, die gerade in den Cafébereich treten will, direkt in die Arme. „Hoppla, schön langsam“, höre ich eine jung klingende Männerstimme zu mir sagen. Der sanfte, melodische Klang lässt mein Herz sich augenblicklich überschlagen. Ich kenne diese Stimme! Unter tausend anderen würde ich sie jederzeit wiedererkennen. „Nanu? Hattest du es etwa so eilig, mich wiederzusehen?“ Ich kann das amüsiert-süffisante Lächeln aus diesen Worten zweifellos heraushören. Obgleich die ruhige Sänfte weiterhin überwiegt. „Tut mir leid!“, haste ich eine Entschuldigung hervor. Die Art, wie meine Stimme dabei in die Höhe schnellt, ist mir selbst unsagbar peinlich. Jetzt bloß nicht nach oben sehen! „Normalerweise habe ich nichts gegen eine solch stürmische Begrüßung einzuwenden, aber in Front der Kundschaft erscheint mir das nicht sonderlich angemessen. Bedauerlicherweise.“ Waah, sei still! Sei still! „Soll ich vielleicht ein Stück zurückgehen, damit du mich abseits unseres Publikums noch einmal richtig begrüßen kannst?“ „Nicht notwendig!“ – Nein! Schon wieder zu überschlagen! Ich trete zwei Schritte zurück und lasse mich in eine Verbeugung vorfallen. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint … Ich habe nicht richtig aufgepasst.“ Das leise Lachen, das ich daraufhin ernte, lässt mein Herz flattern wie die Flügel eines Schmetterlings. „Kein Grund zur Entschuldigung. Wenn, dann sollte ich derjenige sein, der sich bei dir entschuldigt.“ Nur zögerlich wage ich aufzusehen. Mein Blick haftet sich auf das fein geschnittene Gesicht meines Gesprächspartners, das von weißsilbernem Haar umrahmt wird, ohne nach seinen Augen zu suchen. „Tut mir leid, dass du warten musstest. Hast du die drei Stunden ohne mich gut überstanden? Hattest du viel zu tun?“ Ich blinzle überrascht. Drei Stunden? So lange bediene ich hier schon? Es ist mir gar nicht so lang vorgekommen. Vielleicht, weil ich kaum Gelegenheit hatte, um auf die Uhr zu schauen? Aber einmal ganz davon abgesehen, dass sich mir jetzt wieder die Frage aufdrängt, wieso ich das hier eigentlich alles mache, gestaltet sich mir gerade noch ein ganz anderes Problem. Ikki ist im Café aufgetaucht. Er steht genau vor mir. Jetzt, in diesem Augenblick. Live und in Farbe. Ich kann den schwachen Duft eines milden Eau de Toilette von ihm ausgehend vernehmen. Damit steht mir meine persönlich größte Herausforderung gegenüber. Die Person, vor der ich insgeheim am meisten Angst hatte, ihr zu begegnen. Obwohl ich wusste, dass es unausweichlich sein würde. Früher oder später. Und das sollte wohl nicht einmal mein größtes Problem sein. Anhand der Reaktionen von Waka und Shin auf mich, und der Art, wie sie mit mir umgehen, arbeite ich schon länger mit ihnen zusammen. Ich existiere schon länger in dieser Welt. Sie verbinden Erinnerungen mit mir. Wie lange schon? Und was noch viel wichtiger ist: Welche Beziehungen habe ich zu ihnen? Kapitel 2: Hürdenlauf --------------------- Dank Ikkis Unterstützung entspannt sich die Situation allmählich. Er hat sofort bemerkt, dass ich mit meiner Arbeit nicht mehr hinterhergekommen bin, und hat angeboten, dass er die Kunden vorübergehend allein übernimmt. Dafür bin ich dankbar, denn ich muss mich wirklich dringend um den liegengebliebenen Abwasch kümmern, sonst bekommen wir sehr bald Schwierigkeiten. Zumal ich mir nicht ausmalen mag, wie Waka reagieren würde, wenn er das Chaos hinter dem Tresen vorfindet. Sofort kümmere ich mich um das dreckige Geschirr. Teller und Besteck bringe ich nach hinten in die Küche und hole zugleich Nachschub an selbigem. Vorne am Tresen habe ich mir zuvor heißes Spülwasser eingelassen, um mich eigenhändig um Gläser, Tassen und Becher zu kümmern. Ich muss leise mit meiner Arbeit sein, um die Kunden nicht zu stören. Aber egal wie, ich muss sie erledigen. Während ich mich um den Abwasch kümmere, kommen mir wieder die ganzen Fragen auf, die ich bisher verdrängt hatte. Oder vielmehr hatte ich keine Zeit, mich ihnen zu widmen. Doch jetzt genieße ich zum ersten Mal einen kurzen Moment der Entspannung und kann meine Gedanken schweifen lassen. Was mache ich hier eigentlich? Wie ist das möglich? Das alles erscheint mir so surreal. Gleichzeitig schwinden die Zweifel, dass das hier wirklich passiert. Ich stehe tatsächlich hier im Café, tauche meine nackten Hände in das heiße Wasser und spüle Gläser mit geröteten Fingern. Mir steigt der Duft des Spülmittels in die Nase. Es riecht blumig. Das ist kein Traum. So krank wäre ich auch nicht, ausgerechnet von solch einer Arbeit zu träumen, oder doch? Dass es sich um eine Verwechslung handeln könnte, kann ich ebenfalls ausschließen. Am Spind war mein Name angebracht gewesen. Ich bin hier offenbar angestellt. Aber wie? Lebe ich nicht eigentlich in Deutschland? Ich hatte dort ebenfalls eine berufliche Tätigkeit, und die hatte beileibe nichts mit Kellnern zu tun. Oder war's das jetzt und ich bin komplett meschugge? Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Wie ich es auch drehe und wende, es ergibt keinen Sinn für mich. Ich komme auf keinen Nenner. Und ich weiß schon gar nicht mehr, was mich am meisten beunruhigen sollte. Dass ich mich hier in einer Welt sehe, in der es mir unmöglich sein dürfte zu sein, oder dass ich keine Möglichkeit erkenne, aus dieser abstrusen Situation herauszukommen? „Kommst du zurecht?“, werde ich aus meinen kreisenden Gedanken gerissen. Dieses Mal ist es mir möglich, einigermaßen nüchtern auf diese glockenhelle Männerstimme zu reagieren, die mir das Gefühl gibt, in Watte gepackt zu sein. Vielleicht bin ich auch einfach nur zu ausgelaugt von den ganzen Wirrungen, die in meinem Kopf vorherrschen. Ich blicke von meiner Arbeit auf. Ikki hat sich zu mir gesellt und platziert das Tablett, welches er geübt auf seiner Hand balanciert hatte, mit etwas Abstand auf dem Arbeitsbereich des Tresens. „Mhm, alles okay“, fasse ich mich und nicke zur Unterstreichung. „Shin hat mir vorhin erzählt, dass du heute ein wenig von der Rolle bist“, erzählt Ikki, wobei er zwei weitere Tassen und einen leeren Eisbecher zu meiner restlichen Arbeit stellt. Bitte? Wann hat Shin ihm diesen Bockmist erzählt? Wie kommt er dazu? Boah, dieser kleine …! Schnell wende ich mich wieder dem Abwasch zu. Ich konzentriere mich auf meine Hände, um meine Arbeit schneller voranzubringen. Wut brodelt in mir auf, die sich mit der mir aufkeimenden Scham ungesund vermischt. Was fällt diesem Knirps ein? Wieso erzählt er Ikki das? Ich habe mich doch die letzten Stunden wacker geschlagen. Kann er es nicht einfach darauf beruhen lassen? Echt, das macht mich so unsagbar wütend! „Er hat mich gebeten, ein Auge auf dich zu haben. Wenn du also Hilfe oder meine Unterstützung bei etwas benötigst, scheu dich nicht, mich zu fragen.“ Na klar, sicher. Boah, Shin, du kleiner …! Wieso musst du mich so blamieren? Was habe ich dir getan? Als ob das Ganze nicht schon schlimm genug für mich wäre. Aber vermutlich weiß er das gar nicht. Klar, woher auch? Aber das gibt ihm noch lange keinen Freifahrtschein, mich so vor Ikki bloßzustellen! „Ne, muss ich mir Sorgen machen?“, höre ich Ikkis gedämpfte Stimme plötzlich sehr nah an meinem Ohr raunen. Ich zucke vor Schreck zusammen. Zum Glück haben sich meine Hände unter Wasser befunden, anderenfalls hätte es einen unschicklichen Lärm ergeben, wenn ich die Tasse, die ich gerade abwaschen will, aus meinen Fingern verloren hätte. Mir steigt augenblicklich die Hitze in die Wangen. Mein Herz gerät in einen aufgebrachten Rhythmus. Nicht nur, dass ich mich erschrocken habe, Ikkis leise Stimme versetzt mir den Rest. Verdammt, er ist so nah! „A-alles okay“, wiederhole ich, als sei es das Einzige, was ich drauf habe. Verdammt, und stammeln tu ich auch noch! „Sicher?“, prüft er nach. Seine Tonlage ist so ruhig und sanft, dass ich am liebsten Reißaus vor ihm nehmen möchte. Was ist nur los mit mir? Ich bin doch sonst nicht so feige … Ich verhalte mich ausgesprochen albern. „Wenn du eine Pause brauchst, sag Bescheid“, fährt er leise fort. Ich habe die Vermutung, dass er deswegen so gedämpft spricht, damit unser Gespräch die Kundschaft nicht stört. Zumindest hoffe ich das. „Ich kann gern einige Zeit allein übernehmen. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem ich dich so lange mit der Arbeit allein gelassen habe. Ach, da fällt mir ein“, ergänzt er noch, gerade als ich die Hoffnung hatte, erleichtert aufatmen zu können. Fragend sehe ich zu ihm auf. Inzwischen hat er sich wieder von mir entfernt und steht nun am anderen Ende des Tresens, von wo aus er sich zurück in die Bedienung begeben wollte. Erneut kommt er auf mich zu, hält aber dieses Mal einen höflichen Abstand von einem Meter zu mir. „Ich soll dir vom Boss ausrichten, dass du eine Pause einlegen darfst. Aber mach besser erst die Arbeit fertig, ehe er noch das Feuer auf uns alle eröffnet.“ Sein schelmisches Zwinkern bewegt mein Herz zu einem weiteren Purzelbaum. So unauffällig ich kann, wende ich den Blick von ihm ab. Im Stillen erinnere ich mich daran, ihm nicht zu lange in die Augen zu schauen. Ich weiß genau, was sonst passiert. Höchstwahrscheinlich. Auch wenn es auf dieser Distanz weniger wirksam sein dürfte. „Danke“, sage ich leise. „Wenn es dann für dich okay ist, würde ich eben noch den Abwasch beenden und mir dann eine kurze Pause gönnen.“ Aus dem Seitenblickwinkel erkenne ich, dass er nickt. Dann wendet er sich ab und dem nächsten Tisch zu, an dem eine Kundin in der kleineren Frauenrunde mit der Tischglocke geläutet hat.   Kurz darauf bin ich mit dem Abwasch fertig. Das saubere Geschirr habe ich zurück an seinen Platz gestellt, was nicht schwer herauszufinden war. Spülbecken habe ich bereits gereinigt und gerade übernehme ich noch das Wischen der Tresenplatte. Als ich mit allem fertig bin, zögere ich kurz. Ich sehne mich tatsächlich einer Pause entgegen, aber ich halte es für höflich, Ikki zuvor Bescheid zu sagen, ehe ich im hinteren Bereich verschwinde. Also täusche ich vor, die Schränke abzuwischen, um nicht wie nutzlos dazustehen. „Bist du fertig?“, höre ich wenig später Ikki sagen, nachdem er von seinem letzten Serviergang zurückgekehrt ist. Ich nicke, ehe ich meinen Blick von dem Wandkalender löse, den ich prüfend studiert hatte. „Ja, alles fertig. Ich würde dann jetzt gern Pause machen“, erkläre ich. Er erwidert mein Nicken mit einem milden Lächeln auf den Zügen. „Na klar, tu dir keinen Zwang an. Ich übernehme solange. Gönn dir deine wohlverdiente Auszeit.“ Erneut nicke ich, rühre mich jedoch nicht vom Fleck. „Stimmt etwas nicht?“, hakt Ikki besorgt nach, als er mein Zögern bemerkt. Derweil habe ich die Hände vor meinem Schoß verschränkt. Mein Blick haftet unsicher auf dem Dielenfußboden. Mir liegt tatsächlich etwas auf der Seele, aber ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll. „Vorhin“, spreche ich zögerlich, ehe ich kurz stocke. „Also vorhin, als du mit Shin über mich gesprochen hast … Was hatte Shin da genau gesagt?“ Ich wage nicht aufzusehen, glaube aber zu wissen, welcher Ausdruck sich auf Ikkis schönem Gesicht abspielt. Er muss zu Recht verwundert sein, dass ich erst jetzt verspätet auf diese Sache zurückkomme. Zumal man diese Frage auch missverstehen könnte, wenn man in die falsche Richtung denkt. Ich hoffe wirklich inständig, dass Ikki meine Frage nicht falsch interpretiert. „Als er mich gebeten hat, ein Auge auf dich zu behalten?“, will er sichergehen, dass er mich richtig verstanden hat, woraufhin ich kurz nicke. „Naja“, setzt er eine Antwort an und hebt den Arm, um sich in einer Geste eine Strähne hinter das Ohr zu streichen. Aus irgendeinem Grund tut er es nicht, sondern legt sich galant die Finger um das Kinn. „Er hat mir lediglich gesagt, dass du heute ein wenig unkonzentriert zu sein scheinst. Du sollst Fehler gemacht haben, die dir sonst nicht unterlaufen, und er musste dich darauf hinweisen.“ Ich schlucke bei diesen Worten, lasse mir den aufkommenden Unmut jedoch nicht anmerken. Erst einmal zuhören, ermahne ich mich ruhig. „Ich sollte daher heute etwas mehr darauf schauen, was du tust. Und wenn mir etwas auffällt, das mir unüblich an dir erscheint, dich darauf ansprechen. Nicht, dass ich das als Anlass benötigen würde“, bemerkt er unnötig, was mich unter anderen Umständen durchaus hätte schmunzeln lassen. Doch das hier war nicht witzig, nicht im Geringsten. „Auf jeden Fall“, setzt er fort, als er merkt, dass sein Einschub keine Reaktion in mir hervorgerufen hat, „ich denke, dass er damit wohl vermeiden wollte, dass du weiteren Ärger bekommst. Zumindest ließe sich das schlussfolgern, wenn ich bedenke, dass er Waka-sans Abwesenheit abgewartet hat, um mit mir darüber zu sprechen.“ „Oder er wollte mich nur ein wenig vor dir aufziehen“, entgegne ich, was weniger böse gemeint ist, als ich gern den Anschein erwecken würde. Im Gegenteil, ein Lächeln hat sich auf meine Lippen geschlichen. „Ihr beide könnt es einfach nicht lassen, was?", amüsiert er sich hörbar. „Ihr müsst einander immer wieder necken, du und Shin.“ „Naja, was muss, das muss“, erkläre ich schmunzelnd, als würde ich voll und ganz mit seiner Vorstellung mitgehen, dass das ganz normal zwischen uns ist. „So? Nun, wenn dem so ist …“ Er senkt die Stimme herab zu einem Raunen, das meine Wangen augenblicklich kribbeln lässt. „Vielleicht sollte ich mir dann ein Beispiel daran nehmen und dich ebenfalls hin und wieder ein wenig necken? Das wäre doch okay, nicht wahr?“ Wawawas? Sollte diese Frage vielleicht ein schlechter Scherz sein? Er tut es doch bereits! Und das ausgesprochen erfolgreich. In diesem Moment will ich ihn hassen. Dafür, dass er solche Dinge vom Stapel lassen kann mit einem unverhohlenen Unschuldslächeln, als hätte er beiläufig angemerkt, dass wir herrliches Wetter haben. Und dafür, dass es ihm selbst damit noch möglich ist, mich aus dem Konzept zu bringen. Scheinbar mühelos. Dämliches Spiel, in dem Frau nicht gewinnen kann! „Sei besser lieb zu mir“, wispere ich in dem verzweifelten Versuch, wenigstens etwas Widerstand zu leisten. Es genügt jedoch nicht, um ihm länger ins Gesicht sehen zu können. Ich wende meinen Blick von ihm ab. Auf der Suche nach etwas, womit ich mich aus diesem Gespräch flüchten kann, fällt mir wieder der Kalender ins Auge. Während ich ihn betrachte, kommt mir ein Gedanke.  „Also hat er keine seltsame Bemerkung gebracht?“, frage ich, ohne Ikki anzusehen. „Hm? Welche Art von Bemerkung?“ „Weißt du, was er zu mir gesagt hat?“, greife ich diese einmalige Gelegenheit auf. Ich muss entweder ein Genie sein oder Ikki doch ein klein wenig naiv, dass er so leicht auf mein Ablenkungsmanöver angesprungen ist. „Er hat gemeint, dass ich mich anstelle, als sei ich den ersten Tag hier. Fies, nicht?“ Ich höre Ikki leise auflachen. „Wohl wahr, aber den Eindruck hatte ich bisher nicht.“ „Wir haben schon Dezember.“ Kurz lasse ich diese Tatsache auf mich wirken, während ich weiter auf das Kalenderblatt starre. Und dessen Monatsüberschrift. „Erstaunlich, wie die Zeit vergeht. Ich habe manchmal das Gefühl, schon ewig hier zu arbeiten.“ „Es ist jetzt bald ein Monat“, verkündet er mir, womit dieser Sieg endgültig an mich geht. Allerdings trifft mich diese Information wie ein Schlag. Mitten in die Magengrube. Oder ins Genick oder auf den Kopf, ich bin mir da nicht ganz sicher. Mir wird übel. Ich muss mich extrem zusammenreißen, nicht wie ein Fisch nach Luft zu schnappen. „Die Zeit ist wirklich schnell vergangen“, spricht Ikki derweil weiter, was ich nur noch am Rande vernehme. „Du hast dich erstaunlich schnell an alles gewöhnt. Der Boss war immer zufrieden mit deiner Leistung. Umso besorgniserregender ist es, dass du heute so neben dir gestanden haben sollst. Und das ausgerechnet an einem Tag, an dem ich erst später anfangen konnte.“ Was auch immer. Mir egal. Alles egal. Seit einem Monat? „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“, höre ich Ikki fragen. Es sind weniger seine Worte, als dass ich bemerke, wie er auf mich zukommt, weshalb ich zu ihm aufsehe. „Du siehst ein wenig blass aus. Wie wäre es, wenn du jetzt erst einmal in die Pause gehst? Ich kümmere mich solange um alles.“ „Mh.“ Ich nicke. Langsam wieder Herr meiner Sinne, ringe ich mir außerdem ein bemühtes Lächeln ab. „Danke, werde ich machen.“   Draußen ist es deutlich abgekühlt. Nicht so sehr, wie ich es in Erinnerung habe, aber doch spürbar. Es ist bereits dunkel, obwohl es gerade einmal gegen sechs Uhr abends ist. Aber das hat der Winter nun einmal so an sich. Ich ziehe mir den Reißverschluss meines Mantels hoch bis zum Kinn. Auf die Knöpfe verzichte ich. Aus meiner einen Jackentasche ziehe ich eine rote Schachtel heraus, aus der anderen ein Feuerzeug. Binnen zweier Anläufe habe ich mir die Zigarette angesteckt und genieße meinen ersten, tiefen Zug. Beruhigend. Meine schlechte Angewohnheit des Rauchens habe ich also auch hier inne. Oder ist es nur, weil ich mich daran erinnere, es zu tun? Ganz gleich. Auf jeden Fall tut es gut, sich die Entspannung einzureden, während man durch das Inhalieren des Nikotins angeblich die Nerven beruhigt. Glaube das, wer will. Ist mir egal. Ich blicke auf in den dunklen Nachthimmel. Erste Sterne lassen sich blicken. Ebenfalls eine beruhigende Tatsache. Ich könnte mir fast einreden, gar nicht weit weg von zu Hause zu sein. Fast. Ein Monat. Der Gedanke verdient einen weiteren, hingebungsvollen Zug. Ich arbeite also schon seit einem Monat hier. Zumindest laut Ansicht der anderen. Seltsam. Ein wirklich seltsamer Gedanke. Grotesk. Ich weiß gar nicht, was ich dahingehend empfinden soll. Wie ist das zu erklären? Habe ich irgendetwas verpasst? Fehlt irgendein Teil in meiner Erinnerung? … Nein, selbst dann würde das alles noch keinen Sinn ergeben. Gemessen an dem Faktum, wo ich bin. Aber ich bin hier, richtig? Ich stehe hier, vor dem Seiteneingang des »Meido no Hitsuji« und ziehe genüsslich eine Kippe durch. Müsste ich nicht selbst dieser Realität ins Auge blicken, würde ich frei darüber lachen. Aber ist es denn überhaupt witzig? Das alles erscheint mir unerheblich. Es ist die Realität. So hart es auch ist, diese Tatsache anzunehmen. Anstatt sie anzuzweifeln, sollte ich mir lieber Gedanken darum machen, wie ich ihr entgegentrete. Alles andere führt doch nur im Kreis. Und ob mich das voranbringen wird, bezweifle ich stark. Ich nehme einen weiteren Zug von meiner Zigarette. Während ich einziehe, versuche ich all meine Gedanken und Zweifel zu ersticken. Nur für einen kurzen Moment, für jetzt. Indem ich ausatme, den Rauch aus meiner Lunge stoße, fasse ich meinen Entschluss. Entschieden drücke ich den Stummel in dem bereitstehenden Aschenbecher aus. Ich werde nicht klein beigeben! Ich bin immer noch ich. Ganz gleich, wo ich bin. Damit beende ich meine Pause und kehre ins Innere zurück.   Erholt und gestärkt kehre ich wenig später ins Café zurück. Ich hatte Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen, und nachdem ich auch etwas gegessen habe, fühle ich mich schon sehr viel besser. Shin hatte mir netterweise verraten, dass ich als Mitarbeiterin nicht zu bezahlen brauche, was ich verzehre. Solange es sich in einem Grenzwert hält. Ich habe vorsichtshalber dennoch versprochen, mir das nächste Mal ‚wieder‘ etwas mitzubringen, um niemandem zur Last zu fallen. Ich gehe erneut meiner Arbeit nach. Zu meinem Erstaunen ist das Café auch zum Abend noch gut besucht. Wobei nicht zu verachten ist, dass die Kundschaft im überwiegend weiblichen Anteil dominiert. Man muss wirklich kein Verhaltensexperte sein, um zu wissen, dass der Grund dafür Ikki ist. Ich komme nicht umhin, zu bemerken, wie er öfter als nötig an einen Tisch gerufen wird, nur damit die Damen von jung und alt etwas mehr von seiner zuvorkommenden Aufmerksamkeit erhaschen können. Ich versuche es so gut ich kann zu ignorieren. Wichtiger ist, dass ich meine Arbeit gut mache und mir keinen weiteren Patzer erlaube. Der Tag war aufregend genug für mich gewesen, um weitere Überraschungen zu meiden. Dabei kommt es mir sehr gelegen, dass Waka immer seltener außerhalb der Notwendigkeit im Cafébereich vorbeischaut. Ein Aufpasser scheint also für mich zu genügen. Gut zu wissen. Eine weitere Kundenbestellung muss an die Küche weitergereicht werden. Ich gehe dieser Aufgabe sofort nach und staune nicht schlecht, als mir Shin im Flur begegnet. In seinen Alltagsklamotten. „Shin?“, spreche ich ihn zögerlich an. „Gehst du?“ Er beendet sein kurzes Gespräch mit Waka, erst dann wendet er sich mir zu. Auf seinem Rücken liegt eine Tasche, die er sich eher halbherzig über die Schulter geworfen hat. „Ich mache Schluss für heute“, erklärt er knapp. „Ich habe noch etwas zu erledigen.“ „Mh, verstehe“, entgegne ich, auch wenn es nur die halbe Wahrheit ist. „Dann … komm gut heim. Gute Arbeit heute.“ Ich erkenne, wie er daraufhin die Augenbrauen nach unten verzieht. Auf sein Gesicht spielt sich ein fragender Ausdruck, den ich nicht richtig zu deuten weiß. „Was ist?“, will ich vorsichtig wissen. Habe ich irgendetwas falsch gemacht? „Geht es dir inzwischen wieder besser?“, erkundigt er sich, nachdem er noch kurz gezögert hatte, und sieht mich unverwandt an. Ich wage den Gedanken kaum zu formulieren, aber kann es sein, dass er sich tatsächlich Sorgen um mich gemacht hat? Ich lächle, nur ganz leicht. „Ja.“ Das scheint ihn nicht recht zu überzeugen, also füge ich hinzu: „Ja, es geht mir wieder besser. Verzeih, dass ich dir solchen Ärger bereitet habe. Und Waka-san. Ich stand wohl etwas neben mir.“ Seine Brauen rutschen noch ein Stück tiefer. Ich kann es nur vermuten, aber ich glaube, dass er gern etwas dazu sagen oder fragen würde. Warum er es nicht tut, ist mir selbst schleierhaft. Betrachtet, wie er sich sonst den ganzen Tag mir gegenüber verhalten hatte. „Ich hatte die letzte Zeit viel Stress, privat“, gebe ich ihm eine Erklärung, die nicht gänzlich gelogen ist. „Vielleicht war ich etwas überanstrengt und müde.“ „Aha.“ Mehr kommt nicht von ihm. Ich bin fast enttäuscht. Er dreht sich weg. Ich rechne schon damit, dass er jetzt ohne Weiteres gehen wird, da spricht er: „Dann solltest du heute vielleicht früher ins Bett gehen und dich etwas ausruhen. Zu viel Stress ist auf die Dauer ungesund. Außerdem verletzt du sonst noch jemanden.“ Ich bin nicht ganz sicher, ob er mich tadelt oder sich um mich sorgt. Laut der Art, wie er es sagt, ist es ein Tadel gepaart mit einem unterschwelligen Vorwurf. Laut dem, was er sagt, könnte es gutgemeinte Sorge sein. Mensch, Shin! Kannst du dich nicht wenigstens in solch einem Moment etwas verständlicher ausdrücken? „Mache ich“, verspreche ich dennoch, entgegen allen Unmuts. „Gut. Also dann.“ „Shin!“ Ich rufe ihm nach, gerade als er sich in Bewegung gesetzt hat. Dass er daraufhin ein entnervtes Stöhnen von sich gibt, kann ich ihm nicht einmal verübeln. „Was ist noch?“, entfährt es ihm, wobei er sich über die Schulter nach mir umdreht. Ich erkenne anhand seines Blickes, dass ich seine Nerven strapaziere, aber das muss jetzt sein! Tapfer schlucke ich all meinen Stolz hinunter. Erst dann falle ich in eine tiefe Verbeugung vor. Ganz so, wie es sich laut japanischer Sitte gehört, wie ich sehr wohl weiß. Ungeachtet dessen, wie ungewohnt es sich für mich auch anfühlt. „W-was wird das?“, verlangt er zu erfahren, da ich wohl zu lange brauche, um etwas zu sagen. Aber mir wollen einfach nicht so schnell die richtigen Worte in den Sinn kommen. „Danke für alles“, sage ich schließlich, klar und deutlich in der Stimme. Erst danach richte ich mich wieder in eine gerade Haltung auf und suche den direkten Blickkontakt zu ihm. „Du hast mir heute wirklich sehr geholfen. Vielleicht kommt das etwas spät, aber ich bin dir wirklich sehr dankbar für deine Hilfe. Hab vielen Dank für alles.“ Wir sehen einander an. So gut ich kann, versuche ich in seinen roten Augen zu forschen und er scheint dasselbe bei mir zu tun. Es ist nicht leicht, aber ich halte ihm stand, ohne mich verunsichern zu lassen. Er soll wissen, dass es mir ernst ist. Zu meiner Überraschung ist tatsächlich er es, der meinem Blick als Erster ausweicht. Mir bleibt nur ein kurzer Augenblick, um den Anflug von Schamesröte auf seinen Wangen zu erkennen, ehe er sich auch schon von mir wegdreht. „Sch-schon gut. Mach nicht gleich ein Drama draus. Das ist echt unheimlich … Ein kurzes »Danke« hätte es auch getan.“ Mir ist, als würde mir eine schwere Last von den Schultern fallen. Als ich Shins leises „Mann, das ist echt peinlich“ höre, kann ich mir ein stilles Schmunzeln nicht verkneifen. Ja, es war richtig, das noch loszuwerden. Zum ersten Mal an diesem Tag habe ich das Gefühl, etwas wahrlich richtig gemacht zu haben. „Ich geh‘ dann jetzt.“ „Mach das. Pass auf dich auf.“ „… Du auch.“ Ich kann mir mein Grinsen einfach nicht verkneifen. Wie gut, dass Shin es nicht mehr sieht.   Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug. Seit Shin in den Feierabend gegangen ist, hat Waka allein die Küche übernommen. Ikki und meine Wenigkeit sind weiterhin damit beschäftigt, die Kundschaft zu bedienen. Ein faires Verhältnis ist das nicht, denn nach wie vor sind weit mehr weibliche Kunden anwesend als männliche. Und natürlich bevorzugen die Damen den charmanten und obendrein extrem gutaussehenden Butler, und nicht die Maid. Verständlich. Langsam nähern wir uns dem Feierabend. Da ich immer weniger zu tun habe, habe ich damit begonnen, die ersten Aufräumarbeiten vorzunehmen. Das kann ja nicht schaden, umso früher können wir Schluss machen. „Bitte verzeihen Sie, Herrin, aber wir schließen bald“, höre ich Ikki inzwischen zum wiederholten Male sagen. Seit zehn Minuten geht das schon so, und jedes Mal wird sein unmissverständlicher Wink mit wehleidigem Gebettel und albernem Gekichere quittiert. Ich bin wirklich zutiefst beeindruckt, wie es Ikki gelingt, trotzdessen weiterhin überaus höflich und zuvorkommend zu bleiben. Kurz werfe ich einen Blick auf die Uhr. Es ist längst nach halb zehn. Die Damen strapazieren die offizielle Öffnungszeit wirklich enorm mit ihrer ignoranten Beharrlichkeit. Ich bin verblüfft, dass Waka noch nicht eingeschritten ist, aber vermutlich wird er bereits mit dem Aufräumen der Küche beschäftigt sein. „Es war mir ein äußerst großes Vergnügen, von Diensten zu sein“, höre ich Ikki endlich sagen, was meinen Blick in seine Richtung lenkt. Tatsächlich ist es ihm irgendwie gelungen, die drei letzten Damen zum Gehen zu bewegen. In diesem Moment ist er gerade dabei, sie auf guter Butlermanier an der Tür zu verabschieden. Höchstpersönlich und etwas außerhalb der notwendigen Dienstleistungen. Er müsste ihnen wirklich nicht noch extra charmant zulächeln und sich von ihnen umringen lassen, meiner bescheidenen Meinung nach. Ich hoffe wirklich inständig, dass er es sich verkneifen wird, sie noch mit Handkuss zu verabschieden. Das wäre wirklich zu viel des Guten, selbst für Maid-Café-Verhältnisse. Ich seufze leise auf. Jetzt, da der Tisch frei ist, kann ich auch diesen abräumen und anschließend wischen. Danach dürfte alles soweit erledigt sein. Ich hatte wirklich mehr als genug Zeit, um alles andere vorzubereiten. Fehlen dann nur noch der Fußboden und das Hochstellen der Stühle. Endlich verlassen die Frauen das Café und ich höre, wie Ikki die Tür hinter ihnen verschließt. Damit ist das Schlimmste überstanden. Ich merke, wie ein erster Anflug von leichter Müdigkeit mich heimsucht. „Entschuldige, dass es so lange gedauert hat. Wie weit bist du mit den Aufräumarbeiten?“ Ich unterbreche meine Reinigungsarbeiten und schaue zu Ikki auf. „So gut wie fertig. Den Tresen habe ich gereinigt, das Geschirr ist sauber und in den Schränken, die Tische gewischt“, berichte ich. „Wie steht es um das Protokoll?“ „Habe ich noch nicht gemacht“, gestehe ich ehrlich. Mir ist ein wenig unwohl dabei, denn ich hätte es zeitlich sicherlich geschafft, hätte ich gewusst, dass das mit zu meinen Aufgaben gehört. „Ich habe es nicht finden können“, ergänze ich leise. „Nicht schlimm, dann übernehme ich das heute.“ Er schenkt mir ein nachsichtiges Lächeln. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es etwas Tröstliches enthält, und tatsächlich vermag es mich zu beruhigen. „Danke. Sagst du mir dann bitte, wo du es hingelegt hast?“ „Ich werde es wie immer in die äußerste Schublade legen“, erklärt er, was ausgesprochen hilfreich ist. So weiß ich fürs nächste Mal, wo ich suchen muss. Ich nicke einen weiteren Dank. Daraufhin wird es ruhig im Café. Ikki geht der Schreibarbeit nach, während ich das Reinigen der Tür übernehme. Bald, bald ist es geschafft. „Ikki“, leistet uns Waka unverhofft Gesellschaft. Allein der Klang seiner Stimme jagt mir einen eisigen Schauer den Rücken hinunter. Nur vorsichtig wage ich, zu den beiden Männern hinterzuluken. „Wenn ihr hier soweit durch seid, kannst du nach Hause gehen. Ein Krieger, der nicht ausgeruht ist, kann keine zweite Schlacht schlagen.“ „Ich bin mit dem Protokoll gleich fertig“, erklärt Ikki, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Er macht nicht den Eindruck auf mich, als würde ihn Wakas Präsenz auch nur im Geringsten bekümmern. „Danach steht nur noch der Fußboden an.“ „Darum wird Shizana sich kümmern.“ Mir wird etwas unwohl, als sich Wakas Blick gezielt auf mich richtet. „Ebenso wie um die übrigen Böden für ihre Strafrunden.“ Eh? Wie bitte? Auch Ikkis Blick richtet sich daraufhin auf unseren Boss. „Ist das nicht etwas zu streng? Alle Böden allein zu wischen? Ich werde helfen, sobald ich fertig bin.“ „Ein Krieger, der keine Disziplin kennt, kann im Kampf nicht siegreich sein!“, beharrt Waka mit erhobener Stimme. Sein Gesichtsausdruck verfestigt sich, wird streng. „Ein Heer ist so stark wie ihr schwächster Kämpfer. Wo Schwäche besteht, müssen wir mit strenger Hand durchgreifen. Kein Kamerad wird zurückgelassen!“ „Ist es nicht ein Zurücklassen, wenn wir ihr die gesamte Arbeit aufbürden?“, zweifelt Ikki an. Mutig, wie ich finde. Ich bewundere ihn insgeheim dafür, dass er keinerlei Einschüchterung gegenüber Wakas Gebrüll zeigt. „Beende deine Aufgabe, dann kannst du abtreten. Gut gekämpft.“ Damit wendet sich Waka ab und verschwindet in den hinteren Räumen. Das schwere Seufzen, das Ikki daraufhin ausstößt, kann ich bis zu mir vor hören. „Tut mir ehrlich leid, aber Waka-sans Wort leistet man besser Folge. Weißt du, wie du vorgehen musst?“ Nur zögerlich nicke ich. „Ich denke, das werde ich schon irgendwie hinbekommen.“ Hoffentlich.   Es ist weit nach zehn, als ich endlich mit meiner Strafarbeit fertig bin. Alle Böden, bis auf Ausnahme des Flurs, sind gewischt und die Stühle im Café hochgestellt. Ein letztes Mal entledige ich mich des dreckigen Wassers, ehe ich alles zusammenräume und an seinen zugewiesenen Platz stelle. Damit ist es geschafft. Endlich. Erschöpft und vollkommen fertig mit der Welt trotte ich zu meinem Spind hinüber und beginne, mich umzuziehen. Jetzt, da ich allmählich zur Ruhe komme, bemerke ich erst, wie die Müdigkeit mich überrollt. Ich will nur noch nach Hause, in mein kuscheliges Bett und … Ich stocke. Mitten in der Bewegung erstarre ich. Ich bin weder in der Lage, die entledigte Schürze abzulegen, noch meinen begonnenen Gedanken weiterzuspinnen. Nach Hause? Wo war das? Besaß ich hier überhaupt so etwas? Mit einem Mal ist alle Müdigkeit verflogen und macht einem gehörigen Adrenalinschub Platz. Verdammt, wieso hatte ich da nicht schon früher dran gedacht? Das hier, diese Welt, ist nicht mein Zuhause! Mein gewohntes Zuhause liegt weit außerhalb davon! Unerreichbar für mich. Oh nein, was mache ich denn jetzt? Bedeutet das, ich bin jetzt obdachlos? In einer hastigen Bewegung erhebe ich mich und reiße meinen Spind auf. Meine Tasche, wo ist sie? Vielleicht finde ich in ihr einen Hinweis, der mir eine Antwort auf dieses nicht mindere Problem geben kann. Schnell habe ich die kleine, schwarze Stofftasche mit dem eingenähten Pentagramm darauf gefunden und beginne als gleich darin zu kramen. Meine Hände sind zittrig, mein gesamter Körper gleicht einem Anflug heftiger Entzugserscheinung. Ich habe Angst, nicht zu finden, wonach ich suche, weswegen ich kurzentschlossen die Tasche packe und mit beiden Händen über dem Fußboden entleere. Allerlei Krams fallen heraus, darunter mein Portemonnaie und mein Handy, die mir vertraut sind. Aber kein Schlüsselbund mit Leder- und Pichu-Anhänger. Panik! Mein nächster Impuls konzentriert sich auf mein Handy. Kontakte checken! Vielleicht ist dort etwas. Doch mein Fünkchen Hoffnung erstickt noch im Keim. Kein Akku. Schwarzes Display. Große Klasse. Ich fühle mich wie in einem klischeebehafteten Horrorfilm. Wieso nur schockt es mich nicht einmal mehr? Es musste ja so kommen. Kraftlos lasse ich die Hände sinken. Starre gedankenverloren auf den Chaoshaufen vor mir. Ein Abbild meiner selbst: in seinen Grundfesten erschüttert und in sich zusammengebrochen. Mir ist zum Heulen zumute. Meine Kehle scheint sich mehr und mehr zuzuschnüren. Toll, und was jetzt? Ich habe keine wirkliche Hoffnung mehr, aber mir bleibt noch eine Chance: das Portemonnaie. Dort drin sollte sich zumindest mein Pass befinden, um mir wenigstens meine Existenz zu bestätigen. Vielleicht noch ein wenig Geld, hoffentlich in der richtigen Währung. Sofern es reicht, habe ich immer noch die Aussicht auf ein billiges Hotel. Vorausgesetzt, ich finde eines ohne die Hilfe meines Handys. Wie geistesabwesend ergreife ich die Geldbörse, deren Aufdruck ein Motiv von Victoria Frances‘ Bildern zeigt. Ich wollte das Portemonnaie längst ersetzen, da die Farben unsauber verblasst sind mit den Jahren. Nie dazu gekommen. Ich öffne den Reißverschluss. Ein paar meiner müden Lebensgeister kehren zu mir zurück, als ich den Inhalt erblicke. Sämtliche Dokumente und Karten sind mir egal. Unwichtig für den Moment. Was mich so erstaunt, ist ein kleines silbernes Glitzern zwischen den bunten Geldscheinen. Meine Finger zittern noch immer, als ich vorsichtig in das schmale Geldfach hineinlange. Das Metall fühlt sich kalt an, als es mit der empfindlichen Haut meiner Fingerseiten in Berührung kommt. Vorsichtig ziehe ich es hervor. Auf meiner offenen Handfläche schließlich betrachte ich meinen Fund: ein Schlüssel. Nur ein einziger. Ohne Band, ohne Schlüsselbund. Auf dem runden Kopf erkenne ich im rechten Lichtwinkel eine eingravierte Zahl: 20/6. Eine Hausnummer vielleicht? Es klopft. Ich höre es kaum. „Hey, bist du noch da?“ Erneutes Klopfen. Roboterhaft drehe ich den Kopf. „Ja?“ Die Tür wird geöffnet und ein Waka in Straßenkleidung blinzelt gegen das helle Licht. Er findet mich schnell. „Was machst du denn da? Beeile dich etwas, wir wollen auch nach Hause.“ »Wir«? Ich nicke geistesabwesend. Mein Boss wirft noch einen prüfenden Blick durch den Raum, sieht noch einmal auf mich, ehe er sich zurück- und die Tür hinter sich zuzieht.   Wenig später habe ich mich umgezogen und verlasse das »Meido no Hitsuji« durch den Seiteneingang. Erst jetzt wird mir auch klar, was Waka vorhin gemeint hatte. „Da bist du ja. Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht“, lässt mich Ikki sogleich wissen, kaum dass ich an die frische Luft getreten bin. „Damit sind wir vollzählig. Kameraden, wir haben auch heute wieder einen ehrenhaften Sieg errungen. Wir können stolz erhobenen Hauptes nach Hause zurückkehren.“ „Chef, bitte … Wir sind außerhalb der Arbeit.“ Ich kann der Unterhaltung nur halbherzig folgen. Wieso sind Waka und Ikki noch hier? Sie haben auf mich gewartet? „Hey, was ist los mit dir?“ Auch Wakas auffordernder Ton dringt lediglich wie durch Watte an mein Ohr. „Du siehst müde aus. Wirst du es bis nach Hause schaffen?“ »Nach Hause« … Wenn ich nur wüsste, wo das ist. Hilflos umklammere ich das kleine Metallstück in meiner Jackentasche. Unfähig, nur einen klaren Gedanken zu fassen. »Nach Hause«, wo ist das? Wie soll ich das nur herausfinden? „Shizana?“ Ich schrecke bei dem Klang von Ikkis sanfter Stimme auf. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst wahrnehme, dass er mich bei meinem Namen genannt hat. Und dann ist er auch noch mit so viel Sorge behaftet … „Sorry, ich …“ Ich zögere. Was soll ich ihnen nur sagen? „Ich weiß nicht genau, wie ich nach Hause kommen soll.“ Zwei fragende Augenpaare wiegen schwer auf mir. „Wieso nicht?“, fordert Ikki mit mildem Nachdruck eine Erklärung von mir, die ihnen wohl zusteht. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich kann ihnen schlecht die Wahrheit sagen, oder? Wie glaubhaft ist das? Auf der anderen Seite muss ich etwas sagen, denn ich brauche ihre Hilfe. „In letzter Zeit treiben sich seltsame Gestalten in der Nachbarschaft herum … heißt es“, ziehe ich mir die erstbeste Notlösung aus dem Hut, die mir in den Sinn kommt. Noch im selben Moment regt sich mein schlechtes Gewissen. Es tut mir augenblicklich leid, dass ich sie so dreist anlügen muss. Nach allem, was sie für mich getan haben. Aber was soll ich sonst tun? „Hast du Angst?“ „Wenn dem so ist, dann solltest du einen Begleitschutz bekommen.“ „Ich kann sie –“ „Man lässt keinen Wolf das Schaf hüten“, fällt Waka Ikki direkt ins Wort, noch ehe dieser sein Angebot richtig unterbreiten kann. Es bewirkt zumindest, dass ich zu meinem Boss aufsehe. Mit ein klein wenig Erstaunen. „Ich übernehme diese Verantwortung.“ Ikkis Schmollen ist kaum zu übersehen. Ich frage mich, ob es wegen Wakas unterschwelliger Bemerkung ist. Wobei ich ihm zugestehen muss, dass er den Nagel auf dem Kopf getroffen hat. Zumindest so, wie man Ikki eben kennt. „Tja, der Meister hat gesprochen.“ In einem leisen Seufzen gibt Ikki jeglichen Widerstand auf. Mild lächelnd wendet er sich mir zu. „Dagegen komme ich nicht an. Du bist bei Waka-san in sicheren Händen.“ Ich nicke nur, ohne etwas zu erwidern. „Nun, da das entschieden ist, treten wir den Abmarsch an.“ Sowohl Ikki als auch ich bestätigen diese Ansage unseres Bosses. Es folgt eine kurze Verabschiedung, schon folge ich Waka die wenigen Schritte zu seinem Auto. Irgendwie bin ich zutiefst erleichtert, dass es mir erspart bleiben wird, den mir noch unbekannten Heimweg zu Fuß oder gar mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen zu müssen. Ich bin nicht sicher, ob die mir vom Tag verbliebenen Nerven dafür gereicht hätten.   Es dauert nicht sehr lang, bis wir unser Ziel erreicht haben. Ich gestehe, ich habe nicht sehr viel von dem mitbekommen, was vor den Fenstern an mir vorübergezogen ist. Das erscheint mir auch fürs Erste irrelevant. Ich will den Tag nur noch irgendwie zu einem Abschluss bringen. Auf Wakas Verheiß hin verlasse ich den Wagen. Ich bedanke mich aufrichtig für seine Hilfe und dass er die Extrazeit und Mühe auf sich genommen hat, mich sicher nach Hause zu bringen. Er winkt es ab, sagt etwas von »ein Kamerad wird nie im Stich gelassen«, ehe er mir eine gute Nacht wünscht. Ich bin nicht sicher, ob ich die haben werde, wünsche ihm jedoch das gleiche und eine sichere Heimfahrt. Höflich warte ich noch, bis sein Wagen außer Sichtweite ist, erst dann wage ich einen ersten Blick auf mein neues Heim. Ein Wohnblock, wie er in Japan üblich ist. Nicht sehr hoch. Die Gegend wirkt unspektakulär, eine typische Straße eines Stadtwohnviertels. Ich scheine also ein ganz gewöhnliches Apartment zu bewohnen. Mit etwas Glück zu recht günstigen Mietkonditionen. Da mir ohnehin keine andere Wahl bleibt, gehe ich die wenigen Schritte zu dem dunklen Hauseingang hinüber. Mir ist alles recht, solange ich nur bald ein warmes Bett für die Nacht habe. Für alles Weitere habe ich später immer noch Zeit. Eine Beleuchtung springt an, kaum dass ich unter das kurze Vordach trete. Vermutlich ein Bewegungssensor. Clever gedacht. Ressourcensparend. Ich prüfe die Hausnummer: zwanzig. Das würde mit einer der beiden Zahlen übereinkommen, die ich auf dem kleinen Schlüssel entdeckt hatte. Ich probiere ihn direkt aus. Er passt einwandfrei. Mühelos gibt die Haustür mit einem leisen Klacken nach und ich darf eintreten. Bleibt nur noch, mein Apartment zu finden. Auch diese Suche gestaltet sich als nicht sehr schwierig. Ich finde bald heraus, dass ich auf der zweiten von fünf Etagen wohne. Angenehm. Nicht direkt auf dem Präsentierteller und nicht zu weit oben. Damit kann ich gut leben. Voller Erwartung stehe ich nun vor meiner Tür. Endlich, nach einer schier endlosen Zeit eines obskuren Tages, der mich alle Kraft und Nerven gekostet hat. Ich kann noch gar nicht glauben, dass ich es tatsächlich geschafft haben soll. Dass ich jetzt hier stehe, direkt vor meinem neuen Zuhause. Zittrig strecke ich die Hand aus und schiebe das kleine Metallwunder in das Schloss. Eine kleine Drehung, ein leises Klacken. Eine unbeschreibliche Last, die von mir abfällt. Ich stoße ein langes, zutiefst erleichtertes Seufzen aus. Gott sei Dank, ich habe es geschafft. Kapitel 3: Vor vollendeten Tatsachen ------------------------------------ Die Wohnung ist dunkel, als ich sie betrete. Alles ist still. Normal, will ich meinen. Kurzerhand betätige ich den Lichtschalter im Flur, der schnell gefunden ist. Das Licht erhellt den kurzen Gang in einer angenehmen Intensität. Nachdem ich mich meiner Schuhe und meines Mantels, den ich ordentlich an einem angebrachten Metallkleiderhalter aufhänge, entledigt habe, trete ich weiter in mein neues Heim hinein. Das Apartment ist größer als erwartet. Der Wohnbereich ist geräumig, es gibt wirklich sehr viel Platz. Die offene Küche grenzt direkt daran an, sie ist durch einen länglichen Tresen vom Rest des Raumes getrennt. Es gibt einen Balkon und breite Fenster für eine großzügige Aussichtsfront in Richtung Straße. Tagsüber musste das für ausreichend Tageslicht sorgen, das den Raum durchfluten würde. Etwas, das mir sehr zusagt. Nichts ist besser als natürliches Tageslicht. Die Einrichtung lässt allerdings zu wünschen übrig. Es gibt alles, was zum Überstehen des Alltags notwendig ist; aber auch nicht mehr, wie mir scheint. Einen kleinen Essbereich zwischen Küche und Balkon, einen Gesellschaftsbereich etwa mittig des Raumes, ein mittelklassiger Fernseher, ein Wandregal und ganz wichtig: eine moderne Stereoanlage. Wenigstens etwas. Sie scheint das Einzige zu sein, in das ich bereits etwas Geld seit »meinem« Einzug investiert habe. Und in Bilder, wie ich feststelle. Keine Gemälde, sondern Fotografien. Verschiedener Größen. Hochwertig. Allesamt eingerahmt. Die Motive sind vielfältig von Natur über Tiere bis zu Personen. Scheint, als hätte mein bisheriges Ich in dieser Welt eine besondere Vorliebe für diese Art von Kunst. Nun gut, meinetwegen. Es gestaltet den Raum wesentlich freundlicher, nicht so leer. Und die Motive sind wirklich allesamt sehr hübsch. Das reicht mir an ersten Eindrücken. Die Wohnung ist nett, hier lässt es sich sicherlich gut leben. Und gemessen daran, dass es nicht so wirkt, als würde ich erst seit Kurzem hier wohnen, werden wohl auch die Kosten erschwinglich sein. Ich wäre nicht so naiv, mir eine Wohnung nur aufgrund ihrer Lage und Wohnfläche auszusuchen, richtig? So viel werde ich mir vertrauen müssen, dass es sich bei »mir« ebenfalls um einen Realisten gehandelt hat. Nur kurz prüfe ich auch die übrigen Räume. Es gibt ein Badezimmer von angenehmer Größe, ebenfalls mit einem Fenster versehen. Nicht schlecht, das zeugt schon fast von Luxus. Außerdem gibt es zwei weitere Räume, die direkt nebeneinander liegen. Beide sind kaum eingerichtet, sie wirken regelrecht leer. Vom Schnitt her scheinen sie identisch, beide sind nicht sonderlich groß. Vermutlich Schlafzimmer, eines davon könnte von mir als Arbeitszimmer geplant gewesen sein. Oder ich hatte eines von ihnen nie genutzt. Mich befallen leise Zweifel, ob diese Wohnungswahl tatsächlich gut durchdacht von »mir« gewesen war. Wird das mit der Miete wirklich in Ordnung gehen? Ich seufze. Naja, was soll’s. Es wird wohl seine Richtigkeit haben. Und selbst wenn nicht, im Moment könnte ich ohnehin nichts daran ändern. Hauptsache, ich habe ein Dach über dem Kopf. Das erscheint mir erst einmal als das Wichtigste. Kurz entschlossen suche ich das Badezimmer auf. Ich vergebe nicht viel Zeit darauf, mich meiner Abendtoilette zu widmen und zumindest noch Hände und Gesicht zu waschen. Zum Duschen bin ich zu müde, das kann ich morgen immer noch machen. Anschließend entferne ich nur noch die Kontaktlinsen, die ich getragen hatte. Aus meiner Handtasche hole ich den kleinen Behälter heraus, lege die Linsen in die pflegende Lösung hinein und ersetze sie durch meine Brille aus meinem Etui. Nur kurz werfe ich einen Blick in den Spiegel und erblicke mich selbst, wie ich mich kenne. Zerknirscht und müde, aber wer kann es mir verübeln? Nach allem, was ich heute erlebt habe, besitze ich wirklich jedes gute Recht, scheiße auszusehen. In wenigen, groben Strichen bürste ich noch mein Haar. Erst dann verlasse ich das Badezimmer, lösche überall das Licht und schleiche im hereinfallenden Mondlicht zu den beiden Schlafzimmern hinüber. Da es egal ist, welches ich nehme, entscheide ich mich für das, welches ich zuletzt inspiziert hatte. Ich entledige mich meiner Klamotten, ehe ich nur in Unterwäsche bekleidet unter die großzügige Bettdecke schlüpfe. Der Bezug ist angenehm weich und duftet grasig. Ich mummle mich tiefer hinein. Ein Gefühl von zutiefster Zufrieden- und Geborgenheit breitet sich in mir aus, das bis in meine Glieder reicht. So dauert es nicht lang, bis ich in einen friedlichen Schlaf versunken bin.   Es ist bereits hell, als ich aufwache. Nur langsam öffne ich die Augen, blinzle schlaftrunken, und schließe sie wieder. Ich mag nicht aufstehen. Ich hatte einen wirklich seltsamen Traum. Ich habe geträumt, dass ich im Amnesia-Universum gelandet bin und im »Meido no Hitsuji« gearbeitet habe. Es hat sich ziemlich real angefühlt. Auf der einen Seite war es wirklich schön, denn ich bin Ikki, Shin und Waka begegnet. Auf der anderen Seite war es verstörend, unheimlich und absolut verwirrend. Aber jetzt bin ich ja wach. Alles in Ordnung, halb so wild. Ein wenig bereue ich es sogar und würde gern noch ein wenig weiterträumen. Leise seufzend ziehe ich die Bettdecke näher an mich. Ich könnte ja versuchen, noch einmal in diesen Traum zurückzukehren. Manchmal klappt das ja, solange man noch im Halbschlaf ist. Wäre schön. Entfernt höre ich Geräusche. Das leise Klacken eines Fensters. Das Klappern von Geschirr. Nicht in meinem Zimmer, vielleicht aus der Küche. Hm? Wer ist das? So laut … Und das so früh am Morgen. Habe ich Besuch zu Hause? Ich wohne doch allein. Jemand ist in der Küche. Mich trifft der Blitz. Ruckartig richte ich mich auf und sitze kerzengerade in meinem Bett. Mein Herz spielt Presslufthammer in meiner Brust. Jemand ist in meiner Küche! Direkt folgt die zweite Erkenntnis: Das ist nicht mein Zimmer! Wo bin ich? Doch kein Traum? Unmöglich! Ein Hotel? War ich betrunken? Ich höre ein leises Rumoren. Das bringt mich zu meinem eigentlichen Problem zurück: Jemand ist in meiner Wohnung! An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Kurzerhand stehe ich auf und suche meine Klamotten zusammen. Ich beeile mich, schnell angezogen zu sein, doch in Begleitung von wildem Herzklopfen und Adrenalinüberschuss ist das gar nicht so einfach. Meine Gedanken überschlagen sich, überrennen einander. Scheiße, scheiße! Indem ich mir noch schnell die Brille auf die Nase schiebe, öffne ich die Zimmertür. Ich bin gleichermaßen aufgeregt wie aufgewühlt. Ich gestehe, sogar ein wenig Angst zu haben. Okay, vielleicht ist das untertrieben. Der Geruch von frisch aufgebrühten Kaffee dringt zu mir herüber. Wieder höre ich dieses Rumoren. Eine Kaffeemaschine? „Wer ist da? Was machen Sie da?“, frage ich laut in den Raum hinein. Scheiße, ich hatte immer gehofft, dass mir so etwas nie passieren würde. Was, wenn ich einem Einbrecher gegenüberstehe? Einem durstigen Einbrecher … „Oh, guten Morgen!“, wird mir geantwortet. Es klingt nicht, als würde mir dieser wer-auch-immer direkt an die Kehle springen wollen. Ganz im Gegenteil. „Habe ich dich geweckt? Bitte entschuldige, das wollte ich nicht.“ Irgendetwas ist seltsam. Soll das hier ein vertrauliches Gespräch darstellen? Und … diese Stimme …? Zögerlich trete ich ein Stück weiter in das Wohnzimmer hinein. Auch auf der anderen Seite des Raumes tut sich etwas. Irgendetwas Dunkles bewegt sich entlang der Küchenzeile hinter dem Tresen. Bei dem schlechten Licht kann ich im ersten Moment nichts Genaues erkennen. „Du hattest noch geschlafen, da wollte ich dich nicht stören. War ich etwa zu laut?“ Wäre ich Teil eines Comics oder Cartoon, wäre mir die Kinnlade heruntergeklappt. So aber weite ich nur die Augen und werde Opfer eines erneuten Drehwurms in meinem Kopf. Ich wusste doch, dass ich diese Stimme kenne. Dass sie mir bekannt vorkommt. Das Bild bestätigt mein Gehör, nur mein Kopf will es nicht wahrhaben. „U…kyo?“ Der junge Mann mit dem hüftlangen, grasgrünen Haar kommt um den Tresen herum direkt auf mich zu. Ich kann nicht mehr tun, als wie festgewachsen an Ort und Stelle zu stehen und ihn anzustarren. Ungläubig, dass ich mich nicht noch immer in meinem Traum bewege. Ganz gleich, dass sich der Dielenfußboden unter meinen nackten Füßen kalt anfühlt. „Es tut mir wirklich leid. Ah, ich weiß! Soll ich dir vielleicht auch etwas aufbrühen? Einen Cappuccino? Oder magst du dich noch einmal hinlegen? Ah, tut mir leid! Ich bin selbst noch ein wenig durch den Wind.“ Ich vernehme jedes Wort von ihm. Klar und deutlich. Aber begreifen will ich es nicht. Ich beobachte apathisch, wie er sich auf halbem Wege zu mir eilig herumdreht. Keine zwei Schritte später erneut, um zu dem Tisch des Zwei-Mann-Essbereiches zu gehen. Dort stellt er die grün-weiß bedruckte Keramiktasse ab, welche er in der Hand getragen hat. „Setz dich doch schon mal. Ich bringe dir gleich etwas“, fordert er mich auf. Dann eilt er abermals durch das Zimmer, hinüber zur Küche. Er scheint wirklich etwas von der Rolle zu sein. Er wirkt sehr gehetzt, irgendwie konfus auf mich. Ohne nur irgendetwas zu sagen oder zu tun, komme ich seiner Aufforderung nach. Ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll. Jeglicher Zugang zu den mir zuständigen Synapsen scheint mir verwehrt. Ukyo. In meiner Wohnung. Ukyo. Wieso? „Hast du gut geschlafen? Wie war dein Tag gestern? Du hattest wieder Schicht, richtig?“, dringt ein Schwall von Fragen aus Richtung Küche an mich heran. Dazwischen höre ich, wie Ukyo einen Wasserkocher aufsetzt und in den Schränken wühlt. „Gut.“ »Gut«? Was rede ich denn da? Tu doch nicht so, als stündest du nicht kurz vor einem Verzweiflungsausbruch! Was soll diese nüchterne Antwort? „Bitte entschuldige. Ich rede schon wieder zu viel, nicht wahr? Du bist gerade erst aufgestanden“, höre ich Ukyo sagen. Wieso entschuldigt er sich die ganze Zeit für Nichtigkeiten? Hier gibt es gerade ein ganz anderes Problem! „Autsch!“, stoße ich aus und umfasse mein Knie. Verdammt, Tischkante! Doch kein Traum. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, alles in Ordnung“, sage ich schnell und ziehe dieses Mal den Stuhl richtig zurück, um mich zu setzen. Ja nee, das musste jetzt auch sein, was? Zu allem Überfluss. Typisch ich. Nachdenklich stütze ich den Ellenbogen auf die Tischplatte und bette das Kinn darin. Mein Blick schweift hinüber zu Ukyo, um ihn bei seinem wuselnden Treiben zu beobachten. Ukyo. Kein Traum. Ich bin also wirklich noch hier. Er hat einen Schlüssel? Ich hatte die Tür doch richtig zugezogen, oder? Leben wir zusammen? Ist er nur zu Besuch? Warum? Ist das normal? Ich höre, wie Ukyo in einer Tasse rührt. Kurz darauf verlässt er die Küche und kommt zu mir herüber. Eine weiße Tasse mit schwarzem Katzenkopfaufdruck wird vor mir abgestellt. „Verzeih mir bitte, dass ich dich geweckt habe. Das war nicht meine Absicht“, betet er abermals eine Entschuldigung herunter, während er auf dem Stuhl mir gegenüber platznimmt. So langsam komme ich mir wie ein Biest vor, dass er mich andauernd um Verzeihung bitten muss. „Ich ging davon aus, dass du noch tief und fest schläfst.“ „Habe ich auch. Glaube ich“, entgegne ich nüchtern und umfasse die mir zugewiesene Tasse. Die hellbraune Flüssigkeit darin duftet angenehm süßlich. Die Keramik wärmt meine ausgekühlten Hände. „Ist schon gut“, füge ich versetzt hinzu, als mir bewusst wird, dass meine ehrliche Antwort vielleicht etwas zu harsch geklungen haben könnte. Nicht, dass er sich gleich zum x-ten Mal entschuldigt. „Hast du denn wenigstens gut geschlafen?“ „Mhm.“ Ich deute ein Kopfnicken. Naja, wenn man das so sagen kann. Ich hatte zumindest fest geschlafen. „Das freut mich.“ Ich hebe meinen Blick und schaue direkt in das sanftmütige Lächeln meines Gegenübers. Er trägt tatsächlich seine schwarze Schirmmütze auf dem Kopf, die mich immer entfernt an eine kantig geschnittene Schaffnermütze erinnert hat. Auch wenn die schwarz-weiße Stegverzierung im wechselnden Karomuster nicht ganz auf diesen Vergleich passen mochte. Zwischen seinen Händen, die locker vor ihm auf dem Tisch liegen, hält er eine kleine Tasse. Ich frage mich kurz, wann er die mitgebracht hat. In ihr erkenne ich eine dunkle, nahezu schwarze, dampfende Flüssigkeit. Ihr herber Geruch ist intensiver als der von Kaffee. Espresso vielleicht? Er hebt sie sich an die Lippen und trinkt erst einen kleinen, dann einen größeren Schluck davon. Wenig später verziehen sich seine Gesichtszüge und es schüttelt ihn kurz. Ich schmunzle. Jap, definitiv Espresso.   „Du bist heute sehr still.“ Ukyos Bemerkung lässt mich aufblicken. Wir hatten jetzt einige Zeit nicht miteinander gesprochen, was mir kaum aufgefallen war. Mein Kopf ist noch immer höchstkonzentriert damit beschäftigt, diese Situation zu verarbeiten und irgendwohin einzusortieren. „So?“, lasse ich eine beiläufige Bemerkung fallen. Zu mehr bin ich aktuell nicht in der Lage. „Bist du vielleicht wütend auf mich?“, gibt er seine Bedenken kund. Seine Frage klingt zweifelnd. Mein schweigsames Verhalten scheint ihn wirklich zu bekümmern. „Ich sagte doch, dass es schon okay ist“, entgegne ich sanft und schüttle zur Unterstreichung meiner Worte kurz mit dem Kopf. „Es war nicht sehr laut. Ich wollte sowieso aufstehen.“ „Ja. Nein … das meinte ich eigentlich nicht.“ Fragend sehe ich ihn an. Ukyos Finger spielen nervös auf der gestreiften Keramik seiner Kaffeetasse in seinen Händen. Selbst ich kann erkennen, dass ihn etwas bedrückt. Es ist nicht zu übersehen, dass er sich unbehaglich fühlt. Als hätte er etwas ausgefressen. „Also, was ich meine, ist … Bist du vielleicht böse, weil ich nicht nach Hause gekommen bin? Ich weiß, ich hatte es dir eigentlich versprochen, aber … Wie soll ich sagen?“ Mir stürzt die Decke auf den Kopf. Ich falle aus allen Wolken. »Nach Hause«? Hat er gerade allen Ernstes »nach Hause« gesagt? Ich habe mich auch nicht verhört? Mich trifft der Schlag. Ukyo und ich leben also zusammen? Wieso? Was hat das zu bedeuten? Was sind wir dann bitte? Ein Paar? Eine Wohngemeinschaft? „Du bist eben du“, bringe ich zu meiner eigenen Überraschung heraus. Ich bin fast erschrocken, wie ruhig ich das über die Lippen gebracht habe. „Ich glaube nicht, dass man das wirklich als Entschuldigung nehmen kann“, bezweifelt er leise. Fast tut er mir leid, dabei weiß ich noch nicht einmal, worüber wir hier eigentlich genau reden. „Du machst dir zu viele Gedanken“, sage ich und versuche ihn damit ein wenig aufzubauen. „Ich bin nicht böse. Es ist schon okay. Mach dir nicht so viele Sorgen.“ „Bist du dir da sicher?“ „Jetzt bist du ja da“, erwidere ich. Boah, was geht hier gerade ab? Wohin führt dieses Gespräch? Weiß ich überhaupt, was ich da rede? Ich habe keinen blassen Schimmer. Ukyo lächelt zögerlich. „Danke.“ Ich hebe mir meine Tasse an die Lippen und nippe an meinem süßlich schmeckenden Cappuccino. Die Note ist etwas anders, als ich sie gewohnt bin, aber unverkennbar Karamell. Etwas zu süß, vielleicht zu viel Pulver. Aber passt schon. Ja, »danke« … Wofür eigentlich? „Heute hast du frei, nicht wahr?“ So, habe ich? Ich sehe ihn an. Vorsichtig nicke ich. „Weißt du schon, was du gern machen möchtest? Wolltest du dir nicht schon länger ein neues Kissen kaufen?“ „Ich weiß noch nicht“, sage ich leise. Abermals nippe ich an meinem lauwarmen Getränk. „Du könntest dir auch heute mal den neuen Laden ansehen, der in der Straße eröffnet hat. Wolltest du dort nicht mal etwas essen und schauen, was sie im Sortiment haben? Ich habe gesehen, dass sie auch hausgemachte Dango verkaufen. Du wolltest doch mal welche probieren?“ „Hm.“ Ich werde nachdenklich. „Du weißt wirklich eine ganze Menge über mich“, bemerke ich und sehe Ukyo abermals an. Seine Hand fährt in einer verlegenen Geste an seinen Hinterkopf. „Naja … ich bin nur ein aufmerksamer Zuhörer“, mildert er zaghaft ab und lächelt beklommen. „Du hast mir einen Cappuccino gemacht“, stelle ich außerdem fest, den Blick auf den Inhalt meiner Tasse fixiert. Cappuccino, keinen Kaffee. Dazu die richtige Sorte. Die richtige Temperatur. Ganz, wie ich es bevorzuge. „War das falsch?“, möchte er wissen. Ich höre Unsicherheit aus seiner leisen Tonlage heraus. Ich schüttle den Kopf. „Nein, es war richtig so. Ich mag Cappuccino lieber als Kaffee.“ „Hach, da bin ich aber erleichtert.“ Sein tiefes Seufzen lässt keinen Zweifel daran zu. „Ich hatte schon die Befürchtung, ich würde es immer noch falsch machen. Aber nach zwei Monaten sollte ich so langsam wenigstens ein paar deiner Gewohnheiten kennen.“ Ich horche auf. »Nach zwei Monaten«? „So lange schon?“ „Mh“, bestätigt er mit einem Kopfnicken. „Wie die Zeit vergeht, was? Und wir haben es noch immer nicht geschafft, die Wohnung besser einzurichten“, lacht er verlegen. Zwei Monate. Wow. Das muss jetzt erst einmal sacken. Das ist wahrlich eine Spanne. Ich nehme einen großen Schluck von meinem Cappuccino. Ukyo tut es mir mit seinem Kaffee gleich. Nun gut, damit wäre das Was geklärt. Bleibt die Frage nach dem Warum. Sind wir ein Paar? Freunde? Wohnen wir nur aus irgendwelchen Gründen zusammen? Ich kann ihn das kaum fragen, oder? So frei heraus könnte ich ihn mit dieser Frage kränken. Oder gar Schlimmeres. „Können wir ja nachholen“, sage ich schließlich, um an seine letzte Aussage anzuknüpfen. Wieder nickt er. „Mh.“   Kurz darauf war unser gemeinsamer Kaffeeklatsch beendet und ich habe mich ins Badezimmer zurückgezogen. Jetzt, eine ausgiebige Dusche und Morgenhygiene später, ist mir noch immer der gesamte Umfang dieser Situation nicht sehr viel klarer, aber der Wirbel in meinem Kopf hat sich zumindest gelegt. Ich fühle mich einigermaßen entspannt und beherrscht, was mich ein wenig zweifeln lässt, ob es das ist, wie man sich in meiner Situation tatsächlich fühlen sollte. Aber was macht das schon? Es ist immer noch besser, als sich die ganze Zeit fertigzumachen. Es hält den Kopf einigermaßen klar. Ich wohne also mit Ukyo zusammen. Seit zirka zwei Monaten schon. Warum, weiß ich nicht. Doch ich bin mir sicher, auch das werde ich noch herausfinden. Irgendwie, irgendwann bestimmt. Es ist beidermaßen beruhigend wie beängstigend. Auf der einen Seite kann es sicher nicht schaden, jemanden zu haben, mit dem ich reden kann. Wenn auch sicher nicht über alles. Und jemanden, der ein Auge auf mich hat. Auf der anderen Seite darf ich Ukyos andere Seite nicht vergessen. Ein nicht sehr unwichtiger Punkt, den ich bedenken sollte. Bisher hat sich alles, was ich bereits über Ikki und Shin wusste, auf irgendeiner Art und Weise bestätigt. Sie sind, wie ich sie als Charaktere kenne. Wieso sollte das nicht auch auf meinen neuen Mitbewohner zutreffen? Mich schaudert es. Ich bin nicht sicher, ob ich in das Vergnügen kommen möchte, Ukyos anderes Ich kennenzulernen. Besser, ich nehme mich vor ihm in Acht. Ich möchte wirklich keine böse Überraschung erleben und mich auf einmal einer ernstzunehmenden Bedrohung gegenübersehen. Vorausgesetzt, ich schätze den anderen Ukyo richtig ein. Wenn ja, dann ist er gefährlich. Kein sehr prickelnder Gedanke. Ich seufze. So viel dazu, dass bis dato noch Ikki meine größte Sorge gewesen war. Vielleicht sollte ich das jetzt noch einmal neu überdenken. Wobei, im Moment sehe ich Ukyo noch als eine potenzielle Gefahr, mit der ich irgendwie leben kann. Bei Ikki hingegen … bin ich mir nicht so sicher. Jetzt noch weniger als bisher. Ikki. Bei dem Gedanken an ihn durchfährt mich ein nervöses Kribbeln. Wenn ich so darüber nachdenke: Ist das hier nicht die Welt, die unter den Fans als »Ikkiverse« bekannt ist? Gemessen an Wakas militärischer Art bin ich mir eigentlich ziemlich sicher. Bedeutet das, ich bin …? Mir schießt die Röte in die Wangen. Schnell schüttle ich den Kopf. Aber es sieht ganz so aus, als wäre ich mit Ukyo zusammen. Wieso sonst sollten wir schon seit zwei Monaten zusammenleben? Kann es das vielleicht sein? Würde das dann nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass Ikki mit der Heroine zusammen ist? Ukyo ist immerhin hier, in dieser Welt. Wäre er es, wenn die Heroine nicht hier wäre? Aber macht das Sinn? Oder denke ich nur zu stereotypisch? Das hier ist kein Spiel mit festgelegten Routen. Die, die ich bisher nur als fiktive Charaktere gekannt hatte, sind genauso real wie ich. Menschen aus Fleisch und Blut. Wenn hier etwas nicht ins Bild passt, dann bin ich das. In jederlei Hinsicht. Ich, nur ich allein. Ein weiteres Seufzen entweicht mir. Da ist es wieder, dieses nicht enden wollende Gedankenchaos. Fragen über Fragen, die sich überschlagen wie zerfetzte Teile im inneren Wirbel eines Tornados. So viel zu meinem guten Vorsatz, mein Hauptaugenmerk nach vorn zu richten. Ich kann es einfach nicht lassen. Bevor ich mich noch mehr in diesen nichtzielführenden Gedanken verliere, kümmere ich mich lieber wieder um das Jetzt. Ich bin im Bad mit allem fertig. Zeit, etwas mit dem neuen Tag anzufangen. Irgendetwas muss ich ja erreichen, richtig? Ich verlasse das Badezimmer. Ukyo hat gesagt, ich hätte heute frei. Wenn ich so zurückdenke, stimmt. Niemand hat zu mir ein »Bis morgen« verlauten lassen. Vielleicht hätte ich irgendwie in Erfahrung bringen sollen, wann meine nächste Schicht ist. Ob Ukyo das wohl auch weiß? In meinen Gedanken versunken, komme ich an den vielen Fotos vorbei, die die helle Wohnzimmerwand schmücken. Ich bleibe stehen und betrachte einige von ihnen etwas ausgiebiger aus der Nähe. Nach kurzer Zeit schleicht sich ein Schmunzeln auf meine Lippen. Eigentlich hätte es mir gleich klar sein müssen. Diese wunderschönen Kunstwerke gehören nicht mir. Sie gehören Ukyo. Ich habe keinerlei Zweifel, dass er diese Fotos geschossen hat. Jedes Einzelne von ihnen. Logisch, er ist schließlich ein professioneller Fotograf. Lustig, wie die einfachsten Dinge erst dann einen Sinn ergeben, wenn man um den Hintergrund zu ihnen weiß. „Was machst du da?“ Ich bemerke, wie Ukyo in meine Richtung kommt. Nur kurz sehe ich zu ihm, dann wieder auf die eingerahmten Fotografien. „Die sind wirklich sehr schön“, bemerke ich. „F-findest du?“ Mein neuer Mitbewohner gesellt sich an meine Seite, wo er sich meinem Tun anschließt. „Das hier ist mein Liebstes“, erkläre ich und zeige auf eine Nachtfotografie von einem bunten Feuerwerk in seiner schönsten Pracht. Davor ist eine dunkelgraue Katze zu erkennen, die mit dem Rücken zum Betrachter sitzt. Ihre Umrisse leuchten vom bunten Schein des Feuerwerks, als handle es sich um ein magisches Wesen mit geheimnisvoller Kraft. Das Motiv scheint auf einem Dach aufgenommen worden zu sein. Das zumindest lässt der geziegelte, scheinbar spitz zulaufende Untergrund erkennen. „Es ist wirklich perfekt getroffen. Genau im richtigen Moment. Die Perspektive passt super. Es sieht aus, wie gezeichnet. Wirklich ein traumhaft schönes Foto.“ „Danke, das freut mich.“ Ich kann hören, dass er lächelt. „Es war wirklich eine gute Idee, einige der Fotos drucken zu lassen und aufzuhängen. Die Wohnung wirkt gleich sehr viel freundlicher und persönlicher. Darauf wäre ich nie gekommen.“ Fragend sehe ich zu ihm. Es war also meine Idee gewesen? „Was machst du denn normalerweise mit den vielen Fotos?“, möchte ich wissen. „Ich sammle sie“, sagt er knapp. Auch dabei lächelt er, aber es wirkt trauriger als sein Lächeln zuvor. „Ich habe normalerweise keine Gelegenheit, sie zu verwenden. Es gibt nur eine kleine Auswahl an Motiven, die ich ausgedruckt habe. Ich trage sie immer in einem kleinen Sammelalbum mit mir, um sie mir jederzeit ansehen zu können oder anderen zu zeigen, die sie sehen wollen. Wenn es sich denn ergibt.“ Das ist traurig, irgendwie. Ich komme nicht umhin, das zu denken. Ich wende meinen Blick wieder den Fotos zu. „Du solltest noch mehr Fotos machen. Wir haben noch massig Platz an der Wand.“ Er lacht leise auf. „Ja, das hast du mir schon oft gesagt.“ Das will ich hoffen. Alles andere wäre auch äußerst bedauerlich gewesen. „Sag mal“, lenke ich im Thema um, „kann ich vielleicht deinen Handyadapter verwenden? Oder weißt du, wo ich meinen habe? Ich muss dringend den Akku meines Handys laden.“ „Klar. Wenn du magst, kann ich dir meinen geben.“ „Das wäre lieb. Danke dir.“ Ich wende mich von der Wand ab und gehe in Richtung Schlafzimmer, um meine Tasche zu holen. „Ähm …“ Fragend drehe ich mich nach Ukyo um, die Hand bereits am Knauf der Tür. Ich stelle mit Verwunderung fest, dass er mir gefolgt ist. „Was ist denn?“ „Ähm, also … Das ist im Übrigen mein Zimmer“, erklärt er mir unter leisem Gestammel und versucht, es mit einem vorsichtigen Lächeln zu entkräftigen. Dass es ihm trotz dessen unangenehm ist, erkenne ich daran, wie er sich unsicher eine Hand in den Nacken legt. Ich stutze. Wenige Sekunden später spüre ich, wie meine Ohren heiß werden, als die Erkenntnis zu mir vorgedrungen ist: Ich habe in Ukyos Bett geschlafen. Nackt. … Ups. „I-ich muss die Zimmer im Dunkeln verwechselt haben“, stammle ich eine herbeigezogene Erklärung hervor und wende den Blick von ihm ab. Gott, wie peinlich! „Ich war gestern sehr müde. D-das tut mir jetzt wirklich aufrichtig leid. Wenn du möchtest, wechsle ich sofort den Bettbezug.“ „N-nicht.“ Gott, als wäre das ein Wettbewerb im Stammeln, den wir untereinander ausfechten. Wieso musste mir das auch passieren? „Sch-schon gut. Das ist wirklich nicht nötig. So fremd sind wir uns auch nicht mehr.“ Oh, wenn du wüsstest … „Wir sollten vielleicht Türschilder beschaffen“, murmle ich leise vor mich hin. Ich bin nicht sicher, ob er das gehört hat. Und wenn schon. „Ich hole nur noch schnell meine Tasche“, erkläre ich anschließend, husche durch die Tür und beeile mich, diesen peinlichen Moment nicht noch länger zu strapazieren.   Inzwischen sitze ich im Schneidersitz auf meinem Bett. Dieses Mal im richtigen Zimmer. Mein Handy liegt an dem Ladekabel, das mir Ukyo netterweise geliehen hat, und ich komme endlich dazu, es einzuschalten. Das wäre eigentlich die perfekte Gelegenheit, um endlich einen Blick auf meine gespeicherten Kontakte zu erhaschen. Auf Arbeit war mir das ja leider nicht möglich gewesen. Nebenan höre ich Ukyo in seinem Zimmer rascheln. Wie ich vorhin erst festgestellt habe, sind unsere beiden Zimmer durch eine dünne Wand mit Schiebetür voneinander getrennt. Man kann alles hören. Ich werde wohl höllisch aufpassen müssen, dass es deswegen nicht zu noch mehr peinlichen Zwischenfällen kommt. Endlich begrüßt mich das gewohnte Display meines Mobiltelefons. Es dauert noch einen kurzen Moment, bis es alle Menüoptionen geladen hat. Nur noch eine Frage der Zeit. Dann … „Ukyo?“ Es wird laut im benachbarten Zimmer. Kurz darauf höre ich, wie die Trennwand aufgeschoben wird. „Ja, was ist denn?“ „Sag mal, weißt du zufällig, wer »Picas« ist?“ „Picas?“ Es folgt eine kurze Bedenkpause. „Nein, der Name sagt mir nichts. Wieso?“ Ich sehe nicht zu ihm auf. Mein Blick ist auf das Display meines Handys fixiert. Und auf die Nachricht, die ich geöffnet habe. „Kannst du mir dann vielleicht sagen, wie ich zum Nikuni-Stadtbrunnen komme?“ „Ja, natürlich. Du fährst mit der U-Bahn 12 und steigst Nikuni Ost-Mitte aus. Dann ist es schon direkt vorm Bahnhof.“ „Okay, danke.“ Ich spüre ein kurzes Nachgeben der weichen Matratze unter mir. Erst da bemerke ich, dass Ukyo in mein Zimmer gekommen ist und sich soeben neben mir auf dem Bett niedergelassen hat. Nur kurz blicke ich zu ihm auf und erkenne, dass er Mütze und Jacke abgelegt hat. Auch die tiefgebundene Modekrawatte ist im Knoten gelockert. „Hast du etwa noch etwas vor?“, möchte er wissen. Ich folge seinem Blick auf mein Handydisplay. „Scheint so.“ »Guten Morgen, Schönheit. Bleibt es heute dabei? 14:00 Uhr am Nikuni-Stadtbrunnen. Ich werde da sein. Freue mich auf dich.« Ich prüfe die Zeitangabe meines Handys. Kurz vor zwölf. Die Nachricht habe ich heute Morgen kurz nach sieben empfangen. „Wie lange brauche ich?“ „Alles zusammen, etwa vierzig Minuten. Fußweg und Zugfahrt inbegriffen.“ „Das schaffe ich.“ Ukyos grüner Haarschopf rückt weiter in mein Sichtfeld, als er sich ein Stück nach vorn lehnt, um mir besser ins Gesicht sehen zu können. „Und das ist wirklich in Ordnung?“ Habe ich eine andere Wahl? „Bist du dir sicher, dass du dort hingehen möchtest?“, übt er besorgt Nachdruck. Ich ringe mir ein mutiges Lächeln in seine Richtung ab. „Ja.“   Ukyo hatte recht. Der Weg hat mich Pi mal Daumen eine gute halbe Stunde gekostet. Aber ich habe es geschafft und stehe jetzt vor dem Bahnhof der Haltestelle, die mir Ukyo genannt hat. Und auch das andere stimmt: Besagter Brunnen ist unweit zu erkennen. Ich setze mich in Bewegung. Im Laufen hole ich erneut mein Handy hervor und prüfe die erhaltene Nachricht zum wiederholten Male. Gehe jedes Schriftzeichen im Einzelnen durch. »Picas«. Wer ist Picas? Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Jemand in dieser Welt, der es nie in die Serie geschafft hat, als sie diese noch für mich gewesen war? Hm, »Picas« … Wer immer das ist, mein anderes Ich muss diesen Jemand gekannt haben. Anderenfalls hätte ich wohl kaum seine Nummer gespeichert, richtig? Ich begebe mich direkt zum Brunnen. Obwohl es angebrochener Winter ist, wird er noch betrieben. Wasser fließt im leisen Rauschen über ein architektonisches Gebilde, das ich kaum beschreiben kann. Zwei Fontänen werfen schmale Strahlen durch den offenen Ring mittig des Gebildes. Kleine Speier sind im Innenrand angebracht und plätschern munter vor sich hin. Auf einem Platz der weichfarbenen Holzbank, die einmal um den Brunnen herumführt, lasse ich mich nieder. Neben mir sitzen noch weitere Personen, doch sie beachten mich ebenso wenig wie ich sie. Der Platz ist angenehm besucht, immer wieder kommen ein paar Passanten vorbei, die zwischen Bahnhof und Stadtbereich hin und her pendeln. Unter diesen Umständen dürfte es schwierig werden, meine Verabredung zu erkennen, ohne zu wissen, wonach ich Ausschau halten muss. Ich seufze leise und überschlage die Beine. Mein Zug war pünktlich. Es sind noch gut fünf Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Zu kurz, um groß etwas anderes zu tun als Warten; zu lang, um die Zeit einfach hinunterzuzählen. Und wer weiß schon, ob meine Verabredung pünktlich sein würde. So vergeht einige Zeit, die ich damit vertue, manche Passanten zu beobachten. Einfach, damit ich etwas tue. Ich fahre erschrocken zusammen und stoße einen leisen Schrecklaut aus, als mir auf einmal von hinten die Augen verdeckt werden. Durch die fehlende Rückenlehne der Bank befürchte ich für einen Moment, das Gleichgewicht zu verlieren und eine unangenehme Bekanntschaft mit kaltem Wasser machen zu müssen. Glücklicherweise spüre ich einen Widerstand in meinem Rücken, der mich vor dieser Erfahrung bewahrt. „Gefunden“, höre ich eine junge Männerstimme sagen, streichzart wie Butter. Auf ihr folgt ein helles Lachen. „Na, habe ich dich erschreckt?“ Ich ergreife die Hände, die meine Augen verdeckt halten, und schiebe sie entschieden von meinem Gesicht weg. Als ich den Kopf in den Nacken lege und den goldblonden Haarschopf über mir erkenne, von dem einige vereinzelte Strähnen das hübsch zugeschnittene Gesicht wellig umrahmen, entfällt mir für einen Moment jegliche Fähigkeit zur klaren Gedankenfassung. Seine schmalen Lippen ziert ein amüsiertes Grinsen. Limettengrüne Augen blicken mir auffordernd entgegen. „Ne, willst du deinen Freund denn nicht angemessen begrüßen?“, schmiegt sich das leise Raunen samtig an mein Ohr. Oh, shit. „L-Luka?“ Oh shit! Kapitel 4: Erstes Date ---------------------- Das ist jetzt nicht wahr. Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Luka? Im Ernst? Von allen Möglichkeiten ausgerechnet Luka? Warum? Was ist hier los? Tausende von Fragen jagen durch meinen Kopf. Gedanken, die sich überschlagen und in keine Richtung führen. Klares Denken ist hier fehl am Platz. Es ist mir schlicht nicht möglich. Ich starre ihn an. Unfähig, meinen Blick von ihm abzuwenden. Von seinen Augen, die mir ein unwohles Gefühl bescheren. Hatte ich ihre Farbe je zuvor auf Bildern wahrgenommen? Sein Grinsen ist gewichen. Er sieht mich an, als studiere er mich. Als versuche er, aus meinem sinnlosen Gestarre klug zu werden. Meine Reaktion muss befremdlich für ihn sein, das wird mir erst viel zu spät bewusst. „Hm“, macht er und richtet sich auf. „Du siehst mich an, als hätte ich etwas verbrochen. Dabei hätte ich schwören können, dass etwas Abwechslung einen positiven Effekt erzielen würde. Ich habe mich wohl geirrt.“ Er macht einen Satz über die Bank. Runter von dem Brunnenrand, auf dem er gestanden hatte, um sich unbemerkt an mich heranzuschleichen. Kurz überkommt mich ein leises Neidgefühl, wie elegant es bei ihm aussieht, obwohl es für einen ausgewachsenen Mann doch recht albern ist. Kaum auf seinen Füßen, dreht er sich mir zu. In einer höflichen Geste streckt er die Hand nach mir aus, um mir aufzuhelfen. Seine Lippen umspielt bereits wieder ein Lächeln, das mich vollen Herzens an dieser abstrakten Situation zweifeln lässt. Mir scheint, als hätte ich keine andere Wahl. Fürs Erste. Ich bin hergekommen in dem Wissen, dass ich eben nicht weiß, was mich erwarten würde. Doch ich war der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass egal was, ich würde schon damit zurechtkommen. Tja, das habe ich nun davon. Zeit, meinen guten Glauben unter Beweis zu stellen. Unwillig lege ich meine Hand in seine. Ich gebe ihm keine Gelegenheit, von seiner mir angebotenen Hilfsbereitschaft Gebrauch zu machen, und erhebe mich, bevor er mich ziehen kann. Bei allem was recht ist, aber so viel Stolz muss sein. Ich werde mich ihm nicht kampflos ergeben, gewiss nicht! „Dass ich dich erschreckt habe, tut mir leid. Ich schlage vor, wir vergessen das Ganze einfach und fangen noch einmal ganz von vorne an.“ Ich weiß nicht, was mich mehr erstaunt: die Tatsache, dass er meine Hand losgelassen hat, kaum dass ich zum Stehen gekommen bin; dass er sich entschuldigt oder dass er so ruhig, voller Verständnis mit mir spricht. Alles drei ist für mich unerwartet und bringt mich für einen Moment ganz aus dem Konzept. Ehrlich, das hätte ich nun nicht erwartet. Fragend sehe ich zu ihm auf und versuche, mir meine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Vornehm legt er sich eine Hand an die Brust. Sein Lächeln dauert an. „Wie du siehst, bin ich pünktlich. Es wäre daher schön, wenn du mich jetzt begrüßen könntest. Das Übliche soll mir recht sein.“ Au weia. »Das Übliche«? Was ist »das Übliche« laut seiner Ansicht? Mein Kopf beginnt zu arbeiten. Langsam dämmert es mir. Hatte er sich mir vorhin nicht als »mein Freund« vorgestellt? Wuah, allein es zu denken, bereitet mir Schüttelfrost. Wieso nur ausgerechnet Luka? Was hat sich mein anderes Ich dabei gedacht? Es widerspricht jeglicher Logik! Aber das hilft mir jetzt nicht weiter. Ich kann mir darüber immer noch den Kopf zerbrechen. Im Augenblick muss ich eine Lösung finden, wie ich aus dieser verzwickten Situation am besten herauskomme. Angenommen, es stimmt und wir sind aus-welchen-gottverdammten-Gründen-auch-immer ein Paar … wäre dann nicht ein Kuss angebracht? Eine Umarmung? Süße Worte? Würde es ein »Hi, schön, dass du da bist« vielleicht auch tun? In Gedanken schüttle ich den Kopf. Nein, das ist es alles nicht. Die ersten drei Optionen kommen für mich nicht in Frage. Die Letzte ist zu wenig. Ich brauche etwas dazwischen. Etwas Unverfängliches, damit nicht auffällt, dass ich nicht »ich« bin. Gerade Luka wäre der Letzte, dem ich das auf die Nase binden würde. Mutig schlucke ich all meinen Unmut hinunter. Meinen Stolz direkt hinterher. Hastig überwinde ich die zwei Schritte, die mich von ihm trennen, beuge mich auf Zehenspitzen zu ihm hoch und setze einen zaghaften Kuss auf seine Wange. „Schön, dich zu sehen“, presse ich leise aus mir hervor, während ich im direkten Anschluss von ihm zurückweiche. Alles in mir brüllt „Lüge!“. Ich wage nicht, zu ihm aufzusehen. „Du …?“, ist das Erste, was ich von Luka höre, nachdem es einige Zeit still zwischen uns geworden war. Etwas an der Art, wie er dabei geklungen hat, lässt mich aufblicken. Luka sieht mich an. Sein Blick verrät mir, dass er verwirrt ist. Seine Hand liegt ungläubig an der Wange, auf die ich ihn geküsst hatte. „Was ist?“, verlange ich leise zu erfahren. Ich lege bewusst ein wenig Trotz in meine Tonlage, nur um sicherzugehen, mich mit Unwissenheit aus der Affäre ziehen zu können. So weit reicht meine Interpretationsgabe, um zu erkennen, dass ich ganz offenbar zur falschen Lösung gegriffen habe. In Lukas Gesicht tut sich nicht viel. Ich kann nicht behaupten, Scham darin zu erkennen. Eher Überraschung, was mir albern erscheint. „Das ist das erste Mal, dass du mich geküsst hast.“ Oder auch nicht. Mist! „Wieso?“ Argh! Frag mich das doch nicht auch noch! Rasch sehe ich zur Seite. „Wieso nicht? Du bist doch schließlich mein Freund“, nuschle ich eine möglichst allgemeine Erklärung. „Ich dachte, eine Abwechslung könnte zu einem positiven Effekt führen. Ich habe mich wohl geirrt“, ergänze ich nach einem kurzen Zögern und zitiere damit, was Luka zuvor zu mir gesagt hatte. „Ha. Haha, hahaha.“ Beidermaßen erstaunt wie erleichtert höre ich, wie Luka in ein zunehmendes Gelächter verfällt. „Touché, der war gut. Du hast mich.“ Ich atme im Stillen auf. Puh, noch einmal Glück gehabt.   Vielleicht hätte ich mir das Aufatmen noch ein Weilchen aufsparen sollen, denn was nach dieser heiklen Szenerie gefolgt ist, behagt mir ganz und gar nicht. „Ich kann es einfach nicht fassen“, sagt er, kurz nachdem er mich von allen Seiten gemustert hat. „Da lade ich dich auf ein Date ein, und du machst dich nicht hübsch für mich? Unmöglich! Du bist doch meine Muse, meine Inspiration. Das ist absolut inakzeptabel! Das kann ich nicht zulassen!“ Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Ja, vielleicht bin ich nicht unbedingt angemessen für ein Date angezogen, aber was erwartet er? Ich wusste ja nicht einmal, dass ich zu einem Date gehen würde. Zumal er übertreibt, ernsthaft. Ich habe mir zumindest Kontaktlinsen eingesetzt und die hübschesten Allzweckklamotten angezogen, die ich in meinem kargen Kleiderschrank finden konnte. Selbstverständlich erfülle ich damit nicht seine Wunschvorstellung von mir. „In Ordnung. Kleine Planänderung.“ „Was hast du vor?“, möchte ich wissen, als er nach meiner Hand gegriffen hat und mich bereits mit sich zieht. Ich stehe noch zu sehr neben der Spur, um mich großartig gegen ihn zu wehren. „Na, was wohl? Wir gehen einkaufen“, erklärt er und wirft mir ein engelsgleiches Lächeln über die Schulter zu. Das behagt mir ganz und gar nicht. Mit »einkaufen« meint er doch wohl nicht …? „Nicht nötig. Lass uns doch lieber –“ „Nur keine Sorge“, fällt er mir sanft, aber bestimmt ins Wort. „Lass mich nur machen. Ich weiß einen Laden, dem wir vertrauen können. Sie haben eine sehr inspirierende Kollektion. Mir schwebt bereits ein erstes, grobes Bild im Kopf vor. Du kannst dich voll und ganz auf meinen auserlesen guten Geschmack verlassen.“ Da bin ich mir noch nicht so sicher … Es ist ausschließlich den vielen Passanten zu verdanken, dass ich mich meinem Schicksal füge und Luka verstimmt folge. Meine Begleitung ist mit seinem pompösen Pelzkragenmantel schon auffällig genug, da möchte ich ihm nicht noch zusätzlich eine Szene machen und für weitere Aufmerksamkeit sorgen. Behagen tut mir das alles aber ganz und gar nicht. Kurz darauf erreichen wir die Einkaufsmeile der Stadt. Wir lösen uns von dem Menschenstrom und folgen einer Straße, in der sich Schaufenster um Schaufenster außerordentliche Randgeschäfte reihen. Vor eines davon stoppen wir und Luka hält mir in alter Gentleman-Manier die Tür auf, um mich höflich hineinzubitten. Nur kurz erhasche ich einen Blick auf das Ladenschild über der Tür und erkenne in elegant geschwungenen Buchstaben weiß auf schwarz »Chic Beau« geschrieben. „Herzlich willkommen im »Chic Beau«. Oh, Luka-sama!“, höre ich, wie uns eine der Bediensteten freundlich begrüßt. Mir entgeht nicht, wie sie direkt auf meine Begleitung reagiert und eilig an uns herantritt. „Heute in Begleitung?“ „Ja“, erwidert er die Begrüßung mit einem höflichen Kopfnicken, ehe er großzügig auf mich deutet. „Ich bin heute allerdings nicht wegen mir, sondern dieser reizenden Dame hier. Können wir auf eure Unterstützung zählen?“ „Aber natürlich. Selbstverständlich.“ Die junge Frau in ihrem hübschen Kostüm französischen Stils besieht mich mit einem herzlichen Lächeln. „Haben Sie denn schon eine Vorstellung, was es sein darf?“ „Ein Komplett-Makeover“, antwortet Luka für mich. Ich falle aus allen Wolken. „Ich habe bei meinem letzten Besuch etwas gesehen, das ich sehr gern an ihr anprobieren möchte. Dazu benötigen wir eine Stilkombination, die ihre natürliche Schönheit in ein neues Licht rückt und positiv hervorhebt. Ich hatte an ein Dress gedacht oder eine Kleidkombination in modern-frischen Farben.“ „Da wird sich etwas finden lassen.“ „Hey“, wispere ich zu Luka herüber. „Findest du nicht, dass ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden habe?“ „Wenn ich dir die Entscheidung überlasse, wissen wir doch beide, worauf das hinauslaufen wird“, erklärt er. Es klingt vorwurfsvoll. Ich weiß, was er meint. Ein Blick in meinen Kleiderschrank hatte mir bestätigt, dass mein Kleidungsstil vertraut geblieben ist. Schwarz hatte eindeutig in der Dominanz gelegen, sehr zu meiner Erleichterung. „Ich werde mich nicht in ein kunterbuntes Blümchenkleid stecken lassen, nur damit das klar ist“, mache ich ihm meinen Standpunkt deutlich. Seine schmalen Lippen umspielt ein Schmunzeln. „So reizvoll dieser Gedanke auch ist, aber mir schwebt etwas Anspruchsvolleres an dir vor. Ich bin nicht ohne Grund Künstler. Du kannst meiner Vision vertrauen.“ Ich unterziehe ihn einer skeptischen Musterung. Wie üblich trägt er seinen schwarzen, weiten Lieblingsmantel aus weicher Baumwolle, den ich schon von Bildern kannte. Allerdings fehlt der auffällige Kunstlorbeerenschmuck, der normalerweise seine Ärmel ziert. Auch der Pelz scheint anders zu sein, er wirkt heller und liegt einmal komplett um die Schultern herum. Protziger als gewohnt. Darunter trägt er ein dunkelrotes Herrenhemd mit kurzer, schwarzer Streifenweste und eine passende schwarze Hose dazu. Schwarze, teuer aussehende Herrenabsatzschuhe runden sein Auftreten ab. Mir fällt auf, dass diese Zusammenstellung grob von dem abweicht, was ich bisher von ihm gekannt hatte. Etwa meinetwegen? „Bitte folgen Sie mir“, gesellt sich die Verkäuferin an meine Seite und gibt mir in einer Geste zu verstehen, sie zu begleiten. Ich werfe noch einen letzten skeptischen Blick auf meinen »Freund«, dann komme ich ihrer höflichen Aufforderung nach.   Etwas später stehe ich in einem hinteren Bereich des Geschäftes, der geräumiger als der Auswahlbereich ist. Hohe Spiegel stehen vor mir, hinter mir befinden sich drei Umkleidekabinen mit Vorhängen. Nicht weit entfernt von mir unterhalten sich Luka und die Verkäuferin, um einen Schlachtplan für meine Verwandlung zu entwerfen. Ich nehme mir vor, ihnen nicht groß zuzuhören, und lasse meinen Blick lieber ein wenig durch das Geschäft schweifen. Es ist nicht sehr groß, hat aber zwei Etagen. Die Einrichtung ist eher schlicht gehalten, doch die hochwertige Dekoration von Bildern und Kunstpflanzen lässt es edel erscheinen. Verschiedene Abschnitte bieten verschiedene Modearten an, von Mänteln über Kleider bis Schuhe ist hier alles zu finden. Die Schnitte wirken überwiegend elegant bis verspielt, die Stoffe aufwendig bis teuer. Ich habe schon von allem etwas gefunden, von Seide über Samt bis Pelz. Vieles wirkt europäisch, überwiegend französisch, was sich bei dem Namen des Geschäfts kaum anders erwarten lässt. Vermutlich befinden sich viele Stücke namenhafter Designer unter der überschaubaren Auswahl. Eine zweite Angestellte übernimmt das Aufräumen eines Regals. Sie würde wohl die nächste Zeit nachfolgende Kunden allein bedienen. Zumindest vermute ich das, nachdem ihre Kollegin kurz mit ihr gesprochen hatte, bevor sie sich erneut unserer persönlichen Betreuung angenommen hatte. „Welches der beiden gefällt dir besser?“, erreicht mich Lukas Frage, was mich zu ihm blicken lässt. In seinen Händen hält er je einen Bügel: ein schlichtes, tiefgeschnittenes Satinkleid in breiter schwarz-weiß Längsstreifengestaltung mit silbernen, langen Ketten und ein aufwendig gefertigtes Baumwollkleid, bordeauxrot, mit viel schwarzem Spitzenbesatz, rot-schwarzem Tüllrock, schwarzen Schleifchen an diesem und hochgesteckter Schleppe auf Taillenhöhe. Beides enthält Schwarzanteil, doch keines sagt mir zu. „Muss das wirklich sein?“, versuche ich ihn zu bereden. Begeistert bin ich von dieser ganzen Aktion wahrlich nicht. „Ich kann mir ohnehin keines der beiden leisten, geschweige denn auch nur irgendetwas aus diesem Sortiment. Wir vergeuden hier nur Zeit.“ „Ah, so ist das!“ Lukas Augen weiten sich, als hätte er soeben eine Erleuchtung erfahren. „Du machst dir Sorgen wegen des Geldes. Weil du so ein geringes Gehalt verdienst?“ Kurz lacht er auf, erleichtert, ehe er mir ein helles Lächeln schenkt. „Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich hatte nie vor, dich die Kleider zahlen zu lassen. Beachte es einfach gar nicht. Ich habe alles im Vorfeld bedacht.“ „Du verstehst mich nicht …“ „Hier, probier erst einmal das an“, übergeht er meinen Zweifel und drückt mir das aufwendigere der beiden Kleider in die Hände. „Ich werde derweil noch etwas Ergänzendes suchen. Warte dann bitte auf mich.“ Damit entfernt er sich und ich verliere ihn aus den Augen. Einfach übergangen, wieder einmal. Mir kommt erneut die Frage auf, was mein anderes Ich an Luka gefunden haben mochte, dass ich mich in einer Beziehung mit ihm befinde. Er bestimmt zu viel, ohne auf meinen Standpunkt einzugehen. Etwas, das mir gar nicht gefällt. Wirklich überhaupt nicht. Ich spüre, wie die Wut in mir aufbrodelt. Sie legt sich ein wenig, als ich meinen Blick auf das Kleid in meinen Armen richte. Zugegeben, ich bin neugierig darauf, obwohl ich jetzt bereits weiß, dass es mir nicht stehen wird. Mit Tüll kenne ich mich aus, ich besaß selbst schon einen Tüllrock. Dieses mehrschichtige Stoffvolumen komplimentiert mir nicht. Leider. Aber rein für den Spaß möchte ich es anprobieren. Wann habe ich schon einmal die Gelegenheit, ein solches Kleid anzuziehen? Es wird mich schon nicht beißen. „Zu viel Lolita.“ Na, wenigstens in diesem Punkt sind wir uns einig, als Luka und ich kurz darauf gemeinsam mein Spiegelbild betrachten. „Der Stoff ist schön. Verspielter Schnitt. Aber vielleicht ein bisschen zu viel der Details. Und die Farbe …“ Im Spiegel erkenne ich, wie Luka meine Haare inspiziert. „Das Rot harmoniert nicht mit dem Violett. Wenn wir deine Haare –“ „Nichts da!“, entfährt mir ein Fauchen. Kämpferisch starre ich Lukas Spiegelbild in die Augen. „Vergiss es. Auf gar keinen Fall! Meine Haare bleiben so, wie sie sind!“ Er stößt ein leises Seufzen aus. „Ich meine ja nur. Die Strähnen machen es schwierig, geeignete Farbpartner aus der breiten Palette zu wählen. Wir sind sehr an die Vorgaben gebunden.“ Ich schnaube. Meine Haare sind absolut indiskutabel! Ich habe es mit ihnen immer schwer genug, meinen Willen durchzusetzen. Sie sind mein ganzer Stolz und machen aus, wer ich bin. Das ändere ich nicht so einfach auf Anraten Dritter. „Probierst du bitte das zweite Kleid an? Ich habe dir etwas dazugelegt, das besser passen und den Schliff ergänzen dürfte.“ Ich nicke knapp, bevor ich mich umdrehe, um dieser Aufforderung nachzukommen. In der Umkleidekabine erwartet mich ein erneuter Versuch, mich auf Lukas Vorstellung hin zu verwandeln. „Oh, das ist hinreißend!“, höre ich endlich das erste Kompliment, das von der Verkäuferin stammt, kaum dass ich die Kabine zum zweiten Mal verlassen habe. Auch Luka nickt anerkennend. „Ja, das ist schon sehr viel besser. Das Farbspiel harmoniert perfekt miteinander. Die Stile fließen elegant ineinander. Und es ist etwas Neues.“ Mir ist etwas unwohl bei diesen Worten. Auf einmal habe ich ganz heftiges, nervöses Herzklopfen. Ich wage kaum, mich im Spiegel zu betrachten, kann der Neugierde aber auch nicht länger widerstehen. Die junge Frau, deren blauen Augen ich begegne, erkenne ich kaum wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass sich der Satin so angenehm an meine Form schmiegen würde. Nicht beengend, nicht zu ausfallend. Der matt glänzende Stoff sitzt genau dort, wo er sitzen muss, und gibt dort Raum, wo er es getrost darf. Die breiten Längsstreifen sind modisch, nicht zu schlicht, nicht zu erschlagend. Die langen Ärmel tragen je eine Farbe: der eine Weiß, der andere Schwarz. Der Rock reicht bis etwas oberhalb der Knie, eine für mich verträgliche Länge. Der Ausschnitt reicht tief bis ins Dekolleté hinein. Um der Obszönität vorzubeugen, hat mir Luka ein geeignetes Top herausgesucht, das ich darunter trage. Das Türkis ist farbintensiv mit überwiegender Tendenz zum Blau. Eine ähnliche, nur wenig dunklere Farbe hat die Leggins, die ich unter dem Kleid trage. Für mich ein ungewohnter Anblick. Ich habe seit Jahren nichts mehr in dieser Farbrichtung getragen. Nicht in diesem Dominanzverhältnis. „Das Türkis hebt die intensive Farbe deiner Augen hervor, ohne deinen Haaren in die Quere zu kommen“, spricht mir Luka eine leise Erklärung zu. Beinahe wäre mir das Herz stehen geblieben vor lauter Schreck. Seine Stimme flüstert so nah an meinem Ohr, da er sich hinter mir ein Stück weit hinuntergebeugt hat. Seine Arme liegen über meinen, während er die silbernen Ketten meines Kleides, die den tiefen Ausschnitt umrahmen, ordentlich richtet. „In Kombination mit dem eher schlichten Kleid ergibt es ein elegant-verspieltes Gesamtbild. Wie ließe sich deine Person besser beschreiben? Es gibt deine Art äußerst treffend zum Ausdruck, wenn du mich fragst.“ Vorsichtig blinzle ich in seine Richtung. So wie er es sagt, klingt es, als wüsste er mehr über mich. Kennt er diese Seite an mir? Bisher habe ich nicht das Gefühl, ihm etwas davon gezeigt zu haben. Ganz im Gegenteil, ich fühle mich ihm fremd und so verhalte ich mich auch. Wie viel weiß er über mich? „Sie sollte den hier dazu tragen“, unterbricht die Verkäuferin unseren kurzen Moment der Intimität und tritt freundlich lächelnd an uns heran. Sie hält mir einen breiten, schwarzen Gürtel mit silberner Schnalle entgegen, der im Licht dezent glitzert. „Das würde das Bild abrunden und eine besondere Note von selbstbewusster Eleganz verleihen.“ „Wunderbar!“, stößt Luka ein begeistertes Jauchzen aus. Kurzerhand nimmt er ihr das Accessoire ab und bedeutet mir, mich zu ihm zu drehen. Als er mit dem Anlegen fertig ist, nickt er zufrieden. „Perfekt.“ „Dazu passen diese hier“, spricht sie die nächste Empfehlung aus und präsentiert einen Karton, in welchem weiße Stiefeletten aus weichem Wildleder liegen. Ihr Kragen ist großzügig umgeschlagen und die Sohle besteht aus Plateau mit breitem Absatz. Ich bin sofort verliebt, trotz der mir verhassten Farbe. „Und zum krönenden Abschluss …“ Ich spüre einen kühlen Luftzug, als Luka das nächste Kleidungsstück hinter mir aufbereitet. Kurzerhand schlüpfe ich in die weiten Ärmel des Mantels, der einen Verlauf von Schwarz ins Weiß aufweist. Der Saum an Ärmel und Länge ist mit weißem Kunstfell versehen, durch welches vereinzelt schwarze Pünktchen schimmern. „Das Herzstück der aktuellen Wintertraum-Kollektion. Die Süße des Schönen. Hymne eines absolut perfekten Zusammenspiels zweier Nuancen. Oh, wie sehr habe ich darauf gewartet, ihn an dir sehen zu dürfen.“ Er ist wirklich atemberaubend schön.   „Ich finde, ein Lob wäre angebracht. Nun, um die Belohnung kümmere ich mich schon selbst.“ Derweil haben wir ein Café im Zentrum des Stadtbereiches zu unserer neuen Anlaufstelle auserkoren. Auf der unteren Etage im Erdgeschoss befindet sich ein Restaurant, direkt darüber wird für eine breite Auswahl an Desserts gesorgt. Eine interessante Geschäftsidee, die mir sehr gefällt. Die Aussicht auf die Einkaufsstraße unter uns ist sehr angenehm und bietet einiges zu beobachten. Prüfend sehe ich zu Luka hinüber. Er rührt gerade zufrieden in seinem Caffé Mocha, vor ihm ein Stück Vanille-Erdbeerkuchen. Ich selbst hatte mich für einen Baileys-Cappuccino und eine Banane-Schoko-Crêpe entschieden. Das Hawaii-Toast sah ebenfalls lecker aus, aber mir ist gerade eher nach etwas Süßem. „Du möchtest, dass ich dich lobe? Dafür, dass du mich gegen meinen Willen zum Shoppen gedrängt und einen Batzen an Geld in mich investiert hast?“, hake ich nach. Beides hat mir nicht gefallen und ich nehme es ihm wirklich übel. Auch, dass ich nach dieser Aktion noch einem schlichten Makeup und Hairstyling zum Opfer gefallen bin. »Komplett-Makeover«, wie er es angedroht hatte. „Du klingst unzufrieden. Wieso nur? Schau, es hat sich doch allemal ausgezahlt. Und glaube mir, ich habe von dieser Investition mindestens so viel wie du.“ Er legt den Löffel beiseite, stützt die Ellenbogen auf und kreuzt die Finger. Indem er das Kinn darauf senkt, unterzieht er mich einer intensiven Musterung. „Sei ehrlich: Hat es dir denn gar keinen Spaß gemacht?“ Nein. Oder … Ich senke meinen Blick auf mein Glas und konzentriere mich auf die karamellbraune Flüssigkeit mit dem üppigen Schaumanteil darauf. Durch den breiten, blauen Strohhalm ziehe ich einen vorsichtigen Schluck von meinem Baileys-Cappuccino. Er schmeckt angenehm süßlich. „Vielleicht ein bisschen.“ Sein Gesicht ziert ein breites Grinsen. „Na siehst du.“ Sichtlich zufrieden mit meiner Antwort lockert er seine Haltung und macht sich daran, von seinem Kuchenstück zu kosten. Ich gestehe, ich beobachte ihn gern dabei. Ich kann nicht genau bestimmen, was es ist, aber etwas an seiner Art fasziniert mich. Jede noch so kleine, simple Bewegung wirkt irgendwie besonders an ihm. „Die Kleider stehen dir wirklich ausgezeichnet. Das Bild von Schönheit ist nun im vollendeten Einklang. Ich bin eben wahrlich ein Künstler“, verfällt er in ungeniertes Eigenlob, was mich kurz mit den Augen rollen lässt. „Da fällt mir ein …“ Der eingeleitete Themenwechsel erregt wieder meine Aufmerksamkeit. Neugierig beobachte ich, wie Luka nach hinten zu seinem Mantel greift. Er hängt ordentlich an einem der silbrigen Kleiderhaken, wie sie an jedem Wandsitzplatz angebracht sind. Mein neuer Mantel befindet sich ebenfalls dort, zu meinem Bedauern. Kurz darauf rutscht Luka ein wenig zur Seite und klopft leise in einer auffordernden Geste auf den freien Platz neben ihm. Ich seufze leise. Indem ich Glas und Teller schnappe, erhebe ich mich von meinem Stuhl und gehe einmal um den Tisch herum, um mich auf dem roten Leder niederzulassen. „Ich habe ein paar neue Skizzen angefertigt. Würdest du bitte einen Blick darauf werfen und mir sagen, was du davon hältst?“ Ich lasse mir meine Überraschung nicht anmerken, als ich nach dem A4-Skizzenblock greife, welchen er mir bereits aufgeschlagen entgegenhält. Ich bin wirklich unsagbar aufgeregt. Mir ist bisher nie in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht einmal die Gelegenheit haben werde, einen Blick auf Lukas Kunst erhaschen zu dürfen. Wenn das keine Ehre ist, was dann? Vielleicht hat es doch ein paar Vorzüge, seine »Freundin« zu sein. Ich behandle den Block mit größtem Respekt, als ich die Beine überschlage und ihn auf meinen Oberschenkeln abstütze, um mir die Skizzen in Ruhe betrachten zu können. „Feen?“, frage ich interessiert. Mein Blick haftet auf den feinen Linien, welche kleine, geflügelte Frauenwesen zeigen, die sich zwischen großen Blumenpflanzen bewegen. Ein Garten vielleicht. „Ich war neulich auf einer Gartenveranstaltung“, erklärt er mir. Dabei rückt er näher an mich heran, um ebenfalls auf die Zeichnungen sehen zu können. „Das Thema war »Traum im Wiesenbett«. Es wurden verschiedene Pflanzenarten vorgestellt und die Campanula hat es mir besonders angetan.“ Er deutet mit dem Finger auf die gezeichnete Blume, deren Kopf glockenförmig nach unten hängt. Sie bildet mit der kleinen, hellhaarigen Fee das Motivzentrum. Das kleine, geflügelte Frauenwesen beschreibt Verehrung entgegen der Pflanze, hält den Blumenkopf behutsam zwischen ihren winzigen Händen und haucht ihr einen hingebungsvollen Kuss auf. So zumindest interpretiere ich es. „Mhm, das sieht man“, entgegne ich leise. „Und die Feen haben was zu bedeuten?“ „Was harmoniert besser mit der Schönheit einer Blume als Frauen?“ Ein leises Lachen dringt aus ihm hervor. „Feen sind ihre Vertreter. Da es sich bei ihnen um reine Fantasiewesen handelt, kann jeder sie frei interpretieren, wie es ihm beliebt. In meiner Vision stehen sie im Einklang mit der Natur und bewahren deren Schönheit. Sie sind kleine, zarte, unschuldige Wesen. Pflanzen kommen neben ihnen äußerst kräftig zum Ausdruck.“ Seine Erklärung lässt mich schmunzeln. Sie klingt etwas kitschig in meinen Ohren, aber warum auch nicht? Ich würde lügen, würde ich sagen, dass mich etwas Kitsch und Klischee so gar nicht berühren können. Ich blättere weiter. Auch auf der nächsten Seite sind Feen zu sehen, andere dieses Mal, die zwischen verschiedene Blumen und Gräsern hindurchtänzeln. Die darauffolgende Seite zeigt einen eleganten Damenhut mit breiter Krempe. Der Hals ist auf einer Seite mit einem artenreichen Pflanzengesteck verziert. Weitere Ideen zu diesem Gesteck sind an der Seite skizziert. Verschiedene Varianten mit unterschiedlichem Hauptcharakter. Sie sehen allesamt sehr hübsch und vornehm aus, dass in mir der leise Wunsch aufkommt, selbst einmal einen solchen Hut tragen zu dürfen. In einem geeigneten Kleid, natürlich. „Entwirfst du öfter solche Modedesigns?“ „Gelegentlich. Wo mich die Muse eben gerade küsst.“ „Das ist wirklich sehr hübsch“, gestehe ich ehrlich. „Vielleicht solltest du daraus einen richtigen Entwurf machen und einem Hutdesigner vorlegen. Ich bin mir sicher, das könnte auf Interesse stoßen. Spätestens zur Sommersaison.“ „Hm, das hatte ich auch schon überlegt. Meinst du wirklich?“ „Mhm“, unterstreiche ich meine Meinung mit einem Kopfnicken. „Dann werde ich es noch einmal in Erwägung ziehen.“ „Gut. Ansonsten …“ Ich blättere noch einmal durch die Seiten und widme mich den Zeichnungen, die überwiegend aus Bleistift- und Kohleskizzen bestehen. „Ansonsten finde ich die Interpretation sehr schön. Du benutzt sehr feine Linien mit freiem Schwung. Sicher wäre es interessant, wie die farbliche Umsetzung aussehen würde, aber fürs Erste habe ich ein sehr gutes Gefühl.“ War das zu streng? Zu stumpf? Ich bin kein Experte in Kunst. „Ich arbeite bereits an einer Umsetzung“, erklärt er. Stolz lächelt er mir zu. „Wenn du möchtest, zeige ich sie dir irgendwann.“ Wieder nicke ich. „Sehr gern. Das würde mich sehr freuen.“ „Wie kommst du eigentlich voran? Schon irgendwelche neuen Fortschritte?“ Ich horche auf. „Bei was genau?“ „Deinem Roman. Hast du nicht erzählt, du arbeitest an einer Idee?“ Mein Herz schlägt höher. Eine Welle heftiger Glücksgefühle bricht über mir ein. Um ein Haar wäre mir ein freudvolles Quieken entwichen. Ich schreibe? Ich habe diese Leidenschaft also auch in dieser Welt nicht verloren? Gott sei Dank! Diese Information macht mich so dermaßen glücklich, ich finde keine Worte dafür. Bisher hatte ich noch keine Zeit, darüber nachzudenken, aber jetzt, da ich es weiß, verspüre ich eine zentnerschwere Erleichterung. Früher oder später, da habe ich keinen Zweifel, hätte ich mir diese Frage gestellt. Gott sei Dank! „Es ist noch nicht wirklich spruchreif, aber ja, ich arbeite noch daran“, erkläre ich und gerate ins Schwärmen. Meine Wangen glühen wie bei einem frisch verliebten Mädchen. Ob er es bemerkt oder nicht, ist mir egal. Meinetwegen darf jeder wissen, was das Schreiben in mir auslöst. Es ist nun wahrlich kein Geheimnis. „Wirst du mir irgendwann etwas davon zeigen?“ ‚Klar!‘, will ich antworten. Stattdessen stutze ich. „Habe ich das noch nicht?“ „Naja … Ich weiß, dass du schreibst. Du hast mir einmal eine kleine Interpretation zu eines meiner Bilder geschrieben. Das, was ich damals gelesen hatte, hat mir gefallen. Deswegen würde ich gern wissen, woran du eigentlich arbeitest. Vielleicht kann ich dich ja unterstützen, so von Künstler zu Künstler?“ Hm, interessant. Er kennt also mein Hobby und hat sich dazu bereits ein Bild gemacht. Aber er weiß nichts Genaues. Ist das nicht ein wenig eigenartig? „Sicher“, entgegne ich knapp. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich mir nicht sicher. Wenn er doch bereits weiß, dass ich schreibe und an einem größeren Projekt sitze, wieso bin ich dann noch nicht mit ihm ins Detail gegangen? Hat mein anderes Ich ihm misstraut? Gibt es guten Grund dazu? „Ich freue mich schon sehr darauf.“ Es klingt zufrieden. Lächelnd erbittet er sein Skizzenbuch zurück, welches ich ihm kommentarlos überreiche. Dann widmet er sich wieder dem Rest seines Kuchens. „Wir können uns wirklich glücklich schätzen. Zwei so kreative Köpfe, die von der Muse gesegnet sind, haben einander gefunden. Wir haben beide ein Gespür für das Schöne und unsere Kunst ergänzt sich perfekt. Ist das nicht eine wahrlich glückliche Fügung des Schicksals?“ Ich nehme mein Glas und Teller und kehre an meinen ursprünglichen Platz zurück. Seine Worte lösen Unbehagen in mir aus, doch ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen. Es kostet mich wirklich alle Mühe, ein unbeirrtes Lächeln auf meine Lippen zu zaubern, kaum dass ich ihm wieder gegenübersitze. „Wohl wahr.“   Der anschließende Stadtbummel mit Luka gestaltete sich als ungeahnt angenehm. Ich habe dabei herausgefunden, dass er eine genauso große Vorliebe für Musik hat wie ich selbst. Unsere Geschmäcker unterscheiden sich zwar, aber wir sind uns einig, dass Musik die Inspiration nährt. Ebenso wie schöne Dinge wie Blumen oder Bilder, die eine eigene Geschichte erzählen. Ich habe außerdem herausgefunden, dass er neben Kunstbüchern Krimiromane bevorzugt. Sie würden von Ideenreichtum zeugen, hat er gesagt, und regen zum aktiven Mitdenken an. Etwas, das ihm wohl sehr zusagt. Wir haben viel gesprochen. Luka weiß einfach alles, was einem begegnet, irgendwie zu kommentieren. Aber wenn ich ehrlich bin, war nicht viel davon wirklich informativ für mich. Ich hatte zwar viel Spaß, ihm zuzuhören und seine Fragen zu meiner Meinung zu beantworten, aber bei meinen eigentlichen Fragen hat es mir nicht weitergeholfen. Während wir so durch die Straßen gingen, überholten mich wieder die quälenden Fragen. Wieso Luka? Wie konnte es dazu kommen? Wieso ist es so? Und wie lange nenne ich mich schon seine »Freundin«? Ich muss diese Dinge irgendwie in Erfahrung bringen. Egal wie. Ich muss es verstehen.   Zum angebrochenen Abend finden wir uns im angrenzenden Stadtpark wieder, um uns von dem Bummel zu erholen und den Tag ruhig ausklingen zu lassen. Auf dem Weg haben wir uns je eine heiße Süßkartoffel geholt, die zum Winter in Japan sehr beliebt sind. Es ist das erste Mal, dass ich eine esse, aber sie schmeckt genau so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Wir haben uns auf einer Bank niedergelassen. Vor uns befindet sich ein Springbrunnen von eher schlichter Art. Eine Hauptfontäne, die vielleicht einen Meter in die Höhe reicht und konstant fließt, und ein paar kleinere, die abwechselnd in Funktion sind. Darum sind einige kleine Blumenbeete angelegt worden, zwischen die kleine Pflasterwege an den Brunnen heran führen. Eigentlich ganz nett, doch zum Abend lockt er nicht mehr so viele Besucher an sich heran. Auf der anderen Seite des Brunnens gibt ein Straßenmusiker sein Gitarrenspiel zum Besten. Ich kann ihn von hier aus nicht sehen, aber die Musik, die er bringt, gefällt mir. Die Stücke sind abwechslungsreich, zu einigen singt er, zum Glück einigermaßen geübt. Ich bin ganz froh, dass er für ein wenig entspanntes Ambiente sorgt. „Bist du immer noch verstimmt?“, dringt Lukas ruhige Stimme an mich heran. Ich bin gerade dabei, meine Hände mit der Serviette zu säubern, ehe ich mich meines Mülls entledige. Ich sehe ihn kurz von der Seite an. Er sitzt in einer geraden Haltung, den Rücken an der Lehne. Die Arme liegen locker auf seinem überschlagenen Bein. Sein Blick ist auf den Springbrunnen gerichtet und scheint das Wasserspiel zu beobachten. Flüchtig streift mein Blick die große, schwarze Tüte mit dem Geschäftslogo des »Chic Beau«. Meine alten Klamotten befinden sich darin. Luka hatte sie die ganze Zeit getragen, was nicht nötig gewesen wäre, aber er beharrte darauf, dass sich das so für einen Gentleman gehört. Ich habe nicht weiter diskutiert, es hätte sowieso zu nichts geführt bis auf Peinlichkeiten. Ich ziele mit meinem kleinen Papierknäuel auf den Papierkorb nahe der Bank, und treffe. „Nein, ich bin nicht verstimmt“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Das ist gut.“ Ich glaube, ein leises Seufzen von ihm zu hören. Sicher bin ich mir nicht, da ich nicht zu ihm aufblicke. „Weißt du, ich hätte es schade gefunden. Es ist mir wichtig, dass du die Zeit mit mir als angenehm empfindest und Spaß hast, wenn wir ausgehen. Ich möchte nicht, dass ich der Einzige bin, dem es so geht.“ „Wieso? Hattest du bisher das Gefühl, dass es bei mir nicht so ist?“ „Um ehrlich zu sein, ich bin mir manchmal nicht ganz sicher.“ Nun sehe ich doch vorsichtig zu ihm. Ich muss wissen, was sich aus seiner Haltung und seinem Gesicht lesen lässt, während wir dieses Gespräch führen. „Wieso?“ „Wie soll ich das beantworten?“ Er schweigt für einen Moment, blickt starr auf die Fontänen und scheint tatsächlich nach den richtigen Worten zu suchen. „Du bist manchmal sehr zurückhaltend, wirkst auf Distanz. Ich habe manchmal das Gefühl, dass du mir nicht recht über den Weg traust. Aber du sagst auch nie etwas, beschwerst dich nie. Und ich frage mich, ob ich mir einfach zu viele Sorgen mache, was das anbelangt.“ Naja, verübeln kann ich »mir« das nicht. Es stimmt immerhin, ich bin misstrauisch ihm gegenüber. Ich besitze Wissen über ihn, wovon er nichts wissen darf. Aber der Tag hat mir gezeigt, dass er eigentlich gar kein so schlechter Kerl ist. Dennoch bin ich auf Vorsicht getrimmt. Ich kenne ihn so gesehen nicht und wage nicht, nach ein paar Stunden mit ihm als reale Person ein finales Urteil zu fällen. Ich wüsste selbst noch nicht zu sagen, in welche Richtung es ausfallen würde. Eines ist mir bis hierhin klar: »Ich« kenne ihn schon länger. Er weiß ein paar Dinge über mich. Es war nicht unser erstes Date. Aber bisher habe ich nicht das Gefühl, dass wir sonderlich vertraut miteinander sind. Anders bei Ukyo, der mich sehr gut zu kennen scheint. Oder zumindest einige meiner Alltagsgewohnheiten. Ich frage mich, wieso das so ist. Wieso scheint da eine so große Distanz zwischen uns zu sein, obwohl wir doch ein Paar sind? Sind wir möglicherweise erst seit Kurzem zusammen? Aber wieso? Wie kam es überhaupt erst dazu? Ich wende meinen Blick ab. „Kann man das umgekehrt nicht genauso sagen? Ich meine, wir sind jetzt wie lange zusammen?“ „Knapp einen Monat.“ Aha, interessant. Rhetorische Fragen for the win! „Siehst du. Und das war jetzt unser wievieltes Date?“ „Das dritte.“ „Also.“ Nun gut, das ist jetzt wirklich nicht so die Zeitspanne. Käme vielleicht darauf an, wie oft wir insgesamt miteinander zu tun haben. Ich meine, Dates sind ja nicht dazu da, um sich nur dann zu sehen, richtig? Aber es wäre zu auffällig, das jetzt ebenfalls mit einer vorgetäuschten Rhetorikfrage in Erfahrung bringen zu wollen. Ich werde es sicherlich noch merken. „Knapp ein Monat. Drei Dates. Und trotzdem sitzt du auf Abstand neben mir auf einer Parkbank und siehst mich nicht einmal an.“ Nicht, dass mir anderes im Augenblick lieber wäre, aber ein solches Aufzeigen von Tatsachen erscheint mir im Zuge der Situation angemessen. Natürlich ist mir bewusst, dass ich damit Lukas Aufmerksamkeit auf mich gezogen habe. Ich kann seinen erstaunten Blick regelrecht spüren. Ein Gefühl, das sich nicht gerade gut anfühlt, eher unbehaglich. „Das tut mir leid, ich …“ Luka verstummt mitten im Satz. Ich wage nicht, ihn anzusehen, deswegen warte ich die Zeit einfach stillschweigend ab, bis er wohl die richtigen Worte gefunden hat. „Weißt du, es ist nur so: Ich war die ganze Zeit in dich verliebt. Man könnte sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Ich weiß, wie kitschig das klingt … aber es ist wahr. Es war nicht leicht, dich zu fragen, ob du meine Freundin sein möchtest. Und als du eingewilligt hast, war das für mich das größte Glück, das einem Mann widerfahren kann. Ich schätze nur, ich weiß noch immer nicht, wie ich am besten damit umgehen soll.“ Das wäre jetzt der Moment, in dem ich mir am liebsten eine Zigarette angesteckt hätte. Aber Luka hatte es mir verboten. Oder vielmehr hatte er mir im Café zu verstehen gegeben, dass er es nicht wünscht. Normalerweise gebe ich nicht viel auf Vorschriften, die meine privaten Gewohnheiten so vorherrschend bevormunden, aber wenn mich ein Nichtraucher so ausdrücklich darum bittet, in seiner Gegenwart das Rauchen zu unterlassen, dann behandle ich es mit Nachsicht. Auch wenn es echt ärgerlich ist und mich stresst. Ich stoße ein langes Seufzen aus. „Weißt du, du brauchst dich wirklich nicht so sehr um süße Worte zu bemühen“, reagiere ich trockener, als es in solch einer Situation wohl angemessen gewesen wäre. Aber das hier ist kein Shoujo-Manga und auch kein schnulziger Romantikstreifen. Ich würde in solch ein Setting auch gar nicht hineinpassen. „Es genügt mir voll und ganz, wenn du ehrlich zu mir bist.“ „Du glaubst mir nicht?“ Wie könnte ich? Auf welche Beweislage kann ich mich beziehen? Ich bin kein Teenager mehr. An »Liebe auf den ersten Blick« glaube ich schon lange nicht mehr. Liebe und Verliebtsein gilt für mich strikt zu unterscheiden. „Ich weiß es nicht.“ Aber Lukas Worte einmal ganz beiseite: Was empfinde »ich« eigentlich für ihn?   Es ist weit nach neun, als mich Luka zu Hause absetzt. Zumindest vermute ich das, nachdem die Uhr etwa dreiviertel neun gezeigt hatte, als wir den Park verlassen hatten. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergangen ist, obwohl sie mir endlos erschienen war, während ich mit Luka unterwegs gewesen war. Auf jeden Fall ist es spät geworden und die Straße vor meinem Wohnblock menschenleer. Ich schnappe mir meine Umhängetasche und die Tüte mit meinen Klamotten, ehe ich mich mit allem bepackt aus dem Taxi hieve. Der Fahrer hält es offenbar nicht für nötig, den Motor auszuschalten, was nur bedeutet, dass er so bald wie möglich weiterfahren möchte. Luka ist höflich genug, ebenfalls aus dem Taxi zu steigen, um mich angemessen zu verabschieden. Wir haben während der Fahrt nicht viel gesprochen, was in erster Linie an mir lag. Es waren genug Lügen für einen Tag, die ich gebraucht hatte. Mehr wollte ich wirklich niemanden mehr zumuten. Glücklicherweise schien Luka mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, sodass er nicht viel Aufwand betrieben hatte, mich doch noch in ein Gespräch zu verwickeln. Es war sehr erholsam, ehrlich gestanden. „Danke, dass du dir heute die Zeit für mich genommen hast“, eröffnet er die letzte Runde, die wir jetzt noch miteinander auszufechten haben. „Ich hatte viel Spaß.“ „Ich auch“, erwidere ich und habe nicht das Gefühl, gänzlich zu lügen. Rückblickend betrachtet. „Danke für alles“, ergänze ich und halte verbildlichend die »Chic Beau«-Tüte in meiner Hand ein Stück hoch. „Nicht dafür. Also dann, hab eine geruhsame Nacht.“ „Danke, die wünsche ich dir dann auch. Komm gut heim.“ Er nickt, lächelt kurz, bevor er sich in seinen Sitz zurücksinken lässt. Ich verstehe nicht mehr, welche neue Zieladresse er dem Fahrer nennt, da er die Tür bereits zugezogen hat. Keine Sekunde später setzt sich der gelbe Wagen bereits in Bewegung und ich sehe zu, wie er langsam meine Wohnstraße verlässt. Hm, seltsam. Das ging glimpflicher aus, als erwartet. Vielleicht etwas zu glimpflich. Keiner, der uns zugesehen hätte, hätte wohl vermutet, dass wir ein Paar sind. Kein Kuss, keine Umarmung. Nicht einmal ein klischeehafter Handkuss, den ich ihm durchaus zugetraut hätte. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht ganz schlüssig, wie ich darüber denken soll. Es hinterlässt einen ziemlich bitteren Beigeschmack auf einer üppigen Portion Verwirrung. Nicht sehr lecker, und bestimmt nicht sehr bekömmlich. Aber was soll’s. Ich will nicht ewig hier draußen herumstehen und mir schon wieder den Kopf zerbrechen. Für einen Tag reicht es wahrlich an neuem Input. Eine Mütze voll Schlaf klingt jetzt sehr verlockend. Schlafen und einfach an nichts mehr denken. Und dieses Mal bitte im richtigen Bett. Ich suche meinen Schlüssel hervor und verschaffe mit Einlass in mein Wohnhaus. Mein Kopf steht auf Leerlauf, während ich die Treppe zur zweiten Etage nehme. Ohne Weiteres öffne ich die Tür meines Apartments und betrete zum zweiten Mal mein vorübergehendes Zuhause. „Da bist du ja!“, werde ich postwendend begrüßt, noch ehe ich die Tür hinter mir ins Schloss ziehen kann. Ukyos Stimme scheint aus dem Badezimmer zu kommen, tippe ich. Seltsam, dass es mich schon gar nicht mehr erschreckt, plötzlich einen Mitbewohner zu haben. Vielleicht bin ich auch nur müde, wer weiß. „Wo warst du denn so lange? Es ist schon spät. Ich habe angefangen, mir Sorgen zu machen.“ Ungeachtet der unüberhörbaren Sorge in seiner Stimme, entledige ich mich meines Mantel und Schuhe. Ich bin wirklich nicht mehr zu großartiger Anstrengung ausgelegt. Nur noch das Nötige und dann ins Bett. „Huch? Was ist denn mit dir passiert?“, höre ich Ukyo fragen, dieses Mal näher als zuvor. Ich blicke nur kurz auf, um mir zu bestätigen, dass meine Vermutung richtig war. Seine Haare sind feucht, nur grob zusammengesteckt und er hat sich ein Handtuch über die Schultern gelegt, wohl damit sein T-Shirt nicht unnötig nass wird. Frisch aus dem Badezimmer, definitiv. „Du siehst ja ganz anders aus als vor deinem Aufbruch.“ „Ich war shoppen. Unfreiwillig“, entgegne ich knapp. „Wolltest du dich nicht mit jemandem treffen? Dieser Picas-Person?“ „Ja, habe ich.“ „Und?“ Ich seufze. Indem ich mir Tasche und Tüte schnappe, ziehe ich an Ukyo vorüber und steuere auf direktem Wege mein Zimmer an. „Ich hatte ein Date.“ „W-was?“ Ich höre, wie Ukyo mir folgt. Erst als ich mein Zimmer betrete, dreht er sich ab und lehnt sich wartend gegen die Wand neben meiner Tür. Er scheint zu viel Anstand oder Respekt vor der weiblichen Privatsphäre zu haben, als dass er meinen Raum ohne meine ausdrückliche Aufforderung betreten würde. Nun, damit kann ich gut leben. Ich sollte es wohl künftig genauso bei ihm halten. Bei der Gelegenheit schäle ich mich aus den neuen Klamotten. Nachdem ich in eine lockere Hose und Schlafshirt geschlüpft bin, angle ich mir meine Zigaretten aus der Handtasche und verlasse mein Zimmer ein weiteres Mal. Ukyo steht tatsächlich noch auf seinem Posten neben der Tür, den Blick an der Decke haftend. Es verwundert mich ein bisschen, aber ich gehe nicht weiter darauf ein. Kommentarlos steuere ich den Balkon an. Kaum an der frischen Luft, stecke ich mir eine Zigarette an. Die dritte erst an diesem Tag. Wow, ich bin selbst ganz überrascht. Das wäre eigentlich die Gelegenheit, das Rauchen aufzugeben. Aber vielleicht mache ich mir nur wieder irgendwelche Illusionen von einem guten Willen, wo keiner ist. Wer weiß. „Ich war mit Luka aus“, sage ich schließlich nach einer ganzen Weile, nachdem ich bereits die Hälfte des Nikotinspenders verqualmt habe. Ukyo steht schon die ganze Zeit mit mir draußen, hält sich jedoch in der Nähe der Tür auf. Ich weiß nicht, ob es wegen meines Rauchens oder etwas anderem ist, bin aber auch nicht gewillt, jetzt noch groß darüber nachzudenken. „Hätte ich dir schreiben sollen, dass es voraussichtlich später wird oder so?“ Als auch nach mehreren Sekunden noch keine Antwort von Ukyo kommt, sehe ich zu ihm herüber. Er steht tatsächlich noch bei der Tür, den Rücken gegen den Rahmen gedrückt. Wie abwesend starrt er zu Boden, was es mir schwierig macht, in seinem Gesicht zu lesen. Doch seine Haltung wirkt verkrampft, irgendwie steif, was eigentlich genügt, um mir ein Bild von seinen Gedanken machen zu können. „Was ist denn? Hast du nicht gewusst, dass wir zusammen sind?“ „Nein … Also doch, natürlich habe ich es gewusst“, gibt er mir stammelnd zur Antwort. Es klingt irgendwie zerknirscht, unwillig. Als würde ihm der bloße Gedanke daran nicht gefallen, geschweige denn die Tatsache. „Hattet ihr wenigstens Spaß? War er nett zu dir?“ Seine Fragen wirken irgendwie gezwungen. Ich habe nicht das Gefühl, dass er das wirklich wissen möchte. Auf jeden Fall nicht das Erste. „Wir waren einkaufen, Kaffee trinken, ein wenig bummeln und spazieren. Nichts Weltbewegendes“, fasse ich daher meine Erklärung so knapp zusammen wie möglich. „War recht lustig. Wir haben viel geredet. Sonst ist nichts weiter passiert.“ „So. Das freut mich.“ Ich glaube ihm nicht. Ich glaube mir selbst nicht. Und ob ich Luka glauben soll, wage ich immer noch zu bezweifeln. Mann, so viel Misstrauen auf einem Haufen. „Tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Das nächste Mal denke ich daran, dir Bescheid zu geben.“ „Mh.“ Wie bedrückend. Meine Zigarette ist aufgeraucht und ich drücke den Stummel in einem Aschenbecher aus, der auf einem der Fensterbretter steht. Ich muss Ukyo bitten, dass er mich vorbeilässt, ehe ich in das warme Wohnzimmer eintreten kann. Er spricht noch immer kein Wort zu mir. „Ich werde mich schon einmal hinlegen. Ist das okay für dich?“ „Mh.“ Ich seufze. Der Tag war stressig genug gewesen, und nun verhält sich Ukyo auch noch so resignierend. Das macht den Ausklang nicht gerade einfacher. „Gut, dann gute Nacht.“ „Gute Nacht.“ Zwecklos.   In meinem Zimmer liege ich endlich in mein warmes Bett gekuschelt. Es ist genauso bequem wie Ukyos, riecht nur anders. Mehr nach Waschmittel. Hm, vielleicht nur Einbildung. Die Beleuchtung meines Handydisplays erhellt den Raum spärlich. Zum wiederholten Male an diesem Tag, seit meiner Zugfahrt nach Nikuni, ziehe ich die Liste meiner Kontakte rauf und runter. Keine Privatkontakte. Lediglich sämtliche Namen jener, von denen ich weiß, dass sie meine Kollegen im »Meido no Hitsuji« sein dürften. Bis auf Kento, lustigerweise. Arbeitet er nicht im Café oder bin ich nur noch nicht dazu gekommen, ihn nach seiner Nummer zu fragen? Tja, und »Picas«. Ich frage mich immer noch, wofür dieser Name eigentlich steht. Wieso habe ich nicht einfach »Luka« eingespeichert, wie es sich gehört? Wollte ich damit irgendwem irgendwas verheimlichen? Aber sonst nichts. Keine Privatkontakte. Nicht meine Mum, nicht mein Freund, nicht meine Freunde, Kollegen, keine Ärzte. Nichts, gar nichts. Als würde es keinen von ihnen geben. Aber das Handy, welches ich in der Hand halte, ist ohne Frage meins. Was hat das zu bedeuten? Ich seufze geschlagen. Schnell gehe ich aus der Kontaktliste heraus, zurück zum Startbildschirm. Zweimal tippe ich auf eine freie Fläche und schalte das Display damit aus. Es wird schwarz, das Zimmer dunkel, und ich lege das Smartphone neben meinem Bett auf der Zwischenablage meines Kleiderschrankes ab. Anschließend drehe ich mich auf die andere Seite und vergrabe mich tief in der flauschigen Bettdecke. Keine Realkontakte. Als hätte es sie nie gegeben. Was hat das zu bedeuten? Was bedeutet das für mich? Das Leben, welches ich bisher geführt habe? Tränen steigen mir in die Augen. Mein Herz krampft sich zusammen. Auf einmal habe ich schreckliches Heimweh. Ich sehne mich nach einer Gewissheit. Einem Beweis, dass ich wirklich ich bin. Irgendetwas, das mir zeigt, was nun die tatsächliche Realität ist. Woran ich mich halten kann. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Auf einmal habe ich schreckliche Angst, es niemals zu erfahren. Kapitel 5: Auf zur zweiten Runde -------------------------------- Die angenehme Stille in meinem Zimmer wird von lauter, rockiger Musik gestört. Ich höre es, realisiere aber erst bei dem geträllerten „Jiri, Jiri, Hijiri-kun“, dass es sich dabei um den Klingelton meines Handys handelt. Nur widerwillig drehe ich mich im Bett herum und angle blind nach dem Mobiltelefon. Meine Hand geht ein paarmal ins Leere, dann gegen das kühle Holz, bis ich endlich die Ablage ertastet habe. Kurz bevor der kurze Abspann des SRX-Liedes endet, gelingt es mir, den Schieber zu bedienen und das Gespräch entgegenzunehmen. „Ja?“ „Liegst du etwa noch?“ Ich erkenne den kühlen Klang dieser Stimme, kann sie aber nicht sofort der richtigen Person zuordnen. „Jeder guter Kämpfer benötigt ausreichend Schlaf, aber merke dir: Der Feind schläft nie.“ Oh, fuck! Waka! Augenblicklich bin ich wach und sitze aufrecht in meinem Bett. Eilig suche ich nach einer Uhr, doch muss erkennen, dass mein Zimmer so etwas nicht beherbergt. Oh mein Gott, wie spät ist es? „Mist! Habe ich verschlafen? Tut mir leid, ich werde mich sofort anziehen und so schnell ich kann –“ „Nicht nötig.“ Ich erstarre im aufrechten Stand inmitten der Bewegung. Das Adrenalin pumpt durch meine Venen, bringt meine Schläfen zum Pulsieren und setzt mein Hirn gänzlich außer Kraft. Ich bin weder zu einer Antwort noch einer Bewegung imstande. „Dein Einsatz beginnt erst zur zweiten Runde. Sei um dreizehn dreißig auf Gefechtsstation. Wir beginnen pünktlich mit den Kampfvorbereitungen.“ „Jawohl.“ „Gut. Das war’s fürs Erste. Ich verlasse mich auf dich.“ Klack. Langsam lasse ich meinen Arm sinken. Mein Kopf fühlt sich vollkommen leer an. Ich stehe komplett neben der Spur. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht wirklich verstanden, worum es gerade ging. Nur so viel, dass ich heute wohl um halb zwei zum Dienst antreten soll. Was mit anderen Worten bedeutet, dass ich heute eine weitere Schicht im »Meido no Hitsuji« habe. Kraftlos lasse ich mich zurück aufs Bett sinken. Meine Knie fühlen sich weich an, jetzt, da das Adrenalin langsam aber sicher wieder abnimmt. Der Schock sitzt mir noch immer in den Gliedern, mein Herz rast wie verrückt, und ich bin definitiv wach. Mir ist kalt. Ich spüre, wie sich eine Gänsehaut über meine Arme zieht. Mein Körper ist noch auf Schlaf ausgelegt, mein Blutkreislauf längst nicht richtig in Schwung. Das war wirklich nicht die beste Methode, um in den Tag zu starten. Von null auf hundert kann nicht gesund sein, ganz sicher nicht. Kurz werfe ich einen Blick auf meine Handyuhr: 7:31 Uhr. Viel zu früh. Ich habe nicht einmal annähernd genug Schlaf bekommen, um jetzt schon mit dem neuen Tag zu beginnen. Zumal ich noch so viel Zeit hätte, bis meine Schicht beginnt. Aber nach Wakas Weckrufaktion wird an Schlaf nicht mehr zu denken sein. Ganz gleich, wie schlapp und unausgeruht ich mich fühle. Die Nacht war schrecklich gewesen. Nachdem ich die erste Zeit gar nicht recht einschlafen wollte und bis um vier einen sehr leichten, äußerst unruhigen Schlaf gehabt hatte, waren die letzten Stunden die schlimmsten gewesen. Da hat man es endlich geschafft, zur Ruhe zu kommen, und dann muss einen natürlich ein Albtraum heimsuchen. Natürlich, was auch sonst. Mir schaudert bei dem Gedanken daran. Ein Tornado hatte mein Zuhause dem Erdboden gleichgemacht. Mein richtiges Zuhause. Er hat mein Wohnhaus wörtlich in Fetzen und die Straßen wie ein Pflaster unter sich herausgerissen. Binnen Minuten wurde mir alles genommen: mein Zuhause, meine Familie, sogar meine Arbeit und mein vertrautes Umfeld. Ich habe versucht, Freunde und Kollegen zu warnen, aber bekam kein Netz. Ich bin gerannt, von A nach B, aber die Wirbelwinde waren mir stets auf den Fersen. Von überall hörte ich Schreie, Sirenen, einen unglaublichen Lärm. Ich habe versucht, zu helfen, wem ich konnte, doch es war zwecklos. Das Chaos war von jetzt auf gleich ausgebrochen, ohne eine Chance, ihm zu entkommen. Doch das war noch nichts im Vergleich zu dem, was uns noch bevorstand. In Schaufenstern, die ich passiert hatte, berichteten die Medien von einer Art Apokalypse. Einer unausweichlichen Katastrophe, dem sicheren Ende der Welt. Ein Schwarzes Loch hatte sich der Erde genähert und war im Begriff, sie zu verschlingen. Ich verstehe nicht viel von Science Fiction, Astronomie und dem Universum und weiß daher nicht, ob das rein logisch betrachtet überhaupt möglich ist, dass sich ein Schwarzes Loch bewegen kann, aber in meinem Traum war es so. Es hat alles in sich verschlungen, was ich einst mein friedvolles Zuhause genannt hatte. Binnen kürzester Zeit. Bei der Erinnerung will ich weinen. Ich spüre, wie ein dicker Kloß in meinem Hals anschwillt, doch ich kämpfe dagegen an. Es war nur ein Traum, versuche ich mir einzureden. Ein Albtraum, mehr nicht. Einer von vielen, die ich schon hatte, nur mit dem Unterschied, dass dieser auf einem wahren Gefühl von mir beruht. Ich will nicht darüber nachdenken. Schon allein aus diesem Grund will ich mich nicht noch einmal hinlegen. Aus Angst, in diesen Traum zurückzukehren. Nun bin ich wach, es ist vorbei und ich habe wahrlich genug andere Sorgen, um die ich mich kümmern muss. Wenig motiviert richte ich mich auf. Als allererstes sollte ich dafür sorgen, dass mein Start in den Tag besser wird. Mir ist noch immer kalt, daher gehe ich zu meinem Kleiderschrank und suche mir dort einen Alltagspullover heraus. Nachdem ich hineingeschlüpft bin, ziehe ich die Rollläden meines Fensters hoch und kippe es zum Lüften an. Ich will mein Zimmer verlassen, dabei fällt mein Blick auf die Tür, die meinen Raum von dem benachbarten trennt. Ukyo. Bei dem Gedanken an ihn wird mir schwer ums Herz. Unser gestriges Gespräch war nicht sehr schön verlaufen. Er hatte so angespannt gewirkt, unbestreitbar verstimmt. Ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf gegangen sein mag und was der Auslöser für seinen Unmut war. Ich weiß nur, dass es nicht schön gewesen war, ihn so zu sehen, und dass ich mich irgendwie schuldig dafür fühle. Er ist eine liebe Person, das weiß ich jetzt noch besser, als ich bisher den Eindruck von ihm hatte. Er ist jetzt real, so wie all die anderen, und ich habe das Gefühl, dass er mir ein guter Freund ist. Einen Freund lässt man nicht in seinem Unmut allein. Ich sollte mit ihm reden. Was immer da gestern zwischen uns gewesen ist, es sollte geklärt werden. Ich weiß noch immer nicht viel, nicht einmal, wie es wirklich zwischen uns steht neben unserer Wohnsituation. Umso mehr sollte ich versuchen, einen guten Draht zu ihm zu haben. Nicht nur meinetwegen, auch für ihn, damit er mich nicht als Last empfindet. Das wäre das Letzte, was ich will. Ich bin sehr dankbar dafür, ihn in meiner Nähe zu haben. Ich fühle mich gleich sicherer und geborgener mit ihm an meiner Seite. Sicher erwarte ich nicht, dass er immer da ist, wenn ich etwas brauche, aber allein, dass er da ist, macht schon vieles erträglicher für mich. Es wird nicht leicht werden, aber es ist notwendig. Diese Aussprache ist wichtig und ich hoffe, dadurch noch ein wenig mehr zu erfahren. Hoffentlich hat mein bisheriges Ich genug Vertrauen zu ihm aufbauen können, dass er offen und ehrlich mit mir reden wird. Das würde alles so viel leichter machen. Ich muss wissen, was in ihm vorgeht, damit ich richtig auf ihn eingehen kann. Ich seufze tief. Mein Entschluss steht. Entschieden gehe ich zur Tür und verlasse mein Zimmer. Die Wohnung ist still, unheimlich still. Vielleicht schläft Ukyo ja noch, geht mir durch den Kopf. Es ist gerade kurz nach halb acht. Kann ich ihn mir als Langschläfer vorstellen? Hm, naja, meine Interpretation muss ja nicht mit den realen Personen übereinstimmen, richtig? Da ich Ukyo auf Anhieb nirgends ausmachen kann und auf keinen Fall sein Zimmer betreten werde, wenn die Möglichkeit besteht, dass er noch schläft, entscheide ich mich kurzerhand um. Ich steuere das Badezimmer an, um mich frischzumachen. Morgendliche Schönheit ist nicht jedem vergönnt, mir schon mal gar nicht. Mein Spiegelbild zeigt genau das, was ich erwartet habe. Ich sehe aus, wie ich mich fühle. Die Nacht ist meinem Gesicht abzulesen, meine Augen blicken mir müde entgegen. Katastrophe. Wie gut, dass ich Ukyo so nicht über den Weg gelaufen bin. Wenn ich ihn nur ansatzweise richtig einschätze, hätte er sofort gewusst, was los ist. Auf diese Art von Fürsorge kann ich gut verzichten. Das macht es nicht besser, nicht wirklich. Ich drehe das Wasser auf und beginne, mich zu waschen. Alles Übrige folgt, ohne dass ich hetze, bis ich Minuten später das Badezimmer wieder verlasse und die Küche als Nächstes in Angriff nehme. Auf meinem Weg dahin wende ich mich der Stereoanlage zu. Ich bin erleichtert, als ich entdecke, dass sie eine Radiofunktion hat. Ich schalte auf den Sender, der bereits eingestellt ist, und lasse die mir fremde Musik in gemäßigter Lautstärke etwas Leben in die Bude bringen. Es tut gut, nicht länger mit Stille vorlieb nehmen zu müssen, und ich setze meinen Weg fort, um mir alles für einen morgendlichen Cappuccino zurechtzusuchen. Während ich Pulver in die Katzentasse gebe, fällt mir ein Zettel ins Auge, der neben dem Wasserkocher auf der Theke liegt. Sofort lege ich alles zur Seite und nehme ihn zur Hand, um die Schriftzeichen zu lesen, die in schmaler, leicht seitlich geneigter Handschrift geschrieben stehen. »Guten Morgen. Bitte entschuldige, dass ich dich schon wieder allein lasse. Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Etwas Kleines zum Frühstück steht im Kühlschrank. Als kleine Entschuldigung. Heute hast du wieder Schicht im Meido, richtig? Kannst du Shin vielleicht seine CD zurückbringen? Sag ihm bitte, dass sie mir gefallen hat. Und liebe Grüße an Waka-san. Pass auf dich auf. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Ukyo« Hm, er ist also nicht da. Und wie es klingt, werde ich ihn wohl vor dem Abend nicht zu Gesicht bekommen. Schade … nein, eigentlich finde ich das richtig scheiße. So richtig, richtig beschissen. Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Ukyo ist ein wirklich vielbeschäftigter Mann, wie es scheint. Ob das wohl zur Gewohnheit wird? Oder ist es nur im Moment so? Irgendwie ist es jetzt doch fast, als würde ich allein leben. Normalerweise bin ich das gewohnt, aber hier, in dieser Welt und Situation, hätte ich es schön gefunden, nicht so viel allein zu sein. Einsamkeit führt nur zum Nachdenken und das wiederum hat mir noch nie gut getan. Jetzt am allerwenigsten. Egal, ich kann es nicht ändern. Es ist wie es ist, ich sollte nicht so egoistisch sein. Das steht mir gar nicht zu. Ich werde schon irgendwie zurechtkommen. Bin ich immer, egal wie. Entschieden, wenn auch mit schwerem Herzen, lege ich den Zettel zurück auf die Theke. Daneben erkenne ich die CD, von der Ukyo wohl gesprochen hat. Ich werde sie später einpacken und mit auf Arbeit nehmen. Wenigstens das kann ich für Ukyo tun. Noch einmal lasse ich meinen Blick über die Zeilen schweifen. Frühstück, hm? Irgendwie ist das süß. Es bringt mich zum Schmunzeln. Das ist wirklich sehr aufmerksam von ihm, richtig fürsorglich. Ich bin das gar nicht gewohnt. Aber es ist tröstend, dass er an mich gedacht hat. Und beruhigend, dass er sich trotz seiner vielen Abwesenheit so um mich kümmert. Es gibt mir ein Gefühl, dass er auf die Art nicht ganz weg ist. Das reicht mir voll und ganz, fürs Erste. Etwas besser gelaunt gieße ich mir meinen Cappuccino auf. Anschließend prüfe ich, was er mir im Kühlschrank hinterlassen hat. Ein Sandwich. Nichts Aufwendiges, aber ein kurzes Prüfen lässt mich feststellen, dass es handgemacht sein muss. Ich finde alle Zutaten, die ich auf den ersten Blick erkennen kann, ebenfalls im Kühlschrank. Ach, Ukyo, du Nuss. Eine Packung Cornflakes und Milch hätten es auch für mich getan. Dankbar nehme ich es an und stelle mein Frühstück auf den kleinen Tisch. Im Radio kündigen sie schönes Wetter für den heutigen Tag an. Na, wenn das nicht ein Grund ist, positiv nach vorn zu blicken. Es kann nur aufwärts gehen.   Ich habe noch etwas Zeit, bis ich zur Arbeit muss. Das trifft sich gut, denn ich sollte ganz dringend etwas tun, um nicht wie ein Pferd auf dem Flur zu stehen: recherchieren. Auf der Unterablage des Wohnzimmertisches habe ich einen Laptop entdeckt. Das ist praktisch, denn den kann ich gut gebrauchen. Vielleicht wird er mir auch in Zukunft noch sehr dienlich sein, wenn sich mein Kopf denn eines Tages genug beruhigt haben sollte, dass ich zum Schreiben in der Lage bin. Ich hoffe nur, das ist auch für Ukyo okay, wenn ich ihn verwende. Die Festplatte ist nicht passwortgeschützt. Auch stelle ich zu meiner Erleichterung fest, dass wir Internetzugang haben. Den habe ich am Handy zwar auch, zumindest sollte ich das, aber ich bin doch eher ein Computermensch. Gewohnheitstier eben. Zu meinem Erstaunen kann ich Google aufrufen. Kurzerhand gebe ich »Meido no Hitsuji Adresse« in der Suche ein. Und Tatsache, mir werden verschiedene Einträge als Ergebnisse geliefert. Puh, und ich hatte beim Absenden schon Angst gehabt, ich würde auf Fanwikis stoßen oder so etwas. Ich hole mein Handy herüber und speichere mir die Anschrift in den Memos. In einer Map sehe ich mir die Wegbeschreibung an und mache mir auch dazu Notizen. Der Weg ist in gut einer halben Stunde zu schaffen, bei meiner Orientierung vielleicht in fünfzig Minuten. Aber es hält auch eine U-Bahn in der Nähe. Mit der richtigen Linie fahre ich nur zwei Stationen in unter zehn Minuten. Dann ist es nur noch eine Straßenüberbrückung und ich komme direkt hinunter auf die richtige Straße. Laut empfohlener Wegbeschreibung etwa fünf bis zehn Minuten Fußmarsch, je nach Schritttempo. Das klingt nach etwas, was auch ich hinbekommen sollte. Zumindest für die Zeit, in der ich den Weg noch nicht in Ruhe abgelaufen bin. Später kann ich immer noch auf Fußweg umsteigen, ist geldsparender und gut für die Bewegung. Zufrieden speichere ich meine Notizen ab und sperre mein Handy. Meine Recherchen waren zweckdienlich und sind damit abgeschlossen. Gerade will ich den Laptop wieder herunterfahren, da kommt mir ein Gedanke. Er ist etwas gewagt und vielleicht ist er auch sinnfrei, aber … Abermals bediene ich das Internet. In der Adresszeile gebe ich eine mir sehr vertraute Seitenadresse ein: »www.animexx.de«. Mein Herz schlägt wie verrückt in meiner Brust, als ich Enter betätige und gespannt beobachte, wie sich das Laderädchen dreht. »Die angeforderte Internetadresse ‘www.animexx.de‘ existiert nicht.« BAMM, in die Fresse. Ich seufze. Dann versuche ich es erneut: »www.animexx.jp«. »Die angeforderte Internetadresse ‘www.animexx.jp‘ existiert nicht.« War ja klar. Ich gehe zurück auf Google und suche dort nach der größten deutschen Anime/Manga-Internetcommunity. Meine Suchanfrage erzielt auch hier keine gewünschten Ergebnisse. Mir dämmert, dass es keinen Sinn macht. Spaßeshalber ändere ich meine Suchanfrage und erbitte Ergebnisse zu »Amnesia PSP«. Weitere Varianten folgen, in der ich das »PSP« in alternative Verbindungswörter wie »Anime« und Namen wie »Ukyo« und »Ikki« umändere. Doch was ich auch versuche, das Ergebnis bleibt immer nahezu dasselbe. Die meisten Ergebnisse spucken mir alles Mögliche zu Amnesie aus. Seitenweise. Ein paar andere versuchen mir etwas zu verkaufen. Einzelne Seitenangebote lassen mich zweifeln, ob Google tatsächlich verstanden hat, was ich von ihm möchte. Aber nichts zu dem »Amnesia«, was ich meine. Weder Spiel noch Anime. Nichts, gar nichts. Nicht einmal im Entferntesten. Die Ergebnisse sind eindeutig: »Amnesia«, wie ich es meine, existiert nicht. Die Zeit lässt es zu, also spiele ich noch ein wenig mit anderen Suchen herum. Wesentlich besseren Erfolg habe ich mit »Coca Cola«, »Pirates of the Carribean« und »Deutschland«. Anfragen wie »Uta no Prince-sama« und »Granrodeo« hingegen führen erneut zu einer fragwürdigen Schnitzeljagd im Fegefeuer. Lustig irgendwie. Die Ironie bringt mich fast zum Lachen. Ich beginne zu verstehen. Alles, was auch nur im Entferntesten einen Hinweis darauf geben könnte, dass es sich bei »Amnesia« um etwas Nichtreelles handelt, existiert hier nicht. Egal, was mir dazu einfällt. Jeder Versuch, diese Welt als nicht real zu identifizieren, lässt mich gegen Wände rennen. »Amnesia« existiert nicht. Es ist dasselbe, wie wenn ich in meiner Welt versuchen würde, sie als ein fiktives »Sophia Malz« zu enttarnen. Für mich ist »meine Welt« auch real, aber im Augenblick ist es die »Amnesia«-Welt, die für mich die Realität darstellt. Natürlich trägt sie keinen Namen, das ist nur logisch. So irgendwie.   Bepackt mit ein paar beschmierten Toast und Shins CD befinde ich mich wenig später auf dem Weg zu meiner neuen Arbeitsstelle. Ich bin froh, mir idiotensichere Notizen gemacht zu haben, so habe ich keine Probleme, den Anweisungen zu folgen. Es ist wirklich einfacher, das »Meido no Hitsuji« auf dem U-Bahn-Weg zu finden, als ich angenommen hatte. Ich bin überpünktlich. Dieses Mal muss mich kein angepisster Waka abpassen und in einen Raum zerren, ich finde ihn ganz von allein. Unverwandt gehe ich an meinen Spind, lege meine Tasche hinein und greife den Bügel mit meiner Uniform. Direkt im Anschluss verschwinde ich im Nebenraum, um mich für meine Schicht herzurichten. Die Uhr im Pausenraum zeigt zehn nach eins, als ich den letzten Schliff an mir vollendet habe. Noch immer viel zu pünktlich. Und es sieht nicht so aus, als sei schon jemand neben mir hier. Zumindest habe ich bisher noch niemanden gesehen. Seltsam. Ich will mich gerade auf einen der Stühle setzen, um die übrige Zeit im stillen Warten totzuschlagen, als ich Geräusche vernehme. Sie scheinen aus der Küche zu kommen. Es klingt stark nach Geschirrklappern. Also bin ich doch nicht die einzige Anwesende hier! Das trifft sich gut. Ukyo hat mich gebeten, Shin seine CD zurückzugeben und ich habe noch genug Zeit, das direkt zu tun. Besser so, auf die Art kann ich es später nicht vergessen. Also gehe ich abermals an meinen Spind, um besagte CD aus meiner Tasche zu holen. Den Weg zur Küche kenne ich bereits, ich mache mich sofort dahin auf, immer dem Geklapper nach. „Hallo, Shin. Ukyo hat mich gebeten, dir deine CD –“ Ich bringe den Satz nicht zu Ende, als ich die Person erkenne, die für den Lärm in der Küche verantwortlich ist. Mit einem Mal bin ich erstarrt, stehe einen Schritt weit in der Küche und bin nicht fähig, mich zu rühren. Es ist nur für einen Moment, dass ich in die grünen Augen hinter der schmalen Brille blicke. Ein Moment, der sich für mich anfühlt, als hätte jemand die Pausetaste betätigt. Ein Moment, der mein Hirn einem Schleudergang unterzieht und meinem Herzen viel zu viel an Mehrbetrieb abverlangt. Oh. Mein. Gott. „Dir auch einen guten Tag, Shizana.“ Oh. Mein. Gott! Nicht Shin, sondern Kento steht in der Küche. Der Kento. Hier, direkt vor mir. Und er ist so groß und stoisch und … Halt, hör auf damit! Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Fangirl-Gehabe. Das hier ist die Wirklichkeit, kapier das endlich und komm wieder runter! Ich straffe die Schultern. In Gedanken mahne ich mich, mich zusammenzureißen. Am Rad drehen und wie ein Meerschweinchen quiekend im Dreieck springen kann ich später immer noch. „Bitte entschuldige“, richte ich mein Wort an Kento, bemüht, es unbeirrt klingen zu lassen. „Ich hatte eigentlich Shin in der Küche erwartet.“ „Shin hat heute keine Schicht. Ich bin für die Küche am Donnerstag eingeteilt“, klärt er mich auf, wobei er sich wieder seinen Arbeitsvorbereitungen zuwendet und mich keines einzigen Blickes mehr würdigt. Der trockene Tonfall, den er dabei an den Tag legt, schüchtert mich mehr ein, als ich je für möglich gehalten hätte. „Diese Routine besteht schon immer und wird immer Bestand haben, solange wir uns die Aufgaben in der Küche teilen.“ „Oh“, mache ich. Äußerst geistreich, ich weiß. „Das … muss ich wohl vergessen haben. Ich bin noch bei Mittwoch.“ „Ausgeschlossen. Die Routine legt fest, dass du den ersten und dritten Mittwoch diesen Monat frei hast. Wärst du noch beim Mittwoch dieser Woche, wärst du nicht hier auf Schicht.“ Oh Mann, dieser Kerl legt einem ja wirklich jedes Wort auf die Goldwaage. Meine erste Begegnung mit ihm und ich muss direkt diese Seite an ihm kennenlernen. Ich sollte wirklich aufpassen, dass ich ihn nicht unabsichtlich unterschätze. „Ganz davon abgesehen …“ Er unterbricht seine Tätigkeit, um sich mir zuzuwenden. Sein direkter, alles durchleuchtender Blick bereitet mir Unbehagen. „Gemessen an mehrerlei optischer Unterschiede, die zwischen Shin und meiner Person bestehen, ist es ebenfalls ausgeschlossen, dass du mich mit ihm verwechseln könntest. Selbst für eine landfremde Person wie dir als Europäerin dürften sie nicht zu verfehlen sein.“ Moment mal, disst er mich gerade? Was soll diese differenzierende Anspielung? „Ich habe euch ja nicht verwechselt“, verteidige ich mich vor ihm. Sein Vorwurf stimmt mich beleidigt. „Das ist schlichtweg nicht möglich. Ich könnte euch selbst noch mit verbundenen Augen auseinanderhalten, das könnte jeder. Ich war lediglich in Gedanken und daher etwas überstürzt.“ „So?“ „Ja.“ Ich nicke bekräftigend. „Hm.“ Er schiebt vielsagend die Brille nach oben. Oh Mann, das fängt ja gut an. In welches Fettnäpfchen bin ich da nur wieder hineingetreten? Wieso ausgerechnet bei ihm? Das ist doch zum Heulen. Kento wendet sich von mir ab und einer der Küchenschubladen zu. Aus einer von ihnen holt er einen schwarzen Hefter heraus, aus welchem er ein Blatt löst. Auffordernd hält er es mir entgegen. „Hier.“ „Was ist das?“, möchte ich wissen und gehe weiter in die Küche, um den Zettel in Empfang zu nehmen. „Das heutige Tagesmenü“, erklärt er knapp. „Aha.“ Grob überfliege ich das Angebot. Es steht nicht viel darauf: zwei verschiedene Warmspeisen und drei Desserts. Ich kann davon ausgehen, dass sie das übliche Sortiment ergänzen sollen, von dem ich mir bereits einen Teil gemerkt habe. Klingt nach keiner allzu großen Herausforderung. „Tatsache.“ Ich blicke aus meinen Gedanken auf und schaue auf Kento. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und sieht mich prüfend an. Er muss mich schon die ganze Zeit auf diese Art beobachtet haben, während ich mit dem Zettel beschäftigt gewesen war. „Es stimmt also. Ikkyu hatte recht.“ Hm? Was meint er damit? Womit hatte Ikki recht? Ich will ihn schon fragen, da höre ich, wie die Tür unseres Personaleingangs ins Schloss fällt. Die unerwartete Störung jagt mir einen Schrecken ein, der zum Glück nicht von langer Dauer ist. Als ich mich herumdrehe, sehe ich auch schon, dass wir just in dem Moment Gesellschaft bekommen. „Yo, Kento-san“, grüßt der Neuankömmling zu meinem Gesprächspartner herüber. Das kurze, blonde Haar, welches von einem schwarzen Haarreif mit gelbem Karomuster im Zaum gehalten wird, ist das Erste, was mir ins Auge sticht. Dann die gelborange Farbe seiner Augen, die wirklich äußerst ungewöhnlich ist. „Hallo“, erwidert Kento hinter mir, völlig emotionsfrei. Gern hätte ich mich zu ihm herumgedreht und sein Gesicht geprüft, aber der Blick der Person, die ich als Toma identifiziert habe, haftet bereits an mir. Beiläufig  stellt er die kleine Einkaufstüte, die er in der Hand getragen hatte, neben der Tür auf einem Hocker ab, ehe er in die Küche tritt und direkt auf mich zusteuert. Auf sein Gesicht zaubert sich ein scherzhaftes Grinsen, als er sich ein Stück zu mir vorbeugt und mir die Hand auf den Kopf legt. „Hey, Kleines.“ Verdutzt blinzle ich. Meine Augenbrauen gehen fragend in die Höhe. »Kleines«? Sein Grinsen wird noch breiter, als er in einem Wort meine unausgesprochene Frage beantwortet: „Chii-sa-na*.“ Kento stößt hinter mir ein leises Seufzen aus. Ich bin perplex. „Mein Name ist Shi-za-na“, lege ich ihm ans Herz. In meinen Wangen beginnt es unangenehm zu kribbeln. Toma entlässt ein kurzes Lachen. „Ja, ich weiß. Inzwischen weiß ich das.“ „Du wirst diesem müden Wortspiel wohl niemals überdrüssig, was?“ Er richtet sich auf, um sich Kento zuzuwenden. „Wie könnte ich das auch? Eine solch erste Begegnung muss in Erinnerung behalten werden. Zudem, du musst zugeben, es passt doch ganz gut.“ Schmunzelnd sieht er mich an. „Unsere kleine Shizana.“ „Ich bin nicht klein“, schmolle ich zurück. „Ich bin normalgroß.“ Toma schenkt mir ein herzliches Lachen. Gott, wie peinlich! „Ich höre, unser Trupp ist vollständig.“ Hinter Toma taucht Waka in der Tür auf, in seinem Arm eine weitere Einkaufstüte. Meine Haltung versteift sich unwillkürlich. „Kento. Shizana.“ „Jawohl“, antworten wir beide im Akkord. Unsere Stimmlagen könnten kaum unterschiedlicher sein. Unser Chef schenkt uns ein Nicken, ehe er sich an Toma richtet. „Toma, danke für deine Hilfe. Jetzt geh dich umziehen. Meeting in zehn Minuten.“   Waka unterredet uns kurz darauf in einer routinemäßigen Kriegsbesprechung. Kurz und präzise erinnert er uns daran, den Feind niemals zu unterschätzen und mit allen verfügbaren Waffen auf ihn zu zielen, ehe er gegen uns feuern kann. Ich bin nicht ganz sicher, ob er damit wirklich etwas Dienstliches erklären oder nur seine kleine Fantasiewelt ausleben möchte. Kento und Toma ertragen seinen Monolog mit respektvoller Nachsicht, also nehme ich mir ein Beispiel daran und tue es ihnen gleich. Ich glaube, es ist eben Wakas typische Art, uns zu unterstützen und eine gute Schicht wünschen zu wollen. Zumindest nehme ich heraus, dass wir jederzeit zu ihm kommen sollen, wenn die Lage zu kippen droht. Ich hoffe inständig, dass ich niemals in solch eine Situation kommen werde. Weniger wegen mir als der Kunden. Mir will einfach nicht das Bild aus dem Kopf, wie Waka mit gezogenem Katana auf einen wehrlosen Menschen losgeht, nur weil dieser vielleicht nicht ausreichend Wechselgeld mit sich trägt. Ich mag zum Feierabend kein Blutbad aufwischen müssen. Nach Beendigung seiner Rede teilt sich unsere Gruppe auf, um die Schicht vorzubereiten. Während Kento in der Küche verschwindet, kümmern sich Toma und ich um das Herrichten der Tische. Er ist mit seiner Seite schneller als ich, weswegen er bereits in der Küche verschwindet, während ich noch mit den letzten Plätzen beschäftigt bin. Als ich diesen Teil der Arbeit endlich erledigt habe und mich dem Tresen zuwende, kehrt auch Toma bereits mit einigem Geschirr auf dem Arm zurück. „Geht es dir heute besser?“, spricht er mich von der Seite an, gerade als ich ihm einen Teil seiner Last abnehme, um das Geschirr in den Schränken einzuräumen. Fragend sehe ich ihn an. „Wieso »heute«?“, will ich wissen. „Wir haben uns die letzten Tage doch gar nicht gesehen.“ Wenigstens das kann ich mit Gewissheit sagen. „Naja … nur so?“ Ich ahne: Da ist etwas im Busch. „Toma …“ „Es ist nur …“ Unsicher legt er die freie Hand in den Nacken und weicht meinem Blick zur Seite aus. „Mann, er bringt mich um, wenn ich dir das erzähle.“ Okay, alles klar. Ich stoße ein entnervtes Seufzen aus. „Was hat Shin dir erzählt?“ „Eh? Woher weißt du –“ Mitten in seiner Frage bricht er ab. Eine kurze Pause folgt, in der er wohl selbst begreift. Ein vorsichtiges Lächeln ist das Ergebnis. „Es ist wohl ziemlich offensichtlich, oder? So oft wie wir uns sehen.“ „Wann habt ihr gesprochen?“ „Gestern. Er hat mich nach der Uni abgeholt. Wir waren noch verabredet.“ „Und da hat er nichts Besseres zu tun, als über mich zu reden?“, schnippe ich. Shin ist ja eine schlimmere Quasselstrippe, als ich ihm je zugemutet hätte. „Hat der Kerl denn keine anderen Themen?“ „Du weißt doch, wie er ist. Er redet viel über dich.“ „Und gewiss kommt nie was Gutes bei rum.“ Er lacht auf. „Wer weiß.“ Ja, schon klar. „Und?“, hake ich nach. Meine erste Frage steht noch immer offen im Raum. Er zögert. „Versprichst du, ihm nichts zu sagen, dass ich es dir erzählt habe?“ „Wieso sollte ich? Einen Vorteil könnte es mir kaum verschaffen.“ „Du wirst es dir eh denken können.“ Er stößt ein leises Seufzen aus. Anschließend besieht er mich mit einem zaghaften Lächeln. „An sich hat er mir nur erzählt, dass du vorgestern etwas neben der Spur gestanden haben sollst. Du sollst dich in einigen Punkten seltsam verhalten haben. Zumindest anders, als er es von dir gewohnt ist. Er glaubt, dass du etwas ausbrütest.“ Ablehnend schüttle ich den Kopf. „Nein, da kann ich euch beruhigen. Ich brüte nichts aus. Mir geht es gut. Ich stand an dem Tag nur etwas neben mir, das ist alles. Hatte an dem Tag verschlafen, das hat meinen gesamten Tagesplan durcheinandergeworfen.“ „Ach, so ist das. Ich verstehe.“ Ich seufze innerlich. Dieses ständige Lügen ist wirklich anstrengend. Werde ich wohl jemals ehrlich zu ihnen sein können? So hatte ich mir das wahrlich nicht vorgestellt. Oder sagen wir besser: hätte. Am Rande nehme ich wahr, wie sich Toma neben mir rücklings gegen die Theke lehnt. Die Veränderung an seiner Haltung veranlasst mich dazu, meinen Blick, den ich nachdenklich von ihm abgewandt hatte, wieder auf ihn zu richten. „Sicher, dass es dir gut geht?“, versichert er sich abermals meines Zustandes. Dabei mustert er mich eingehend, den Kopf etwas zur Seite gelegt. „Du siehst etwas müde aus, kann das sein?“ Oh, sieht man mir die Nacht etwa an? Dabei habe ich extra vorsorglich Makeup aufgetragen. Mist, das ist jetzt echt ärgerlich. „Ich habe die Nacht nicht so gut geschlafen“, gestehe ich aufrichtig. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Mir geht es gut. Ich werde schon nicht zusammenklappen.“ „Wenn du eine Pause brauchst, sag Bescheid. Ich kläre das dann im Zweifelsfall mit Waka-san.“ Ich lächle. Seine Fürsorge rührt mich zu Herzen. „Danke, das ist wirklich lieb von dir. Aber mach dir meinetwegen keine Umstände. Die regulären Pausen werden genügen, da bin ich mir sicher. Und selbst wenn nicht, dann kläre ich das selbst mit ihm und hole mir den Anranzer persönlich ab. Damit musst du dich wirklich nicht belasten.“ „Ich möchte es nur angeboten haben.“ Er erwidert mein Lächeln, ehe er sich von der Theke wegstößt. „Na gut, wir haben noch ein bisschen was zu erledigen. Ich verlass‘ mich auf dich.“   Und so begann ein neuer Arbeitstag. Nachdem wir das Café geöffnet hatten, blieb es noch einige Zeit still. Die ersten Kunden nahmen Toma und ich abwechselnd in Empfang, um sie auf bestem Servicelevel zu bedienen. Ich muss sagen, es ist ein sehr angenehmes Arbeiten mit ihm. Unsere Absprachen gestalten sich sehr unkompliziert und einfach. Zudem muss ich gestehen, dass nicht zu verkennen ist, welche Ruhe und Kontrolle er ausstrahlt. Es fällt mir erstaunlich leicht, mich seinem Rhythmus anzupassen. Es ist, als würde er mich dazu einladen, ihm zu folgen, was ich frei jeglichem Bedenken tue. Seltsam, aber irgendwie entspannend. Hinter dem Tresen nehme ich mir die Zeit, ihn ein wenig zu beobachten, während ich den Abwasch bediene. Es macht Spaß, ihm dabei zuzusehen, wie er die Kunden berät. Er hat ein so warmes Lächeln auf seinen Gesichtszügen, dass mir klar ist, wieso mein Misstrauen keine Chance gegen ihn hat. Zu meiner Erleichterung scheint es den Kunden ebenso zu ergehen wie mir. Man könnte meinen, dass es ein Leichtes für ihn ist, Behaglichkeit in seinem Umfeld zu schaffen. Beneidenswert, und gefährlich zugleich. Hoffentlich fälle ich mein Urteil nicht zu früh über ihn. Ich will es nicht bereuen müssen. Gegen sechszehn Uhr füllt sich das Café zusehends. Nicht so schlimm wie an meinem ersten Tag, aber doch genug, dass Toma und ich durchgehend zu tun haben. Langsam aber sicher geht die Routine auf mich über und es fällt mir schon leichter, meinen Aufgaben von Bedienung bis Aufräumen systematisch nachzukommen. Tomas System zur produktiven Arbeitsteilung, in das man sich superschnell hineinfinden kann, ist dabei eine enorme Hilfe. Generell muss ich zugeben, dass es mit ihm ein ganz anderes  Arbeitsempfinden ist als mit Ikki.  Vielleicht liegt es mit daran, dass Toma wesentlich weniger von der Kundschaft vereinnahmt und aufgehalten wird. Ganz gleich, was der Grund ist, in puncto Zusammenarbeit kann man sie jedenfalls nicht miteinander vergleichen. Nicht im Geringsten.  „Hey, Shizana“, werde ich von unserer nächsten Verstärkung begrüßt, als ich ein weiteres Tablett abgeräumten Geschirrs in die Küche bringen will. Ich erkenne das brünette Mädchen mit den freundlichen rehbraunen Augen auf Anhieb: Sawa, fertig hergerichtet in ihrem Maidkostüm, hat ihren Dienst angetreten. „Tut mir ehrlich leid, dass ihr warten musstet. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“ „Sawa!“ Im Ernst, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich mich je so sehr über eine weitere weibliche Person neben mir freuen könnte. Mir ist, als könnte ich sie sofort umarmen und herzlich drücken, einfach dafür, dass sie da ist. Und dafür, dass sie die erste weibliche Person ist, mit der ich etwas anfangen kann und die mit mir spricht, seit ich in dieser Welt bin. Sehr niedere Beweggründe, ich weiß. Aber ganz ehrlich? Es ist mir egal. Ich begrüße sie mit einem ehrlichen Lächeln. „Wie schön, dass du da bist.“ „Na, was auch sonst? Ich kann dich ja schlecht allein lassen“, zwinkert sie mir vielheißend zu. Was immer das auch bedeuten mag. Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Sawa scheint ein lockeres Mädchen zu sein, das gefällt mir ausgesprochen gut. Vielleicht wird es mir bei ihr möglich sein, mich etwas zwangloser zu geben. Das würde ich wirklich sehr, sehr begrüßen. „Das hast du schon viel zu lang“, entgegne ich, um sie ein wenig zu necken. Aber ja, das hat sie wirklich. „Jetzt bin ich ja da. Mit Sawa-chan wird alles gut. Oh, hallo, Toma-san.“ Auf ihren Wink hin drehe ich mich herum. Toma ist mit seiner letzten Bestellungsaufnahme fertig und gesellt sich zu unserer kleinen Runde. Er empfängt unsere Verstärkung mit einem freundlichen Lächeln. „Sieh an, Sawa. Auch wieder da? Wie war der Ausflug?“ „Er hat Spaß gemacht. Wir waren zwar viel unterwegs und es war manchmal echt anstrengend, aber wir haben viel gesehen. Drei Tage gehen so schnell vorbei … ich hätte gern noch den Rest der Woche drangehangen.“ „Das glaube ich gern. Man kommt so selten aus der Stadt raus.“ „Mh.“ Sie nickt. „Wohl wahr, wohl wahr.“ „Aber es ist schön, dich wieder bei uns zu haben. Und solange du Spaß hattest, hat es sich ja gelohnt.“ „Um ehrlich zu sein, habe ich ein wenig Muskelkater in den Beinen. Aber nur keine Sorge, ich werde euch so gut ich kann unterstützen.“ „Überanstreng dich nicht. Wenn du eine Pause brauchst oder lieber am Tresen arbeiten magst, sag Bescheid.“ „Es geht schon, so schlimm ist es nicht. Und wenn etwas ist, mache ich mich schon bemerkbar.“ Mhm, interessant. Aufmerksam verfolge ich ihr Gespräch. Sawa war also für ein paar Tage weg. Wie ärgerlich, dass ich nichts über ihren Ausflug weiß. Das wäre die Gelegenheit, mich zu integrieren, aber ich weiß nicht, worum es geht. Ich würde wirklich zu gern etwas beitragen und Sawa ebenfalls Fragen stellen, aber wie soll ich das anstellen? Diese ständige Unwissenheit ist so dermaßen frustrierend. Echt ärgerlich! „Apropos.“ Sawa wendet sich beiderseits an Toma und mich. „Ihr beiden seid seit Anfang der zweiten Schicht hier, nicht? Wenn ihr wollt, kann einer von euch Pause machen. Ich kann solange mit der anderen Person übernehmen. Zwei Leute sollten für die paar Kunden ausreichen.“ „Ich brauche noch nicht zwangsweise eine Pause“, erkläre ich und sehe zu Toma. „Meinetwegen kann Toma zuerst gehen, wenn er möchte.“ „Geht mir ähnlich“, stimmt er bei. „Mir persönlich wäre es aber lieber, wenn du zuerst gehst. Ich habe noch Kundschaft zu bedienen. Bis du zurück bist, bin ich fertig und kann im Anschluss gehen.“ Macht Sinn. „Hm, na okay. Dann mache ich eben Pause und löse dich dann ab.“ Er nickt zustimmend. „Ist okay. Ruh dich gut aus.“   Nachdem ich auch von Waka meine Pause habe absegnen lassen, sitze ich nach einem kurzen Nikotingenuss im Pausenraum des »Meido no Hitsuji«. Ich lasse mir mein Brot schmecken und genieße die Ruhe, die ich hier habe. Aus der Küche dringen gelegentlich die Stimmen der anderen an mich heran, wenn neue Bestellungen an Kento weitergereicht oder abgeholt werden. Es ist lebhaft im Personalbereich, in einem angenehmen Maße, und wie schon oft in meinem Leben bemerke ich, wie tröstlich es ist, mit Kollegen eine gemeinsame Arbeit zu verfolgen. Man fühlt sich nicht ganz so allein und für Ablenkung wird ganz automatisch gesorgt. Ein weiteres Mal in diesen Tagen spüre ich, wie mir das Herz schwer wird. Das alles erinnert mich an Zuhause, meinem richtigen Zuhause. An meine alte Arbeit, meine Kollegen und Freunde … Ich vermisse sie. Ich vermisse sie wirklich schrecklich. Ich verspüre den Drang, nach meinem Handy zu kramen für eine weitere sadistische Bestätigung trauriger Tatsachen. Es ist mein Glück, dass ich nicht dazu komme, diesen grausamen Gedanken umzusetzen, als sich die Tür öffnet und ich Gesellschaft bekomme. „Hey du“, dringt Sawas fröhliche Stimme an mich heran und vertreibt alle dunklen Wolken, die sich über mir zusammenzuziehen begonnen hatten. „Lass es dir schmecken. Ich will dich nicht stören, aber ich wollte dich unbedingt etwas fragen.“ „Klar, komm nur her. Du störst nicht“, lade ich sie herzlich dazu ein, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten. Nichts lieber als das. „Habt ihr gerade viel zu tun?“ „Nein, es geht. Es ist immer wieder erstaunlich. Man merkt sofort anhand der Kundschaft, ob Ikki-san Dienst hat oder nicht.“ Stimmt. Jetzt, da sie es sagt … der Andrang ist heute in der Tat wesentlich überschaubarer als an meinem ersten Tag. Wenn ich so darüber nachdenke, erscheint mir die Geschlechterwaage auch deutlich ausgewogener. Wir bedienen viele Paare und Gruppen heute, gelegentlich Alleinkunden. Ich wusste doch, dass etwas anders ist neben unserer Aufstellung. Aber egal. „Das ist gut“, sage ich und schenke ihr ein Lächeln. „Ich bin wirklich sehr froh, dass du da bist.“ „Das freut mich zu hören. Eine Woche kann ganz schön lang sein, was?“, erwidert sie mein Lächeln. Ich mag es wirklich sehr an ihr. Sie lehnt die Tür bis auf einen Spalt zurück ans Schloss, ehe sie zu mir herantritt. „Ich würde mich ja gern zu dir setzen, aber ich schätze, ich muss gleich wieder vor.“ „Das ist schon okay. Was wolltest du denn fragen?“ An meiner Seite geht sie in die Hocke. Ich drehe mich ein Stück, um mich ihr offen zuzuwenden und bin gespannt, was sie mir zu erzählen hat. „Ich hoffe, ich bin nicht aufdringlich damit“, beginnt sie, wobei mir ihr aufmerksamer Blick begegnet, „aber ich bin einfach zu neugierig.“ „Worum geht’s denn?“ „Es war gestern, oder? Wenn ich mich richtig erinnere, sagtest du Mittwoch zu mir.“ Ich stutze. Was? Sawa senkt die Stimme, als sie ernst wird. „Erzähl schon, wie war es?“ Sie meint doch nicht etwa …? „Was genau?“, mime ich die Unwissende, um mich zu vergewissern. Sie kann das unmöglich wissen, oder etwa doch? Sie blinzelt irritiert. „Na, euer Date. Du weißt schon, deins mit Luka-san. War es nicht gestern? Oder erst heute?“ Was zum …? Woher weiß sie das? „Ach, das. Doch, das war gestern“, gebe ich möglichst trocken zurück. Wirklich verarbeiten kann ich das Ganze aber nicht. „Eh? Willst du mir etwa sagen, dass es so unwichtig für dich war, dass du es schon verdrängt hast?“, will sie überrascht wissen. Wie es scheint, habe ich ihr Interesse damit erst recht geweckt. „War es etwa so schlimm? Langweilig? War er aufdringlich, unhöflich? Ich meine, du hattest ja wirklich etwas unschlüssig geklungen, als wir darüber gesprochen hatten, aber dass es so schlimm ist?“ „Nein, nichts von alledem“, sage ich vorsichtig. „Es war nicht wirklich schlimm, es war eher sehr harmlos. Wir waren in der Stadt bummeln, shoppen, Kaffee trinken, ein wenig spazieren … Ich glaube, was man eben ein »normales Date« nennt oder so was in der Art. Nichts wirklich Erwähnenswertes.“ „Mhm.“ Sie klingt skeptisch. Meinetwegen? Es folgt eine kurze Pause, bis sie einwirft: „Ich kann immer noch nicht fassen, dass du tatsächlich zugesagt hast.“ „Wieso?“ „Naja, du weißt schon. Das zwischen Luka-san und dir –“ Ich erfahre die Pointe nicht. Just in dem Moment, als mir die Antwort auf eine der unzähligen quälenden Fragen zum Greifen nahe scheint, hören wir Toma vom Flur nach Sawa rufen. Sie muss wieder an die Front, um ihn bei der Kundschaft zu unterstützen. Ich will sie jetzt nicht gehen lassen, habe jedoch keine andere Wahl. Sie entschuldigt sich noch schnell bei mir, wünscht mir eine schöne Restpause, schon ist sie aus dem Raum verschwunden.   Eines ist mir nach diesem kurzen Gespräch klar geworden: Sawa weiß etwas. Sie hat Antworten. Und egal wie, ich muss in Erfahrung bringen, was es ist.     *jp. »klein«; Es stellt folglich ein Wortspiel im Japanischen dar, das ab sofort für künftige Kapitel ins Deutsche übernommen wird. Kapitel 6: Wahrheitssuche ------------------------- Nach Ende meiner Pause kehre ich zu den anderen zurück. Mit meiner nächsten Gelegenheit gebe ich Toma Bescheid, dass er jetzt eine Auszeit nehmen kann. Er nimmt es gern an, bedankt sich und überlässt für die nächste viertel Stunde das Feld in Frauenhand. Es ist angenehm ruhig im Café. Die anwesenden Gäste sind bedient und nur gelegentlich wird eine von uns beiden gerufen, um eine weitere Bestellung aufzunehmen oder den Kunden zu verabschieden. Sawa bedient derweil den Abwasch und ich bringe noch das letzte Geschirr zur Küche, ehe ich mich an ihre Seite geselle. „Du, sag mal“, wage ich sie zaghaft anzusprechen, während ich einige der aus der Küche geholten Teller im Schrank einräume. „Wegen vorhin … du wolltest doch noch etwas sagen?“ „Hm? Zu Luka-san und dir?“ Ich nicke. „Eigentlich nichts Besonderes. Du weißt, das ist deine Sache und ich möchte dir da nicht reinreden. Ich mache mir nur ein wenig Sorgen.“ „Wieso denn?“ „Na, wegen dir natürlich. Wegen euch, der ganzen Sache eben“, erklärt sie und besieht mich sorgevoll. „Ich kann einfach nicht glauben, dass das noch immer zwischen euch hält.“ „Wieso sollte es das denn nicht?“ „Sag mal!“, nimmt ihre Stimme einen strengen Ton an, als sie sich schwungvoll nach mir umdreht. Ich bin mir sicher, dass sie noch etwas sagen will, doch dadurch, dass sie laut geworden ist, sind einige der Kunden auf unser Gespräch aufmerksam geworden. Das muss auch Sawa auffallen, denn sie wendet sich sogleich wieder von mir ab und erneut dem Abwasch zu. „Hör doch bitte auf damit“, höre ich sie leise sagen. Ich verstehe nicht, was sie meint. Gibt es einen guten Grund zu der Annahme, die Beziehung von Luka und mir sei zum Scheitern verurteilt? Ist etwas zwischen uns vorgefallen? Gestern hatte ich jedenfalls nicht den Eindruck, dass etwas zwischen Luka und mir im Raum stehen würde. Ich rücke näher an sie heran, um leise zu ihr sprechen zu können. „Bist du jetzt wütend auf mich? Wenn ja, dann tut es mir leid. Das wollte ich nicht“, sage ich vorsichtig. Ich sehe an ihren Schultern, dass sie kurz seufzt. Anschließend schüttelt sie den Kopf, was ihren hochgebundenen Pferdeschwanz in Schwingung versetzt. „Nein, ich bin nicht wütend auf dich. Wie könnte ich auch?“, gibt sie zaghaft zur Antwort. Ich lächle erleichtert. „Es ist nur so dumm, weißt du? Ich versteh‘ nicht, wie du damit klarkommen kannst. Oder bin ich nur zu naiv und unerfahren, um das verstehen zu können?“ Bahnhof. Aber ich bin auf einem guten Weg, an Informationen zu gelangen. Das sagt mir mein Gefühl. „Ich weiß wirklich nicht, was du meinst, aber bisher hatte ich nicht das Gefühl, dass du in irgendeiner Form zu naiv wärst“, erkläre ich. Sacht stoße ich mit der Schulter gegen ihre in einer Geste der Aufmunterung. „Du bist vielleicht manchmal etwas zu gutherzig, aber sonst …“ Ich erkenne ein schwaches Lächeln, als sie zu mir hersieht. „Danke. Und du bist manchmal etwas zu verrückt.“ Ihr Kontra lässt mich leise auflachen. „So, findest du? Nun, ich denke, damit kann ich leben.“ Sawa stimmt in mein Gelächter ein. Es ist kaum zu beschreiben, wie gut es tut, endlich mit jemandem lachen zu können. Seit ich hier bin, habe ich das vermisst, das wird mir erst jetzt so richtig bewusst. Die nächsten Minuten helfe ich Sawa beim Abwasch, indem ich das Abtrocknen übernehme. Zweimal muss ich diese Arbeit unterbrechen, um neue Bestellungen der Kunden aufzunehmen. Ein weiterer Tisch wird frei und nachdem ich unsere Gäste verabschiedet habe, mache ich mich direkt ans Abräumen. In der Küche vermeide ich es, groß mit Kento zu reden, um mich nicht erneut vor ihm in Verlegenheit zu bringen. Auf meinem Rückweg ins Café begegnet mir Toma, der gerade mit seiner Pause fertig geworden ist, und er begleitet mich in bester Plauderlaune. Zurück im Cafébereich erkenne ich Sawa bei einem jüngeren Pärchen, das frisch eingetroffen ist. Es ist witzig, wie sie mit ihrer eher lockeren Art versucht, in die Maidrolle hineinzupassen. Aber sie macht es gut und ich erkenne ihr an, dass sie dieser Arbeit schon länger nachgeht als ich. „Dir scheint es besser zu gehen“, merkt Toma von der Seite an und holt mich dadurch aus meinen Gedanken. Erst fragend, dann lächelnd sehe ich zu ihm hoch. „Ja klar. Sawa ist jetzt hier und du warst die ganze Zeit da. Wie könnte es mir da nicht gut gehen?“, erkläre ich. Er erwidert mein Lächeln. „Das ist schön zu hören. Scheint, als hätte ich mir zu viele Gedanken gemacht.“ „Habe ich das nicht gesagt?“, zeige ich ein Grinsen. „Das darfst du im Übrigen auch gern Shin erzählen. Ich bin eben auch nur ein Mensch, Fehler und schlechte Tage unterlaufen mir nun einmal.“ Er lacht auf. „Das werde ich wohl mal machen.“ Bei meinem Nicken erklingt die Türglocke. Sowohl Toma als auch ich richten unsere Aufmerksamkeit nach vorn, um zu sehen, welchen neuen Gast wir bekommen haben. Mir gefriert instant sämtliches Blut in den Adern. Auch Sawa hat unseren neuen Gast bemerkt und ich realisiere am Rande, wie sie unsicher zu uns hinter sieht. Ich weiß nicht, ob Toma etwas auf ihren Blick erwidert, aber er setzt sich neben mir in Bewegung. Es wird schlagartig kalt an meiner Seite und ich habe den Wunsch, mich irgendwo zu verstecken. „Willkommen zurück, Rika-san“, höre ich Sawa zögerlich sagen. Die Aussprache des Namens jagt einen Ruck durch meinen Körper. Ich beobachte mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen, wie Toma an die Seite der jungen blondhaarigen Frau tritt und sich in aller Förmlichkeit vor ihr verneigt. „Willkommen zurück, Herrin. Ich, Toma, stehe Ihnen heute zu Diensten.“ „Nicht nötig“, entgegnet sie mit einer solch vornehmen Ausdrucksweise, dass es weitere Blicke unserer Kunden auf sie lenkt. Es wäre ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie das Zentrum unseres Cafés dargestellt hätte, so auffällig, wie sie in ihrem dunkel-aristokratischer Kleid und dem elegant geschwungenen Damenhut ist. Ihr Blick durchstreift aufmerksam den Raum. Als er direkt auf mich trifft, versteift sich jeder Muskel in mir. Ich wünsche, mich in Luft aufzulösen. Ihre schmalen, ungeschminkten Lippen umspielt ein dünnes Lächeln. „Ich wünsche, dass sie meine Bedienung ist“, erklärt sie mit weicher, filigraner Stimme. Schlagartig ist es so still im Café geworden, dass selbst ich es hören kann, obwohl sie nicht sehr laut gesprochen hat. Ich?! Toma verneigt sich gehorsam. „Ganz wie Ihr wünscht, Herrin.“ „Ist das in Ordnung für dich?“, flüstert mir Sawa leise zu. Ich habe in meiner Paralyse gar nicht bemerkt, wie und wann sie an meine Seite getreten ist. ‚Um Himmels willen, nein, ist es nicht!‘, schreit es in meinem Kopf, doch ich bekomme nur ein stummes Kopfdrehen zustande. Habe ich eine Wahl? Ich glaube nicht. Im Augenblick bin ich auf Schicht und muss meine Arbeit vollrichten. Wäre es anders, könnte ich verneinen. Aber wäre es selbst dann klug, es zu tun? „Schon okay“, sage ich leise, dass es nur Sawa hören kann. Meine Knie fühlen sich weich an, mein Rücken schmerzt unter den verkrampften Muskeln und meine Finger sind ausgekühlt. Ich muss Zwang anwenden, damit sich meine Beine in Bewegung setzen. Toma hat Rika derweil an einen Platz geführt und zieht höflich den Stuhl zurück, damit sie sich setzen kann. Ich vermeide, ihn anzusehen, als sich unsere Wege auf seinem Rückzug kreuzen. Sein Blick ruht auf mir, das kann ich spüren, aber ich weiß nicht, was er vermitteln soll. Meine Konzentration liegt auf dem, was mir bevorsteht, und der Beherrschung, die ich aufbringen muss, um nicht fluchtartig umzukehren. Nein, ich will das hier wirklich nicht. Ich habe Angst vor Rika. Im Spiel habe ich erlebt, wozu sie fähig ist. Auch wenn es mich nicht betrifft, aber ich fürchte mich vor dieser Seite an ihr. Mehr als alles andere. Mehr noch, als ich mich vor Ukyo oder Luka fürchten könnte. Natürlich muss das, was im Spiel ist, nicht auf die Realität zutreffen. Ich weiß auch, dass Rika noch ganz anders sein kann. In einer anderen Route war sie sehr gut mit der Heroine befreundet, hat sie sogar gerettet und in Schutz genommen. Aber selbst das ändert nichts daran, dass es da noch diese andere Seite an ihr gibt, die zutage kommt, sobald es um Ikki geht. Und ich befinde mich hier im Spadeverse, oder nicht? Waka ist der unumstrittene Beweis dafür. Welche Rolle spiele ich in dieser Welt? Bin ich ein Ersatz der Heroine? Bin ich ein Bonus? Ein Eindringling? Je nachdem, was ich bin, könnte Rika entweder gut oder ganz schlecht auf mich zu sprechen sein. … Bei dem Gedanken wird mir übel. Ich zwinge mich zu einer Verbeugung, als ich neben Rika angekommen bin. „Ergebensten Dank, dass Ihr heute zu uns zurückgekehrt seid, Herrin“, bete ich herunter, wie ich es von Ikki gelernt habe, wenn man einen guten Stammkunden begrüßt. Rika als meine »Herrin« zu bezeichnen, würgt ein ekelhaftes Gefühl in mir hervor. Das auffangende Lächeln, welches sie mir schenkt, macht es nur noch schlimmer. „Ich bin aufrichtig erfreut, dich heute zu sehen, Shizana-san“, grüßt sie höflich zurück. Die formelle Anrede, die sie für mich verwendet, ist höchst ungewohnt. „Ich wollte dich unbedingt treffen“, fährt sie derweil fort, ohne sich von meinem krampfhaften Verhalten beirren zu lassen. „Hast du gegebenenfalls ein wenig Zeit, mir beim Tee Gesellschaft zu leisten? Es sollte für Waka-san in Ordnung sein, wenn es für mich ist.“ Verblüfft sehe ich sie an. Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht: die freundliche Art oder dass sie um meine Gesellschaft verlangt. „Ich … weiß nicht“, gebe ich stammelnd zur Antwort. „Wärst du vielleicht so freundlich, ihn zu fragen? Oh, und ich hätte gern einen Earl Grey White. Ohne Zucker, bitte.“ „Äh … sehr wohl, Herrin. Ich werde Eurem Wunsch sofort nachkommen.“ Ihr leises Kichern begleitet mich, als ich mich nach einer schnellen Verbeugung von ihrem Tisch entferne und zu den anderen zurückkehre. Sawa erwartet mich bereits hinter dem Tresen und auch Toma zu ihrer Seite scheint alles beobachtet zu haben. „Hey … alles okay?“, empfängt mich Sawa im gedämpften Flüsterton. Die Sorge um mich ist ihr dennoch anzuhören. „Hat sie etwas bestellt?“ „Einen Earl Grey White ohne Zucker“, reagiere ich auf Tomas Frage, ohne die geringste Regung in der Stimme. Es gelingt mir nicht, einen der beiden anzusehen. „Hm, verstehe. Sie wird also ein Weilchen bleiben.“ „Und meine Gesellschaft“, ergänze ich. Sawas Stimme überschlägt sich. „Wie bitte?!“ „Das ist ungewöhnlich“, bemerkt auch Toma, was der Grund ist, warum ich zu ihnen aufschaue. „Soll ich mit Waka-san sprechen?“ ‚Nein, ich mach‘ das schon‘, will ich sagen, bin aber noch zu gelähmt, um diesen einfachen Satz aus mir herauszubringen. „Sawa, übernimmst du solange? Ich bin gleich zurück.“ „Eh? J-ja, natürlich.“ Toma deutet uns ein Nicken, schon entfernt er sich in den Personalbereich. Sawa und ich bleiben allein zurück. „Schon seltsam, oder?“, beginnt Sawa erneut zu reden, während ich mich der Zubereitung des Tees annehme, den Rika bei mir bestellt hatte. „Ich meine, es ist schon selten genug, dass Rika-san zu Besuch kommt, wenn Ikki-san keine Schicht hat. Hm, wenn ich es so überdenke, kommt es eigentlich nie vor. Wieso heute?“ „Hm“, gebe ich leise von mir. Ja, es ist schon seltsam. Rika wäre die letzte Person gewesen, die ich hier erwartet hätte, solange Ikki nicht in der Nähe ist. Und dass sie nicht weiß, an welchen Tagen er Dienst hat, kann ich mir nicht vorstellen. Vermutlich kennt sie sogar seine Arbeitszeiten bis ins kleinste Detail, selbst dann, wenn sie spontan vom Plan abweichen. Also wieso ist sie ausgerechnet heute hier? Etwa …? „Es kommt eigentlich nur eine Antwort in Frage“, verkündet Sawa das Ergebnis ihrer eigenen Überlegung. Unverwandt sieht sie mich an. „Sie ist deinetwegen hier. Bestimmt, weil sie von deinem gestrigen Date mit Luka-san weiß. Er ist immerhin ihr über alles geliebter Bruder.“ Ich schlucke. Ja, den Gedanken hatte ich auch. Es kann nur das sein. Rika und Luka sind miteinander verwandt. Geschwister. Ich weiß dank der Spiele und etwaiger CD-Dramen, was sie einander bedeuten. Sicher weiß sie von ihm und mir. Ist das der Grund, weshalb sie so auffallend freundlich zu mir ist? Oder halt! Kann es nicht auch sein, dass ich …? Ich versuche, meine Panik zu überspielen, als ich Sawa ansehe. „Du meinst, es hat nichts mit Ikki zu tun?“ Ihr Blick zeigt Verständnislosigkeit. „Wieso sollte es etwas mit Ikki-san zu tun haben? Er ist doch gar nicht hier, wie wir soeben wieder festgestellt haben.“ Das ist wahr. Würde es für Rika genügen, den Weg extra auf sich zu nehmen, um mir im Interesse des Fanclubs einen spontanen Besuch abzustatten? Welche Gründe könnte es dafür geben? Bin ich überhaupt Mitglied in Ikkis Fanclub? „Naja, ich meine nur“, versuche ich mich herauszuwinden und zeitgleich einen Weg zu finden, um eine Antwort auf diese Frage zu provozieren. „Mal angenommen, sie hätte ein, nennen wir es mal »Pflichtinteresse«, bewusst in seiner Abwesenheit herzukommen …“ „Moment mal, was willst du damit sagen?“ Sie scheint durch meine umschleichenden Worte alarmiert. „Sag mir nicht, du hast dich ihnen nun doch angeschlossen? Du warst doch so entschieden gegen ihren Fanclub!“ Oh, okay. Das ist irgendwie … beruhigend. „Nein, wo denkst du hin?“, entgegne ich abwehrend. Ich bin wirklich erleichtert, dass ich mit diesem Thema so ehrlich umgehen darf. „Ich hatte nur die Überlegung, ob sie nicht vielleicht nur die Lage checken will.“ Sie verzieht die Augenbrauen in Skepsis. „Das macht keinen Sinn, wenn du mich fragst. Warum sollte sie das tun?“ „Weiß nicht. Hm, war nur so eine Überlegung.“ Ich spiele ein schweres Seufzen vor. „Vermutlich hast du recht und es ist wirklich wegen mir und Luka.“ „Das sage ich doch die ganze Zeit, Dummie.“   Ich kann nicht glauben, was ich hier tue. Die Vorstellung, dass ich Rika friedlich gegenübersitzen und genussvoll Tee trinken könnte, erscheint mir grotesk. Aber genau das ist die Situation, in der ich mich gerade befinde. Meine Haltung ist steif, der Rücken gerade, ohne die Banklehne hinter mir zu berühren. Ich bin nicht in der Lage, mich zu entspannen. All meine Muskeln sind gespannt, meine Konzentration geschärft. Ich bin auf höchste Alarmbereitschaft gestimmt. Aufmerksam beobachte ich Rika mir gegenüber. Aus der Nähe erkenne ich, dass sie doch Makeup aufgetragen hat. Einen dezenten Lippenstift, der aus der Ferne nicht zu erkennen gewesen war; einen dunklen Lidstrich und rötlich verlaufender Lidschatten, um die goldfarbenen Augen zu betonen; helles Makeup mit wenig Rouge, das perfekt mit ihrem natürlichen Teint harmoniert. Nichts, das sie zu jemandem machen würde, der sie nicht ist. Alles dient lediglich der Unterstreichung ihrer bereits vorhandenen Vorzüge. Beneidenswert. Ich vermute, dass ich dem gegenübersitze, was man allgemeinhin als eine »natürliche Schönheit« bezeichnet. Wie frustrierend … Rika ist hübsch, das muss ich zugeben. Ihre langen, dichten Wimpern haben es mir besonders angetan. Und ihre fein zugeschnittene Nase. Sie hat außerdem sehr schöne, schmale Hände, die äußerst weich und gepflegt wirken. Ich hege wirklich keine Neigung gegenüber Frauen, aber wenn mir ein Juwel begegnet, kann ich es nicht mit Indifferenz strafen. Ganz gleich dem Geschlecht. Von ihr geht ein Duft aus, den ich nicht recht bestimmen kann. Ich glaube, eine Note von Opium zu entschlüsseln, aber der zart-blumige Mantel, der diesen erkennungstypischen Duft umgibt, straft dieser Wahrnehmung Lüge. Ich weiß nicht, welches Geheimnis tatsächlich hinter ihrem Parfüm steckt, aber es riecht angenehm; für meinen Geschmack sogar richtig gut. Es passt zu ihr, scheint mir. „Ich hörte, du warst gestern mit meinem werten Bruder zusammen?“, eröffnet Rika die Schlacht. Zumindest fühle ich mich wie auf Gefechtsstation, trotz der höflichen Tonlage, die sie mir gegenüber anwendet. Ich nicke vorsichtig. „Ja.“ Ist das jetzt gut oder schlecht? „Mir scheint, du machst ihn sehr glücklich. Er spricht stets gut über dich.“ Ach echt? „Als ich ihn gestern sah, wirkte er äußerst beseelt auf mich. Er trug ein solch zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. Ihn so befreit zu sehen, nachdem er mit dir zusammen war, macht auch mich ungemein glücklich.“ Oh, Rika … bitte, hör auf. Nicht nur, dass man deine Worte falsch auslegen könnte, du weißt doch außerdem gar nicht, was du da sagst. Ich weiß es nicht. „Das freut mich“, presse ich belegt hervor. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. In vornehmer Haltung sitzt sie auf ihrem Stuhl, ein Bein damenhaft überschlagen und in ihren Händen ihre Tasse Tee samt Untertasse. Es fällt mir schwer, den direkten Blickkontakt zu erwidern, doch mein Gefühl warnt mich, keine Schwäche vor ihr zu zeigen. Lange sieht sie mich an. Es dauert, bis mir bewusst wird, dass sie auf eine Antwort von mir wartet. Dabei gibt es nichts, was ich ihr zu sagen hätte. „Luka-san ist großartig“, sage ich, um die Stille zu überbrücken. Ich weiß nicht, warum ich vor Rika in eine förmliche Anrede zu ihrem Bruder verfalle, aber hinsichtlich dessen, wie hochgreifend sie über ihn spricht, erscheint es mir angemessener als der persönliche Level. „Er ist äußerst zuvorkommend und großzügig. Ein begnadeter Künstler obendrein.“ „Ja, so ist er, mein geschätzter Bruder“, stimmt sie mir bei. Ihre Augen verraten ein stolzes Leuchten. „Nicht wahr? Er ist in der Tat großartig.“ Damit hatte ich etwas angerichtet. Die nächsten Minuten gelingt es Rika, einen überschwänglichen Lobesmonolog über Luka zu führen. Ich gebe mir größte Mühe, ihr aufmerksam zuzuhören, doch schon nach kürzester Zeit merke ich, dass es mir unmöglich ist. Ich bin zur Passivität gezwungen, denn es gibt nichts, was ich beisteuern könnte. Es gibt nichts, was ich über Luka weiß, und was ich bislang zu ihm dachte, kann ich Rika schlecht auf die Nase binden. Also beschränke ich mich darauf, ihr zuzustimmen und ihre Worte zu spiegeln, um nicht den Verdacht zu erwecken, mit Desinteresse und mangelndem Intellekt zu glänzen. Auch wenn mir mein Beitrag geringfügig erscheint. Rikas Tasse leert sich nur langsam. Wann immer sie zum Trinken ansetzt, werfe ich einen verstohlenen Blick zur Uhr. Die Minuten ziehen sich wie Gummi. Wie gern würde ich Toma und Sawa bei der Arbeit unterstützen, stattdessen bin ich nutzlos und unproduktiv, um einer Scheinlady als Zeitvertreib dienlich zu sein. Waka muss einen guten Grund haben, dass er dieses Kaffeekränzchen gestattet, anders kann ich mir seine großzügige Einwilligung zu Rikas Wunsch nicht erklären. Ich hoffe nur, es wird mir nicht nachträglich zulasten gelegt werden.   Endlich scheint es überstanden. Rika beendet ihren Tee und rückt ihre Haltung zurecht, um das Geschirr vornehmlich zurück auf den Tisch zu stellen. „Hab vielen Dank für deine Gesellschaft. Es ist wirklich äußerst bedauerlich, aber ich habe noch wichtige Dinge zu erledigen“, erklärt sie mir. Ich nicke verstehend. „Schon in Ordnung. Ich bin froh, dass wir ein wenig Zeit hatten.“ Urks, bitterste Lüge so far. Höflich warte ich, bis sie Anstalten macht, sich zu erheben. Erst dann erhebe auch ich mich und mühe mich von der Sitzbank hinter dem Tisch hervor. Am Rande vernehme ich, wie unsere Türglocke läutet, um einen weiteren Gast anzukündigen oder zu verabschieden. „Rika! Was machst du denn hier?“ Sowohl Rika als auch ich sehen bei der vertrauten Stimme auf. Wenn ich bis hierhin gedacht hatte, der Tag könne nicht mühseliger werden, dann belehrt mich Rikas gejauchztes „Onii-sama!“ gerade eines Besseren. „Ich bin hier, um Shizana-san einen Besuch abzustatten“, berichtet sie sogleich, kaum dass sie sich unserem Besucher empfangend zugewandt hatte. Ihre weiche Stimme schwingt im Klang vor lauter hervorgeholter Begeisterung. „Wir haben Tee getrunken und uns ein wenig unterhalten. Zu schade, dass du erst jetzt zu uns stößt. Ich wollte gerade aufbrechen.“ „Ganz meine kleine Schwester! So aufmerksam und vorausschauend!“ Voller Beherztheit greift Luka nach Rikas Händen, um sie liebevoll zu drücken. Sie wendet verlegen den Blick zur Seite ab. Ich glaube, eine dezente Röte auf ihren Wangen zu erkennen. „Nicht doch, verehrter Bruder.“ Ich beobachte das Schauspiel zwischen den beiden Geschwistern mit einer Mischung aus Scham und Verwirrung. Beide sind schon im Einzelnen nicht gerade unauffällig, und nun haben wir beide auf einem Haufen. Und ich mittendrin. Sonderlich leise sind sie auch nicht. Oh Mann … „Du hast gewusst, dass ich heute herkommen würde, nicht wahr?“, fährt Luka derweil in seiner Begeisterung fort, um seiner Schwester noch ein wenig länger zu huldigen. „Eigentlich hatte ich erst später ankommen wollen, aber etwas hat mich hierhergezogen. Es muss Bestimmung sein! Rika und ich am selben Ort zur selben Zeit, ohne uns zuvor besprochen zu haben … Nein, es besteht gar kein Zweifel! Du verstehst dich stets darauf, mich freudig zu überraschen. Meine kleine, geniale Schwester.“ „Onii-sama, genug jetzt, bitte … Du bringst mich in Verlegenheit“, flüstert Rika leise. „Bitte verzeih mir, Rika.“ Um uns herum höre ich es tuscheln. Er zaubert sein hellstes Lächeln hervor, das seiner Schwester gilt, ehe er ihre Hände freigibt und sich mir zuwendet. „Oh, bitte entschuldige. Jetzt habe ich dich ganz ignoriert. Ich hatte nicht erwartet, Rika hier anzutreffen.“ „Kein Problem“, bringe ich unsicher hervor. Ich bin noch immer mit dieser Situation überfordert und versuche angestrengt, sie irgendwohin einzuordnen. Luka zieht derweil an Rika vorbei und kommt direkt auf mich zu. Bei mir angekommen, ergreift er meine Hand, hebt sie und beugt sich ein Stück vor, um ihr einen hingebungsvollen Kuss auf die Fingerrücken zu hauchen. Ich spüre just in dem Moment, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Das Tuscheln um uns herum wird augenblicklich lauter. „Du siehst heute wirklich bezaubernd aus“, spricht er umschmeichelnd, wobei er meine Augen sucht. Der direkte Blickkontakt lässt meine Ohrenspitzen glühen. „Ich weiß, ich bin heute sehr früh dran. Eigentlich hatte ich dich überraschen wollen, aber dann hat es mich doch früher in diese Gegend gezogen. Wie sieht es aus, hättest du nach Feierabend noch ein wenig Zeit für mich?“ Wawawas geht hier ab? Wieso will heute jeder Zeit mit mir verbringen? Ich bin auf Arbeit, um Himmels willen! „Ich … weiß noch nicht“, sage ich unschlüssig. Rikas wacher Blick begegnet mir, als ich versuche, Lukas eindringlichen Augen zu entkommen. Durch meine Schultern geht ein Ziehen. „Ich müsste das erst noch mit Waka-san besprechen“, ergänze ich schnell, um den Anschein zu decken, ich wolle Lukas Anfrage entfliehen. „Oh, ich verstehe.“ Endlich gibt Luka mich frei, weicht einen Schritt zurück und gesellt sich an die Seite seiner Schwester, von wo aus er mich gutgestimmt anlächelt. „Dann frag ihn doch bitte. Ich kann warten, wenn es sein muss. Und wenn du doch erst später Feierabend haben solltest, kann ich mir die Zeit bis dahin anderweitig vertreiben, um dich dann abzuholen.“ Ich nicke gezwungen. Was soll ich auch sonst anderes machen? „Willkommen zurück, Herr“, lässt mich die kühle Stimme, die plötzlich neben uns aufgetaucht ist, erschrocken zusammenfahren. Mein Blick schnellt empor zu dem hochgewachsenen Mann, der mein Boss ist, und allem Anschein nach genug davon hatte, die Szenerie von der Personaltür aus zu beobachten. In einer höflichen, geraden Verbeugung wendet er sich beiderseits Rika und Luka zu. „Meinen ergebensten Dank für Eure Rückkehr, Rika-dono. Ich hoffe, Euer Aufenthalt bei uns ist angenehm?“ „Ah, Waka-san.“ Rika erwidert die Begrüßung mit einem Kopfnicken. „Vielen Dank der Nachfrage. Ich genieße meinen Aufenthalt sehr.“ „Ich bin erfreut, das zu hören. Meine Mitarbeiter und ich stehen Euch jederzeit zu Diensten“, erklärt er. Nachdem er in eine aufrechte Haltung zurückgekehrt ist, richtet er sich an Luka. „Kann ich dem Herrn irgendwie dienlich sein?“ „Mir?“, gibt Luka fragend zurück. Unterstreichend, als gäbe es mehr mögliche Angesprochene neben ihm, legt er sich eine Hand an die Brust. „Oh, ich bin eigentlich nicht zu Gast hier. Heute nicht. Ich wollte nur nach meiner Freundin sehen und mich über ihren Feierabend in Kenntnis setzen.“ Ich bemerke ein missgünstiges Zucken in Wakas linker Gesichtshälfte. Oh, oh, das kann kein gutes Zeichen sein. „Mein Personal ist unabdingbar“, erklärt er eisern. Sein strenger Tonfall lässt keine Widerrede zu. „Und überaus kostbar. Ich kann auf keinen einzigen Mann an der Front verzichten.“ „Verzeihung, Waka-san?“, mischt sich Rika überaus höflich in das Gespräch der beiden Männer mit ein. „Der Tee war vorzüglich. Ich würde gern bezahlen.“ Auf Wakas Gesicht zeigt sich ein plötzlicher Sinneswandel, als er seine schmale Brille bedeutend nach oben schiebt. „Ganz wie Ihr wünscht, Rika-dono.“   Auf Wakas stummen Verheiß hin ziehe ich mich zurück und überlasse ihm das Feld. Ich bin froh, nichts mehr sagen zu müssen, fühle mich aber zugleich wie ein elender Versager, der auf die Hilfe seines Bosses angewiesen ist. Das ist das zweite Mal, dass er aktiv dazwischengehen musste, und auch wenn diese Situation ganz anders war als die an meinem ersten Tag, so wage ich nicht, mir die Schuld abzusprechen. Inkompetenz lässt sich nicht schönreden. Erst auf meinem Rückweg bemerke ich, wie viel Aufmerksamkeit wir tatsächlich erregt haben. Nahezu die gesamte Kundschaft hat den Blick nach vorn gerichtet. Es wirkt leerer im Café, woraus ich schließe, dass einige Gäste gegangen sein mussten. Man sieht mich an, was mir höchst unangenehm ist, und ich hasse mich dafür, in diese verzwickte Situation hineingeraten zu sein. Wieso nur das alles, wieso? Ich passiere Toma, der gerade einige Gäste bedient, und ziehe auch an Sawa hinter dem Tresen vorbei, ohne sie anzusehen. Im Personalbereich lasse ich mich gegen die nächstbeste Wand sinken und verweile so, um kurz zur Ruhe zu kommen. „Hey, alles okay mit dir?“ Sawas leise Stimme lässt mich schwer seufzen. „Du fragst mich das heute ganz schön oft“, stelle ich trocken fest. Nichtsdestotrotz bemühe ich mich um ein schwaches Lächeln, als ich den Kopf drehe, um das Mädchen anzusehen, das mir aus Sorge gefolgt ist. „Was ist los?“, will ich sanft von ihr wissen. „Naja, also“, beginnt sie zögerlich und tritt weiter in den Gang hinein, um vertrauter mit mir sprechen zu können. „Ich kann mir vorstellen, dass das ganz schön viel für dich war. Ich meine, erst taucht Rika-san hier auf und kurz darauf auch noch ihr Bruder. Einer von beiden reicht ja schon, aber beide ...“ „Kannst du sie nicht leiden?“, unterbreche ich ihre gutgemeinte Anteilnahme mit einer Frage. Sie schüttelt den Kopf. „Darum geht’s weniger. Rika ist mir zwar nicht ganz geheuer mit ihrem Fanclub, und das habe ich auch schon zu Hanna-chan gesagt, aber ich hatte bisher nie Probleme mit ihr. Und ihren Bruder kenne ich nicht gut genug, um mir ein Urteil über ihn erlauben zu können.“ „Hm.“ Da geht es mir ganz genauso wie ihr. „Aber du scheinst ihm gegenüber misstrauisch zu sein“, bemerke ich, wobei ich an unsere bisherigen Gespräche zurückdenke. Für einen kurzen Moment nehmen ihre braunen Augen einen Ausdruck an, als hätte ich sie bei einer Untat ertappt. Indem sie das Kinn senkt, weicht sie meinem Blick aus und sieht betreten zu Boden. „Tut mir leid“, spricht sie leise und hält sich in einer unwohlen Geste den Arm. „Es ist nichts Persönliches gegen ihn und ich hoffe, du kannst es mir irgendwie nachsehen … aber ich finde es doch recht verdächtig, wie er sich verhält.“ Da ist sie wieder, die Fährte, der ich folgen muss. Ich darf sie nicht noch einmal aus den Augen verlieren! „Wieso?“, frage ich daher freiheraus. „Wie verhält er sich denn?“ „Naja, er taucht hier wie aus dem Nichts auf, macht dir kurz darauf ein Liebesgeständnis und bittet dich, seine Freundin zu werden. Ohne dich zu kennen. Wenn das nicht seltsam ist?“ Ich weite überrascht die Augen. Was erzählt sie mir da? Sie hebt den Blick und sieht mich an. Ich erkenne etwas Zweifelndes in ihrem Gesicht. Im leisen Flüsterton setzt sie hinzu: „Und du gehst auch noch darauf ein.“ Wie bitte?! Ich bin baff, erschüttert. Ich kann nicht glauben, was sie mir da erzählt. Das klingt ganz und gar nicht nach mir. Wieso sollte ich mich auf jemanden einlassen, den ich kaum kenne und umgekehrt genauso? Und dann auch noch ausgerechnet Luka? Das macht einfach keinen Sinn! Ich weiß nichts zu sagen. Mir fehlen die Worte. Meine Fähigkeiten beschränken sich darauf, Sawa starr in die Augen zu blicken und dank des Schocks, den diese Information in mir ausgelöst hat, unkontrollierte Gesichtsregungen zu vermeiden. „Darf ich dich etwas fragen?“, holt mich Sawas zögerliche Stimme nach einiger Zeit der Apathie in die Gegenwart zurück. Ich nicke stumpf. „Liebst du ihn?“ Die Frage jagt einen Ruck durch meinen Körper. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. „Du musst das nicht tun“, spricht sie auf mich ein, leise und bedächtig. „Ich weiß nicht, warum … aber es ist der falsche Grund. Du bist nicht auf seinen Schutz angewiesen. Vergiss uns nicht, wir sind doch auch noch da.“ Schutz? Lukas »Schutz«? Wovor? Was ist hier los? „Oder, sag mir nicht … Denkst du, dass er dich wirklich liebt?“ Ich wende den Blick von ihr ab. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. „Ich weiß es nicht …“   Unser Gespräch findet ein Ende, als Toma auf seinem Weg zur Küche zu uns stößt. Sawa gelingt es, ihn schnell von mir abzulenken, sodass er keine Fragen stellt. Nachdem sie gegangen sind, warte ich noch einen Moment, um mich zu sammeln. Mir wird nun einiges klar. Meine Beziehung mit Luka ist ein Fake. Nichts als eine Lüge. Keine Gefühle, keine Romantik. Davon kann ich zumindest ausgehen. Aber warum? Ich seufze schwer. Es ist noch zu früh, um alles verstehen zu wollen. Was ich bisher habe, sind nur kleine Schnipsel einer Karte, deren genauen Umfang ich noch nicht kenne. Diese erste Erkenntnis nützt mir noch gar nichts, um das Gesamte zu verstehen. Meine Scheinbeziehung mit Luka und die Frage nach dem Grund ist nur ein Fingerhut im Vergleich zu der Frage, warum ich hier und wie ich in diese Welt gelangt bin, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Das zumindest dachte ich bisher immer. Es ist keine schöne Nachricht, aber immerhin ein Anfang. Ich muss beginnen, nach vorn zu schauen. Bisher schlage ich mich doch ganz gut, ich muss nur noch ein wenig länger durchhalten. Das sollte doch zu machen sein, bedenke ich, mit welchen netten Menschen ich hier zu tun habe. Ich muss einfach nur anfangen, das Beste daraus zu machen, und muss aufhören, alles schwarz zu malen. Eines Tages, das weiß ich, werde ich es sonst bereuen, wenn ich in meine Welt zurückgekehrt bin. Das wäre doch viel zu schade, nicht wahr? Entschieden straffe ich die Schultern. Es ist nun, wie es ist. Aber meine Schicht ist noch nicht beendet. Und da sind noch Sawa und Toma, die auf mich zählen. Zeit, voranzugehen! Ich kehre ins Café zurück. Als ich durch die Tür trete, bemerke ich noch gerade so, dass mir Waka entgegenkommt und kann einen Zusammenprall verhindern. Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, etwas langsamer zu laufen. „Augen auf, Soldat“, höre ich ihn sagen, soweit gedämpft, dass es die Kundschaft nicht mitbekommt. Ich stelle mich gerade hin. „Ja, tut mir leid.“ „Im Übrigen: Du hast um achtzehn Uhr Feierabend“, erklärt er mir. Irritiert sehe ich zur Uhr, es ist bereits zehn nach fünf. „Aber das ist ja bald“, stelle ich mit Ernüchterung fest. „Mach dich bis dahin noch nützlich.“ Waka geht an mir vorbei. Bevor er im Gang verschwinden kann, drehe ich mich nach ihm um. „Chef!“ „Was ist?“, verlangt er zu erfahren und bleibt tatsächlich stehen, um sich mir zuzuwenden. Es klang schroff, aber nicht erbost oder zurückweisend. Das allein gibt mir schon genug Ermutigung. „Ich, also … können wir … kann ich kurz mit dir reden?“ Ich beobachte, wie eine seiner Augenbrauen interessiert nach oben geht. Einen Moment später dreht er sich um und gibt mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich ihm folgen soll.   „Worum geht’s?“, leitet er wenig später unser Gespräch ein, nachdem wir uns im Pausenraum verschanzt hatten. Ich brauche einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. Es gibt so viel, was ich ihm sagen will. „Also, zu allererst“, beginne ich dann einfach bei dem Thema, das mir am leichtesten fällt, „möchte ich mich bei dir bedanken. Dafür, dass du heute Morgen angerufen und mich an meine Schicht erinnert hast und dafür, dass du mich vorhin in den Dienst zurückgerufen hast. Und vor allem dafür, dass du die letzten Tage so nachsichtig mit mir warst.“ Ich falle in eine Verbeugung vor, wie es mir so langsam zur Gewohnheit wird. „Wirklich, danke. Ich verspreche, dass ich dir ab sofort weniger Sorge bereiten und meine Arbeit wieder besser machen werde.“ Es kommt nichts zurück. Als ich mich langsam wieder aufrichte, erkenne ich, dass mich Waka mit einem fragwürdigen Blick besieht. Ich kann nur hoffen, dass mein Verhalten nicht zu sehr von dem abweicht, was er von mir gewohnt ist. „Ähm … als Zweites: Ich soll dir einen lieben Gruß von Ukyo ausrichten.“ „Ukyo, hm?“ In seinem Gesicht tut sich etwas. „Das freut mich. Wie geht es ihm? Wir haben ihn lange nicht mehr hier gesehen.“ Ich bin positiv überrascht. Es ist das erste Mal, dass wir so etwas wie Smalltalk führen. Und es ist wesentlich angenehmer, als ich gedacht hätte. „Es geht ihm soweit gut“, sage ich voller Überzeugung, hege jedoch insgeheim Zweifel, ob dem tatsächlich so ist. „Er ist im Moment viel beschäftigt. Ich bin mir sicher, er wird wieder vorbeikommen, wenn es mit der Zeit besser um ihn steht.“ „Ich hoffe darauf.“ Sein Gesicht wird daraufhin wieder ernst. „Und?“ „Ähm …“ Das war abrupt. Schon wieder suche ich nach den richtigen Worten. „Also, ich wollte auch nochmal nach meinem weiteren Schichtplan fragen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich die Tage noch etwas daran verändern müsste“, bringe ich mein Anliegen nur vorsichtig hervor. „Das wäre im Augenblick äußerst ungünstig, gemessen an unserer derzeitigen Personalsituation“, erklärt er mir. Ich hebe fragend die Augenbrauen. Was meint er damit? „Was musst du denn ändern?“, will er wissen. Ich senke das Kinn in Vorsicht. „Das müsste ich vor Augen haben“, erkläre ich. Verstehend nickt er. „In Ordnung.“ Er wendet sich von mir ab, löst von seinem Gürtel eine kleine, quadratische Ledertasche und holt aus dieser einen Schlüsselbund hervor. An den Spinden wählt er den äußersten, entschließt ihn und holt mit einem einfachen Handgriff einen schwarzen Aktenordner heraus, auf welchem ich das Logo des »Meido no Hitsuji« erkenne. Mit einem Kopfnicken bedeutet er mir, mich am Pausentisch einzufinden, an welchen er sich auf dem Stuhl mir gegenüber setzt. „Hier“, gibt er zu verstehen und schiebt mir ein Blatt entgegen, auf welchem der Schichtplan aller verfügbaren Mitarbeiter für den gesamten Monat eingetragen ist. „Nimm ihn zu morgen mit und überleg ganz in Ruhe zu Hause, wo du eine Änderung vornehmen möchtest. Wir besprechen das dann am Wochenende, wenn alle anwesend sind.“ „Ja, mache ich. Vielen Dank.“ Ich nicke, während ich den Plan, der wie ein Kalenderblatt in Wochen und im Zweischichtsystem aufgestellt ist, kurz überfliege. „Pack ihn weg und dann geh zurück an die Arbeit“, weist Waka mich an, ohne die Stimme zu erheben. „Achtzehn Uhr, denk daran.“ „Ja.“ Kaum dass Waka weg ist, werfe ich noch einen letzten Blick auf den Plan. Mein regulärer Feierabend wäre um neunzehn Uhr gewesen. Ich darf also eine Stunde früher gehen. Hm, seltsam. Ich war auf halb zehn eingestellt gewesen. Aber wie es scheint, sind halbe Schichten hier keine Seltenheit. Die Frühschicht dauert prinzipiell gerade einmal vier Stunden. Morgen habe ich wieder Spätschicht, zusammen mit Kento, Ikki und Sawa. Diese Aussicht lässt mich lächeln. Ich kann es jetzt schon kaum erwarten, sie morgen wiederzusehen. Hoffentlich werde ich dann besserer Dinge sein, um die gemeinsame Zeit mit ihnen genießen zu können. Doch etwas lässt mich stutzen. Alle verzeichneten Namen sind mir bekannt, bis auf einem: »Hanna«. Ihr Name war zu gestern und morgen eingetragen, wurde jedoch durchgestrichen. Ich hätte gestern mit ihr zusammen Schicht gehabt, zu morgen ist statt ihrer mein Name in kantiger Handschrift nachgetragen worden. Fragend lege ich den Kopf schief. Wer ist »Hanna«? Ich erinnere mich, dass Sawa diesen Namen vorhin kurz erwähnt hatte. Hat noch jemand neben mir in diesem Café angefangen, den ich nicht kenne? Ich gehe die übrigen Namen durch. Jedem kann ich eine Person zuordnen. Die einzige Person, die ich nicht zuordnen kann … kann das sein? Mein Herz schlägt in einem aufgeregten Rhythmus bei diesem Gedanken. Handelt es sich bei »Hanna« möglicherweise um die Heroine? Das würde ja bedeuten, sie existiert in dieser Welt und ich bin doch nicht nur ihr Ersatz. Gott sei Dank! Ich hoffe inständig, dass ich mit dieser Vermutung richtig liege. Denn wenn das stimmt, besteht in der Tat noch Hoffnung für mich. Ich würde sie nur zu gern kennenlernen! Voll neuer Motivation packe ich den Zettel fein säuberlich in meine Tasche. Anschließend beeile ich mich, zu den anderen zurückzukehren. Kapitel 7: Blick nach vorn -------------------------- Die letzten Minuten vergehen wie im Flug. Der Feierabend rückt unausweichlich näher, was mich traurig stimmt, denn ich hätte sehr gern mehr Zeit mit Toma und Sawa verbracht. Zu meinem Trost werde ich sie bald wiedersehen, und wenn es soweit ist, möchte ich sehr gern nützlicher für sie sein. Ich fasse mir dies als einen felsenfesten Entschluss, während ich mich umziehe. Fertig umgezogen mache ich mich auf die Suche nach Sawa, um mich von ihr zu verabschieden. Es ist mir ungemein wichtig, noch kurz mit ihr zu reden, ehe ich gehe. Ich habe ihr heute wirklich viel zu verdanken, und ich will, dass sie das weiß. Geduldig warte ich, bis sie von ihren Kunden zurückkommt. Schon auf dem Weg zu mir trägt sie ein Lächeln, das mich auffängt. Mich befällt ein Gefühl von Schwermut, obwohl ich mich wiederholt daran erinnere, dass ich sie schon morgen wiedersehen werde. Dennoch, ich wäre wirklich gern noch länger bei ihr geblieben. „Du gehst also schon?“, stellt sie sicher, kaum dass sie bei mir angekommen ist. Ich nicke vorsichtig. „Unfreiwillig“, lächle ich. „Lässt sich nichts machen“, erwidert sie, wobei sie gespielt vorwurfsvoll die Hände in die Hüften stemmt und den Kopf schief legt. „Du solltest dich beeilen, Luka-san wartet schon auf dich.“ „Ach echt?“ Sie nickt. „Ja, er steht draußen vorm Café.“ „Woher weißt du das?“ „Er kam kurz rein und hat nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass du sicher bald da sein würdest“, erklärt sie. „Hm, okay.“ Wirklich wohl ist mir nicht dabei. Gerade jetzt, da ich frisch in Erfahrung gebracht habe, dass ich ihm nur etwas vormache, möchte ich ihm eigentlich nicht unter die Augen treten. Aber mir scheint, als hätte ich keine andere Wahl. Ich kann ihn schlecht einfach wegschicken, oder? „Überleg’s dir“, holt mich Sawa aus meinen Gedanken. Aus ihren rehbraunen Augen lese ich einen stummen Zuspruch. „Wegen vorhin, meine ich.“ »Was wir besprochen haben«, will sie sagen, da bin ich mir sicher. Natürlich sagt sie es nicht offenkundig. Aber ich weiß, was sie meint. „Mh“, nicke ich. Indem ich zu ihr trete, lege ich dem Mädchen die Arme um und drücke mich an sie. „Danke, Sawa“, spreche ich leise. „Du ahnst gar nicht, wie sehr du mir heute geholfen hast. Einfach danke für alles.“ „Hey, schon gut“, sagt sie zögerlich und erwidert die Umarmung. „Ich weiß nicht ganz, was ich getan habe, aber ich freue mich, dass ich helfen konnte.“ „Definitiv. Mehr als du denkst.“ „Na, na. Da könnte Mann ja fast neidisch werden“, werden wir in unserer Zweisamkeit gestört, als sich Toma zu uns gesellt und uns Mädels lächelnd betrachtet. Ich löse mich von Sawa, um mich Toma zuzuwenden. „Also wenn du eine Umarmung so sehr nötig hast, musst du nur etwas sagen. Ich denke, weder Sawa noch ich würden uns scheuen, dir diesen Gefallen zu erweisen“, sage ich zu Späßen aufgelegt. Sawa neben mir nickt entschieden, wenn ihr Grinsen auch eher verlegen wirkt. „Das ließe sich einrichten, schätze ich.“ „Jetzt macht ihr mich aber verlegen“, lacht er leise, wobei seine Hand kurz in den Nacken fährt. „Aber vielen Dank für das Angebot. Ich werde es mir merken.“ „Mach das mal“, gestatte ich mir ein kurzes Kichern. Der Gedanke, wie Toma eines Tages auf dieses Angebot zurückkommen könnte, erheitert mich in der Tat. „Und du machst jetzt Feierabend?“, richtet sich seine Frage wieder an mich, woraufhin ich zum Ernst zurückkehre. Ich nicke. „Ja, zu meinem Bedauern. Aber ich schätze, man sieht sich ja bald wieder?“ „Zum Wochenende dann, wie gehabt.“ „Mh, ich freue mich schon darauf. Gute Arbeit heute, Toma.“ „Jepp, gute Arbeit.“ „Meinst du, du packst das allein?“, wende ich mich noch einmal an Sawa, welche ich sorgevoll betrachte. „Ist dein Muskelkater noch schlimm?“ „Ach was, das geht schon“, weist sie zurück und beteuert ihre Worte mit einem taffen Lächeln. „So schlimm ist es nicht und außerdem ist ja Toma-san noch hier. Mach dir keine Sorgen.“ Sie hat wohl recht. Ich war selbst die ersten Stunden mit Toma allein gewesen und kann daher bezeugen, dass die Teamarbeit mit ihm äußerst angenehm ist. Er wird ein Auge auf sie haben, da bin ich mir sicher. Außerdem sind sie die Arbeit schon wesentlich länger gewöhnt als ich, da werden sie das Kind schon schaukeln. „Ich verlass‘ mich darauf. Also dann.“ Ich richte mich an beide. „Tut mir wirklich leid, dass ich euch heute keine große Hilfe war. Beim nächsten Mal wird’s besser, versprochen.“ „Ach was“, winkt Sawa meine Entschuldigung zur Seite ab. „So schlimm war’s nicht und zu einem gewissen Teil konntest du auch gar nichts dafür. Wir beide wissen, dass du beim nächsten Mal wieder Vollgas geben wirst. Also belaste dich nicht damit und mach dich jetzt erst mal nach Hause.“ „Dem kann ich nichts mehr hinzufügen“, bestätigt auch Toma mit einem einfachen Kopfnicken. „Mach dich jetzt erst mal los und denk nicht mehr an die Arbeit. Mach dir einen schönen Abend.“ „Ich werd’s versuchen. Also dann, bis morgen, Sawa. Toma, bis zum Wochenende. Gute Schicht noch.“ „Bis dann“, verabschieden mich beide, woraufhin ich mich umdrehe und zum Gehen bewege. Im Gang überlege ich, ob es nicht besser wäre, mich auch noch von Kento zu verabschieden. Der Gedanke ist mir unangenehm, aber es wäre höflich. Er ist immerhin ebenso ein Arbeitskollege von mir wie Sawa und Toma. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es eigentlich Ironie. Kento war immer einer meiner liebsten Charaktere gewesen, als »Amnesia« nur ein Fandom für mich gewesen war. Es wäre für mich immer ein Traum gewesen, ihm in Wirklichkeit zu begegnen. Und nun ist es soweit und ich laufe lieber vor ihm davon. Wie dämlich ist das, bitte? Zu allem Überfluss wird mir in diesem Moment bewusst, wie wenig Zeit ich mit ihm verbracht habe. Wir haben gerade erst ein Mal miteinander geredet, und dieses Gespräch habe ich gänzlich in den Sand gesetzt. Alles, was danach erfolgt war, hatte mit Bestellungsab- und -übergabe zu tun. Sonst nichts. Das ist noch weniger, als ich mit Shin oder Ikki gesprochen hatte. Wie konnte das nur passieren? Und das, obwohl wir den ganzen Nachmittag zusammen waren. Ich gelobe mir Besserung. So einfach lasse ich ihn nicht davonkommen! Ich werde diese Gelegenheit nicht aus dummer Vorsicht heraus einfach so verstreichen lassen! Vorsichtig strecke ich meinen Kopf in die Küche. Kento ist gerade dabei, irgendwelches Gemüse anzuschwenken. Er tut es mit einer solch gewohnten Leichtigkeit und schafft es doch, dabei höchst konzentriert auszusehen. Es fasziniert mich irgendwie und ich gestatte mir, ihn eine Weile bei seiner Arbeit zu beobachten. „Ich gehe dann jetzt“, sage ich schließlich, um mich bemerkbar zu machen. „Wir sehen uns dann morgen wieder?“ In einer halben Drehung wendet er sich mir zu. „Plangemäß“, bestätigt er, sachlich wie nicht anders zu erwarten. „Okay“, zwinge ich meinen Unmut hinunter. In Gedanken appelliere ich gegen meine Enttäuschung an, dass sie hier fehl am Platz ist. „Dann bis morgen. Gute Arbeit und schönen Feierabend später.“ Seine Augen verschmälern sich anzweifelnd. „Ja, schönen Feierabend.“ Irgendwie klingt es seltsam, wie er es sagt. Ich denke mir nichts weiter dabei und wende mich zum Gehen. Kento hätte ich also auch überlebt, bleibt als Nächstes Luka. Wobei … wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich auch eben noch ein paar Minuten an Waka verschenken. Dann kann mir zumindest keiner vorwerfen, ich hätte mich irgendwem gegenüber unhöflich verhalten. Schaden kann’s ja nicht. „Waka-san?“, mache ich mich durch ein Klopfen an der Tür zu seinem Büro bemerkbar. „Ich gehe dann jetzt.“ Kurz darauf wird die Tür vor mir geöffnet und ich muss den Kopf anheben, um einen Blick auf das Gesicht meines Bosses erhaschen zu können. „Gut gekämpft, Shizana. Rika-dono war außerordentlich zufrieden mit deinem Dienst.“ Ich schlucke. Muss er das unbedingt nochmal zur Sprache bringen? „Das freut mich“, zwänge ich aus mir hervor. „Bestell doch bitte Ukyo einen Gruß von mir. Sag ihm, dass wir seine Anwesenheit im Café schmerzlich vermissen.“ Erleichtert nicke ich. „Ja, das mache ich sehr gern.“ „Gut. Du kannst abtreten.“ Schon verschwindet er aus meinem Sichtfeld und die Tür wird vor mir zugeschlagen. Nachdenklich lege ich den Kopf zur Seite. Ich frage mich, ob Waka meinen zweifellos engen Kontakt zu Ukyo gar nicht in Frage stellt. Sicher, es ist einige Zeit in dieser Welt vergangen seit dem offiziellen Spiel, welches ich kenne, und mich »gibt« es hier schon seit zwei Monaten, wovon ich einen bereits im »Meido no Hitsuji« angestellt bin. Mir ist klar, dass ich nicht alles an der Vorlage des Spiels richten kann und dass sich durchaus einige Dinge geändert haben können, aber ich komme nicht umhin, diese Leichtfertigkeit meines Bosses anzuzweifeln. Vielleicht weiß er ja Bescheid. Und wenn nicht? Zumindest wusste er, wo ich wohne. Ob meine Wohngemeinschaft mit Ukyo allgemeinhin unter den Mitarbeitern bekannt ist? Irgendwie kaum vorstellbar. Ich sollte mich lieber bedeckt dazu halten, bis ich Genaueres dahingehend weiß.   Draußen wartet bereits Luka auf mich. Allein. Vielleicht hat es etwas von früher Paranoia, diese Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben, aber ich bin wirklich zutiefst erleichtert, dass Rika nicht länger bei ihm ist. Noch einmal hätte ich das nicht ertragen, nicht heute. „Endlich, da bist du ja“, werde ich von Luka begrüßt, der mich freudestrahlend in Empfang nimmt, kaum dass ich das Café verlassen habe. „Ich hatte schon die Befürchtung, dass sie dir doch noch mehr Arbeit aufgedrückt haben oder dass du mich versetzen würdest.“ „Wie kommst du denn darauf?“, entgegne ich in aller Mühe, mich für meine Verhältnisse normal zu verhalten. Ich ringe mir sogar ein besänftigendes Lächeln ab. „Allerdings muss ich dir im Vorfeld sagen, dass ich heute leider nicht so viel Zeit haben werde. Ich muss heute Abend noch etwas Dringendes erledigen“, bin ich zumindest zur Hälfte ehrlich zu ihm. „Oh? Das ist natürlich schade, aber nicht schlimm. Ich hatte zwar gehofft, das bei einem Getränk tun zu können, aber im Grunde wollte ich dich nur sehen und etwas mit dir bereden.“ Oh, oh. Mir hatte diese Floskel »Ich muss mit dir reden« noch nie gefallen. Auch jetzt habe ich kein gutes Gefühl dabei. „Wenn du magst, kannst du mich nach Hause begleiten“, schlage ich vor. „Wir könnten zu Fuß gehen, dann haben wir mehr Zeit. Außerdem lässt es sich beim Gehen auch ganz gut miteinander reden.“ „Ja klar, warum nicht? Das würde mir voll und ganz genügen“, geht er zufrieden lächelnd auf mein Angebot ein. Puh, noch einmal Glück gehabt. Fürs Erste. Gut, ich gestehe: Mein Vorschlag ist nicht ganz frei von Eigennutz. Ich hatte ohnehin vor, mich in der nächsten Zeit mit meinem Fußweg zur Arbeit auseinanderzusetzen. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wäre es hell dabei gewesen, aber dafür bin ich nicht mit meiner Orientierungslosigkeit allein. Und bei Luka habe ich die Hoffnung, dass er den Weg bereits kennt, nachdem er mich schon gestern nach Hause gebracht hatte, ohne zuvor nach der Adresse gefragt zu haben. Da er ohnehin etwas bereden will, profitieren wir beide aus meinem Vorschlag. Es ist also eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Dafür brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben, oder? Zu meinem Erstaunen stellen sich meine Befürchtungen schnell als unbegründet heraus. Mich erwarten weder eine Stellungnahme noch ein Geständnis seitens Luka, das mich nur noch tiefer in die Bredouille hineingeritten hätte. Auch hat das fiese Stimmchen von schlechtem Gewissen keine Chance, lange in meinem Kopf zu wüten. Für die ersten Minuten noch schlägt es sich wacker, mich mit anklagenden Zweifeln zu martern, bis Lukas sorglose Art auf mich übergeht und von jeglicher Anspannung befreit. „Weißt du, dieser Gedanke lässt mich einfach nicht los“, unterbreitet er mir inmitten seiner Begeisterung, die schon seit zehn Minuten auf dieser Art anhält. „Stell es dir nur vor: Ein großer Garten, der all die schönsten, prachtvollsten und exotischsten Pflanzen in sich vereint. Frei, voll reinster und vollkommener Schönheit seiner vollendeten Blüte. Und zwischen all den bunten Prachten diese kleinen, zierlichen Wesen, die sie mit ihren zarten Händen hegen und pflegen und über sie wachen.“ „Klingt für mich sehr nach einer Utopie“, erkläre ich mit einem leisen Schmunzeln. Mir ist unklar, wie das möglich ist nach all den Informationen, die ich bisher zu »uns« gesammelt habe, aber es fällt mir leicht, auf sein Gespräch einzusteigen. Luka macht es mir leicht. Es stört mich nicht einmal mehr, dicht neben ihm herzulaufen, obgleich es bereits dunkel ist; wie eben im Winter üblich. „Auf Bildern macht sich das sicherlich wunderbar, aber für eine Geschichte wäre es zu eintönig. Niemand liest gern Geschichten über eine Welt, in der alles rund und perfekt läuft“, ergänze ich weiterhin. „Da magst du recht haben“, stimmt er bei. „Wörter streben nach Bewegung, Farben hingegen laden zum Verweilen ein. Ihr zeigt einen Verlauf, wir einen Moment. Faszinierend, wie ergänzend diese Unterschiede aufeinander wirken.“ „Beides kann aber auch das Gegenstück bedienen“, werfe ich ein. „Eine Geschichte kann sich genauso gut mit einem Moment befassen, wie ein einziges Bild eine ganz eigene Geschichte erzählen kann.“ „Fantastisch, nicht wahr?“, jauchzt er euphorisch. „Einfach fantastisch! Wie man es auch dreht und wendet, die Kombination von Farbe und Wort wiegt im Einklang miteinander. Sie sind einander ebenbürtig. Kein Wunder, dass zwischen uns auf Anhieb eine besondere Harmonie bestanden hat. Es ist, als haben unsere Seelen einander gefunden.“ Mir wird unwohl bei seinen Worten. „Naja, um ehrlich zu sein“, sage ich leise, „ich hatte bisher nie groß etwas mit der Malerei am Hut. Ich kenne zwar einige Zeichner und habe mich sehr gern mit ihnen unterhalten, ich bewundere auch einige Maler und Bilder können mich durchaus faszinieren, aber es war nie groß mein Gebiet. Ich habe mich immer mehr in Autorenkreisen bewegt. Dort war ich zuhause. Lustigerweise gerate ich aber sehr häufig an Fotografen und Grafiker.“ Bei dem Gedanken wird mir für einen Moment das Herz schwer, während ich an meinen Freund und besten Freund denke – in meiner Welt. „Oh, wirklich? Dann bin ich also etwas Besonderes“, schmunzelt er entzückt. Ich belächle seine Schlussfolgerung mit Schwermut. „Tja, sieht ganz so aus.“ „Also, was denkst du?“, schwenkt er um, um auf sein Eröffnungsthema zurückzukommen. „Mir schwebt ein großes Panoramagemälde vor, zusammengesetzt aus verschiedenen Motiven im fließenden Übergang. Ölfarben erscheinen mir angemessen. Hm, oder doch Leinwand im Hochformat? Mit einem zentralen Leitmotiv und umspielenden Sidecatches. Es wäre zwangloser, verspielter. Was meinst du?“ „Du bist der Künstler, diese Entscheidung solltest du treffen“, entgegne ich. Kurz überdenke ich seine Ideenvorschläge und versuche, mir ein eigenes Bild dazu zu machen. „Aber wenn du mich fragst, solltest du bei dem bleiben, was dir als Erstes in den Sinn gekommen ist. Mir hat mal jemand wiederholt gesagt, dass der erste Gedanke oder das erste Gefühl in der Regel stets das Richtige ist. Und wenn dir eine Idee länger nicht aus dem Sinn geht, wird das seinen Grund haben, den dein Unterbewusstsein längst vor dir kennt. Aber letztendlich musst du das wissen, was dir lieber ist, womit du dich wohler fühlst und was du lieber umsetzen magst, damit das Ergebnis so wird, wie du es dir vorgestellt hast. An den Feinheiten feilen und sie um Details erweitern kannst du immer noch.“ „Weise Worte.“ „Sie stammen nicht von mir.“ Ein weiterer Stich zieht sich durch mein Herz. „Ganz gleich, von wem sie stammen mögen, derjenige hat klug gesprochen.“ „Mhm, es handelt sich um eine tolle Person“, spreche ich leise. „Nun gut, damit ist es entschieden. Ich verspreche, das großartigste Meisterwerk zu erschaffen, das die Welt je gesehen hat! Es wird jeden, der es besieht, im wahren Wert von vollkommener Schönheit überzeugen! Interpretiert in natürlich-fantastischer Weise, die ewig währt.“ Skeptisch blicke ich zu ihm hoch. „Dir ist schon klar, dass »Schönheit« jeder anders interpretiert?“, gebe ich zu bedenken. „Und gerade, was Fantasiewesen betrifft … Ich meine, es gibt keine-Ahnung-wie-viele Interpretationsausgaben von Feen. Zumindest habe ich schon etliche gesehen, die stark voneinander abgewichen sind. Und deine Version ist schon ziemlich … Mainstream. Sorry.“ „So?“, wendet er sich interessiert an mich. „Und wie interpretierst du sie?“ „Naja, um ehrlich zu sein … Die Version von kleinen Menschenvertretern mit Flügeln ist zwar sehr niedlich, hat aber in meinen Augen wenig mit Fantasie zu tun. Man muss vielleicht auch unterscheiden, in welcher Rolle die Feen stehen sollen. Ich persönlich mag sie gern als Naturgeister. Kleine Flügelwesen vielleicht, ja, aber sie müssen nicht zwangsweise hübsch sein. Vielleicht sind sie auch mehr koboldartig, ich weiß nicht. Oder eher fahl bis naturfarben im Erscheinungsbild. Aber auf jeden Fall weisen sie keine menschlichen Merkmale auf, bis auf eine aufrechte Haltung vielleicht, die sie einnehmen können, wenn sie das wollen. Muss aber nicht sein.“ „Das weicht aber sehr von ihrem Ursprung ab“, bezweifelt er meine Theorie. Ich erahne, wie sich seine Stirn unter dem blonden Haar in Falten legt. „Zudem vermischt es sich sehr mit dem Bild anderer Fabelwesen. Geister tragen eine andere Bedeutung, als Feen es im Volksmund tun.“ „Na und“, schmolle ich zurück. „Dafür sind es Fantasiewesen. Ihr Raum für Auslegungen ist groß, wenn auch nicht grenzenlos. Und ich als Autor darf gelegentlich vom Allgemeindenken abweichen.“ Darauf ernte ich ein beherztes Lachen. Na toll, wenigstens einer amüsiert sich an meinem Sturkopf. Vielleicht liegt es genau daran. An dem Fakt, dass ich keinerlei Gefahr von Luka ausgehend verspüre. Im Gegenteil, ich fühle mich in seinem Geleit sicher. So seltsam der Gedanke auch für mich klingt. Vielleicht habe ich ihn von Anfang an falsch eingeschätzt und mich an der Vorgabe festgekrallt, die mir das Spiel gegeben hatte. Vielleicht habe ich ihm damit Unrecht getan. Nichtsdestotrotz gibt es da noch immer einen Punkt, der mich nicht loslässt. Nämlich der, dass mir Luka mehr wie »ein« Freund statt »der« Freund vorkommt. Wir reden ungezwungen miteinander und es scheint eine gemeinsame Basis zu bestehen, jedoch kann ich keine intime Bindung zwischen uns verspüren. Vielleicht liegt es nur an mir, meinen Zweifeln und der Tatsache, dass es mir schwer fällt, mich als »seine Freundin« zu sehen; ich weiß es nicht. Und ich beginne mich zu fragen, wie er darüber denkt. Wie sieht es wohl auf seiner Seite aus? Ahnt er etwas von meinen Beweggründen? Entsprechen seine, von denen ich weiß, tatsächlich der Wahrheit? Ich seufze leise. Wie lange kann ich dieses Spiel wohl mitspielen, dessen Regeln ich weder kenne noch selbst erstellt habe? Wie lange kann ich diesen Schein wohl aufrechterhalten?   „Danke fürs nach Hause Bringen“, leite ich unsere Verabschiedung ein, als wir an meinem Wohnhaus angekommen sind. Die Zeit ist durch unser fließendes Gespräch schnell vergangen, sodass ich die halbe Stunde, die wir laut Wegbeschreibung mindestens gebraucht haben sollen, kaum wahrgenommen habe. Vor der Einbiegung zum Grundstück stehe ich ihm zugewandt und warte darauf, dass auch er mich entlässt. „Keine Ursache, das habe ich gern gemacht“, antwortet er mit einem Nicken, von Abschiedsschmerz keine Spur. „Wann sehe ich dich wieder?“ „Die nächsten Tage werden etwas stressig“, erkläre ich in Erinnerung an das, was ich dem Schichtplan flüchtig entnommen hatte. „Ich rufe dich an, wenn das okay ist?“ „Das ist okay, solange du mich nicht zu lange warten lässt.“ „Ich werde es versuchen.“ Ein sanftes Lächeln spielt sich auf sein Gesicht. Wären die Umstände andere, hätte ich mich darin verlieben können. Vielleicht. „Also dann.“ Ich nicke. „Noch einmal danke. Hab noch einen schönen Abend.“ „Du auch. Bye.“ Ich beobachte noch, wie er sich zum Gehen umwendet und auf der Straße entfernt. Es ist genau wie gestern, nur ohne Taxi. Wiederholt frage ich mich, ob das, was wir führen, in der Tat eine Beziehung zwischen Liebenden ist. Abtuend zucke ich mit den Schultern, ehe auch ich mich abwende. Ich habe wohl kaum das Recht, so zu denken. Nach dem, was mir Sawa erzählt hat, bin ich die Letzte, auf die das Wort »Romantik« im Bezug auf diese Situation zutrifft. Es steht mir nicht zu, Lukas Ambitionen anzuzweifeln. Früher oder später werde ich mir ein eigenes Bild dazu machen können, da bin ich mir sicher. Aber fürs Erste ist es vorbei. Der Tag ist überstanden und ich bin froh, erneut irgendwie durchgekommen zu sein. Ich muss außerdem zugutehalten, dass ich einiges erreicht habe. Ganz gleich, wie klein die Schritte gewesen sein mögen. Es war holprig, aber der Anfang ist gemacht. Ab jetzt zählt nur noch, weiterhin auf diesem Pfad nach vorn zu blicken. Aus diesem Gedanken schöpfe ich neuen Mut. Mit einem überzeugten Lächeln auf dem Gesicht verschaffe ich mir Einlass ins Haus. Über die Treppe erreiche ich mein Apartment, auf das ich mich schon sehr freue. Jetzt einen Cappuccino und die Beine hochlegen, während ich meinen Schichtplan in aller Ruhe studiere und einen Schlachtplan für morgen entwickle. Ich bin wirklich bester Dinge, als ich die Tür öffne und in die Wohnung hineintrete. „Oh, du bist ja schon da!“, werde ich postwendend begrüßt, kaum dass ich die Tür hinter mir ins Schloss gedrückt habe. Etwas verdattert schaue ich nach vorn, trete einige Schritte aus dem Flur heraus, um einen Blick in das offene Wohnzimmer werfen zu können. „Ich durfte früher gehen“, erkläre ich, noch ehe ich Ukyo entdeckt habe, der sich gerade von der Couch erhebt, um mich in Empfang zu nehmen. Mit einer Mischung aus Erstaunen und Verwirrung beobachte ich, wie er eiligen Schrittes auf mich zukommt. Inzwischen ist mir natürlich klar, dass wir zusammenleben, aber dass er da sein würde, damit hatte ich nun ehrlich nicht gerechnet. „Ach echt? Das … ist doch schön?“ Ich fange sein beklommenes Lächeln auf. Ukyo ist höflich wie immer, doch aus seinem Gesicht lese ich, dass er genauso neben der Spur steht wie ich selbst. Vielleicht sogar noch ein Stück mehr. Ich bin in meinen Gefühlen uneinig. Auf der einen Seite freue ich mich wahnsinnig, Ukyo wiederzusehen, auf der anderen fühle ich mich befangen. Ukyo war seit dem Morgen weg gewesen, die letzten Stunden gänzlich aus meinen Gedanken verschoben. Ich habe ihn den ganzen Tag weder gesehen noch gehört. Doch jetzt, just in diesem Augenblick, kommt mir alles wieder hoch: unser gestriges Gespräch, mein morgendliches Vorhaben, die Enttäuschung auf beiden Seiten. Es ist nicht zu verkennen, dass da etwas Unausgesprochenes zwischen uns steht. Dass Klärungsbedarf besteht, wenn wir weiterhin normal miteinander umgehen können wollen. Mir drängt sich das Bedürfnis auf, darüber zu reden, doch so aus dem Stehgreif ist das gar nicht so einfach. „Ich soll dir liebe Grüße von Waka-san bestellen“, erzähle ich einfach drauf los, um das anstehende Schweigen zu überbrücken. Es ist das Erstbeste, was mir in den Sinn kommt. „Du wirst im Café schon schmerzlich vermisst.“ „Oh, tatsächlich?“ Sein Gesicht nimmt für kurz einen überraschten Ausdruck an, bevor sein Lächeln weicher wird. „Ich schätze, ich war wirklich lange nicht mehr dort. Ich sollte mich in der Tat mal wieder blicken lassen, was?“ Ich nicke. „Ja, das solltest du wohl wirklich. Und ach ja …“ Ich beginne, in meiner Umhängetasche zu kramen, um etwas Bestimmtes daraus hervorzuholen. „Shin war heute nicht da. Ich konnte ihm die CD leider nicht zurückgeben.“ „Ach so.“ In einer verlegenen Geste legt er sich eine Hand in den Nacken, während er mit der anderen die CD entgegennimmt, die ich ihm entgegenhalte. „Ach, stimmt ja. Heute ist ja Donnerstag, nicht wahr? Am Donnerstag ist immer Kento in der Küche. Wie konnte ich das nur vergessen?“ „Ich glaube nicht, dass du es vergessen hast“, will ich ihn beruhigen. „Du hast dich lediglich im Tag geirrt. Kann doch jedem mal passieren.“ Er lächelt verlegen. „Ja, mag sein.“ Thema beendet. Na toll. Und ich weiß noch immer nicht, wie ich am geschicktesten umlenken kann, ohne ihn zu überrumpeln. „Ähm … soll ich dir vielleicht etwas machen? Einen Cappuccino? Du bist bestimmt müde von der Arbeit.“ „Ich bin nicht müde“, sage ich leise. „Aber den Cappuccino nehme ich gern.“ „Dann brühe ich uns eben etwas auf. Magst du auch schon etwas essen? Ich habe noch nichts gemacht. Ich wusste ja nicht, dass du schon so früh –“ Indem ich Ukyo Zeige- und Mittelfinger gegen das Brustbein drücke, bringe ich ihn zum Schweigen. Sein fragender Blick begegnet mir, als ich zu ihm hochsehe. „Sag mal, Ukyo“, spreche ich ruhig, „hast du heute Abend noch etwas vor?“ „Uhm … eigentlich nicht“, entgegnet er zögernd. Ich schenke der Sache nur einen kurzen Gedanken, ehe ich mich ein Stück strecke, um Ukyo die schwarze Schirmmütze vom Kopf zu nehmen. Sein Blick spricht wahrlich Bände, in einer anderen Situation hätte ich wohl darüber gelacht, aber in dieser lasse ich mich nicht davon beirren. „Sehr gut“, sage ich und halte die Mütze in meinen Armen umschlungen. „Ich würde nämlich sehr gern mit dir reden, wenn das für dich okay ist.“ Er scheint erleichtert. Ein sanftes Lächeln schleicht auf seine Lippen. „Ist gut. Um ehrlich zu sein, wollte ich dich dasselbe fragen.“   Wenig später sitzen wir im Wohnbereich beieinander: ich auf der grauen Couch, er auf einem gleichfarbigen runden Stoffhocker mir gegenüber. In meinen Händen halte ich eine Tasse herrlich warmen Cappuccino, er eine mit Kaffee, die er für uns gebrüht hat. Im Hintergrund läuft leise der Fernseher, dessen Nachrichtensender uns im Augenblick wenig interessiert. „Also, wegen gestern“, beginne ich ruhig, um das Gespräch ins Rollen zu bringen. „Was war da los? Du hast irgendwie nicht sehr begeistert ausgesehen.“ Ukyo macht einen betroffenen Eindruck. Langsam lässt er die Hände mit seiner Tasse auf seinen Schoß sinken. „Das … tut mir leid. Es sollte nicht gegen dich gerichtet sein.“ „Ja, das dachte ich mir“, seufze ich leise. „Aber was war los? War es wegen mir? Wegen Luka? Weil ich erst so spät zu Hause war, ohne dir Bescheid zu geben?“ „Nein, also … Wie soll ich das nur am besten sagen?“ „Wie wäre es mit frei heraus?“, schlage ich vor und nehme einen Schluck von meinem Getränk. „Ich werde schon damit zurechtkommen und wenn nicht, sage ich es schon.“ „Mh.“ Es folgt ein kurzes Zögern seinerseits. „Naja, also … Du weißt, ich war schon immer dagegen gewesen. Oder zumindest war ich nie sehr begeistert davon, dass ihr beide ein Paar seid. Es ist … einfach nicht richtig.“ „Inwiefern?“, möchte ich wissen. „Kannst du ihn nicht leiden?“ „So kann man das nicht sagen“, presst er gezwungen aus sich heraus. Unruhig spielt er mit seiner Tasse herum, dreht sie zwischen seinen Händen. „Ich meine, ich kenne ihn ja kaum. Aber er macht auf mich einen verdächtigen Eindruck. Es erscheint mir seltsam, wie er sich verhält. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.“ Ich senke meinen Blick auf die Tasse in meinen Händen. Die Ironie lässt mich schmunzeln. „Das hat Sawa heute auch gesagt“, sage ich leise. „So etwas in der Art zumindest.“ „Ich meine das wirklich nicht böse“, spricht er eilig, was ich zur Seite winke. „Schon gut, ich weiß“, entgegne ich gefasst und lasse das Gehörte einen Moment auf mich wirken. „Hey, hatte ich dir eigentlich schon erzählt, wie das zwischen uns angefangen hat?“, will ich wissen und sehe mit einem dünnen Lächeln zu ihm auf. Er nickt vorsichtig. „Ja, hast du.“ „Ah, gut“, sage ich und sehe abermals auf meine Tasse. „Es ist schon ziemlich seltsam, wenn man plötzlich aus heiterem Himmel eine Liebeserklärung bekommt, weißt du? Man weiß im ersten Moment gar nicht, wie man darauf reagieren soll.“ „Genau das ist es ja!“, erhebt Ukyo die Stimme. Die Versuchung ist groß, aber ich zwinge mich, meinen Blick gesenkt zu halten. „Ich meine, er taucht plötzlich wie aus dem Nichts auf, keiner kannte ihn, und auf einmal ist er da und offenbart dir seine Gefühle. Kein anständiger Mann mit ernsten Absichten würde das jemals auf die Art machen! Kannte er dich überhaupt?“ „Ich weiß nicht.“ „Wenn das nicht seltsam ist? Wie soll man das ernst nehmen? Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du seine Gefühle erwiderst.“ „Nicht?“ „Naja, also … zumindest dachte ich das bisher immer“, wird er leise. Er verfällt daraufhin in ein anhaltendes Schweigen, was mich dazu veranlasst, doch wieder zu ihm hinüberzusehen. „Nur fürs Protokoll“, werfe ich unter größter Vorsicht ein, um der leidigen Stille ein Ende zu bereiten, „du hegst keine besonderen Gefühle für mich, oder?“ „W-was? N-nein! Ich … also, nein! Wie könnte …? Wie kommst du …? A-also, wir sind Freunde! Ich bin dein … also ich meine, ich bin nur –“ „Wow, ganz ruhig“, versuche ich sein wüstes Satzgewirr zu unterbinden. Dass er gleich so abgehen würde, konnte ich ja nicht ahnen. „Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen, mehr nicht. Nicht, dass ich da noch etwas falsch interpretiere oder so.“ Ukyo sitzt zusammengekauert da. Meine simple Frage muss ihm echt zugesetzt haben. In seinem Gesicht steht der Schock geschrieben, gleichzeitig glaube ich, eine rötliche Verfärbung seiner Wangen zu erkennen. „Sorry, ich wollte dich nicht schocken oder in Verlegenheit bringen“, bringe ich eine aufrichtige Entschuldigung hervor und hoffe, dass er sie mir glauben wird. „Ich wollte nur, dass in diesem Punkt Klarheit zwischen uns besteht.“ „Sch-schon gut.“ „Aber du hättest es wirklich nicht so rüberbringen müssen, als wäre es der schlimmste Albtraum schlechthin, etwas von mir zu wollen“, necke ich ihn gespielt vorwurfsvoll, um die peinliche Atmosphäre zwischen uns ein wenig aufzulockern. Zum Glück geht er darauf ein. Ich höre ein kleines Lachen von ihm. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint.“ Ich lächle zutiefst erleichtert. „Ich weiß.“ „Weißt du, wenn ich mit Gewissheit wüsste, dass er es ehrlich mit dir meint, würde ich mich ja für ihn freuen. Aufrichtig“, erklärt er, womit er auf den Punkt zurückkommt, bei dem wir zuletzt stehen geblieben waren. Meinetwegen hätte es gern unter den Tisch fallen können. „Aber so … ich kann nicht. Und du …“ Ukyos Blick richtet sich auf mich. Der Ernst in seinen grünen Augen macht es mir schwer, ihm nicht zur Seite auszuweichen. „Darf ich ehrlich zu dir sein?“ „Sicher“, mühe ich aus mir hervor. Aufmerksam sehe ich ihn an. „Seit das mit euch angefangen hat, habe ich nicht einmal erlebt, dass du glücklich damit wärst. Die erste Zeit hast du vermieden, mit mir darüber zu reden. Ich habe erst später erfahren, dass du neuerdings einen Freund hast. Seitdem hat es kein Mal gegeben, an dem du nicht unglücklich oder unzufrieden ausgesehen hättest, wenn du von einem Treffen mit ihm zurückgekommen bist und mir davon erzählt hast. Und auch gestern …“ Ich schaffe es nicht. Ich kann seinem Blick nicht länger standhalten und weiche ihm aus. „Ich weiß, du redest nicht gern darüber, deswegen habe ich auch nicht weiter nachgefragt. Aber gestern …“ ‚Gestern war etwas anderes‘, geht mir durch den Kopf. ‚Gestern war so gesehen mein erstes Date mit ihm. Das kann man doch gar nicht vergleichen.‘ „Tut mir leid.“ „Was tut dir leid?“, möchte ich wissen, ohne ihn anzusehen. „Naja, also …“ Mir wird just in seiner Pause bewusst, dass mein schweigsames Verhalten ihn so aus der Fassung bringen muss. „Dir muss nichts leidtun“, sage ich daher, wobei ich mich aufraffe, ihn anzusehen. Ich bemühe mich um ein besänftigendes Lächeln. „Du machst dir nur Sorgen, das ist mir schon klar und ich finde das wirklich sehr lieb von dir. Es ist auch vollkommen okay, dass du nachfragst. Wenn, dann müsste ich es sein, die sich bei dir entschuldigt. Dafür, dass ich dir so wenig erzähle und dafür, dass ich nicht schon gestern dieses Gespräch mit dir gesucht habe. Das war nicht sehr fair von mir.“ Dieses Mal ist er es, der mir mit einem leisen „Ach was“ ausweicht. „Nein, ich meine es ernst“, beharre ich. „Es tut mir wirklich sehr leid, Ukyo. Ehrlich. Ich verspreche, in Zukunft aufrichtiger zu dir zu sein, was das anbelangt. Und um das zu beweisen, möchte ich direkt damit anfangen.“ Ich warte, bis Ukyos Aufmerksamkeit wieder auf mir liegt. Erst dann beginne ich mit einem Lächeln zu erzählen: „Ich war vorhin erst wieder mit Luka zusammen. Er ist einfach im Café aufgetaucht, hat mich von der Arbeit abgeholt und mich nach Hause gebracht. Erst war es seltsam gewesen, aber es hat sich dann als sehr angenehm herausgestellt. Wir haben uns über seine neuen Ideen unterhalten. Es war recht lustig.“ Ukyos Augen weiten sich überrascht. „Vorhin erst? Er … hat dich hergebracht?“ „Mh“, nicke ich. „Zu Fuß. Es war harmlos. Ich glaube so langsam, er ist doch nicht so ein schlechter Kerl.“ „Hm …“ „Was ich damit eigentlich nur sagen will“, setze ich an, stelle meine Tasse auf den Tisch und erhebe mich von meinem Platz, „du brauchst dir wirklich keine Sorgen wegen ihm zu machen. Ich werde auch nicht von dir verlangen, dass du ihn jetzt besser leiden können sollst oder so. Aber wenn dich etwas bedrückt, möchte ich gern, dass du weiterhin offen mit mir darüber sprichst. Versprochen?“ Ungläubig sieht er mich an. Er bringt lediglich ein Nicken und gemurmeltes „Ja, schon“ zustande, aber das genügt mir fürs Erste voll und ganz. Ich gehe um den Wohnzimmertisch herum und bleibe schließlich neben ihm stehen. Aufmunternd strecke ich ihm meine Hand entgegen, auf meinen Lippen ein versöhnliches Lächeln. „Freunde?“ Er wirkt im ersten Moment unsicher, was ich mit der Geste bezwecken und wie er darauf reagieren soll. „Oh, ja, klar!“, macht es erst etwas später Klick bei ihm, woraufhin er sich eilig erhebt und meine Hand entgegennimmt. Er schenkt mir ein zerstreutes Lächeln. „Freunde, natürlich.“ Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Kurzerhand ziehe ich meine Hand zurück, nur um ihm stattdessen die Arme um den Rücken zu legen. „Danke, Ukyo“, spreche ich leise, gerade so, dass er es hören kann. „Danke für deine ehrlichen Worte.“ „Ah, nein, nicht dafür“, höre ich ihn aufgeregt sagen und spüre, wie er die Umarmung erwidert; wenn auch zögerlich. Es genügt mir. Ich nehme mir heraus, diesen Moment der Intimität voll auszukosten. Ukyo ist angenehm warm. Es fühlt sich unglaublich gut an, ihm so nahe zu sein. Von ihm geht derselbe Geruch aus, wie ich ihn schon damals an seiner Bettwäsche vernommen hatte: ein mild-grasiger Duft. Er wirkt beruhigend auf mich. Ukyo erscheint mir in diesem Moment so vertraut, als würde ich ihn in der Tat schon ewig kennen. Seltsam, höchst eigenartig. Aber egal. „Ukyo …“ „Hm? Was ist?“ Behutsam drücke ich mich von ihm weg. „»Ukyo«, das ist ein wirklich sehr schöner Name. Er hat einen sehr schönen Klang. Ich mag ihn“, erkläre ich und zeige ein ehrliches Lächeln. Zum zweiten Mal an diesem Abend bringe ich ihn mit meiner direkten Art aus der Fassung. Er bringt kein Wort zustande, seine Gesichtsfarbe wechselt ins Rötliche. Es ist so verdammt niedlich, dass ich mich von ihm wegdrehen muss, um nicht in ein prustendes Gelächter auszubrechen. „Nochmal danke für alles. Und, ach ja“, wende ich mich ihm noch einmal zu, nachdem ich meine Tasse gegriffen und mich bereits in Richtung Zimmer begeben hatte. „Eine Frage habe ich noch.“ „Welche denn?“ „Angenommen, du wüsstest von einer Person, die mit einer anderen nur aufgrund einer Lüge zusammen ist – also so generell zusammen ist – und auf einmal stehst du an deren Stelle … und du weißt nicht, wie es auf der anderen Seite aussieht und willst sie auch nicht unnötig gegen dich aufbringen … Was würdest du tun?“ Fragend sieht er mich an. Es vergeht einige Zeit, in der er meine Frage zu überdenken scheint. „Das heißt, ich bin auf einmal derjenige, der die andere Person belügt? Statt der eigentlichen Person?“ Ich nicke. „Ja.“ „Hm …“ Eine weitere Pause erstreckt sich, während er nachdenkt. „Das ist wirklich schwierig. Man sollte keine Beziehungen führen, die auf einer Lüge basieren. Aber wenn ich keine genaueren Details weiß, weder zu der einen noch der anderen Seite, ist das wirklich schwierig … Ich würde wohl einen geeigneten Zeitpunkt abwarten und versuchen, die Sache dann mit der anderen Person aufzuklären. Und bis es soweit ist, versuche ich, Abstand zu bewahren, um mich nicht noch weiter darin zu verstricken. Natürlich so, dass ich die andere Person nicht sofort verärgere und alles nur noch komplizierter wird.“ „Hm, verstehe.“ Kurz überdenke ich seinen Lösungsvorschlag. „Das dürfte nicht gerade einfach werden, aber ich verstehe, was du meinst. Danke, das finde ich gut.“ „Wieso hast du überhaupt gefragt?“ „Kam mir nur so in den Sinn“, sage ich und setze mein bestes Pokerface auf. „Du weißt schon, komisches Autorendenken und so. Manchmal kommen wir auf die seltsamsten Ideen für einen interessanten Plottwist.“ „Ah, aha.“ „Also dann, nochmal danke. Ich ziehe mich eben eine Weile zurück, umziehen und so. Ich muss außerdem nochmal meinen Schichtplan überfliegen.“ „In Ordnung. Ich habe ebenfalls für das Gespräch zu danken. Es hat sehr gut getan, mit dir zu reden.“ Ich lächle. Im Anschluss bin ich in meinem Zimmer verschwunden.   Bereits in meinen Schlafklamotten liege ich bäuchlings auf dem Bett, vor mir mein Schichtplan für den gesamten Dezember, den ich fein säuberlich abgeschrieben habe. In der Regel besteht eine Woche aus drei Schichten, wie ich ausgerechnet habe: zwei Spät und eine Früh. Ganz schön wenig, wie ich finde. Verdiene ich damit genug Geld, um mir diese Wohnung mit Ukyo plus Alltagsversorgung leisten zu können? Hm … Morgen: Sawa, Ikki, Kento und ich. Zum unzähligen Male quieke ich leise auf. Ich kann es kaum erwarten! In Gedanken verloren zeichne ich mit geschlossenem Stift das kleine Herzchen nach, das ich in diesen Tag gemalt habe. So wie bei jedem anderen Tag auch, an dem ich mit Ikki oder Kento Schicht habe. An Tagen, wo nur Kento da ist, ist das Herzchen ein wenig kleiner, dünner. An den Ikki-Tagen auffälliger. Argh, verdammtes Fangirl! Mein Blick heftet sich auf den einen Namen, der für gestern und morgen durchgestrichen ist und hinter dem ich für Samstag ein Fragezeichen gesetzt habe: »Hanna«. Handelt es sich bei »Hanna« wirklich um die Heroine? Dieser Gedanke will mir einfach nicht aus dem Kopf. Wenn »Hanna«, also die Heroine, wirklich hier ist, ist dann Ukyo …? Und Ikki? Das hier ist das Spadeverse, richtig? Müsste das nicht bedeuten …? „Argh!“ Ich stoße einen genervten Laut aus, raufe mir die Haare und werfe mich anschließend auf den Rücken. Das ist ja zum Verrücktwerden! Wie kann man nur so emotional zwiegespalten sein? Auf der einen Seite hoffe ich wirklich, dass sie es ist und ich sie kennenlernen kann, auf der anderen will ich nicht darüber nachdenken, welche Beziehung sie zu den anderen hat. Zumindest nicht zu Ikki. Nicht, wenn doch Ukyo da ist. Das wäre … das wäre einfach … zu traurig. Nicht fair. Armer Ukyo. Ich seufze aus voller Brust. Blind greife ich hinter mich, angle mein Kissen und drücke es mir aufs Gesicht. Nicht nachdenken, nicht nachdenken! Ich will mich darauf freuen! Auf morgen, auf all die anderen Tage, die ich noch mit den anderen haben werde. Jeder Zweifel, jeder negative Gedanke ist Verschwendung. Das würde mein »Reallife-Ich« auch nicht wollen, wenn das hier nur eine Fanfiction wäre. Unter meinen halbherzigen Selbsterstickungsversuchen vernehme ich das vom Stoff gedämpfte „Jiri, Jiri, Hijiri-kun“ meines Handyklingeltons. Alarmiert zerre ich das Kissen von meinem Gesicht, richte mich auf und blicke irritiert zu meinem Handy. Heute wollen wirklich viele Leute etwas von mir, und das noch zu solch später Stunde. Getrieben von Neugierde und lästigem Anstand beuge ich mich über den Rand meines Bettes hinaus und strecke mich meinem Smartphone entgegen. Mir bleibt nur ein flüchtiger Moment, um den Anrufernamen zu prüfen, ehe ich das Gespräch auch schon annehme, bevor mir die automatische Mailbox dazwischenfunkt. „Ja?“ „Hallo, ich bin’s. Ikki.“ Ikki! Mir springt fast das Herz aus der Brust. „Ich hoffe, ich störe nicht? Hast du schon geschlafen?“ „N-nein.“ Ich presse mir die Hand auf den Mund. Oh mein Gott! Ich habe mich also doch nicht verlesen. Ikki ruft mich an! Ikki ruft mich an! Aber wieso? Wieso um diese Uhrzeit? Ach, scheiß doch drauf! Warum ruft er mich überhaupt an? „Das ist gut“, höre ich ihn durchs Telefon sagen. Ich kann hören, dass er lächelt. Dass er dieses tolle, verdammte, befreite Lächeln trägt. Mann! „Ich wollte mich nur kurz persönlich nach deinem Wohl erkundigen. Hast du den Tag gut überstanden?“ „J-ja.“ Mensch, jetzt reiß dich aber mal wieder zusammen! „Es lief ganz gut. Toma und Sawa haben mich sehr unterstützt. Ich glaube, sie waren mir eine weit größere Hilfe als ich ihnen“, erkläre ich im bemüht kontrollierten Tonfall. „Das wird schon“, versucht er mich zu ermutigen. Sein leises Lachen ist dabei keine wirkliche Unterstützung. „Ich habe gehört, dass es dir heute besser ging. Wie schön. Und dass du einen guten Job gemacht hast.“ Ich stutze. „Von wem?“ „Ken“, verrät er mir. Durch meinen Körper geht ein Ruck. „Wir sind uns vorhin noch zufällig begegnet. Oh, und Rika hat auch sehr gut über dich gesprochen.“ Mir setzt der Atem aus. „Rika hat …?“ „Ja. Ich bin wirklich sehr froh, dass ihr beiden euch inzwischen so gut versteht. Zu Beginn hatte ich ja noch so meine Zweifel“, erklärt er unschuldig. Meine Finger verkrampfen sich um das Telefon, während ich mir auf die Unterlippe beiße. „Das freut mich“, quäle ich aus mir hervor. „Und morgen haben wir wieder zusammen Schicht? Bist du für den morgigen Tag gut vorbereitet?“ Ich weiß nicht ganz, was er damit meint. Aber was auch immer es ist, er hat mein vorfreudiges Herzklopfen schon wieder ganz auf seiner Seite. „Ähm, ja. Ich denke schon.“ „Sehr schön. Ich freue mich schon sehr darauf.“ – Und ich erst! Meine freie Hand zittert. Ich schiebe sie zwischen meinen Schneidersitz, um mich davon nicht kirre machen zu lassen. „Ja, ich mich auch.“ „Also dann, ich muss auflegen. Hab eine schöne Nacht.“ Ich schlucke. Im Stillen verfluche ich meinen Kopf für die Bilder, die er mir in diesem Moment einspielt. „Ja, danke. Du auch. Danke für den Anruf.“ „Gern. Bis dann.“ „Bis dann.“ Plopp. Was zum Henker war das?!   Ich hatte es eigentlich nicht vor, aber jetzt komme ich nicht mehr drum herum. Nach dieser seltsamen und äußerst peinlichen Telefonaktion brauche ich eine Zigarette, um wieder runterzukommen. Verdammt, dabei hatte ich vorgehabt, den Abend ruhig ausklingen zu lassen. Daran ist nun nicht mehr zu denken. Behutsam ziehe ich die Balkontür hinter mir zu. Eigentlich würde es nicht weiter stören, wenn Rauch ins Innere ziehen würde, da sich Ukyo ebenfalls in sein Zimmer begeben hat. Aber was nicht sein muss, muss schließlich nicht sein. Es ist kalt draußen. Vielleicht liegt es an der Uhrzeit und dem Fakt, dass ich eigentlich ins Bett wollte, aber es erscheint mir kühler als die Nächte zuvor. Egal, das hält einen echten Raucher nicht von seiner Missetat ab! Tief inhaliere ich den ersten Zug. Der Rauch kratzt ein wenig in meiner Lunge. Seltsam. Seit ich hier bin, rauche ich weniger. Wenn ich richtig zähle, ist das erst meine dritte Zigarette an diesem Tag. Schon wieder. Na, immerhin geldsparend. Auch nicht schlecht. Den nächsten Zug stoße ich mit einem Seufzen aus. Was für ein Tag. Es ist so viel passiert, dass ich kaum mehr alles zusammenbekomme. Inzwischen weiß ich nicht mehr zu sagen, was mich am meisten geschafft hat. Es war einfach nur anstrengend gewesen, ich fühle mich erschöpft. Müde lehne ich mich gegen die Balkonmauer und lasse meine Arme schlaff darüberbaumeln. Die kühle Luft ist irgendwie angenehm, obgleich sie mich frösteln lässt. Umso mehr freue ich mich gleich auf mein Bett. Ich will heute wirklich an nichts mehr denken. Mein Blick schweift hinunter zur Straße, den Laternen entlang. Zwischen ihnen erkenne ich eine Gestalt im Licht stehen. Einen Jungen, wie ich mich bald korrigiere. Sieht jung aus, ein Teenager vermutlich. Er trägt ziemlich seltsame Klamotten: eine ziemlich breite Ballonhose, ein bauchfreies schwarzes Top, ein komisches bodenlanges Zweiend-Cape-Dingens mit Sternzipfeln. Alberne Schuhe, dessen lange Spitzen sich nach oben zu biegen scheinen. Gelb-schwarze Ringelstrümpfe. Doppelreihige Ketten mit goldenem Münzschmuck über der Brust … Wirklich komisches Kostüm mit diesen seltsamen Horndingern auf dem Kopf. Ich mustere diesen Jungen eingehend. Irgendwie kommt mir sein Aufzug bekannt vor. Mein Kopf beginnt zu arbeiten, während ich an meiner Zigarette ziehe. Ich bemerke, wie der Junge zu mir hinaufsieht. Mich ansieht. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Er sieht mich an! Ich werfe noch einen letzten Blick auf den Jungen, dann drehe ich mich herum und eile durch die Wohnung. Im Vorbeirennen schnappe ich mir meinen Schlüssel und nehme die Treppe mit zwei bis drei Stufen jeweils. Er hat mich angesehen! Ich schlage die Haustür auf und stürze ins Freie. Mein Herz und meine Lungen protestieren gegen meine unvorbereitete Hast. Ich ringe um Luft, als ich vor zur Straße gehe. Weg. Er ist weg. Dabei bin ich mir sicher, mich nicht geirrt zu haben. Ich weiß, was ich gesehen habe! Oder wen. Orion. Weit und breit keine Spur von ihm. Er ist einfach verschwunden. Hat der Knirps wirklich einen solchen Speed drauf oder hat er sich nur in Luft aufgelöst? Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts. Ich gehe einige Schritte, suche Straße und Gebüsch nach dem Jungen ab. Nichts. Nach einigen Minuten gebe ich meine Suche auf. Es nützt nichts. Er ist nicht mehr hier. Oder halt … war er überhaupt je hier? Bei dem Gedanken halte ich inne. Stehe einfach nur da und blicke starr zu Boden. Suche nach einem Anhaltspunkt auf dem dunklen Asphalt. „Ha. Haha!“ Leises Gelächter überkommt mich. Ich schlage mir die Hand gegen die Stirn. „Du bist so dumm, ehrlich!“ Ja, das bin ich wohl wirklich. Orion ist ein Geist. Kein Mensch neben der Heroine kann ihn sehen. Davon abgesehen dürfte er in niemanden ein Interesse haben bis auf ihr. Und dass ich nicht die Heroine bin, haben wir bereits festgestellt. Es ist ausgeschlossen, dass ich ihn sehen könnte, sollte er sich aus irgendeinem irrealen Grund vor meinem Haus aufhalten. Das ist schlichtweg unmöglich, betrachte ich es logisch. „Schade“, flüstere ich leise und blicke auf zum dunklen Nachthimmel. „Wirklich schade, Orion. Jetzt sehe ich schon Geister und es bist nicht du.“ Kapitel 8: Kleine Rangelei zum Frühstück ---------------------------------------- Ich schrecke aus meinem Schlaf hoch. Obwohl ich wach bin, höre ich Rikas Stimme noch in meinem Kopf, wie ihr höhnisches Lachen mich bis in die Gegenwart verfolgt. Die Illusion schwindet nur langsam, der Nachhall ist bitter und bereitet mir ein übles Gefühl in der Magengegend. Mir ist regelrecht schlecht. Die Träume werden immer konfuser. Jetzt vermischt sich schon »meine« Realität mit »dieser« Realität darin. Wenn das so weitergeht, werde ich bald gar keine Lust mehr haben, abends ins Bett zu gehen. Hoffentlich ist das nur eine Phase, verschuldet durch den vielen Input und das Chaos, mit dem ich hier zu kämpfen habe. Ich hoffe wirklich inständig, dass das keine dauerhafte Serie an verstörenden Albträumen wird, sonst kann ich demnächst einpacken. Unter einem schweren Seufzen fahre ich mit der Hand über mein Gesicht bis durch mein Haar. Ich kann noch immer das aufgebrachte Schlagen meines Herzens in meiner Brust spüren. Und dieses stechende Ziehen darin, das sich bemerkbar macht, kaum dass ich an den Traum zurückdenke. Ich will die Menschen, die mir wichtig sind, nicht in diese Sache mit hineinziehen; ganz gleich ob Traum oder Wirklichkeit. Ich will mich nicht zwischen den Seiten entscheiden müssen, welcher ich zum »Sieg« verhelfe. So zu denken, gibt mir das Gefühl, die Menschen aus meinem bisherigen Leben zu verraten, aber kann ich jenen, die mich jetzt umgeben, einfach aus langjähriger Treue heraus in den Rücken fallen? „Ich will nicht so denken!“, spreche ich leise zu mir selbst. Verwehrend schüttle ich den Kopf. Ich will keine Unterschiede machen. Das hier ist mein Problem! Meins, nur meins allein! Mein Blick schweift hinüber zum Fenster. Durch die halb heruntergelassenen Rollläden erkenne ich, dass es noch dunkel draußen ist. Das bringt mich ein weiteres Mal zu der Frage, wie spät es wohl gerade ist. Ich sollte mir wirklich eine Uhr zulegen, oder zumindest einen billigen Digitalwecker, um dieses Problem für die Zukunft zu beseitigen. Kurzerhand greife ich zu meinem Handy, um die Uhrzeit zu prüfen. Das Display verrät mir, dass es gerade einmal kurz vor sechs ist. Eigentlich viel zu früh, um jetzt schon aufzustehen, wenn man keine morgendlichen Termine hat. Kurz wäge ich ab, wie wahrscheinlich es ist, dass ich mich einfach noch einmal herumdrehen und unbeirrt weiterschlafen könnte. Das Ergebnis ist schnell klar. Murrend schlage ich die Bettdecke zurück und erhebe mich. Ausgeruht bin ich nicht wirklich, dafür mehr als ausreichend aufgewühlt, um vergeblich auf Ruhe zu hoffen. Super, das nervt mich schon wieder an. Und das am viel zu frühen Morgen. Der Morgenmuffel in mir will am liebsten Klage einreichen. Widerstrebend klettere ich in meine gemütliche Sonntagshose. Flüchtig werfe ich mir meinen schwarzen Flauschepullover über die Schultern, ehe ich hinüber zur Tür gehe. Aus dem Zimmer nebenan dringt kein Laut zu mir, es ist still wie immer. Kurz frage ich mich, ob Ukyo wohl noch schläft, schon betätige ich vorsichtig den Knauf und verlasse auf leisen, nackten Sohlen mein Zimmer. Die Wohnung ist dunkel, nur durch die Fensterfront dringt spärlich Licht, das von den Straßenlaternen hinaufgeworfen wird. Es reicht, um einigermaßen zu erkennen, wohin ich trete. Inzwischen kenne ich die Wohnung aufs Nötige und kann abschätzen, wo sich was befindet. Vorsichtshalber halte ich mich dennoch nah an der Wand, um mich zum Badezimmer voranzutasten. Ich will nicht riskieren, meine Tollpatschigkeit erneut unter Beweis zu stellen und Ukyo damit ungewollt aus dem Schlaf zu reißen. Muss ja nicht sein. Und sonderlich scharf auf einen morgendlichen Sturz bin ich auch nicht gerade. Vor der Badtür angekommen, zögere ich, den Türgriff zu betätigen. Aus dem Inneren vernehme ich Geräusche, die mich an rauschendes Wasser erinnern. Meine Hand liegt bereits auf dem Griff, aber der Gedanke, Ukyo unter der Dusche zu erwischen, bereitet selbst mir Unbehagen und ein gewisses Schamgefühl. Toll, und was jetzt? Soll ich mich auf die Couch setzen und warten? Zurück ins Zimmer gehen kommt nicht in Frage – was soll ich denn dort? Ich könnte mir vielleicht schon einen Cappuccino aufsetzen und für Ukyo vielleicht einen Kaffee, aber ich will nicht, dass er kalt wird. Zudem gefällt die Aussicht auf Flüssigkeit meiner Blase nicht. Nach einigem Hin-und-Herüberlegen fasse ich mir schließlich ein Herz. Wir sind immerhin beide erwachsen und der Standpunkt zwischen uns ist beiden klar. Ich klopfe zaghaft an. Keine Reaktion, nur weiteres kontinuierliches Wasserrauschen. Ich warte einige Zeit, ehe ich es erneut versuche. Vielleicht war ich beim ersten Mal nur zu leise. „Ukyo?“, spreche ich dabei nah an der Tür, laut und deutlich genug, dass er mich hören müsste. „Brauchst du noch lange?“ „Geh weg!“, schmettert seine Stimme aufgeregt von der anderen Seite. Unwillkürlich weiche ich von der Tür zurück. Wow, was ist denn mit dem los? Sicher, es war vielleicht nicht die höflichste Wahl, anzuklopfen, und vielleicht habe ich ihn dadurch sogar wiederholt in Verlegenheit gebracht. Aber ist das ein Grund, mich gleich so anzufahren, als hätte ich ihn sexuell belästigt oder so? „Ähm, entschuldige bitte“, will ich ihn beschwichtigen. Ich kann nicht verhindern, dass meiner Stimme die Verunsicherung anzuhören ist. „Ich wollte dich nicht bedrängen oder so. Sorry. Ähm, hetz dich nicht. Mach ganz in Ruhe. Soll ich dir in der Zwischenzeit schon mal ‘nen Kaffee machen?“ „Geh … bitte.“ Er klingt bemüht mit diesen Worten. Gerade als ich wieder etwas sagen will, höre ich ein aufschlagendes Geräusch aus dem Badezimmer. Kurz und dumpf. Vergleichsweise, als hätte man einen robusten Gegenstand auf harten Fliesenboden fallen lassen. „Ukyo? Alles okay?“, will ich mich seines unversehrten Zustandes vergewissern. Er wird doch wohl nicht in der Dusche ausgerutscht und hingefallen sein? Der Gedanke erscheint mit eigentlich albern, er passt auch nicht wirklich zu dem gehörten Lärm. Aber man kann ja nie wissen? Ich erhalte keine Antwort. Wieder ist nichts zu hören bis auf das stetige Wasserrauschen. Ein erster Anflug leiser Panik überkommt mich. „Wenn du mir nicht antwortest, sehe ich mich gezw… –“ Mir bleibt schlagartig die Luft weg, als ich plötzlich einen festen Griff um meinem Hals spüre; schneller noch, als ich realisieren kann, dass die Tür soeben vor meinen Augen aufgezogen worden ist. Mir bleibt keine Zeit für Fragen. Keine Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Das Nächste, was ich wahrnehme, ist ein stechender Schmerz in meiner rechten Schulter, als ich mit einer unglaublichen Kraft rücklings gegen die Wand geschleudert werde. Irgendetwas neben mir fällt zu Boden, geht klirrend zu Bruch. Unter einem gequälten Keuchen presst sich all meine Luft aus meinen Lungen, die ich bis dahin noch übrig hatte. „Mei, was für ein dummes Weib du doch bist“, dringt Ukyos leise Stimme an mein Ohr, anders als ich sie für gewöhnlich kenne. Tiefer, irgendwie. Gänzlich anders in der Betonung. Gezwungen öffne ich die Augen, während sich der Griff an meinem Hals verfestigt. „Du hättest besser auf diesen Schwächling hören sollen“, spricht er derweil weiter. Der Hohn in seinen Worten wird durch sein falsches Mitleid, welches er anbringt, nur untermauert. „Wirklich unglaublich, wie dumm du doch bist.“ „Uk…yo …“ Ich bin kaum zum Sprechen in der Lage. In einem Akt reinster Verzweiflung lege ich meine Hände um seine und umklammere sie zittrig. Sie fühlt sich kalt an. Doch es bewirkt nichts, bis auf, dass er mich nur noch fester in die Mangel nimmt und mit roher Gewalt weiter gegen die Wand presst. Ich will nicht wahrhaben, wie viel Kraft in ihm steckt. Mit nur einem Arm ist es ihm gelungen, mich gänzlich herumzureißen, mich zu packen und im Schraubstock zu halten. Mein Stand ist wacklig auf den nackten Zehenspitzen, auf die er mich zwingt, indem sein bloßer Griff mich auf Augenhöhe zu ihm hält. Ich suche seine Augen. Strähnen nassen, grünen Haares liegen in seinem Gesicht, kleben an seinen Wangen. Schwere Wassertropfen perlen sich aus ihnen heraus, benetzen die freie Haut, fallen zu Boden oder verlaufen sich in den grauen, mit dunkelblauen Tupfern versetzten Stoff seines Yukatas. Der schlichte Allzweckkimono ist nur schluderig gebunden, sitzt viel zu locker um seine Schultern. Der weite Ausschnitt lässt tief blicken. Ob das von Ukyo so beabsichtigt war, wage ich zu bezweifeln, aber im Moment habe ich auch ganz andere Sorgen, als über solche Dinge nachzudenken. Der Mann, der hier vor mir steht, ist nicht Ukyo. Zumindest nicht der Ukyo, den ich kenne. Es ist sein anderes Ich. Jenes, das Ambitionen zur Psychopathie aufweist. Sein Lächeln ist zwanghaft, gezerrt; seine Iris wie Pupillen auffällig schmaler. Es versetzt mir einen Stich mitten ins Herz, in diese von Wahnsinn unterschattete Augen blicken zu müssen. Sie gehören ohne Frage meinem neuen liebgewonnenen Freund, jedoch im Moment ist nicht er es, der mich aus ihnen besieht. „L-lass –“ „Es hat keinen Zweck“, unterbricht er meine Bemühungen, zu ihm sprechen zu wollen. Jegliche Gefühlsregung ist aus seinem Gesicht gewichen und er sieht mich zweifelnd an. Nur für einen Moment, bis seine Lippen wieder ein ergötzendes Grinsen ziert. „Na, sag schon. Wie fühlt es sich an? Es tut weh, nicht wahr? Es ist qualvoll, nicht wahr? Zu spüren, wie einem nach und nach die Luft wegbleibt. Wie der mangelnde Sauerstoff einem allmählich zu Kopf steigt. Sag, wird dir schon schwindelig? Das ist das erste Anzeichen, dass dein Gehirn unterversorgt ist und bald seinen Dienst einstellen wird.“ Ich versuche mich zu wehren. Versuche, seine Hand von meinem Hals zu lösen, indem ich an ihr ziehe und zerre. Es nützt nichts, also will ich mich winden. Keine Chance. Er hat mich voll und ganz in seiner Gewalt. Ich schaffe es nicht einmal, ihn zum Einknicken zu bewegen. Sein starrer Arm gibt keinen einzigen Zentimeter nach. Ukyo stößt ein finster-amüsiertes Lachen aus. „Was denn? Hast du es etwa so eilig, zu sterben? Nun, wenn dem so ist, kann ich dir liebend gern dabei behilflich sein.“ Panik steigt in mir auf, als er auch die zweite Hand an mich legt. Der Druck auf meinen Hals nimmt von allen Seiten zu. Es tut weh, mir wird schwindelig. Und zwischen alledem drängt sich mir die Frage auf, was ich getan habe, dass mir dieser Ukyo sprichwörtlich an die Kehle will. ‚Es tut mir leid, Ukyo‘, bitte ich meinen Freund in Gedanken um Verzeihung. Ich gebe mein sinnloses Unterfangen auf, ihn von mir losbringen zu wollen, lasse von seinen Händen ab und schiebe im Gegenzug meine Arme nach vorn, um sie inneliegend auf seine zu legen. Ich greife zu, fasse Halt und ziehe das rechte Bein an, nur um es im nächsten Moment kraftvoll auszustrecken und meinen Fuß mit allem, was ich habe, in seine Magengrube zu rammen. „Was zum …?!“, bringt er gepresst heraus, taumelt zwei Schritte zurück, wobei er in einem schweren Keuchen die Luft ausstößt. Der kurze Moment, in dem Ukyo unwillkürlich nachgibt und in die Beuge geht, genügt, um das Steuer wieder an mich zu reißen. Ich spüre wieder festen Boden unter den Füßen. Schnell gehen meine Arme nach oben, nur um mit neu gesammelter Kraft in den angewinkelten Ellenbogen auf seine offenliegenden Ellenbeugen niederzugehen. Endlich löst sich sein Griff um meinen Hals. Ich kann wieder atmen, schnappe kurzzeitig nach Luft, aber noch ist es zu früh, um mich in Sicherheit zu wägen. In einer schnellen Bewegung greife ich sein rechtes Handgelenk, ziehe es mit mir über seinen Oberkörper, während ich seinen linken Arm in einer Drehung mit meinem rechten nach innen gedrückt fixiert halte. Ukyos Haltung wird instabil, was mir zugutekommt. Seine Arme weiterhin fixiert, übe ich Gewicht auf seinen Rücken aus, indem ich mich so gut ich kann darüberlege. Ein gezielter Tritt in seine Kniekehle sorgt dafür, dass er gänzlich das Gleichgewicht verliert und neben mir in die Knie geht. Ich gehe mit, fixiere seinen Rücken, indem ich mich mit ganzer Kraft darüberwerfe. Ich verlagere all mein Gewicht auf die Einsenkung zwischen seinen Schulterblättern und pinne ihn somit am Boden fest. Mit seinem rechten Arm, den ich weiterhin im festen Griff habe, halte ich seinen linken an seinen Körper gepresst. Er wird ihn schwer nutzen können, da er ihn unglücklich unter seinem eigenen Sturz begraben hat. „Du verdammtes –“ „Gib mir Ukyo zurück!“, plärre ich ihn an. Tränen der Wut und Verzweiflung stehen mir in den Augen. Um meinen Ernst zu verdeutlichen, ziehe ich kräftiger an seinem Arm, um mehr Druck auf seinen Körper auszuüben und seine Muskeln zu überdehnen. „Aua aua aua!“ Der helle Klang, der in diese wimmernde Stimme zurückgekehrt ist, lässt mich aufhorchen. „Aua, schon gut, schon gut! Das tut weh, hör auf!“ „Ukyo?“, frage ich hoffnungsvoll. Nur leicht lasse ich davon ab, seinen Arm weiter in meine Richtung zu ziehen. „Ja doch, ich bin’s. Würdest du bitte von mir runtergehen?“ Erleichterung macht sich in mir breit. Ich bin im Begriff, nachzugeben, da rufe ich mir in Erinnerung, dass man den anderen Ukyo nicht so einfach unterschätzen darf. „Sieh mich an!“, fordere ich ihn auf. Ich werde ihn nicht eher freigeben, ehe ich ihm nicht ins Gesicht gesehen und mich selbst davon überzeugt habe, dass er wieder er selbst ist. In einer angestrengten Bewegung dreht er den Kopf in meine Richtung. Auf sein Gesicht schleicht sich ein bemühtes Lächeln, als sich unsere Blicke begegnen. Es besteht kein Zweifel, dass die Augen, denen ich begegne, meinem Freund und Mitbewohner gehören. Sofort gebe ich seinen Arm frei und erhebe mich, um ihm alle Freiheiten zurückzugeben, die er benötigt, um sich von meinem Gegenangriff zu erholen. „Ukyo, es tut mir so leid!“, eile ich an seine Seite und versuche, ihn so gut ich kann in eine aufrechtsitzende Position zu stützen. Ich weiß nicht recht, wohin ich fassen soll, da sein Yukata durch unsere kleine Auseinandersetzung nun bis zum Gürtel offenliegt. Es ist mir ein wenig peinlich, doch im Moment überwiegt eindeutig die Sorge um ihn. „Wirklich, bitte verzeih mir. Ich wollte dir wirklich nicht wehtun.“ „Ah, schon gut“, versucht er meine Besorgnis um ihn einfach fortzulächeln. Leider bekommt er nur ein gequältes Grinsen zustande. „Ehrlich“, beharre ich weiter, meine Stimme nicht mehr als ein vorsichtiges Flüstern. „Hast du schlimme Schmerzen? Habe ich dich irgendwie verletzt?“ „Mir geht’s gut“, beteuert er. Er lässt sich vor mir in einen offenen Schneidersitz sinken und streckt seinen rechten Arm, den ich gehörig in die Mangel genommen hatte. „Naja, mein Arm tut etwas weh. Eigentlich ziemlich extrem. Aber es geht schon, ich bin schlimmere Schmerzen gewohnt.“ Ich weiß nicht, was mich mehr bekümmert: die Tatsache, dass ich ihm willentlich Schmerzen zugefügt habe oder die Worte, die er soeben gesprochen hat. Beides ist schlimm und es fühlt sich schrecklich an, zu wissen, was er mit der zweiten Aussage meint. „Es tut mir leid. Bitte verzeih mir“, wiederhole ich meine ewige Entschuldigung, als sei sie ein heilendes Mantra. Nur dass sie nichts mehr ungeschehen machen kann. „Wieso entschuldigst du dich? Du hast das nur getan, um dich vor mir zu verteidigen“, spricht er auf mich ein, ruhig und voller Nachsicht. „Dafür hast du schließlich den Kurs zur Selbstverteidigung gemacht. Du brauchst wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben. Du hast nichts Falsches getan.“ Ich höre ihm kaum zu. Ganz gleich, was er mir sagt, ich kann es unter keinem Anlass der Welt vor mir selbst rechtfertigen, einen Freund verletzt zu haben. Ich will nicht, dass er Verständnis dafür zeigt. Ich will nicht, dass er es herunterspielt, als sei es etwas ganz Selbstverständliches. Das ist grausam, einfach nur grausam! „Hey“, höre ich ihn leise sagen. Aus dem Seitenblickwinkel nehme ich wahr, wie er die Hand nach mir ausstreckt, wohl um mein Kinn ein Stück in seine Richtung anzuheben. Ich zucke unwillkürlich zusammen, als sie meinem Gesicht zu nahe kommt. Und meinem Hals, der sich noch zu gut an diese letzte Bekanntschaft erinnert. Ukyo hält in seinem Vorhaben augenblicklich inne. Ich kann erkennen, dass ihn meine Reaktion verletzt. Dennoch zeigt er sich mutig und schenkt mir ein nachsichtiges Lächeln. „Ist schon okay“, spricht er leise, sanft. „Du hast Angst vor mir, ich kann das verstehen. Ich werde nichts versuchen, versprochen.“ „Nein, ich …“, will ich widersprechen, finde aber nicht die richtigen Worte. Unbeholfen wende ich meinen Blick von ihm ab. „Es ist nicht … Du kannst da nichts dafür.“ Es entsteht ein Moment, in dem keiner von uns mehr etwas sagt. „Das ist nicht wahr.“ Es ist nur ein Flüstern, das Ukyo verlauten lässt. Doch es genügt, dass ich heraushören kann, wie viel Überwindung es ihn kostet, diese Worte zu sprechen. „Wenn ich nicht so schwach wäre … Ich weiß, ich kann damit nichts ungeschehen machen, aber … es tut mir wirklich aufrichtig leid.“ Wieder eine Pause, in der er seine Entschuldigung auf uns wirken lässt. „Ich wollte nicht, dass das noch einmal passiert …“ Vorsichtig sehe ich zu ihm auf. Da ich nicht wage, ihm ins Gesicht zu sehen, hefte ich meinen Blick auf seine zerzausten, nassen Haare. »Noch einmal«? Das heißt, mein anderes Ich hatte ebenfalls schon eine Begegnung mit diesem anderen Ukyo? Sein Kopf hebt sich. Ich kann nicht vermeiden, dass sich unsere Blicke begegnen. „Ich bin wirklich sehr froh, dass du meinen Rat damals angenommen hast“, spricht er zu mir mit einem freundlichen Lächeln. „Es war richtig gewesen, dich diesen Selbstverteidigungskurs mitmachen zu lassen.“ Ich blinzle irritiert. Selbstverteidigungskurs? Jetzt, da er es sagt … Vorhin, als ich mich aus Ukyos Würgegriff befreit und ihn stattdessen zu Boden geschickt habe, habe ich nur aus einem Impuls heraus gehandelt. Ich habe keine meiner Handlungen zuvor bedacht. Es kam einfach über mich. Allerdings erinnere ich mich nicht, zu solchen Techniken von mir aus in der Lage zu sein. Ich hatte zwar mal einige Jahre Kampfsport betrieben – Wing Tsun, tatsächlich eine Kampfkunst zur Selbstverteidigung – aber das ist Jahre her. Ich weiß nahezu nichts mehr aus meinem damaligen Training. Auf einmal ergibt es einen Sinn für mich. „Du hast mich dazu gebracht“, gebe ich meine Erkenntnis kund. Eigentlich sollte das nur an mich gerichtet sein, aber Ukyo fängt es zum Glück locker auf. „Ich habe dich sogar höchstpersönlich angemeldet“, prahlt er mit seinem kleinen Erfolg, den er wohl in mir errungen zu haben glaubt. Sein leises Lachen, das darauf folgt, entschädigt mich für alles, was zuvor zwischen uns vorgefallen war. „Eigentlich ganz schön masochistisch von mir, findest du nicht?“ Die Ironie schmeckt ziemlich bitter, trotzdem kann ich nicht anders, als vorsichtig mitzulächeln. „Jedem seine Vorlieben“, entgegne ich spaßend. „Ich hätte trotzdem nichts dagegen, wenn unsere künftigen Rangeleien weniger gefährlich aussehen könnten. Gegen den dezenten Erotikanteil habe ich allerdings nach wie vor nichts einzuwenden.“ „Ja.“ Sein Lächeln wird traurig. Geistesabwesend greift er nach dem Stoff seines Yukatas und zieht ihn sich weiter über die Schultern. „Du bist übrigens ganz schön schmal, weißt du das? Ich hatte kurzzeitig Angst, ich könnte dir etwas brechen oder so. Das macht mich zu der größeren Gefahr von uns beiden, schätze ich.“ Ich erhalte keine Antwort. „Es tut mir leid“, werfe ich zögerlich ein, als mir bewusst wird, wie meine Worte für ihn geklungen haben mochten. Und was sie in ihm auslösen mussten. Er schüttelt sacht mit dem Kopf. „Nein, mir tut es leid“, widerspricht er leise, ohne mich anzusehen. „Wirklich. Es tut mir schrecklich leid. Ich wollte nicht, dass das passiert.“ „Ich glaub‘ dir das.“ Ich weiß nicht recht, was ich noch dazu sagen soll. Aber was auch immer, ich möchte nicht, dass es weiterhin so trübselig zwischen uns bleibt. Auf gar keinen Fall! „Hey“, sage ich daher, hebe meinen Kopf und suche den Blickkontakt zu ihm, um die Verbindung zwischen uns wieder herzustellen. „Wir entschuldigen uns ganz schön oft beieinander, fällt mir mal so auf. Was meinst du, wäre es wohl möglich, das ein wenig zu reduzieren? Es ist schon ziemlich seltsam, wenn Freunde einander so oft um Verzeihung bitten müssen. Ich möchte das nicht unbedingt.“ Er sieht mich an. Ich glaube, eine Mischung aus Erstaunen und Verwunderung aus seinen grünen Augen ablesen zu können. „Das … kann ich wohl nicht fest versprechen“, sagt er, begleitet von einem vorsichtigen Lächeln. „Versuch es bitte“, will ich ihn ermutigen. „Also ich meine, natürlich darfst du dich weiterhin bei mir entschuldigen, wenn du wirklich etwas ausgefressen hast. Aber bitte nicht für jede Kleinigkeit und Dinge wie diese. Das ist vollkommen unnötig bei mir. So viel Vertrauen sollten wir schon zueinander haben.“ Ich beobachte, wie er die Augenbrauen hebt. Ich habe das Gefühl, dass er etwas sagen will, doch sein Mund öffnet sich nur kurz, um sich sofort wieder zu schließen. Er lässt von meinen Augen ab und sein Blick senkt sich auf Höhe meines Halses. Es ist mir unangenehm, wie er ihn mustert. Ich will nicht, dass er sich das Werk besieht, das sein anderes Ich mit Sicherheit an mir hinterlassen hat. Also hebe ich meine Hand, um die Stellen zu verdecken, die ein wenig ziehen und brennen, als ich sie berühre. „Ich kann es nicht versprechen“, wiederholt er seine Worte, was mich aufsehen lässt, „aber ich werde es versuchen.“ „Gut, dann halten wir es in Zukunft einfach folgendermaßen: Jedes Mal, wenn du dich unnötig bei mir entschuldigst, werde ich dich boxen. Und du darfst umgekehrt dasselbe tun, wenn ich mich sinnlos bei dir entschuldige.“ Er lächelt beklommen. „Das ist aber nicht sehr nett.“ „Es soll sich ja auch einprägen“, mahne ich ihn schmunzelnd. „Ah, Erziehungsmaßnahmen! Ich verstehe.“ Sein kurzes, wenn auch noch zaghaftes Lachen vermag mich ungemein zu beruhigen. „Ganz recht, so isses“, stimme ich zu und erlaube mir ebenfalls ein breites Grinsen. Etwas klirrt und knackt neben uns, was mir einen kurzen Schrecken versetzt. Ukyo neben mir hält in seiner Bewegung sofort inne, zieht die Hand zurück, die er auf dem Fußboden abstützen wollte, und wir sehen beide zu der Stelle, an der er aufstützen wollte. „Ah, das war es also, was vorhin heruntergefallen ist“, bemerke ich und sehe auf den zersprungenen schwarzen Bilderrahmen, die vereinzelt verteilten Glasscherben und das halb herausgerutschte Foto, die neben Ukyo auf dem Boden verteilt liegen. „Es ist kaputt.“ „Tut mir wirklich leid, Ukyo.“ „Nein, das ist schon … Ich kann es ersetzen. Alles halb so wild.“ „Hm.“ Nachdenklich betrachte ich die Schwarzweißfotografie. Sie zeigt eine Frau mit einem Kind an der Hand in der Rückansicht, mitten auf einer ganz normalen Einkaufsstraße. Um sie herum sind nur Leute in Anzügen und strenger Kleiderordnung zu sehen. An keiner beteiligten Person ist ein Gesicht zu erkennen, alles ganz legitim. Das Motiv an sich ist sehr einfach und alltäglich, umso mehr fasziniert es mich, welch eigene und besondere Botschaft es übermittelt. Irgendwie traurig, dass es ausgerechnet dieses Foto in unserer kleinen Rangelei erwischt hat. Wobei, das würde ich vermutlich zu ziemlich jedem von Ukyos festgehaltenen Meisterwerken sagen. „Au!“ Mehr erschrocken denn dass ich wirklich Schmerzen hätte, reibe ich mir über den rechten Oberarm. Fragend sehe ich zu Ukyo herüber. „Du hast doch gesagt, dass wir uns gegenseitig boxen, wenn wir uns unnötig entschuldigen“, erklärt er leise und lächelt vorsichtig. Nach dem kurzen Moment, in dem ich noch verwundert bin, schmunzle ich amüsiert. „Ja, das habe ich wohl. Aber mal ehrlich, mit solch kleinen Stupsern, die kein Mensch spürt, erziehst du so schnell niemanden“, necke ich ihn. „Eigentlich will ich dich auch gar nicht erziehen. Es war deine Idee!“ „Ja, ja, schon gut. Hab’s verstanden“, kichere ich. „Tja, da wird wohl einer von uns aufräumen müssen. Ich mach‘ das schon. Hast du dich irgendwie verletzt?“ „Ach, nein, geht schon“, winkt er ab. „Ich war nur erschrocken. Nichts passiert.“ „Zeig mir deine Hand!“ „E-es ist wirklich nichts. Alles in –“ Ungefragt beuge ich mich vor und greife nach seinem Handgelenk. Mir kann er nichts erzählen. Bevor ich mich unter falschen Versprechungen besänftigen lasse, überzeuge ich mich lieber selbst. „Dachte ich es mir“, gebe ich mir selbst die Bestätigung und gönne Ukyo einen vorwurfsvollen Blick. „Es ist zwar nur ein kleiner Schnitt, aber auch das solltest du mir besser nicht verheimlichen. Haben wir Pflaster da?“ „Alles im Badezimmer“, bestätigt er kleinlaut. „Es wäre albern, dich zu bemuttern und wie ein Kleinkind zu behandeln. Kümmerst du dich bitte selbst darum, wenn wir alles haben?“ Verständnislos sieht er mich an. „Ja, natürlich.“ Sein Blick haftet sich abermals auf meinen Hals, was ich nur am Rande vernehme. „Und du …?“ „Hm? Ach … Ich kümmre mich ebenfalls selbst drum. Mach dir deswegen keine Sorgen. Wäre mir auch lieber so …“ Gedrückt und nach kurzem Schweigen lässt Ukyo ein leises „Verstehe“ verlauten. Im Anschluss erhebt er sich unter Bedacht, nicht erneut in irgendwelche Scherben zu fassen. Ich tue es ihm nach kurzem Zögern gleich und hieve mich ebenfalls zurück auf die Beine. Meine Knie fühlen sich weich an. Ich muss mich einen Moment fassen, um nicht sofort wieder einzuknicken. Beiläufig stütze ich mich an der Wand ab, bis ich bessere Kontrolle über meine Beinmuskeln habe. „Sag mal, warst du vorhin eigentlich duschen?“, werfe ich Ukyo noch nach, bevor er hinter mir im Badezimmer verschwinden kann. Mein Mitbewohner bleibt im Türrahmen stehen, stützt sich mit einer Hand daran ab, sieht kurz zu mir und richtet anschließend den Blick gen Boden. „Nicht direkt …“ „Aber indirekt?“, stichle ich ein wenig, um kein neues Unbehagen zwischen uns aufkommen zu lassen. Ich glaube, eine gewisse Ahnung zu haben, was er stattdessen zuvor im Bad gemacht hatte. Oder besser: versucht. „Wolltest du dringend ins Bad?“, fragt er stattdessen und lenkt dabei vom eigentlichen Thema ab. Mir soll es recht sein, wenn ihm dieses Thema zu unangenehm ist. „Naja, das Übliche eben. Aber mach du nur, ich räume solange auf. Magst du einen Kaffee haben?“ „Mh“, macht er. Weder zeigt er ein Nicken, noch kann ich eine besondere Regung aus dieser Lautäußerung vernehmen. Ich bin nicht ganz sicher, ob es sich überhaupt auf meine Frage beziehen soll. „Ich beeile mich“, sagt er anschließend und verschwindet im Badezimmer. Die Tür schließt sich vor mir.   Inzwischen habe ich das Licht eingeschaltet und einige der Fenster angeklappt. Handfeger und Kehrblech habe ich nach einigem Suchen in der Küche gefunden. Sorgfältig kümmere ich mich darum, alle Glasscherben und -splitter zusammenzufegen, wobei ich das stetige Wasserrauschen aus dem Badezimmer zu ignorieren versuche, das mir ansonsten äußerst unschickliches Kopfkino beschert hätte. Unter größter Vorsicht sammle ich den zerbrochenen Bilderrahmen und das mit unschönen Kratzern versehene Foto auf, um sie fürs Erste auf dem Wohnzimmertisch abzulegen. Ich wüsste sonst nicht ganz, wohin damit. Ist es so hinüber, dass es in den Müll soll, oder weiß vielleicht Ukyo einen Weg, es noch zu reparieren? Ich beschließe, ihm die Entscheidung zu überlassen, und entsorge das unbrauchbare Glas in einer separaten Mülltüte, damit sich keiner unachtsam daran verletzen kann. In der Küche setze ich meine Arbeit fort, indem ich alles vorbereite, um Ukyo und mir ein warmes Getränk herzurichten. Ich bereite Wasserkocher und Kaffeeautomat vor, suche die entsprechenden Tassen heraus und gebe mir gewünscht Cappuccinopulver ein, ehe ich aus der Küche verschwinde, um mir meine Zigaretten zu holen. Ich weiß nicht, wie lange Ukyo noch im Bad brauchen wird, daher nutze ich die Pause, um meine noch restaufgewühlten Nerven zu umsorgen. „Ukyo?“, rufe ich dem grünen Haarschopf vom Balkon aus nach, den ich soeben glaubte, durch das Wohnzimmer vorbeieilen zu sehen. Halb lehne ich mich durch die Balkontür ins Innere und suche mit den Augen nach meinem Mitbewohner. „Willst du schon los?“ Nach einigen Sekunden tritt Ukyo vom Flur, der von meiner Position aus hinter der Küche nicht einsehbar ist, ins Wohnzimmer zurück. Meine flüchtige Wahrnehmung hat mich nicht getrogen: Er ist vollständig bekleidet, inklusive seiner Jacke, der schwarzen Schirmmütze und sogar die Straßenschuhe erkenne ich an seinen Füßen. Ich bin nicht ganz sicher, ob seine Haare schon vollständig getrocknet sind; sie hängen offen und schwer an ihm herunter, wirken aber von hier kaum dunkler als normal. „Ah, sorry“, wirft er zu mir herüber und legt sich entschuldigend die Hand an den Hinterkopf. „Ich habe ganz vergessen, dass ich noch einen dringenden Termin habe. Ich kann leider nicht zum Frühstück bleiben. Ah, aber das holen wir irgendwann nach, versprochen!“, lächelt er versöhnlich, als würde das seine eiligen Worte abmildern. Ich blinzle irritiert. „Ähm … ja? Okay?“, bringe ich überrumpelt aus mir hervor. Zu mehr langt es einfach nicht bei mir. „Bitte entschuldige. Also bis dann!“ Er verschwindet aus meinem Sichtfeld. Die Haustür klackt. Schon ist er weg. „Ich habe ein Boxen bei dir frei“, spreche ich mehr zu mir selbst, als dass es der wiedergekehrten Einsamkeit angedacht ist. Ich resigniere diesen Umstand, als ich auf den Balkon zurückkehre und mich dem letzten Rest meiner Zigarette widme. »Irgendwann«, ja? Na, darauf werde ich dann wohl lange warten dürfen.   Später stehe ich im Badezimmer, um mich der grausigen Wahrheit zu stellen. Verstohlen werfe ich einen Blick in den Spiegel, um zu betrachten, was ich am liebsten gar nicht sehen will. Wie ich es mir dachte, hat Ukyos Überfall auf mich seine Spuren hinterlassen. Mein Hals ist komplett gerötet, zum Teil geschwollen. Beim näheren Betrachten kann ich eindeutig Druckstellen erkennen, die von seinen Händen herrühren. Zwei Stellen an den Seiten und eine in der Nähe meines Kehlkopfs sind besonders betroffen. Ein vorsichtiges Tasten verrät mir, dass eine weitere Stelle am Nacken vorhanden sein muss, aber sie dürfte weniger schlimm sein, da sie nicht so sehr schmerzt wie die anderen. Na wunderbar. Große Klasse. Daraus werden sich in der nächsten Zeit bestimmt einige blaue Flecken ergeben. Ich ahne es anhand der dunklen Verfärbung, die kaum zu verkennen ist. Zumal ich meinen wehleidigen Jammerkörper kenne. Großartig! Ich drehe mich ein Stück, um so gut ich kann einen Blick auf meine rechte Schulter erhaschen zu können. Ich muss das Shirt ein Stück verschieben, um mein Schulterblatt einigermaßen im Ansatz erkennen zu können. Das Ergebnis gefällt mir ganz und gar nicht. Abwerfend stöhne ich auf. Da wird noch einiges auf mich zukommen, was mir jetzt schon bei dem bloßen Gedanken daran ganz und gar nicht gefällt. Hoffentlich muss ich mein Portemonnaie nicht allzu sehr belasten. Ich widme mich meiner morgendlichen Hygiene und beschließe, ebenfalls kurz unter die Dusche zu springen, um mir den Albtraum von heute Morgen vom Körper und aus den Gedanken zu waschen. Im Anschluss versorge ich meinen Hals notdürftig mit einer Wund- und Heilsalbe zur Behandlung von Prellungen und Schwellungen, die ich in dem kleinen Medizinkasten gefunden habe. Ein letztes Mal werfe ich noch einen letzten, intensiven Blick auf mein befremdliches Spiegelbild, das mich die nächste Zeit wohl oder übel begleiten wird. „Hach, Ukyo“, stoße ich ein trübes, schweres Seufzen aus. Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Du schaffst mich, ehrlich.“ Kapitel 9: Mit Köpfchen, bitte ------------------------------ Internet sei Dank habe ich eine kleine Boutique nahe unserer Wohnsiedlung ausfindig machen können. Binnen einer Stunde Hin- und Rückweg mit Einkauf inklusive bin ich im Besitz eines neuen Halstuchs, das zwar nicht besonders schick, aber zumindest zweckdienlich ist. Ich bin kein großer Freund von Punkten, aber das war mir immer noch lieber als all das Blümchen- und Farbschockzeugs, das sonst noch zur Auswahl stand. Mit einer Schwarz-Weiß-Kombination kann man wenig falsch machen und wer weiß, wann ich es noch benötigen werde. Ich habe außerdem bei meiner Wahl bedacht, dass das Tuch jobtauglich sein muss. Mit etwas Glück kann ich Waka davon überzeugen, es auch auf Arbeit tragen zu dürfen, um das Massaker an meinem Hals vor neugierigen Blicken zu schützen. Schwer seufze ich in mich hinein. Ich will mir gar nicht ausmalen, was die anderen denken oder schlussfolgern könnten, wenn sie das Desaster an meinem Hals entdecken würden. Ich will dazu wirklich keine Stellung beziehen müssen. Mir graut es allein bei dem Gedanken, meinen Kollegen Rede und Antwort stehen zu müssen, während sie mich mit ihren wehleidig-besorgten Blicken aufzufressen drohen. So viel steht fest: Das werde ich so gut ich kann und um jeden Preis zu verhindern wissen! Hoffentlich. Allerdings wäre es schon sehr schön, wenn ich die vielen aufkeimenden Fragen zumindest vor mir selbst beantworten könnte. Wieso will mir der andere Ukyo an den Kragen? Habe ich ihm irgendetwas getan, dass er mich im Gegensatz zum normalen Ukyo nicht leiden kann? Gab es irgendein negativ einschneidendes Ereignis in unserer mir unbekannten Vergangenheit, das dieses Empfinden in ihm getriggert haben könnte? „Vielleicht zahle ich ihm zu wenig Miete“, spreche ich leise zu mir selbst, um den finsteren Gedanken mit schwarzem Humor entgegenzuwirken. Natürlich ist das in diesem Kontext Blödsinn, aber hey, es sollte jede Möglichkeit in Betracht gezogen werden, oder nicht? Und davon einmal ganz abgesehen, sollte ich wirklich noch einmal mit Ukyo über das Finanzielle reden. Okay, aber ganz im Ernst. Ich bin mir sicher, dass er die feste Absicht hatte, mich an diesem Morgen umzubringen. Auch habe ich keinen Zweifel, dass ihm dieses Vorhaben mühelos gelungen wäre, hätte er sich nicht so sehr in seinem selbstsicheren Irrsinn gebadet. Sein fester Griff war nicht misszuverstehen gewesen. Ebenso wenig sein mordlüsterner Blick. Hätte er nur von Anfang an richtig zugedrückt, wäre es das für mich gewesen. Beim nächsten Mal würde ich vielleicht nicht so viel Glück haben. Mich durchläuft ein so heftiges Schauern, dass ich kurz stehen bleiben muss, um mich zu sammeln. Nur langsam und bedächtig setze ich meinen Weg fort, die Hand vorsichtig tastend an meinem schmerzenden Hals. Wieso wollte dieser Ukyo mich töten? Was hätte er davon? Ich wiederhole erneut, dass es sich bei mir nicht um die Heroine aus dem Spiel handelt, welches »Amnesia« für gewöhnlich für mich war. Zumindest halte ich mich weiterhin an dieser sicheren Vermutung fest, solange ich nicht mit Sicherheit weiß, wer hinter dem Namen »Hanna« steckt. Es kann nur sie sein, für mich gibt es einfach keine andere Erklärung. Oh, bitte, sie muss es einfach sein! Könnte es vielleicht damit zu tun haben, dass es sich bei mir, ähnlich wie bei ihm selbst, um eine Weltenwanderin handelt? Sofern ich das so nennen darf. Und natürlich vorausgesetzt, dieser Part stimmt ebenfalls an Ukyo. Wussten er oder der andere Ukyo davon? Was würde mit mir passieren, wenn ich in dieser Welt sterben würde? Und … was ist eigentlich mit meinem »anderen Ich«? Diese Frage stelle ich mir nicht zum ersten Mal, bisher habe ich ihr nur nie mehr Raum für weitere Überlegungen gelassen. Aus Angst, vielleicht, die ich auch jetzt in mir ansteigen fühle, als ich dieses Gedankenspiel in meinem Kopf bewusst zulasse. »Ich« existiere seit mindestens zwei Monaten in dieser Welt. Seit einem Monat arbeite »ich« im »Meido no Hitsuji«. Ich selbst bin aber erst seit einigen Tagen hier und weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin und wie das überhaupt passieren konnte. Wenn ich nun also hier bin und es »mich« schon vorher gegeben hatte … wo war dann mein vorheriges Ich? Was ist mit ihm passiert? Wo ist es – jetzt, in diesem Augenblick – und warum? Und wo kam es wiederum her, wie und warum? „So kompliziert kannst auch wirklich nur du denken“, schelte ich mich selbst einen Narren. Oder zumindest eine geschädigte, hoffnungslose Alltagsautorin mit stetigem Hang zur Dramatik jeglicher Art. Und Verkomplizierungen, selbstverständlich. Einen talentierten Erbauer unmöglich möglicher und endlos verwinkelt und verzweigter Gedankenstromflutirrwegen, dass jeder Irrgartengestalter gleichermaßen stolz wie neidisch auf mich wäre. „Haha!“   Zu Hause angekommen, mache ich mich sogleich daran, die wenigen Einkäufe, die ich noch zusätzlich getätigt habe, in der Küche zu verstauen. Dafür, dass in diesem Haushalt zwei Personen leben, verbrauchen wir ziemlich wenig. Leider ist mir auch aufgefallen, während ich zwischen den vielen Lebensmittelregalen stand, dass ich keinerlei Ahnung habe, was Ukyo so mag bis auf Kaffee. Ich selbst kann wenig mit den typisch japanischen Sachen anfangen, so ist meine Auswahl eher heimatlich geblieben. Ich frage mich, ob das Ukyo wohl stören würde. Vielleicht sollte ich ihn einmal zum Einkaufen mitnehmen, um mehr über seine Gewohnheiten und Vorlieben in Erfahrung zu bringen. Für unser gemeinschaftliches Zusammenleben, wie lange auch immer es noch anhalten möge, wäre es auf jeden Fall ratsam. Im Wohnzimmer werfe ich einen prüfenden Blick auf die bisher einzige Uhr in der gesamten Wohnung. Die schwarzen Zeiger verraten mir, dass es noch keine zehn Uhr ist. Meine Schicht im Meido beginnt erst halb zwei, vor eins brauche ich nicht dort zu sein. Sofern ich laufen will, reicht es, wenn ich gegen halb eins das Haus verlasse. Schlussfolgernd bedeutet das, dass ich noch immer gute zwei Stunden Zeit habe, bis ich los muss. Ich seufze. Zwei Stunden. Was mache ich nur mit dieser Zeit? Es gibt für mich nicht wirklich etwas zu tun und auch wenig, womit ich mich beschäftigen kann. Shoppen stellt ein finanzielles Risiko dar und für eine kleine Entdeckungstour der Stadt oder Umgebung traue ich meinem Orientierungssinn nicht genug über den Weg. Wäre ich zu Hause in meiner Welt, fiele die Entscheidung leicht … Kurz überlege ich. Wieso eigentlich nicht auch hier? Ich meine, mir stehen doch theoretisch alle notwendigen Mittel zur Verfügung. Wieso nicht einfach wagen? Diese Überlegung treibt mich hinüber zur Couch. Der Laptop ist schnell aufgebaut, doch ich zögere, ihn hochzufahren. Sorgfältig wäge ich die Für und Wider ab, bis ich zu dem Entschluss gelangt bin, dass es nichts schaden kann. Erst dann starte ich das Gerät, um meinem Bedürfnis kapitulierend nachzugeben. Das bereits vorinstallierte Schreibprogramm ist schnell gefunden. Ein neues, leeres Textdokument liegt vor mir und wartet über einen stetig blinkenden Strich auf meine Eingabe. Meine Finger liegen bereits an der Tastatur, meinen Körper durchzieht ein vorfreudiges Kribbeln. In meinem Kopf beginnt es zu arbeiten, jedoch … mir fällt nichts ein. Worüber soll ich schreiben? Ich weiß es nicht. Missmutig lasse ich von der Tastatur ab. Mein Blick klebt förmlich an dem weißen Dokument und ignoriert das ungeduldige Blinken, das nach wie vor auf einen Eingabebefehl von mir wartet. Ich überlege wirklich angestrengt, was ich schreiben könnte, doch auf einmal ist mein Kopf wie leergefegt. Mir will absolut nichts in den Sinn, worüber ich schreiben könnte. Es geht nicht. Wie ich es auch anstellen mag, ich bekomme einfach keine Verbindung zustande. Ich spüre dieses unbändige Verlangen, einfach blind in die Tastatur zu hauen und drauf los zu schreiben, aber mein Kopf bringt keinen Anfang gesetzt. Ich fühle mich wie vor einer unsichtbaren Mauer, an der ich einfach nicht vorbeikomme. Ganz gleich, wie heftig ich dagegenzurennen versuche, um sie einzureißen. Vielleicht ist es noch zu früh. Vielleicht ist es noch nicht an der Zeit, diese besondere Art der Verbindung zu meinem bisherigen Leben wiederherzustellen. Egal, wie sehr mein Herz danach verlangt und schreit. Das Schreiben hat mir stets alles bedeutet. Es ist mein Ein und Alles. Aber vielleicht bin ich noch nicht soweit. Vielleicht bin ich noch zu weit davon entfernt, mich ausreichend emotional zu öffnen, um auch in dieser Welt meiner Leidenschaft nachgehen zu können. Ich bekomme einfach kein sicheres Gefühl zustande, keinen Fuß gesetzt. – Ich könnte heulen, echt. Tränen der Frustration brennen in meinen Augen. Der Trotz setzt sich in mir durch und zwingt meine Finger, irgendwelche Sätze zu tippen. Ganz gleich, was sich daraus ergeben mag. Mein stiller Kampf mit mir selbst dauert mehrere Minuten. Ich starte mehrere verzweifelte Anläufe. Das Ergebnis ist, dass ich erst einige Anschläge, dann über Strg+A den gesamtmarkierten Text lösche und das wieder leere Dokument schlussendlich schließe. Ohne etwas erreicht zu haben.   Gegen zwölf Uhr klingelt es an meiner Tür. Irritiert blicke ich von dem Fernseher auf, in welchem ich irgendeine Sitcom verfolgt hatte, die ich als humoristisch eingestuft habe. Nach meinem fruchtlosen Versuch, meine Zeit sinnvoll und produktiv zu gestalten, bin ich zum apathischen Couchgammler mutiert, um die Stunden irgendwie an mir vorüberziehen zu lassen. Immerhin erfolgreich. Mein erster Gedanke zu meinem vermeintlichen Besuch gilt Ukyo. Aber wieso sollte er die Türklingel bedienen? Er verfügt doch über einen Hausschlüssel. Ich beschließe, mir ein eigenes Bild zu dem Störenfried zu machen. Nicht, dass ich eine wirklich andere Wahl hätte. „Ja bitte?“, melde ich mich durch die Türsprechanlage und suche verzweifelt nach dem richtigen Knopf, um den Monitor zu bedienen, der sich entgegen meiner Erwartung nicht von selbst einschaltet. „Ich bin’s.“ Glücklicherweise habe ich das richtige Knöpfchen schnell gefunden und kann mir bestätigen, dass ich mich bei der Stimme nicht verhört habe. Ein dunkelblonder, kurzer Haarschopf erscheint im Sichtfeld der Außenkamera. Mein Besucher scheint kein Interesse daran zu haben, einmal kurz nach oben zu sehen, jedoch erkenne ich aus diesem Winkel den eckigen Rahmen einer schmalen Brille. Ich muss nicht näher hinsehen, um zu wissen, dass ihr Gestell die Farbe Schwarz hat, der obere Rand fehlt und die Augenfarbe ihres Besitzers Grün lautet. „Kento?“, poltert es aus mir heraus. Ungläubig starre ich auf die Bildübertragung, als könnte sie auf den falschen Sender oder so eingestellt sein. „Was machst du denn hier?“ „Bist du schon angezogen?“ Mein Kopf zuckt zurück. „Ähm … ja, schon?“, entgegne ich stammelnd. Prüfend sehe ich an mir herunter. „Also, vielleicht noch nicht komplett fertig … Wolltest du mich etwa abholen?“ Der Gedanke erscheint mir absurd. „Wie lange brauchst du, um dich komplett fertig anzuziehen und alles für die Arbeit zusammenzupacken?“ „Ä-ähm …“ Mein Mund steht offen. „Ähm, gute Frage. Wenn ich mich beeile … vielleicht um die zehn, fünfzehn Minuten?“ „Gut. Ich warte.“ Was zum …? „O-okay, ich beeile mich!“ Ich hänge auf. Der Bildschirm der Türsprechanlage ist schwarz, dennoch starre ich auf die Stelle, wo bis eben noch der dunkelblonde Haarschopf zu sehen gewesen war. Kento steht draußen, vor meiner Tür. Ich glaube, er will mich für die Arbeit abholen. Was zum …? Er ist nicht der Typ, der so etwas macht. Schon gar nicht von sich aus. Wieso steht er dann trotzdem vor meiner Tür mit der unmissverständlichen Ansage, auf mich zu warten? Mein Blick schnellt zur Uhr. Zehn Minuten, habe ich zu ihm gesagt. Verdammt, ich habe keine Zeit zu verlieren! Ich muss noch Haare machen, Kontaktlinsen einsetzen, mein Zeugs zusammenräumen, Brote schmieren … Wie ein Wiesel flitze ich durch die Wohnung. Mir bleibt nicht viel Zeit, um all die Vorbereitungen in der knappen Spanne zu treffen, für die ich sonst noch eine kalkulierte halbe Stunde gehabt hätte. Mir sitzt zudem die Befürchtung im Nacken, dass Kento einfach ohne mich gehen könnte, wenn ich ihn zu lange warten lasse. Auch wenn mir nach wie vor nicht begreiflich werden will, wieso er überhaupt erst hier ist. Aber das kann ich immer noch in Erfahrung bringen, was wiederum voraussetzt, dass ich ihn jetzt nicht einfach verschwinden lasse. Das Adrenalin in meinen Venen leistet guten Dienst: Ich schaffe es tatsächlich, wenn auch knapp, den von mir festgelegten Zeitrahmen einzuhalten. Halb auf der Treppe muss ich noch einmal umkehren, weil ich tatsächlich das verdammte Halstuch vergessen habe. Aber nachdem auch das hergerichtet ist, habe ich es geschafft. Draußen vor dem Grundstück steht Kento und wartet. Ich bin erleichtert, ihn dort an der Straße zu erkennen. Ich beeile mich, zu ihm zu kommen. „Tut mir leid, dass du warten musstest“, begrüße ich ihn. Zwar etwas aus der Puste und nicht minder zerstreut, aber immerhin unversehrt. Kento dreht sich nach mir um. Sein Blick liegt abschätzend auf mir. Aus der Nähe wird mir erst bewusst, wie groß er im Gegensatz zu mir ist. Ich muss tatsächlich den Kopf anheben, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Können wir dann los?“ Seine Stimme ist unbelebt wie immer, doch ihr fester, klarer Klang beschert mir einen kleinen, wohligen Schauer. Ich nicke zaghaft. „Ja, klar. Ähm, zu Fuß oder mit der Bahn?“ „Gemessen an der Zeit, die wir benötigen, um den übrigen Arbeitsweg von hier aus zurückzulegen, und in Berücksichtigung der Fahrplanverordnung öffentlicher Verkehrsmittel und wie sich daraus Abfahrt und Ankunft der uns nächstmöglichen Mitfahrgelegenheit bieten, ergibt sich mir, dass es sowohl sinnvoller als auch zugeschnittener für uns wäre, den Fußweg zu bevorzugen.“ Ich blinzle. Irgendwie empfinde ich einen Mordsrespekt davor, wie es Kento soeben gelungen ist, aus einer simplen Alternativfrage eine hochwertig anspruchsvolle Analyse zu formen, deren Kernaussage so einfach ist, und der man doch mit nur einem Ohr kaum hätte folgen können. „Ah ja, okay“, entgegne ich im Angesicht meiner stillen Bewunderung zu ihm. Schon jetzt schlägt mein Herz in freudiger Erwartung auf die nächste halbe Stunde, die ich allein mit ihm verbringen darf. „Dann … gehen wir eben zu Fuß.“   Kento ist toll, wirklich toll. Mein Herz macht einen euphorischen Hüpfer mit jedem Schritt, den ich neben ihm her tue. Ich hege eine stille Bewunderung für seinen Mantel, den ich mit dem hohen Kragen und den vielen Gürtelschnallen auf der linken Seite ebenso kompliziert wie todschick finde. Und für seine Stiefel, die zwar weniger modisch sind, dafür jeden von Kentos Schritten mit einem schwerfälligen Stapfen begleiten. Noch über die Distanz von einem halben Meter kann ich den Geruch von gepflegtem Leder vernehmen, der von Kentos Mantel ausgehen muss. Darunter vermischt sich der Duft von Shampoo, was eine sehr interessante Kombination ergibt. Zu gern würde ich mich weiter zu Kento hinüberlehnen und einen besseren Eindruck von diesem Geruch bekommen, aber ich habe schon jetzt Mühe, nicht hinter ihm zurückzufallen. Ich habe keinen Zweifel, dass er sein normales Schritttempo bereits wegen mir drosselt, aber mit den langen Beinen und entsprechend großen Schritten habe ich keine Chance, gemütlich neben ihm herlaufen zu können. „Könntest du, bitte …“, mache ich mich schließlich bemerkbar und halte nach Kentos Ärmel aus, um ihn ein wenig auszubremsen. Er bemerkt meine Geste und interpretiert sie richtig, weswegen ich von ihm ablasse und erschöpft aufatme. Die letzten Meter waren sehr anstrengend gewesen in einem gezwungenen Tempo zwischen Gehen und Laufen, weswegen ich überaus dankbar bin, etwas langsamer werden zu dürfen. „Wenn ich dir zu schnell laufe, kannst du auch etwas sagen“, ermahnt er mich, woraufhin ich den Kopf schüttle. „Nein, es ist nicht wirklich das Tempo … du machst nur etwas zu große Schritte für mich“, erkläre ich. „Hm.“ „Du, sag mal“, will ich meiner Frage Luft machen, die mir nach wie vor nicht aus dem Sinn will, „wie kommt es eigentlich, dass du mich abholst? Ich meine, ich dachte immer, das wäre weniger so deins?“ Kento besieht mich um ein Weiteres mit einem abschätzenden Blick. „Ich hatte heute Vormittag in der Gegend zu tun“, sagt er schließlich, wobei er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn richtet. „Und weil dein Haus auf meinem direkten Rückweg liegt und die Zeit es zugelassen hat, erschien es mir sinnvoll, die Gelegenheit zu nutzen, da ich ohnehin noch etwas mit dir besprechen wollte.“ Ich horche interessiert auf. „Darf ich fragen, was du zu tun hattest?“ „Einer der Professoren, denen ich mit meiner Arbeit aushelfe, wohnt nur eine Straße weiter von dir. Ich war früher mit meiner Präsentation fertig, als erwartet, und wollte sie ihm entsprechend zeitnah vorlegen. Er bat mich, sie ihm zum heutigen Vormittag vorbeizubringen, um die letzten Einzelheiten im direkten Beieinander zu besprechen. Und eben das habe ich getan.“ „Aha, verstehe.“ Ein weiterer Anflug von stiller Bewunderung überkommt mich. Kento ist ein Universitätsabsolvent, so viel weiß ich, und dürfte als eine Art Tutor an seiner Universität eingestellt sein. Bewundernswert, und ein wenig beängstigend. Neben ihm laufe ich Gefahr, als dumm dazustehen. Ich fürchte bei dem Gedanken fast, ihm auf geistiger Ebene vielleicht nicht gewachsen zu sein, was mich zutiefst deprimiert. Gedanklich schüttle ich den Kopf. Nein, nicht so denken! Der Schulabschluss ist nicht alles, im Köpfchen muss man’s haben! Das ist alles. „Hm, und Rübermailen hätte es nicht getan?“, lenke ich zurück auf sein Thema, um mich von diesen trüben Gedanken loszusagen. Ich habe mir etwas vorgenommen, rufe ich mir in Erinnerung hervor. „Der Sachverhalt ist zu kompakt und umfassend, um ihn auf stetiger Wechselsicht und noch zudem im zeitversetzten Schriftverkehr über einen langen Zeitraum hinweg zu erörtern. Der Professor ist zudem nicht mehr der Jüngste und die immer modernere und alltagsübergreifende Technik überfordert ihn zusehends. Es wäre anmaßend und auch unzumutbar für beide Seiten gewesen, ihm diesen Aufwand anzulasten, zumal es ein unproduktives Vertun wertvoller Zeit gewesen wäre im Vergleich zu den zwei Stunden, die wir auf diesem Wege benötigt haben, um alles Notwendige zu besprechen.“ „Aha.“ Ich merke, dass es tatsächlich notwendig ist, ihm äußerst konzentriert zuzuhören, um den gesamten Umfang seiner Aussagen zu verstehen. Mit seiner Art, seine Antworten auf etwas überkomplizierte Weise zu präsentieren, habe ich an sich weniger ein Problem. Allerdings ist es so eine Sache, herauszufiltern und noch einmal für sich selbst zusammenzufassen, was man eigentlich hatte wissen wollen. Daran werde ich mich sicherlich noch gewöhnen müssen, aber das kann nicht allzu lange dauern. „Und … was wolltest du mit mir besprechen?“ Diese Frage wiederum behagt mir ganz und gar nicht. Es besteht eine Fifty-Fifty-Chance, dass es mit dem gestrigen Tag zu tun haben könnte. Oder aber mit etwas, mit dem ich überhaupt nichts anfangen kann. Beides könnte äußerst unangenehm für mich werden. Mist, aber fragen muss ich ja dennoch. Er besieht mich von der Seite. „Du hast meine E-Mail noch nicht geöffnet“, erläutert er knapp und kommt damit direkt zum Punkt. „Ich möchte wissen, warum.“ Irritiert blinzle ich zu ihm hoch. „Deine E-Mail?“ „Ich habe dir vor nunmehr zwei Tagen eine E-Mail mit meiner zusammenfassenden Erörterung zukommen lassen“, erklärt er mir. „Am ersten Tag konnte ich mir schon denken, dass du nicht sofort darauf antworten würdest. Gestern hatte ich eigentlich erwartet, dass du mich darauf ansprechen würdest. Und als ich heute Morgen gesehen habe, dass sich noch immer nichts am Zustellungsstatus verändert hat, möchte ich nun gern in Erfahrung bringen, was nicht stimmt.“ Mein Kopf beginnt zu arbeiten. Anhand von Kentos Mimik kann ich keinerlei Gefühlsregung ablesen, ob er eventuell enttäuscht oder gar wütend wegen dieser Sache ist. Ich kann nicht einmal fest sagen, ob er wirklich irritiert oder einfach nur interessiert ist. Wie ich es auch versuche, ich kann absolut nichts aus seinem glatten Gesicht ablesen, was es mir umso schwieriger macht, angemessen auf seinen Vorwurf zu reagieren. „Oh, das tut mir leid“, sage ich daher und versuche, es möglichst glimpflich herüberzubringen. „Ich bin bisher einfach noch nicht dazu gekommen, in mein E-Mail-Postfach zu schauen.“ „So?“ Ich habe das stille Bedürfnis, mich weiter vor ihm zu rechtfertigen. Jedoch rufe ich mir streng ins Gedächtnis, dass zu viel zu sagen verfänglicher für mich sein könnte, als mich bedeckt zu halten. Gerade bei Kento. Ich weiß ja noch nicht einmal, von welcher E-Mail gerade die Rede ist, geschweige denn, dass wir im E-Mail-Verkehr stehen. Woher hat er eigentlich meine E-Mail-Adresse und wie kommt es, dass wir diese ausgetauscht haben, wohl aber nicht unsere Telefonnummern? Zaghaft nicke ich zur Unterstreichung meiner Worte. Sein wacher Blick prüft mich eingehend, so viel kann ich erkennen. Zu gern wüsste ich, was in seinem Kopf wohl vor sich gehen mag. „Aber ich werde das so schnell ich kann nachholen, versprochen“, sage ich schnell, um meine Entschuldigung abzurunden. „Dann tu das bitte“, entgegnet er. In Gedanken atme ich erleichtert auf, als er mich aus seiner Musterung entlässt. Schweigend laufen wir nebeneinander her. Die Stille ist mir unangenehm. Ich habe das bedrängende Gefühl, etwas sagen zu müssen. Irgendetwas, das ihn davon abhält, in irgendeiner Weise weiter über mich nachzudenken. Nur was? Mir fällt einfach kein Thema ein. „Soll ich dir vielleicht den Inhalt meiner Mail kurz zusammenfassen?“, ist schließlich er es, der mir zuvorkommt, noch ehe ich nur im Ansatz mit meiner Gedankenfindung vorangekommen bin. „Ähm, worum geht es denn in der E-Mail?“, will ich wissen. „Um die Auswertung deiner letzten Kurzgeschichte“, erklärt er. Ich falle für eine Schrittlänge hinter ihm zurück. „Ich bin inzwischen dazu gekommen, sie zu lesen. Und wie du mich gebeten hast, habe ich dir meine Meinung und Einschätzung dazu zusammengeführt.“ Das wird ja immer abstruser. Kento liest meine Kurzgeschichten? Welche überhaupt? Ich habe nun schon vermehrt gehört, dass mein anderes Ich in dieser Welt ebenfalls dem Schreiberhandwerk nachgegangen ist. Doch bis heute habe ich nichts Näheres dazu in Erfahrung bringen können. Ganz zu schweigen davon, dass ich noch gar nichts selbst dazu gesehen habe. „Ist denn Literatur überhaupt dein Fachgebiet? Ich dachte, das wären eher die Mathematikbereiche“, hake ich nach. Schnell bemühe ich mich, wieder auf ein gleiches Schritttempo mit ihm zu kommen. „Hat dich das bisher je interessiert?“, kontert er mit einer Gegenfrage, wobei sein skeptischer Blick mich von der Seite trifft. „Ich hatte gedacht, dir geht es in erster Linie um eine zweite Meinung? Ich habe dir schon damals direkt angeraten, dir im Falle deines Zweifels, ich könnte nicht genug Verständnis für Sprache und ihren literarischen Gebrauch aufbringen, besser jemand anderen zu konsultieren, der dir mit deinem Anliegen deinen Vorstellungen entsprechend aushelfen kann. Es warst du, die darauf bestanden hat, dass ich deiner Bitte trotzdessen nachkomme, um im Falle des Idealen aus deinen Geschichten lernen zu können.“ Ups, doppeltes Fettnäpfchen. Ganz schön dick aufgetragen, anderes Ich. „Was auch immer es aus ihnen zu lernen geben soll“, tut er seine Skepsis unverblümt kund. Fast fühle ich mich beleidigt. „Das ist ja auch alles richtig“, werfe ich ein, um »mich« vor ihm zu verteidigen. „Ich meinte nur … naja … Also, ich habe mich nur gefragt, ob dich das nicht eher langweilt?“ „Nicht direkt“, weist er meine Bedenken zurück. „Ich lese hin und wieder ganz gern etwas Neutrales vor dem Schlafengehen. Und deine Geschichten sind sehr unkompliziert verfasst“, erklärt er. Zweifelnd lege ich den Kopf schief. Soll das jetzt ein Kompliment sein oder eher nicht? Wie ich Kento einschätze, könnte es beides bedeuten. Ich bin nicht ganz sicher, wie ich seine Worte auffassen soll. „Soll heißen, du hast also nichts dagegen?“, will ich mich noch einmal absichern. Seine Augen verschmälern sich. „Wenn dem so wäre, hätte ich längst etwas gesagt“, stellt er klar. „Okay.“ Ich will mich damit zufriedengeben, fürs Erste. „Dann bleibt es bei meinem Versprechen: Ich werde deine Mail so bald ich kann noch lesen und nachträglich beantworten.“ „Soll das bedeuten, du wünschst nicht, dass ich sie dir jetzt schon vorweggreife und ihren Inhalt für dich zusammenfasse, damit wir darüber reden können?“ „Nein, lass mal. Mir ist es lieber, wenn ich mir das Ursprungswerk dazu vor Augen halten und mich vorerst allein damit auseinandersetzen kann.“ „Meinetwegen. Tu dir keinen Zwang an.“ Ich stoße ein leises Seufzen aus. Danke, dafür ist es nun auch zu spät.   Vielleicht war es ein Fehler, die übrige Zeit unseres Weges Kentos Ausführungen zu seiner Präsentation einzuräumen, die er seinem Professor eingereicht hat. Es ist wirklich anstrengend, ihm zuzuhören, während man selbst kaum ein Wort des hochkomplexen Fachchinesisch versteht, das er in meinen Ohren anwendet. Es klingt ohne Frage interessant, was nur daran liegt, wie Kento in seinen Erzählungen unmerklich voll aufgeht. Dennoch bin ich froh, als ich endlich die Straße erkenne, die uns um die nächste Abbiegung direkt zum »Meido no Hitsuji« führen wird. „Sag mal, meinst du nicht, dass wir etwas zu früh dran sind?“, frage ich, wobei ich einen verstohlenen Blick auf meine Handyuhr werfe. Es ist gerade einmal 12:42 Uhr. „Wir haben noch über eine dreiviertel Stunde Zeit bis zum Meeting“, halte ich fest. „Wir sind genau richtig.“ Fragend hebe ich meinen Blick. Normalerweise wäre ich nicht vor eins hier aufgeschlagen, und er will mir sagen, wir seien genau richtig? Habe ich irgendetwas zu meiner Arbeit noch nicht ganz verinnerlicht? Ich lege mir gerade meine Frage an ihn zurecht, da höre ich Stimmen, auf die wir uns zubewegen. Meine Aufmerksamkeit geht entsprechend nach vorn, wo ich bald darauf eine kleine Menschengruppe vor unserem Café ausmache. Überwiegend Mädchen, fällt mir sofort auf. Und unter ihnen … im Ernst jetzt? „Ah, Ken! Da bist du ja.“ Obwohl die helle Begrüßung nicht mir gilt, wechselt mein Herz wie auf Knopfdruck auf eine höhere Schlagfrequenz. Gleichzeitig rutscht es mir in die Hose, da ich mich nicht bereit fühle, ihm so plötzlich wieder gegenüberzustehen. „Pünktlich wie immer. Man kann in der Tat die Uhr nach dir ste… Oh? Heute doch nicht?“, stellt Ikki mit Verwunderung fest, als er die Zeitanzeige seines eigenen Handys überprüft. Ich bemerke, dass er trotz des eher grauen Wetters seine dunkle Sonnenbrille trägt. Viel zu bewirken scheint sie allerdings nicht, wenn ich mir die Traube an Mädchen betrachte, die ihn umgibt. Lächelnd wendet er sich zurück an uns. „Was ist denn los? Das sieht dir ja gar nicht ähnlich. … Oh, sieh an. Wen haben wir denn da? Heute etwa in Begleitung, Ken?“ „Dir ebenfalls einen guten Tag, Ikkyu“, erwidert Kento die Begrüßung, wobei er auch Ikkis Geleit ein knappes Kopfnicken zugutekommen lässt. „Lange nicht mehr gesehen. Wie ich sehe, kann man dasselbe über dich sagen.“ „So lange war es gar nicht“, belächelt Ikki seine Worte, wobei er den letzten Part zu übergehen scheint. Ich staune. Es ist tatsächlich so. So trocken und unbewegt, wie Kento diese einfachen Worte über die Lippen gekommen sind, hätte man nicht vermuten können, dass beide in Wahrheit enge Freunde sind. Zu meinem Glück weiß ich es besser. „Ikki! Rede doch nicht so lange mit denen“, beschwert sich eines der Mädchen, die um Ikki herum stehen. Unverhohlen hascht sie nach seiner Aufmerksamkeit. „Ganz genau!“, pflichtet ein anderes bei, welches sich in ihrem Protest dreist an seinen rechten Arm klammert. „Die können warten, aber wir haben doch nicht mehr so viel Zeit, bis du deine Arbeit antreten musst“, beklagt sie. Was ich sehe, gefällt mir ganz und gar nicht. Unauffällig wechsle ich die Seite, um möglichst viel Abstand zwischen mir und den Mädchen einzuräumen. Drei von ihnen habe ich sofort erkannt, da sie mir aus dem Spiel und auch der Serie bekannt sind. Eines davon – ein Mädchen mit langem, dunkelbraunen Haar, welches sie offen und glatt trägt – hat mich bereits bemerkt und besieht mich argwöhnisch unter ihrer schwarzen Mütze, deren Schirm bis weit über ihre Augen reicht. Es behagt mir nicht. Mit Ikkis Fanclub ist nicht zu spaßen, wie ich sehr wohl weiß. Ich halte es für besser, einen direkten Blickkontakt zu den Mädchen als auch zu Ikki so gut ich kann zu vermeiden. „Wir gehen schon einmal vor“, lässt Kento neben mir verlauten. Zu meiner Erleichterung macht er weder eine Geste noch eine Bemerkung zu meinem zurückgezogenen Verhalten. Vielleicht bemerkt er nicht einmal, wie ich mich halb hinter ihm verstecke, doch das soll mir recht sein. „Mach nicht mehr so lange. Wir warten drinnen auf dich.“ „Ja, ja. Ich habe verstanden.“ Damit dreht sich Kento auch schon herum. Mit einem einzigen Blick gibt er mir zu verstehen, dass ich mich in Bewegung setzen soll. Ich schaffe es noch, Ikki zumindest ein kurzes Nicken zukommen zu lassen, ehe auch ich mich von der Gruppe abwende und in Richtung Personaleingang vorangehe.   Kurz darauf stehe ich im Umkleideraum des »Meido no Hitsuji« und rücke mir die dunkle Haube auf meinem Kopf zurecht, die mein Maidkostüm abrundet. Skeptisch betrachte ich mein Spiegelbild. Das Halstuch passt farblich gut zu dem schwarzen Kimono unter der roten Schürze, der mit einem weißen Vogelmuster bedruckt ist. Trotzdem sieht es gewöhnungsbedürftig aus, ganz gleich, wie ich es binde. Ich habe so meine Zweifel, ob Waka mir gestatten wird, es während der Arbeit zu tragen. Ganz ohne Frage werde ich eine vermeintliche Erkältung als Begründung vorschieben, der ich vorzubeugen versuche. In jedem anderen Universum müsste ich mir wohl weniger Sorgen machen, dass Waka meiner Bitte um Nachsicht widersprechen könnte, doch gerade hier im Spadeverse habe ich so meine Bedenken. „Es ist ungewöhnlich für dich, mit jemanden zusammen auf Arbeit zu erscheinen“, höre ich Ikkis Stimme durch die Tür gedämpft zu Kento sagen. Die beiden unterhalten sich schon die ganze Zeit, seit Ikki ebenfalls im Vorbereitungsraum eingetroffen ist. Und ich habe natürlich nichts Besseres zu tun, als ihnen still und heimlich zuzuhören, während ich mir sogar ein wenig Extrazeit nehme, mich in aller Ruhe umzuziehen. „Abgesehen von mir, natürlich“, ergänzt er mit einem leisen Kichern. „Es hat sich so ergeben.“ „Ach so? Nun, nicht dass es mich stören soll. So sind zumindest alle pünktlich auf Arbeit versammelt, nicht wahr? Der Boss wird sich nicht darüber beschweren können.“ „In der Tat.“ Ich weiß nicht recht, was das dort zwischen ihnen werden soll. Aber was auch immer es ist, es ist mir unangenehm, dass sie über mich reden, obwohl sie wissen sollten, dass ich sie hören kann. Ich komme mir wie ein Wandlauscher vor, obgleich ich dieses nicht beabsichtige. Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Ohne Hast packe ich meine Sachen zusammen, werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel, bevor ich den kleinen Raum verlasse, der Umkleide- und Badezimmer in einem ist. „Willkommen zurück“, werde ich von Ikki begrüßt, kaum dass ich die Tür hinter mir ins Schloss gezogen habe. Fertig hergerichtet in seiner Butleruniform hat er Platz auf einem der Pausenstühle gefunden, von wo aus er mir ein offenes Lächeln schenkt. „Hallo“, sage ich knapp unter einem vorsichtigen Kopfnicken. Ich vermeide es peinlichst, seinen Augen zu begegnen, während ich zu meinem Spind hinübergehe, um meine privaten Sachen darin zu verstauen. Nicht nur, weil ich um den Effekt bange, der ihnen anhaften dürfte. Aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund finde ich einfach keinen Mut dazu. „Nanu, heute mit Halstuch?“, bemerkt er die Änderung an meiner Dienstbekleidung, was mich kaum verwundert. „Was ist los? Fühlst du dich nicht gut?“ „Es geht schon. Ich hatte heute Morgen nur ein wenig Halskratzen und ich möchte einer Erkältung lieber vorbeugen“, präsentiere ich ihm meine Erklärung, die ich heute gewiss nicht das letzte Mal gesprochen haben werde. „Mhm, im Winter muss man immer mit plötzlicher Erkältung rechnen“, pflichtet er mir bei. Fast tut es mir leid, dass er meiner Lüge so leicht Glauben geschenkt hat. „Aber abgesehen von den Halsschmerzen fühlst du dich wohl?“ „Ja, sonst ist alles gut.“ „Das freut mich zu hören.“ „Ein weiterer Ausfall von Mitarbeitern wäre in unserer derzeitigen Situation äußerst ungünstig“, höre ich Kento sagen. Fragend sehe ich zu ihm herüber. Er steht auf der anderen Seite der Spinde und ist gerade dabei, das schwarze Tuch um seinen Hals zu richten, das zu seiner Kochuniform gehört. „Sei nicht so harsch zu ihr, Ken“, will Ikki ihn beschwichtigen. „Hast du schon vergessen? Bis vor Kurzem sind wir doch auch noch ganz gut mit sieben Mitarbeitern ausgekommen. Mit Waka-san macht das immer noch acht, wie es immer gewesen war.“ „Es geht weniger um die Anzahl als um das Organisatorische“, stellt Kento im Ruhigen klar. Er schlägt seinen Spind leise zu, geht um die Schränke herum, um sich an die Seite des Freundes zu gesellen. „Es geht darum, den Plan einzuhalten und mit ihm zu gehen. Für jeden Mitarbeiter, der ausfällt, muss ein anderer von uns einspringen. Unsere Ausweichmöglichkeiten sind begrenzt, ebenso steht es um die Flexibilität einiger. Wenn sich jeder nur auf Murphys Gesetz verlässt, brauchen wir so etwas wie Ordnung und Struktur nicht.“ „Ist dir eigentlich bewusst, wie vorwurfsvoll das aus deinem Munde klingt? Als ob jemanden Krankheit aus böser Willkür befällt.“ Ich komme nicht mehr mit. Geht es hierbei wirklich noch um mich? Um Hanna vielleicht? Oder um etwas ganz anderes, Allgemeines vielleicht? Traue ich mich, zu fragen? „Ich will es nur gesagt haben“, gibt Kento zurück, was Ikki leise seufzen lässt. „Schon recht, Ken. Und? Was ist mit deiner Präsentation herausgekommen, die du zu heute abgeben solltest?“ „Es ist noch nichts Genaueres herausgekommen. Wir haben kurz darüber gesprochen, aber der Professor möchte sich die Ausarbeitung noch einmal in aller Ruhe besehen. Ich werde wohl die nächsten Tage von ihm hören.“ „Hast du ein gutes Gefühl dabei?“ „Ich weiß nicht recht, was das mit dem Gefühl zu tun haben soll. Es kommt schließlich auf das Inhaltliche an. Ich bin die Präsentation noch einmal ausgiebig durchgegangen, bevor ich sie als abgeschlossen verbucht habe. Der erste Eindruck des Professors war positiv, aber was war auch anderes zu erwarten?“ „Ich hoffe doch sehr, dass du mich auf dem Laufenden halten wirst. Vergiss nicht: Die Abkürzung über Variable gleichgestellt Exponent war meine Idee.“ Entspannt lehne ich mich gegen meinen Spind zurück. Ich genieße es sehr, den beiden bei ihrem Gespräch zuzuhören. Auch wenn ich nicht wirklich etwas zu ihrer Unterhaltung beitragen und längst nicht allem folgen kann, was sie bereden. Es ist einfach nur schön, sie so zu erleben, weswegen ich überhaupt nichts dagegen habe, in diesem Moment lediglich der stille Beobachter zu sein. Es ist vermutlich das erste Mal, seit ich mich in dieser Welt sehe, dass mir bewusst in den Sinn kommt, wie viel Glück ich doch habe, hier zu sein. Unbedacht der Umstände. Wie oft habe ich mir gewünscht, die beiden einmal live zu erleben? Ihnen bei einem ihrer Gespräche einfach nur beiwohnen zu dürfen? Ich hatte so oft davon geträumt, mit ihnen auf selben Raum zu stehen, und hier bin ich nun. Ich stehe hier, im Pausenraum des »Meido no Hitsuji«, und tue nichts, als ihnen stillschweigend zuzuhören und ihren gewohnten Umgang miteinander zu belächeln. Ginge es nach mir, würde ich den ganzen Tag nichts anderes mehr tun. Naja, zumindest habe ich die Hoffnung, in Zukunft noch öfter in dieses Vergnügen kommen zu dürfen. Vielleicht, mit etwas Glück. „Shizana? Kommst du?“ Für einen Moment bin ich in meinen Gedanken abgedriftet. Die stille Frage, wie viel Zeit mir wohl in dieser Welt bleiben wird, wird durch Ikkis weiche Stimme, die nach mir ausgerufen hat, in die letzte Ecke meines Bewusstseins geschoben. Fragend blicke ich auf. Die beiden Jungs haben sich von ihrem Platz entfernt, Kento sehe ich in Richtung Küche verschwinden und Ikki mache ich im Türrahmen ausfindig, von wo aus er zu mir herübersieht und auf mich zu warten scheint. „Komme schon“, rufe ich schnell aus und beeile mich, zu ihnen aufzuholen.   Im Cafébereich habe ich mich dem Reinigen der Tische angenommen. Kento bereitet in diesem Moment die Küche vor und Ikki leistet ihm dabei Gesellschaft. Ich kann davon ausgehen, dass beide sich noch angeregt unterhalten, wie sie es eben noch der Fall gewesen war. Mich soll es nicht stören, allerdings ziehe ich eine sinnvolle Beschäftigung vor, bevor ich nur dekorativ bei ihnen stehe und doch zu nichts gut bin. Ich lasse mir Zeit. Bis zur Caféeröffnung sind es noch immer mehr als vierzig Minuten. Im Stillen frage ich mich, wie wir so viel Zeit nur überbrücken sollen, denn die Vorbereitungen nehmen längst nicht so viel davon in Anspruch. Aus dem hinteren Bereich vernehme ich das Klacken unserer Personaleingangstür. Kurz darauf kann ich schon die Stimme unseres Bosses vernehmen, deren lautes Gebrüll mir allmählich vertraut geworden ist: „Was wird das hier für ein Kaffeekränzchen?! Männer, Disziplin! Kriegsbesprechung in einer viertel Stunde! … Wo ist Shizana?“ „Sie ist vorne“, höre ich Ikki antworten. „Sehr gut, dort möchte ich den Rest auch gleich sehen. In einer viertel Stunde!“ „Jawohl“, antworten beide Jungs unisono. Es entlockt mir ein leises Seufzen.   „Männer, stillgestanden!“, eröffnet Waka seinen üblichen Appell, um die tägliche Routine unserer kleinen Mitarbeiterversammlung vor Schichtbeginn einzuleiten. Ich fühle mich als Frau etwas fehl unter seiner Anweisung, aber welche Wahl habe ich, als mich zu fügen? „Zum Ersten: Ich erwarte wie immer von euch, dass ihr den Feind keinen Moment aus den Augen lasst und ihm zuvorkommt! Zum Zweiten: Heute ist Freitag, das bedeutet, heute bekommen die Kunden eine Extrawurst gebraten. Kento! Du bist heute für die Buttercreme verantwortlich. Mach sie nicht wieder so fest wie beim letzten Mal. Damit konnte man ja Wände betonieren!“ Autsch, wie hart. Zögerlich linse ich an Ikkis Seite vorbei, hinüber zu Kento. „Ich habe an der Zubereitung nichts verändert“, erklärt Kento unbewegt. Seine Miene zeigt nicht die kleinste Regung, während er Wakas strengem Blick einfach standhält. „Es ist dieselbe Rezeptur wie immer, allerdings waren die Kühler kälter eingestellt als sonst üblich. Als ich dich darauf ansprach, sagtest du, dass eine kleine, vorübergehende Schwankung den Lebensmitteln nicht schaden würde und ich es ignorieren soll, solange die Grade nicht unter drei fallen.“ „Dieses Problem wurde inzwischen behoben.“ Mein Boss schiebt sich in einer bedeutenden Geste die Brille nach oben. „Ich frage dich also: Bist du dazu in der Lage, meinen Befehl auszuführen, oder nicht?“ „Sofern alle benötigten Zutaten ausreichend vorhanden sind, sehe ich kein Problem.“ „Gut. Kommen wir zum Dritten. Shizana!“ „Ja?“, melde ich mich erschrocken zu Wort. Meine Haltung versteift sich unwillkürlich bei seinem lauten, beinah brüllenden Ausruf. Bedrohlich tritt er auf mich zu und beugt sich zu mir hinab. Seine Hand geht nach vorn und greift nach den Enden meines Halstuchs, welche er festhält, während er mich mit einem strengen Blick taxiert. „Erkläre mir diesen Aufzug!“, verlangt er missgünstig verstimmt. Automatisch habe ich ebenfalls nach dem Tuch gegriffen und halte es panisch fest, um zu verhindern, dass er durch ein Verrücken des Stoffs Einblick auf meinen geschundenen Hals erhascht. „Ich hatte heute Morgen Halsschmerzen“, erkläre ich schnell und versuche, seinem durchdringenden Blick standzuhalten. „Ich möchte es gern umbehalten, um einer Erkältung vorzubeugen.“ „Hmpf!“ Er stößt ein abfälliges Schnauben aus. Zumindest sieht er davon ab, mich weiter zu bedrängen, und gibt mich frei. Dass er einen Schritt von mir zurücktritt ändert aber nichts daran, dass er mich weiterhin unter Beschuss hält. „Und? Wie steht es um den Schlachtplan für den Sonntag?“ „Eh?“ »Schlachtplan für den Sonntag«? Ich weiß nicht, was er von mir will. Sein Blick verdüstert sich. „Ich habe dich beauftragt, Informationen für den 6. Dezember zusammenzutragen. Wie steht es darum?“ Ich überlege angestrengt. Der 6. Dezember ist mir als ein Feiertag bekannt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob er das meint. In Japan feiert man keinen Nikolaustag, oder? „Reden wir über den Nikolaustag?“, stelle ich meine Frage und wage mich damit in die Höhle des Löwen. Mehr als mich verbal zusammenfalten kann er schließlich nicht. „In Hinblick unserer Gewinnsituation des vergangenen Monats, die alles andere als zufriedenstellend war, habe ich letzte Woche um Anregungen gebeten, wie wir den verlorenen Vorsprung wieder aufholen können“, holt er aus. Wie ein hungriger Tiger in seinem Käfig streunt er vor uns hin und her, was mich echt nervös macht. „Mich erreichten verschiedene Vorschläge, davon lautete die kriegsführendste, eine Extraschlacht gegen den Feind zu schlagen. Nachfolgende Konferenzen haben ergeben, dass der Monatsanfang am vielversprechendsten ist, dem Feind den entscheidenden Schlag zu versetzen. Und du!“ Ruckartig bleibt er vor mir stehen, zieht sein Bambusschwert woher-auch-immer und deutet mit der Spitze direkt auf Höhe meiner Nase. Unwillkürlich zucke ich vor ihm zurück. „Du hast dafür den 6. Dezember auf den Plan gebracht! Und nun frage ich dich noch einmal: Was hast du zu diesem undankbaren Tag für nichtsnutzige Schlappschwänze in Erfahrung bringen können, das uns von Nutzen sein könnte? Rede!“  „Ähm, naja …“ Ich schlucke nervös. So wirklich sicher bin ich mir noch immer nicht, ob das alles seine Richtigkeit hat. Aber wenn ich jetzt nichts sage, fürchte ich, dass mich Waka an Ort und Stelle vermöbeln wird, bis ich nur noch am Boden krauchend zu irgendeiner Fortbewegung imstande bin. „Also am 6. Dezember feiern wir Nikolausbescherung … in Europa. In den meisten europäischen Ländern zumindest, soweit ich weiß. Es ist eigentlich mehr ein Fest für Kinder, heutzutage, und … ähm … naja, also eigentlich ist es auch mehr ein christliches Fest.“ „Weiter!“, fordert er schroff. „Was weißt du noch?“ „Naja, also … Es geht am Nikolaustag ums Beschenken. Bei mir zu Hause war es immer Tradition, dass am Vorabend Schuhe geputzt und nach draußen gestellt werden. Wenn sie angemessen sauber waren, hat der Nikolaus über Nacht etwas Süßes hineingelegt, in der Regel eine kleine Tüte mit Nikolausschokolade oder so was in der Art. Mh, in Schulen und auch einigen anderen Veranstaltungsstätten gab es außerdem meist ein kleines Event, bei welchem die Kinder Besuch vom Nikolaus und manchmal auch seinem Knecht Ruprecht bekommen haben. Der Nikolaus hat dann jedes Kind befragt, ob es auch artig war, und wenn dem so war, hat er sie mit etwas Kleinem belohnt. Der finstere Knecht Ruprecht dient eigentlich mehr zur Abschreckung, aber normalerweise ist er dazu da, unartige Kinder zu bestrafen, indem er ihnen mit seiner Rute eines auf den Hintern gibt. Nicht sehr fest … aber man bekommt schon etwas Angst vor ihm. Viele Eltern erzählen ihren Kindern, dass der Nikolaus auch dem Weihnachtsmann erzählen würde, dass man artig war, was natürlich die Vorfreude schürt, an Weihnachten auch wirklich beschenkt zu werden“, erkläre ich so ausführlich, wie es mir gerade in den Sinn kommt. Waka senkt sein Shinai von meinem Gesicht, doch ich kann seiner Mimik entnehmen, dass er noch nicht recht überzeugt ist. „Ist das alles?“, will er wissen. „Mh, naja …“ Ich überlege angestrengt. „Also, wie gesagt: Es ist in erster Linie ein christliches Fest. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, das Ganze beruht auf der Geschichte des heiligen St. Nikolaus, dem man nachsagt, dass er einst die drei Töchter eines armen Bauers über Nacht mit drei goldenen Kugeln beschenkt haben soll, um sie vor der Prostitution zu bewahren. Das zumindest ist die Geschichte, die mir so irgendwie in Erinnerung geblieben ist. Es gibt aber noch weit mehr, in denen die heilige Figur St. Nikolaus irgendwen selbstlos beschenkt hat, um ihn vor irgendeinem Schaden zu bewahren, meist im Bezug auf seine unglückliche Zukunft ohne die jeweilige Gabe. Naja, und dann ergeben sich eben auch noch einige Kindermärchen, die je nach Region unterschiedlich ausfallen können. In ihnen kommen dann noch die Gegenfiguren dazu, wie eben der Knecht Ruprecht oder der Krampus. Die haben aber mit dem Ursprung eigentlich nichts mehr zu tun.“ „Was ist ein Krampus?“, möchte Ikki wissen. Ich sehe ihn an. „Ein Krampus ist eine recht finstere Gestalt, die in erster Linie Kinder erschreckt, indem sie laut und furchteinflößend mit Ketten rasselt. Meist hat der Nikolaus nicht nur einen, sondern gleich mehrere dabei. In einigen Regionen ist es sogar Brauch, dass eine Gruppe Krampusse am Vorabend des Nikolaustages durch die Straßen jagt und einen Heidenlärm veranstaltet, um die Ankunft des Nikolaus anzukündigen. Sie sehen recht gruselig aus, meist tragen sie Fellmäntel und Masken mit Hörnern, manchmal auch Schwänze und wenn man sie richtig fies darstellen will, lässt man sie auch sehr gruselige, nichtmenschliche Laute machen“, erkläre ich. „Klingt nach einem echten Kinderschreck“, bemerkt er und lächelt. „Das zeigt bestimmt seine Wirkung, damit unartige Kinder im nächsten Jahr nicht mehr so unartig sind.“ „Naja, wie man es nimmt“, lächle ich zweifelnd zurück. „Und?“, will er wissen. „Wie wollen wir das für uns umsetzen?“ Verdattert lege ich den Kopf schief. „Wie? Für das Meido?“, frage ich zurück. „Deine Informationen sind nutzlos, wenn sich daraus keine Strategie ergibt!“, macht mir Waka aus voller Inbrunst deutlich und schlägt zur Unterstreichung seines Vorwurfs laut mit dem Stock auf dem Boden auf. „Wir befinden uns im Krieg!“, betont er, als ginge es um Leben und Tod. „Lass dir gefälligst etwas einfallen, wie wir den Feind überrennen können! Wenn du keine Vorschläge vorzubringen hast, schweig und winde dich in Schande!“ „Ä-ähm …“ Wakas lauter Appell übt einen massiven Druck auf mich aus. Krampfhaft setze ich meine grauen Zellen in Höchstbetrieb, um bloß irgendwie so schnell es geht aus dieser verzwickten Situation herauszukommen. „Also … ich weiß nicht. Die meisten unserer Kunden sind ja keine kleinen Kinder mehr und die meisten Gebräuche lassen sich schlecht auf ein Café umsetzen. Hm … Wenn es hier irgendwo kleine Plastiknikolausstiefel zu kaufen gäbe, könnte man diese auf den Tischen verteilen und den Kunden Süßes zur Selbstbedienung anbieten. Schokolade oder so. Oder man bastelt kleine Schiffchen mit demselben Nutzen. Und, hm … vielleicht, um mehr Kunden anzulocken, könnte man spezielle Nikolausgetränke anbieten: einen St. Nikolaus und einen Knecht Ruprecht oder Krampus. Ein rotes und ein schwarzes Getränk, warm vielleicht. Und man könnte vielleicht einen kleinen Showact daraus machen, indem man die Kunden zur Begrüßung mit einem Knecht Ruprecht befragt, ob sie denn brav waren. Und je nachdem, wie die Antwort ausfällt, bekommen sie von uns ein Getränk aufs Haus … oder so.“ Es wird still im Café. Ich bin nicht ganz sicher, ob das, was ich an Vorschlägen vorgebracht habe, angemessen und angebracht war. Jetzt ist es aber auch zu spät, um noch etwas daran zu korrigieren. Ich traue mich nicht, weitere Alternativvorschläge anzubringen, die mir noch sinnfreier erscheinen als das, was ich bereits gesagt habe. „Ich lasse mir deine Vorschläge durch den Kopf gehen“, sagt Waka schließlich und erlöst uns damit von dieser unangenehmen Stille im Raum. „Erinnert die Kunden, dass wir dieses Wochenende komplett geöffnet haben. Unterstreicht ihnen, dass sie Freunde und Familie mitbringen dürfen und wir uns über jeden Besuch freuen. Nähere Informationen lasse ich euch zeitnah zukommen.“ Er bringt die Konferenz zu einem Ende und entlässt uns schlussendlich in die weiteren Vorbereitungen. Zusammen mit Kento zieht er sich in den hinteren Personalbereich zurück, während ich mit Ikki im Café verbleibe. Noch begreife ich nicht ganz, was ich hier gerade vom Stapel gelassen habe und zu welchem Zweck es eigentlich dienen sollte. „Tja, sieht ganz so aus, als stünde uns ein neues Event bevor“, höre ich Ikki neben mir sagen. Ohne dass ich zu ihm aufsehe, spüre ich, wie er mir zusprechend eine Hand auf die Schulter legt. „Du hast dich gut geschlagen. Ich bin mir sicher, der Boss wird sich etwas Tolles einfallen lassen. Du wirst sehen, das wird schon gut werden.“ Ach, wirklich? Irgendwie habe ich da noch so meine Zweifel. Kapitel 10: Ominöse Besucher ---------------------------- Ein weiterer Arbeitstag im »Meido no Hitsuji« hat seinen Anfang genommen und verspricht mir, die nächsten Stunden frei von sämtlichen kreisenden Gedanken zu sein. Zumindest hoffe ich das noch, während ich darauf warte, dass mehr Kunden eintreffen, die mich beschäftigt halten. Der Betrieb im Café kommt nur langsam in Gang. Die erste Stunde habe ich so wenig zu tun, dass ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, in meinen vereinzelt längeren Pausen neue Servietten zu falten und die Vorräte der beiden Kaffeeautomaten aufzufüllen. Von weniger Langeweile kann wohl Ikki sprechen, der schon jetzt öfter in die Bedienung gehen muss als ich. Für längere Gespräche bleibt selten Zeit, weswegen ich es bald aufgegeben habe, irgendwelche Themen, die überwiegend mit der Arbeit zu tun haben, mit ihm bereden zu wollen. Es führt ja doch zu nichts, da wir nie weit kommen, bis einer von uns in ein neues Kundenanliegen eingespannt wird. Kento hat derweil Windbeutel zubereitet, welche ich unseren Kunden fleißig anbiete. Sie sehen wirklich gut aus. Zu gern würde ich selbst einen von ihnen probieren und herausfinden, ob sie auch geschmacklich halten, was sie versprechen. Leider würde Waka das wohl nicht gutheißen, wenn ich mir einfach einen reservieren würde, also halte ich mich an, standhaft zu bleiben. Wer weiß, vielleicht komme ich ja selbst einmal in das Vergnügen, die Qualitäten unseres Cafés aus Kundensicht kennenzulernen. Mit Ukyo vielleicht, das hätte einen Mehrwerteffekt für alle. Ja, dieser Gedanke klingt gar nicht so ungeschickt in meinem Kopf. Vielleicht sollte ich das in der Tat einmal in Erwägung ziehen. Hinter dem Tresen bediene ich den Abwasch und erlaube mir, neben den gewohnten Handgriffen ein Auge auf Ikki zu haben. Er spielt die Rolle des Butlers sehr überzeugend, das halte ich ihm nicht zum ersten Mal zugute. Höflich und zuvorkommend bedient er die weibliche Kundschaft, als würde er nie etwas anderes tun. Sein Lächeln wirkt stets aufrichtig und zeugt von Professionalität, was die Damen unverkennbar zu schätzen wissen. Er ist ein Anziehungsmagnet für Frauenaugen, was gewiss nicht nur daran liegt, dass die schlicht-elegant geschnittene Dienstuniform ihm Format und einen gewissen Reiz des Nichtalltäglichen verleiht. Ich kann verstehen, dass die Damen seine Aufmerksamkeit nach bestem Zutun an die Grenzen der Toleranz zu treiben versuchen. Auch, dass einige von ihnen wahrlich keinen Hehl daraus machen, seinem Charme instant verfallen zu sein. Wäre ich an ihrer Stelle, ich glaube, ich würde es nicht anders versuchen. Aber von einer solchen Gelegenheit bin ich weit entfernt. Schwer seufze ich in mich hinein. Es ist deprimierend. Je länger ich Ikki beobachte, umso mehr wird mir bewusst, dass er auf einem ganz anderen Level als ich spielt. Genauso wie Kento eine ganz andere, eigene Liga für sich ist. Ich habe wirklich keine sehr geringe Meinung von mir, aber selbst in Rücksicht auf meine Vorzüge denke ich nicht, dass ich an sie heranreichen kann. Egal in welcher Hinsicht. Wie frustrierend. Nie hätte ich gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, in ihrer Nähe zu sein. Obwohl es genau das ist, was ich immer wollte. Ist es nicht irgendwie Ironie, dass ich mich zwar in demselben Universum wie sie bewege, und doch das Gefühl habe, Welten von ihnen entfernt zu sein? Vorsichtig sehe ich zu Ikki hinüber. In diesem Moment steht er an dem Tisch mit der kleinen Gruppe Mädchen, die zu seinem Fanclub gehören müssen. Zumindest erkenne ich einige von ihnen wieder, die schon bei Ikki gestanden hatten, als Kento und ich am Café angekommen waren. Es sind weniger Mädchen als vorhin, doch das ändert nichts daran, dass mich ihre Anwesenheit verärgert. Genauso wie Ikkis geduldsame Art, jedes ihrer Komplimente entgegenzunehmen, charmant mit den Mädchen zu feixen und jede ihrer Bemühungen mit einem Lächeln zu belobigen. Und wofür das alles? Dafür, dass gerade einmal zwei von ihnen etwas bestellen, mit Sicherheit in der eingespielten Absicht, ihn in kurzer Zeit für die nächsten Bestellung erneut zu sich rufen zu können. Wie mich das anstinkt! Die Türglocke läutet und ich bin froh, in diesem Moment Kundschaft zu bekommen. Ablenkung kommt mir gerade recht und ich beeile mich, die beiden Herren zu empfangen und an ihren Platz zu führen, um ihre Bestellungen in guter Maidmanier entgegenzunehmen.   „Ein Toast Hawaii und ein Käseomelette mit Schinken“, lasse ich Kento die Wünsche meiner beiden Kunden wissen und reiche ihm den Zettel, auf welchem ich diese vermerkt habe. Anstandslos nimmt er ihn entgegen. „Zehn Minuten“, lässt er mich wissen, ohne aus seiner Arbeitsroutine zu mir aufzublicken. Ich nicke. Dass er das nicht sehen kann, ist mir klar, aber es interessiert mich nicht. Ich trete einen Schritt zur Seite und lehne mich mit dem Rücken gegen den freien Platz gleich neben der Tür. Mit gekreuzten Füßen verweile ich in meiner Position, den Blick gen Fliesenboden gerichtet, und möchte für einen Moment einfach ein bisschen Ruhe und Abstand vom Café auf mich wirken lassen. „Ist noch etwas?“, will Kento wissen, der überraschend schnell bemerkt hat, dass ich noch nicht ins Café zurückgekehrt bin. „Willst du den Kunden in der Zwischenzeit nichts zu trinken anbieten?“ „Habe ich schon“, sage ich knapp. „Sie mussten erst die Karte checken. Laufkunden“, erkläre ich, was nicht mehr benötigt. „Hm.“ Kento wendet sich wieder seiner Arbeit zu. „Ich habe keine Zeit für Gespräche.“ „Ich weiß“, entgegne ich. Natürlich hat er die nicht, das ist mir schon klar. Dafür bin ich auch nicht hier. Für die Zeit, in der Kentos Kochgeräusche die Küche erfüllen, bin ich bemüht, einfach an nichts zu denken. Im Café gibt es aktuell nichts für mich zu tun. Mit einem Ohr bleibe ich wachsam, ob nicht doch der Klang der Türglocke mich wieder nach vorne ruft für den Fall, dass sich das ändern sollte. Bisher ist dem jedenfalls nicht so. „Wenn du etwas sagen willst, dann tu’s“, bricht Kentos Stimme die Stille, die so angenehm für mich gewesen war. Ich bin erstaunt, dass er mich anspricht, was ich nicht erwartet habe. „Ich denke, du hast keine Zeit für Gespräche?“ Ich kann einfach nicht anders, als ihn ein wenig zu necken. Es entlockt mir zumindest schon wieder ein kleines Schmunzeln. „Ich höre zu“, stellt er klar, „aber erwarte nicht, dass ich viel zur Lösung deines Problems beitragen werde.“ Ich sage nichts. Es war nie meine Absicht, über irgendetwas zu reden. Ich bin wegen der Ruhe hier, das ist alles. „Ich bin kein Gedankenleser“, erinnert mich Kento unnötig. „Wenn du nicht redest, kann ich dir nicht helfen.“ „Ich habe nichts zu bereden.“ Stille kehrt zwischen uns ein. „Um ehrlich zu sein, bin ich nur der Stille wegen hier. Ich hatte nie vor, dich von der Arbeit abzuhalten oder mit irgendwelchen Problemen zu belangen“, erkläre ich ruhig. „Ist irgendetwas vorgefallen?“ Er überrascht mich ganz schön oft in kurzer Zeit. „Nein, ich –“ „Ken, ein Gemüsegratin und zwei Omelette, eines mit Tomaten, bitte“, fällt mir Ikki mit seiner Bestellung so abrupt ins Wort, dass ich kurz zusammenfahre. Er ist so plötzlich in der Tür erschienen, dass mein Herz ins Rasen gerät, weil ich so erschrocken bin. „Omelette in zehn Minuten, das Gratin in voraussichtlich zwanzig.“ „Ah, hier steckst du“, wendet sich Ikki mir zu, kaum dass er mich in meiner kleinen Ecke ausfindig gemacht hat. Lächelnd sieht er mich an. „Ich hatte dich schon gesucht. Alles in Ordnung?“ „Ja“, sage ich knapp und versuche, ebenfalls zu lächeln. „Ich habe mir nur gerade etwas von Kento erklären lassen. Bin gleich wieder vorne.“ „Wenn etwas ist: Du weißt ja, wo du mich findest“, unterbreitet er mir, schon ist er wieder aus der Küche verschwunden. So schnell, wie er gekommen war. Ich entlasse ein schweres Seufzen. „Gibt es einen Grund dafür, dass du zu ihm gelogen hast?“, holt mich Kento mit seiner Frage aus meiner Melodramatik, nachdem ich ihn erneut für einige Zeit angeschwiegen hatte. Es liegt kein Vorwurf in seinen Worten, nur reines Interesse, wie mir scheint. „Du hast mir keine Fragen gestellt und ich habe dir nichts erklärt“, fasst er noch einmal zusammen. Schwerfällig lasse ich meinen Kopf gegen die Wand hinter mir sinken. „Ich weiß es nicht“, sage ich, was wahr ist. „Im Moment … fällt es mir nur irgendwie schwer, mit ihm zu reden. Ich weiß nicht, wieso ich gelogen habe.“ Kento erwidert nichts darauf. Ich sehe ihn nicht an, höre nur zu, wie er weiterhin gewissenhaft seiner Arbeit nachgeht, während wir beide schweigen. „Wirst du es ihm sagen?“, möchte ich schließlich wissen. Es wäre vermessen, ihn um seine Verschwiegenheit zu bitten, weswegen ich davon absehe. „Ich halte es grundsätzlich nicht für klug, wenn sich Dritte in die Probleme anderer einmischen wollen“, erklärt er, wobei er die fertige Omelette auf einen bereitstehenden Teller manövriert und einen Plastikbehälter zur Hand nimmt, um es zu verzieren. „Zumal ich mir nicht anmaße, zu verstehen, was auf zwischenmenschlicher Basis die Ursache darstellen könnte. Wenn du ein Problem mit Ikkyu hast, wirst du deinen eigenen Weg finden müssen, es zu lösen. Dabei kann dir keiner helfen.“ Ich lächle verbittert. »Problem«, huh? Ja, wenn hier jemand ein Problem hat, dann bin nur ich das. Und dass mir jemand dabei helfen können wird, wage ich zu bezweifeln. „Danke.“ „Hier, bring das zu Tisch Fünf.“ Mit einem Kopfnicken nehme ich Kento die beiden Teller ab, die er mir auffordernd entgegenhält. Ich vermeide es, seinen Augen zu begegnen, und halte meinen Blick gesenkt. Nach dem, was ich mir hier vor ihm geleistet habe und welche Gedanken mir durch den Kopf gegangen sind, fühle ich mich einfach nur scheußlich.   Der Andrang im Café hat im Vergleich zu der ersten Stunde bedeutend zugenommen. Die Mädchengruppe ist um einige Mitglieder mehr aus Ikkis Fanclub angestiegen, was Ikki gut in Schach hält. Sie nehmen den Ärmsten so in Beschlag, dass er sichtlich Mühe hat, auch noch seinen anderen Verpflichtungen nachzukommen. Dass er dennoch für keinen Moment sein Lächeln verliert, halte ich für bewundernswert. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber sofern ihn die permanente Beanspruchung unter Stress setzt, so lässt er sich davon zumindest nichts anmerken. Da sich die Anzahl männlicher Kunden weiterhin in Grenzen hält, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Ikki mit den Damen zu unterstützen. Auch wenn das normalerweise den Vorgaben unseres Cafés widerspricht. Wann immer ich kann, führe ich unsere neuen Gäste schon einmal an ihren Platz und frage sie, ob ich ihnen bereits etwas bringen darf. Einige von ihnen beharren dennoch darauf, von Ikki bedient werden zu wollen, einige andere sind etwas nachsichtiger mit meinem Kollegen. Ich frage mich vermehrt, wie er mit dieser Popularität nur zurechtkommt und ob es ihn nicht belastet, sich so zerreißen zu müssen, um jeder Erwartung, die an ihn gestellt wird, gerecht zu werden. In meinen Augen ist das jedenfalls nichts, worum man ihn beneiden sollte. Im Gegenteil, ich empfinde sogar Mitleid für ihn. Mittlerweile handhaben wir es schon so, dass ich die fertigen Bestellungen für Ikkis Kundschaft bereits mit nach vorne bringe, um ihm den Gang in die Küche zu ersparen. Es mag nur eine kleine Erleichterung sein, die ich ihm dadurch verschaffe, doch solange es ihm hilft, soll es mir recht sein. Die Situation jedenfalls scheint sich durch solche Kleinigkeiten schnell zu entspannen, und es wird wieder überschaubarer, wer noch wen zu bedienen hat. Ich drehe mich herum, als ich die Türglocke vernehme, die ein weiteres Eintreffen neuer Kunden verkündet. Inzwischen ist es Routine, dass ich als Erste nach vorn gehe, um die neuen Gäste zu begrüßen. Es ist Ikki schon länger nicht mehr vergönnt, dieser Aufgabe nachzukommen, weswegen ich sie bis auf Weiteres gänzlich übernommen habe. Mein Kopf spult bereits die übliche Phrase auf, die ich zur generellen Begrüßung neuer Kunden verwende, doch ich stocke noch rechtzeitig, bevor ich der leidigen Leier gänzlich verfallen kann. „Ukyo?“ Tatsächlich erkenne ich meinen Mitbewohner, der lediglich die Hand hebt und ein heiteres „Hallo“ verlauten lässt. Er trägt ein freundliches Lächeln, was mich glücklich stimmt und für diesen Moment sämtlichen Stress vergessen lässt. „Was machst du denn hier?“, will ich wissen und habe Mühe, meine Begeisterung zurückzuhalten, um niemandem ein falsches Bild zu vermitteln. Sicherlich wäre es bei den anderen Gästen nicht sehr gut angekommen, wenn eine Maid einem Kunden direkt um den Hals fällt. Stören will ich sie bei ihren ausgelassenen Gesprächen ebenfalls nicht, weswegen ich bemüht bin, nicht versehentlich zu laut zu werden. „Ich war in der Gegend und dachte mir, ich statte euch bei der Gelegenheit einen kleinen Besuch ab.“ Ich bin fast enttäuscht, dass er im Plural spricht. Vermutlich hatte ich erwartet, dass er tatsächlich meinetwegen gekommen ist. Wie idiotisch. Natürlich hat er hier auch noch andere Freunde, die seine Anwesenheit bereits vermisst haben. „Das ist ja schön“, zwinge ich mich zu sagen und es mit einem vorsichtigen Lächeln zu versehen. „Wenn du möchtest, sage ich gleich den anderen Bescheid. Im Moment sind wir nur zu zweit und haben deswegen viel zu tun, aber tu dir keinen Zwang an. Setz dich doch schon mal.“ „Also, ich bräuchte einen Tisch für zwei Personen“, erklärt er zögerlich, was mich kurz aus dem Konzept bringt. Neugierig luge ich an Ukyo vorbei, und Tatsache. Erst jetzt bemerke ich den jungen Mann, der ihm dicht auf den Fersen gefolgt ist. Seine Kleidung ist gewöhnlich: verwaschene Jeans, graues Shirt und darüber eine schwarze Stoffweste, welche er offen trägt. Auf dem Kopf trägt er ein Basecap irgendeines Vereins, dessen Vertreter wohl die Farben Schwarz, Blau und Grün zu sein scheinen mit einem gelben Stern als Logo. Das Cap ist so seltsam geschnitten und der Schirm reicht ihm gebogen bis tief ins Gesicht, dass ich in seiner gesenkten Kopfhaltung weder seine Augen erkennen noch seine exakte Haarfarbe bestimmen kann. Ich kann lediglich abschätzen, dass er in etwa unsere Altersgruppe sein müsste, vielleicht auch etwas darüber oder darunter, aber sonst kommt mir nichts an diesem seltsamen Typen bekannt vor. Ich verneige mich in höflicher Maidmanier vor dem mir Unbekannten. „Seid uns willkommen, Herr“, begrüße ich ihn. Kurz warte ich ab, ob er etwas darauf erwidert, doch er zieht sich lediglich den Schirm tiefer ins Gesicht und wendet den Blick von mir ab. Seltsamer Geselle. Mein Blick geht hinüber zu Ukyo, als ich mich zurück in eine gerade Haltung begebe. Ich bemerke, dass er gedankenverloren dreinblickt, und etwas verzögert, dass er mir auf das Halstuch starrt. Ich kann mir denken, wohin ihn seine Gedanken leiten, weswegen ich leicht mit dem Fuß gegen seine Schuhspitze stoße, um ihn aus seiner Trance zurückzuholen. Der wache Ausdruck kehrt in seine grünen Augen zurück und als ich seine Aufmerksamkeit habe, deute ich ein knappes Kopfschütteln an. Er beantwortet meine Geste mit einem entschuldigenden Lächeln, was mich hoffen lässt, dass er meine stumme Botschaft verstanden hat. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten, Herr“, weise ich Ukyo und seine Begleitung an, mit mir zu kommen, während ich sie an einen freien Tisch führe. „Wie kann ich Ihnen heute bedienlich sein? Mit Verlaub, kann ich den Herren heute unsere Gratin bestens empfehlen. Sollten Sie bereits anderweitig zu Mittag gespeist haben, empfiehlt die Küche heute unsere locker-leichten Windbeutel nach Art des Hauses. Selbstverständlich darf es auch nur ein warmes oder gekühltes Getränk sein, wenn die Herren dies wünschen“, gehe ich geflissentlich in die Bedienung über, kaum dass die beiden ihren Platz gefunden haben. Bereit, ihre Bestellungen aufzunehmen, halte ich Block und Stift vor mir und sehe sie abwartend an. „Bringst du mir bitte einen Short Brandy und einen Espresso?“, besieht mich Ukyo mit einem Lächeln, das mir sofort das Herz erwärmt. „Natürlich“, lächle ich zu ihm zurück. Fragend wende ich mich an den mir Unbekannten, der seinen Platz vor mir auf dem Stuhl bezogen hat und noch immer nicht zu mir hinaufsieht. „Und für Sie, mein Herr?“ „Wasser“, fällt seine Antwort aufs Mindeste begrenzt aus. Sein versetztes „Bitte“ macht es nicht gerade besser. Komischer Kauz. „Sehr wohl, Herr“, bleibe ich professionell, verneige mich höflich vor meinen Gästen und wende mich ab, um ihren Bestellungen unverzüglich nachzukommen. Auf meinem Rückweg zum Tresen denke ich über die beiden nach. Es ist ungewöhnlich für Ukyo, in Begleitung unterwegs zu sein. Nicht, dass ich das sicher für diese Welt beurteilen könnte, aber bisher kannte ich ihn nur als Einzelgänger. Vielleicht ist es ja ein Kunde oder Geschäftspartner von ihm? Ein neuer Freund, den er hier gefunden hat? Wieso sollte es ihm auch nicht möglich sein, neue Kontakte zu knüpfen? Er ist doch ein sehr freundlicher und aufgeschlossener Charakter. Ich bemerke, als ich einen verstohlenen Blick über die Schulter zu Ukyo werfe, dass der Unbekannte mich offensiv mustert. Er sitzt halb herumgedreht auf seinem Stuhl und sieht mich an, ohne sein Interesse an meiner Person zu verbergen. Ukyo sagt irgendetwas zu ihm, aber es scheint mir keine Mahnpredigt zu sein. Vielmehr sieht er sehr ernst aus, konzentriert in gewisser Weise, und scheint kein bisschen irritiert oder gar verärgert, dass seine Begleitung mehr Aufmerksamkeit an mich vergibt als an ihn. In gewohnten Handgriffen bereits ich die drei Getränke zu. Auf einem Tablett balancierend bringe ich sie wenig später an ihren Tisch, wo ich sie vor Ukyo und dem Fremden verteile. „Wie darf ich den Herren noch dienlich sein?“, lasse ich mir mein Unbehagen nicht vor ihnen anmerken, als ich nach ihren weiteren Wünschen frage. „Nein, das ist schon so okay. Danke dir“, winkt Ukyo ab. Erneut kann ich nicht anders, als sein freundliches Lächeln zu erwidern. Der Unbekannte hat sich wieder von mir weggedreht. Seit ich neben ihm stehe, hat er nicht ein Mal zu mir aufgesehen. Auch jetzt sagt er nichts und macht keine Anstalten, auf meine Frage zu antworten. Irgendwie ist er mir suspekt, verdächtig und erscheint mir auf gewisser Weise falsch. Ich will nicht länger in seiner Gegenwart sein, als zwingend notwendig. „Bitte ruft nach mir, Herr, wenn Ihr weitere Wünsche habt. Ich gehe dann jetzt“, verabschiede ich mich von den beiden in meiner kleinen Performance, verneige mich leicht und drehe mich ab. Hinter mir schiebt gerade einer meiner Kunden seinen Stuhl zurück, und ich nehme mich ihrem Tisch an, um die Herren abzukassieren und anschließend zur Tür zu geleiten. „… irgendwie anders“, höre ich jemanden hinter mir sagen, leise und im gedämpften Flüsterton, sodass es mir nicht möglich ist, den gesamten Satz zu verstehen. Als ich daraufhin Ukyos ruhige Stimme vernehme, weiß ich, dass es von dem Unbekannten gekommen sein muss. Ich tue es ab und schenke dem Gespräch keine weitere Beachtung, während ich darauf warte, dass meine Kunden fertig gezahlt und ihre Sachen zusammengeräumt haben. Nachdem ich meine Kunden an der Tür verabschiedet habe, kehre ich zu dem nun freien Tisch zurück. Als ich Ukyo und seinen Freund passiere, schnappe ich einen weiteren Fetzen ihrer leisen Unterhaltung auf, mit dem ich nicht sehr viel anfangen kann. Irgendetwas mit »Gefahr«. »Gefahr«, hm? Während ich den Tisch abräume, beginne ich nachzudenken. Ich habe keine Ahnung, von was ihr Gespräch wohl handeln mag. Allerdings ist es nie ein gutes Zeichen, wenn dieses Wort fällt. Ganz gleich, in welchem Zusammenhang es geschieht. Am allerwenigsten, wenn es Ukyo ist, der es in den Mund nimmt. Ich gehe um den Tisch herum, um ihn abzuwischen. Von dieser Position aus habe ich ein gutes Sichtfeld auf die beiden Männer, und ich nutze diesen Vorteil, um einen vorsichtigen Blick auf Ukyo zu erhaschen. Sein kleines Glas Brandy ist kaum angerührt. In einer lockeren Haltung sitzt er vornübergebeugt auf der Bank und wirkt doch verkrampft, so wie er die zu Fäusten geballten Hände auf der Tischplatte hält. Aus der Entfernung kann ich noch weniger hören als zuvor, aber ich glaube, anhand seiner Lippen ablesen zu können, dass er etwas mit »Schuld« sagt. Sein Kopf geht daraufhin nach oben und er besieht sein Gegenüber fest entschlossen, wobei ich zugleich glaube, eine stille Verzweiflung an ihm zu erkennen. Was er dieses Mal zu ihm sagt, kann ich wirklich nicht bestimmen, aber es bewirkt, dass der Unbekannte seinen Kopf in meine Richtung dreht. Ich weiche ihm aus, als sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde begegnen, und beeile mich, meine Arbeit zu einem Abschluss zu bringen. Die letzten Wortfetzen, die ich noch aufschnappe, lauten irgendetwas mit »meine Pflicht« und »ihr helfen«. Meine Sinne sind auf Ukyo fixiert, dennoch gelingt es mir nicht, Näheres zu verstehen. Der Lärm von der anderen Seite des Cafés hat zugenommen und die lauten Stimmen der Mädchen, die ich als Ikkis Fanclub vermute, machen mir dieses Unterfangen schlichtweg unmöglich. Ich weiß nicht einmal zu sagen, ob sie in irgendeinem Zusammenhang zueinander stehen. Mir fehlt der Mittelteil und auch Ukyos Stimme geht soweit in dem Gemenge unter, dass ich ihre Tonlage nicht näher definieren kann. „Ukyo-san, wie schön, dich mal wieder zu sehen. Lang ist’s her“, höre ich Ikki in der Nähe sagen, was mich aufsehen lässt. Ich erkenne ihn am Tisch nebenan, wie er zwischen Ukyo und dessen Freund steht. Von meiner Position aus habe ich lediglich einen Blick auf seinen Rücken, doch dafür kann ich die Reaktionen Ukyos und dessen Begleiter bestens beobachten. „Ah, Ikki! Lange nicht gesehen“, erwidert Ukyo die Begrüßung und zeigt um ein Weiteres sein freundliches Lächeln. „Ich wollte schon früher herüberkommen und kurz Hallo sagen, aber du siehst ja, was heute los ist.“ Ikkis Worte werden von einem lächelnden Unterton begleitet. Es lässt mich unwillkürlich mitlächeln. „Ist nicht schlimm, ist doch gut fürs Geschäft? Ich wollte auch nur kurz vorbeischauen.“ Zu gern hätte ich ihrem Gespräch länger zugehört, doch schon wieder bemerke ich den undurchlässigen Blick von Ukyos Begleitung auf mir. Ich habe keine Lust, mich dieser Musterung länger auszusetzen, also räume ich alles Geschirr zusammen und trete missmutig gestimmt den Rückzug an.   Dieser Kerl kann es einfach nicht lassen! Wann immer ich meinen Blick in Ukyos Richtung hebe, kann ich davon ausgehen, der Aufmerksamkeit des Fremden zu begegnen. So allmählich geht mir das wirklich auf die Nerven. Was will dieser Typ von mir? Wenn er ein Problem hat, soll er es sagen oder über Ukyo ausrichten lassen, wenn er selbst zu feige dazu ist. Wenn der es nicht bald unterlässt, mich so anzustarren, werde ich zu ihm hinübergehen und ein Machtwörtchen sprechen. Mir egal, was die anderen Kunden vielleicht darüber denken mögen. Zumindest scheint Ukyo endlich darauf aufmerksam geworden zu sein. Ich habe beobachtet, wie er eingehend auf ihn eingesprochen hat, wobei sein Blick peinlich berührt zu mir herübergewandert ist. – Ja, richtig so! Mach ihn ruhig zur Sau. Was gafft der mich auch so dämlich an? „Möchtest du nicht eine Pause einlegen?“, werde ich von Ikki aus meiner Rage geholt. Im Stillen verfluche ich seine Stimme, die eine so immense Wirkung auf mich hat. Ihr ruhiger Klang reicht aus, um den brodelnden Frust in mir zum Abklingen zu bringen. „Jetzt schon?“, will ich wissen und sehe prüfend zu ihm auf. „Warum nicht? Es ist gerade günstig.“ Schweigend folge ich seinem Blick. Derweil sind auch Waka und Kento aus dem hinteren Bereich nach vorn getreten, um meinen Mitbewohner und ihren vermissten Freund angemessen zu begrüßen. Die drei befinden sich inmitten eines Gespräches, das sehr ausgelassen auf mich wirkt. Ukyos Begleitung hält den Kopf gesenkt, wie er es auch in meiner Gegenwart immer getan hat, und scheint bestrebt, so unscheinbar wie möglich zu wirken. Er hält sich aus den Gesprächen heraus, was Waka und Kento mit Außerachtlassung zollen. „Willst du die Gelegenheit nicht nutzen? Es muss anstrengend sein, die ganze Zeit der Aufmerksamkeit der Kundschaft ausgesetzt zu sein, ohne sich kurzzeitig zurückziehen zu können“, spricht Ikki ruhig an meiner Seite. Fragend sehe ich zu ihm auf. Bilde ich mir das nur ein, oder sollte das eine direkte Anspielung gewesen sein? Kann es sein, dass Ikki die Musterungen von Ukyos Freund bemerkt hat? Unauffällig waren sie ja nun nicht gerade gewesen. Sollte ich ihn fragen? „Und was ist mit dir?“, weiche ich stattdessen aus, nachdem ich mich gegen diese Überlegung entschieden habe. „Hättest du eine Pause nicht dringender nötig als ich? Du hattest ganz schön viel zu tun“, erkläre ich. „Ich bin okay“, versichert er. Kaum dass er das gesagt hat, findet eine Veränderung auf seinem Gesicht statt. Ich beobachte, wie es von einem ernsten Ausdruck in einen nachdenklichen wechselt und sich anschließend aufhellt, als habe er eine Erleuchtung erfahren. Sein wacher Blick trifft direkt auf mich, als er sich ein Stück weit zu mir herüberlehnt. „Hm? Was denn, machst du dir etwa Sorgen um mich?“, besieht er mich mit einem Lächeln, das mir unverblümt vermittelt, dass dieser Gedanke Gefallen in ihm auslöst. Ah, verdammt! Panisch senke ich den Kopf – zu spät. Ich bin seinen Augen begegnet. Dieser kurze Moment hat ausgereicht, um mir die Hitze in die Wangen zu jagen und mein Herz in rege Aufregung zu versetzen. Mist, nicht aufgepasst! Die ganze Zeit über bin ich vorsichtig gewesen, habe wenn, dann nur aus sicherer Distanz zu ihm gesehen, und jetzt … Naja, jetzt habe ich zumindest die Gewissheit, dass ich echt am Arsch bin. „I-ich …“, beginne ich zu stammeln. Eisern fechte ich gegen die Magie an, die von Ikkis Augen auf mich wirkt und an die Vorherrschaft über meine Gefühle appelliert. Es fällt mir schwer, klar zu denken. „Ich möchte nur, dass es fair abläuft“, ringe ich aus mir hervor. Ich höre Ikkis leises Lachen. Keine Ahnung, was ihn gerade so amüsiert, aber es stimmt mich wütend. „Ist schon okay“, sagt er, woraus noch ein Rest Erheiterung klingt. „Du kannst ruhig gehen. Sawa wird gewiss bald hier sein. Ich gehe in die Pause, sobald sie ihre Schicht angetreten ist.“ „Auf eine Zigarettenlänge“, mühe ich hervor und wende mich schon ab. Ikkis freundliches „Schöne Pause“ blende ich, so gut ich kann, aus. Jetzt gerade erscheint es mir doch als keine so schlechte Idee mehr, eine Weile Abstand zu gewinnen.   Meiner Schürze entledigt und gegen meinen Mantel ersetzt, stehe ich draußen neben dem Personaleingang und gebe mich meiner Zigarette hin. Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. Ein wenig fühle ich mich wie an meinem ersten Tag. Verdammt. Mir wäre es wirklich lieber gewesen, hätte ich nie erfahren, dass ich Ikkis Augen tatsächlich unterliege. Das wird mein Verhältnis zu ihm nur noch mehr verkomplizieren. Es gefällt mir nicht, aber ich muss in seiner Gegenwart wirklich höllisch aufpassen. Ein direkter Blick von ihm und ich muss darum bangen, falschen Gefühlen zu unterliegen. Das möchte ich ihm nicht antun, und mir auch nicht. Mist, wie mache ich das nur? Hm, wie stark diese Magie wohl ist? Könnte sie mich tatsächlich dazu bewegen, ihm Hals über Kopf zu verfallen? Wie weit würde sie mich bringen? Würde ich ihn anstandslos alles mit mir machen lassen und schätze ich ihn so ein, dass er das hemmungslos ausnutzen würde? Streng schüttle ich den Kopf. Stopp! Auf gar keinen Fall werde ich das zulassen! Natürlich bin ich neugierig und ich kann nicht verleugnen, dass sich mein Herzschlag bei diesen Gedanken beschleunigt hat. Aber ich meine es ernst! Mein Interesse an ihm ist aufrichtiger und neutraler Natur. Ich will nicht, dass er diese Gewalt über mich hat und alles zerstört, was mir heilig ist. Auf gar keinen Fall! Schwer seufze ich. Ach, was soll’s. Es macht ja doch keinen Sinn, sich schon wieder verrückt zu machen. Ein Desaster mehr oder weniger, darauf kommt es so langsam auch nicht mehr an. Sehen wir, wie es ist: Ich bin am Arsch, so richtig. Ob so oder so. Scheiß drauf. Schon seltsam. Wann immer ich heute an Ikki denke, deprimiert es mich. Allmählich ist das so richtig frustrierend. So hatte ich mir das nie vorgestellt. Ich will an andere Dinge denken. Ukyo. Wer ist nur dieser seltsame Typ, der bei ihm ist? Woher kennen sie sich und worüber haben sie sich nur unterhalten? Ich will nicht kapieren, warum er mich die ganze Zeit so seltsam angestarrt hat. Und Ukyo … Moment! Kann es sein …? Kann es vielleicht sein, dass sie über mich gesprochen haben? Ich schüttle den Kopf. Nein, das kann eigentlich nicht sein. Aber warum sonst sollte der Typ mir immerzu diese prüfenden Blicke zugeworfen haben, während Ukyo mit ihm gesprochen hat? Was hat er ihm erzählt und was hat dieser Kerl bitteschön mit mir zu schaffen? Was interessiert ihn meine Person? Ich kapiere es einfach nicht, echt nicht! »Gefahr«, »Schuld«, »Hilfe«. – In Gedanken spule ich mir diese Begriffe erneut auf. Sie sind allesamt von Ukyo gefallen. Diese Konstellation gefällt mir nicht; am wenigsten, wenn ich dabei eine Rolle spielen soll. Ich will gar nicht wissen, was das zu bedeuten hat. Und doch … glaube ich, dass ich das besser sollte. „Hey …“ Ich tauche aus meinen Gedanken auf. Fragend wende ich den Kopf, um neben mich zu blicken, von wo aus ich die junge Kinderstimme vernommen habe. Rechts von mir steht ein kleines Mädchen. Sie könnte im Teenager-Alter sein, so sicher bin ich mir nicht. Ich schätze sie auf die elf, zwölf Jahre, könnte aber auch jünger sein. Wer weiß das schon noch so genau bei der heutigen Jugend? Auf jeden Fall ist sie mir unbekannt und ihr Aufzug … erscheint mir ein wenig fragwürdig für ein kleines Mädchen. Sie trägt ein knielanges, dunkelgraues Kleid mit kreuzverziertem Spitzensaum. Der Rock ist um die Hüften bauschig. Hinter ihrem Rücken lugt etwas hervor, das wie durchsichtige Kunstflügel aussieht. Ziemlich albern. Sie sind mit silbernen Glitzer versehen. Muss wohl von einem Kostüm stammen. Über die Brust trägt sie eine kurze, spitz zulaufende schwarze Weste. Sie reicht ihr nicht einmal bis zum Bauch. Dazu eine schwarz-weiße Ringelstrumpfhose, vermute ich, und hohe Schnürstiefel in schwarz mit gelben Bändern. Ebenfalls schwarz-weiß sind ihre fingerlosen Armstulpen, die knapp bis zu den Ellenbeugen reichen. Ich frage mich, ob ihr Haar wohl echt ist. Sie trägt es mit je einer großen, gelben Zierschleife zu zwei voluminösen Seitenzöpfen gebunden, was mich zu der Annahme bringt, dass es offen wohl etwas über schulterlang sein dürfte. Aber was ist mit der Farbe? Schneeweiß mit einem Deut von Rosa in den Spitzen? Im Ernst jetzt? „Ähm, bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht stören“, spricht sie vorsichtig zu mir hinauf, wobei ihre großen Kinderaugen stetig zwischen mir und dem Boden wechseln. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie wirklich mich meint. Allerdings muss sie das wohl, da ich die Einzige bin, die hier bei ihr steht. … Wobei mir gerade auffällt: Wo kommt sie eigentlich her? Ich habe sie gar nicht bemerkt. Ist sie an mir vorbeigeschlichen, als ich in Gedanken war? Aus einem der Fenster wird sie kaum geklettert sein und hinter ihr befindet sich die Sackgasse, die diesen Seitengang abschließt. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, frage ich sie und drücke meine Zigarette in dem Aschenbecher aus, um mich ihr ganz zuwenden zu können. „Ich wollte nur sehen, wie es dir geht“, sagt sie. Sie spricht wirklich so leise, dass ich sie kaum richtig verstehen kann. „Ich bin froh, dich endlich gefunden zu haben. Ich hatte Angst, ich würde dich nie finden. Dir geht’s doch gut, oder?“ Ich verstehe nicht, wovon sie redet. „Entschuldige, was meinst du?“ Zaghaft sieht sie zu mir hoch. Die Kleine hat ein wirklich sehr niedliches Gesicht, aber im Moment habe ich das Gefühl, als würde sie etwas ernsthaft bekümmern. Ihre eisblauen Augen wirken traurig auf mich. „Bruder hatte recht“, wispert sie vor sich hin. „Ist das auch meine Schuld? Meine … es tut mir so leid.“ „Hör mal, ich verstehe dich kaum“, versuche ich ihr zu erklären. Kurzerhand drehe ich mich ihr zu und gehe vor ihr in die Hocke, um einigermaßen auf selber Augenhöhe zu ihr zu sein. „Entschuldige, kannst du bitte noch einmal wiederholen, was du zuletzt gesagt hast?“ „Weißt du, es ist meine Schuld. Es tut mir wirklich sehr leid“, sagt sie, was mir wirr erscheint. „Bruder war wirklich böse mit mir. Er hat mit mir geschimpft. Aber er hat recht, es ist meine Schuld und es tut mir schrecklich leid! Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich habe es doch nur gut gemeint, aber ich wusste doch nicht, dass das passieren würde …“ „Hey, schön langsam, Kleine“, falle ich ihr ins Wort. Ihr Monolog ist schon irritierend genug, aber dass sie jetzt auch noch so aufgelöst ist, überfordert mich fast. Ich will vermeiden, dass sie mir jeden Moment in Tränen ausbricht. „Also, das tut mir leid für dich, dass dein Bruder mit dir geschimpft hat. Aber Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen, weißt du? Wie heißt du eigentlich?“ „Ich verspreche, ich werde diesen Fehler nie wieder machen“, beschwört sie, woraufhin ihre Augen den typischen Trotz eines kleinen Kindes annehmen. „Ich weiß, es hilft dir nicht … oder ihr … oder euch … aber ich werde einen Weg finden! Mein großer Bruder hilft dir auch, das hat er mir versprochen, und er wird bestimmt gut auf dich aufpassen.“ „Ich … verstehe noch immer nicht, sorry“, beginne ich zu verzweifeln. Spreche ich vermutlich gerade mit einer Verrückten? Ohne es böse zu meinen. Sämtlicher Trotz schwindet aus dem Gesicht des Mädchens und macht einer erneuten Sorgewelle Platz. „Ich weiß“, spricht sie wieder so leise, dass ich Angst habe, sie könnte jeden Moment vor mir zerspringen wie eine zarte Puppe aus Porzellan. „Du verstehst nicht, was ich meine … und das tut mir leid. Aber, hey …? Sei nicht traurig, ja? Ich verspreche, auch nicht traurig zu sein und ich werde dir helfen, ja? Warte bitte nur noch ein bisschen.“ „Warten? Auf was soll ich denn warten?“, will ich von ihr wissen. Die Sache steigt mir allmählich zu Kopf. „Hör mal, ich verstehe noch immer nichts. Mit was willst du mir helfen und warum –“ „Shizana?“, werde ich in meinem Frageschwall unterbrochen, was mich erschrocken zusammenfahren lässt. Hastig drehe ich meinen Kopf und erkenne Sawa, die gerade vor dem Café eingetroffen ist. „Sag mal, was machst du da? Und mit wem redest du?“ „Ah, Sawa“, begrüße ich sie wenig geschickt und erhebe mich, um mich ihr zuwenden zu können. „Gutes Timing, vielleicht kannst du mir helfen. Ich glaube, dieses Mädchen hier braucht Hilfe, aber ich weiß nicht recht, was sie von mir will.“ „Mädchen? Welches Mädchen?“ Ihre Frage bringt mich ganz aus dem Konzept. „Na“, will ich erklären und drehe mich herum, aber muss erkennen, dass das kleine Mädchen, mit dem ich eben noch gesprochen hatte, plötzlich nicht mehr da ist. „Na?“, hakt Sawa nach, wobei sie an meine Seite tritt. „Welches Mädchen denn nun? Ich sehe keines.“ „Ich … irgendwie auch nicht.“ Sie besieht mich mit einem zweifelnden Blick. „Du, sag mal … ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber … kann es vielleicht sein, dass du mit dir selbst geredet hast?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Weißt du, das wäre auch nicht schlimm. Jeder redet hin und wieder mit sich selbst. Zumindest tu ich das manchmal. Da ist wirklich nichts dabei, denke ich.“ „Ja, ich ja auch“, entgegne ich teilnahmslos. Ich höre Sawa durchaus zu, aber die Tatsache, dass ich allem Anschein nach gerade einem Geist begegnet bin oder aber am Rande des Wahnsinns stehe, lässt mich doch etwas im Zweifel zurück. „Ich kann das normalerweise sogar ganz gut, aber ich schwöre dir, Sawa, da war bis eben noch ein kleines Mädchen gewesen.“ „Hm“, macht sie und scheint abzuwägen, ob sie mir glauben soll oder nicht. „Du, ich weiß es nicht. Ich habe jedenfalls keines gesehen und jetzt ist es auch weg. Wollen wir nicht vielleicht reingehen?“ Geistesabwesend nicke ich. Bin ich jetzt gänzlich bescheuert? Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Das Mädchen war zu real, um sie mir nur eingebildet zu haben. Aber kleine Kinder lösen sich doch nicht einfach in Luft auf, oder etwa doch? Kapitel 11: Hanna ----------------- Mit Sawa im Gespann gestaltet sich die Arbeit gleich sehr viel angenehmer. Es tut gut, jemanden zu haben, mit dem ich hin und wieder reden kann, wenn gerade nichts zu tun ist. Sawa ist ein wirklich sehr aufgewecktes Mädchen mit einem freundlichen Gemüt. Ihre ausgelassen-lockere Art ist ansteckend, weswegen ich gar keine Gelegenheit habe, ein weiteres Mal in ein Tief zu rutschen. Selbst die Momente, in denen Ikki bei uns steht und etwas zu mir sagt, nehme ich gar nicht mehr als so dramatisch wahr. Ich fühle mich wohl, rundum, und das ist wohl einzig Sawa zu verdanken. Ukyo hat das Café verlassen. Er war schon nicht mehr dagewesen, als ich aus meiner kurzen Pause zurückgekehrt bin. Seinen Freund hat er mitgenommen. Es betrübt mich, dass er gegangen ist, ohne Bescheid zu sagen. Die paar Minuten hätte er auch noch auf mich warten können, sodass ich ihn hätte verabschieden können. Es stimmt mich traurig, dass er allem Anschein nach nicht einmal eine Nachricht für mich hinterlassen hat. Ja, doch, ich bin ziemlich enttäuscht davon und kann es nicht einmal leugnen. Mit Sawas Hilfe lenke ich mich, so gut ich kann, von all den Dingen ab, die mich im Moment schwer belasten: meinem Defizit gegenüber Ikki und Kento, dem seltsamen Gespräch zwischen Ukyo und dem Fremden und auch von dem seltsamen Mädchen, das mir einfach nicht aus dem Kopf will. Wegen ihr stand ich dumm vor Sawa da. Ich glaube, wäre sie nicht so eine nachsichtige Natur, wäre das ganze Szenario nur umso peinlicher für mich geworden. Schlimm genug, dass sie nun von mir denken muss, ich würde irgendwelchen Hirngespinsten nachjagen. Und das, obwohl ich mich so schon genug von der Gruppe abhebe. Noch mehr Macken brauche ich wirklich nicht, um unter ihnen aufzufallen. Mann, wieso muss mir das nur alles passieren? „Du siehst ganz schön oft zu ihm“, werde ich von Sawa aus meinen ziellosen Gedanken geholt, gerade als sie hinter mir aus der Küche zurückgekehrt ist. Fragend sehe ich sie an. „Hm? Was meinst du?“ „Na, Ikki-san.“ „Was ist mit ihm?“ „Fällt dir das selbst nicht mehr auf?“, will sie wissen. Ihre Augenbrauen verziehen sich in Skepsis. „Du siehst immer wieder zu ihm rüber. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?“ „Was? Nein, eigentlich nicht.“ Ich stehe vollkommen neben der Spur. Dabei ist es weniger das, was sie angesprochen hat, als vielmehr die Art, wie sie es tut. Irgendetwas erscheint mir daran eigenartig. „Was ist mit dir?“, frage ich sie. „Du scheinst ja auch dauernd zu ihm zu sehen, wenn dir auffällt, dass ich das tue.“ „Was? Nein! Ich schaue zu dir, Dummkopf. Da bleibt mir ja zwangsweise keine andere Wahl, als auch zu ihm sehen zu müssen.“ Holla? Was ist denn nun auf einmal los? Wo ist die Sawa, die ich bis eben noch glaubte zu kennen? Wieso habe ich das Gefühl, als schwinge Abneigung aus ihren Worten mit? „Hast du irgendwie Streit mit ihm?“, möchte ich wissen. Sie verfällt in ein kurzes Schweigen. Ihre Aufmerksamkeit liegt auf unserem Kollegen, der gerade die Bestellungen zweier Mädchen aufnimmt. „Nicht direkt“, sagt sie vorsichtig. Aber sie ist nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen, das kann ich ihren Worten entnehmen. Schweigend folge ich ihrem Blick. Eine Zeit lang beobachte ich Ikki bei seinem Tun, wobei ich meine grauen Zellen bemühe. Wenn ich so darüber nachdenke, hätte es mir gleich auffallen müssen. Ikki war oft bei uns gewesen, wenn auch nie für lang, da die Kundschaft nach wie vor viel von ihm abverlangt. Aber wann immer unsere Gruppe kurz beisammen war, war Sawa auffallend ruhig neben mir gewesen. Ich erinnere mich nicht, dass sie groß zu ihm gesprochen hätte. Auf Fragen hatte sie nur knapp geantwortet und die meiste Zeit mir das Reden überlassen. Wahrscheinlich war ich so geblendet von meiner eigenen guten Laune gewesen, dass mir gar nicht aufgefallen ist, wie anders ihr Verhalten gegenüber Ikki im Vergleich zu Toma war. Von ausgelassener Plauderlaune keine Spur. Ich krame in meiner Erinnerung. In der Serie war Sawa immer misstrauisch gegenüber Ikki gewesen. Sofern man das so nennen kann. Und im Spiel … im Spiel war es ähnlich, oder? Aber sie hatte nie böses Blut gegen ihn gehegt. Nicht dass ich wüsste zumindest. Sie hat nur immer versucht, die Heroine vor einer falschen Entscheidung zu bewahren, damit sie nicht verletzt wird. Aber müsste das nicht längst in der Vergangenheit liegen? Vorsichtig sehe ich zu Sawa. Ich versuche, etwas aus ihrem Gesicht abzulesen, doch keine Chance. Ihre Miene ist unbewegt und gleichermaßen undurchlässig. Gerade, als wollte sie nicht, dass ich etwas aus ihr lese. Und dann, als sie bemerkt, dass ich ihren Zustand verdächtige, lenkt sie auf ein anderes Thema um und lässt mir mit ihrem fröhlichen Geplauder keine Gelegenheit, irgendwelche Fragen zu stellen.   Um achtzehn Uhr verkündet Waka uns und den Kunden die »Happy Hour«, die die nächsten drei Stunden andauern soll. Ich erfahre, dass es eine Kombination aus dem, was wir in Deutschland als »Doppeldecker« kennen, und einem Extraservice mit spielerischer Kundeninteraktion ist. Die Kunden erhalten zu jedem Drink, den sie bestellen, einen zweiten für gerade einmal achtzig Yen mehr. Zudem dürfen sie Maid und Butler zu kleinen Spielen herausfordern, bei denen sie, sofern sie gewinnen, ein Zufallslos bekommen können, das sie bei ihrem nächsten Besuch einlösen können. – Das also meinte Waka mit seiner Aussage, dass die Kunden heute am Freitag »eine Extrawurst gebraten bekommen«. Meine anfängliche Skepsis schwenkt bald in Spaß um. Ich kenne nicht viele der Spiele, die hier in Japan üblich zu sein scheinen, weswegen ich die ersten schnell verliere. Doch ich bin ein guter Lerner und habe bald einige Kniffe heraus, um das Café vor einem Freitagsbankrott zu bewahren. Zu meinem Glück ist Sawa geübter als ich und Ikki dürfte es, meines Wissens nach, generell nicht möglich sein, in einem Spiel zu verlieren. Ich bin mir sicher, dass er nur deswegen hin und wieder eine Niederlage hinnimmt, um die Damen und Herren nicht gänzlich zu verärgern und an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Wie dem auch sei, ich muss zugeben, dass es mich erheitert. Da die Küche in dieser Zeit weniger in Anspruch genommen wird, sieht man auch Kento öfter vorne. Er hält sich aus den meisten Spielen heraus, lässt es sich aber nicht nehmen, vereinzelte Herausforderungen im Go oder Sudoku anzunehmen. Ich werde sogar Zeuge einer spannenden Partie gegen Ikki, die über mehrere Runden geht. Jede Einzelne dauert zwar nicht sehr lange, dafür sind ihre aufbauschenden Wortgefechte umso unterhaltsamer. Fast fühle ich mich nicht mehr wie auf Arbeit, sondern wie in einer großen Runde, in der eine ausgelassene Zeit in der Gemeinschaft im Vordergrund steht. Doch diese schöne Zeit endet nahezu abrupt, als Waka pünktlich eine viertel Stunde vor planmäßiger Schließung im Café auftaucht. Er sagt nichts und hält sich im Hintergrund, doch sein wacher Blick streift jeden einzelnen Kunden. Ich weiß nicht, was und wieso, aber mir scheint, als würden die Kunden irgendetwas aus seinen Augen ablesen, denn sie machen sich eilig aufbruchbereit, kaum dass sie ihnen begegnet sind. Bis halb zehn sind nahezu alle Gäste verschwunden und jene, die sich noch tapfer an Ikki festklammern, werden von eben diesem höflich und mit Dank für ihren heutigen Besuch verabschiedet. „Männer, gut gekämpft“, belobigt Waka unsere heutige Arbeit. Naja, sofern man es als ein Lob abtun mag. „Räumt das Schlachtfeld, im Anschluss habe ich eine Ankündigung zu machen. Konferenz in einer viertel Stunde. Das ist alles, rühren!“ Zweifelnd lege ich den Kopf schief. Waka ist wirklich ein komischer Kauz. Seine pseudomilitärische Art ist in der Tat äußerst gewöhnungsbedürftig. Ich frage mich, ob es mir je gelingen wird, so richtig warm mit ihr zu werden. „Du hast den Boss gehört“, höre ich Sawa neben mir sagen, bevor sie in mein Sichtfeld tritt. „Na dann, an die Arbeit! Je mehr wir uns ranhalten, desto eher sind wir fertig und können nach Hause gehen“, lächelt sie mir hochmotiviert entgegen. Ich nicke, wobei ich ihr Lächeln erwidere. Eigentlich ist Waka gar nicht so übel. Welchen Beweis braucht es mehr, dass er gar kein so schlechter Kerl sein kann, wenn er so tolle Leute hat, die ihn unterstützen? Sawa und ich machen uns also daran, die Tische aufzuräumen und zu wischen, während Ikki die Arbeiten am Tresen vornimmt. Zusammen sind wir ein gutes Team und die Aufräumarbeiten gehen schnell voran. Ich hätte es anfangs nicht gedacht, aber uns reichen tatsächlich die vorgeschriebenen fünfzehn Minuten, um alles Nötige erledigt zu haben, bis auf das Hochstellen der Stühle und das Bodenwischen. Exakt nach Ablauf unserer Frist taucht Waka auch schon wieder im Cafébereich auf. „Männer, die Waffen nieder! Es ist Zeit für unsere abschließende Konferenz. Setzen!“ Mir entweicht ein leises Seufzen. Nein, daran werde ich mich definitiv nicht gewöhnen. Aber ich nehme mir vor, Wakas Eigenart einfach hinzunehmen und zu akzeptieren. Er meint es ja schließlich nicht böse, rede ich mir ein. Als ich mich herumdrehe und auf die Bänke zubewegen will, gefriere ich inmitten der Bewegung. Ich erkenne Waka beim Tresen, und hinter ihm … „Eh? Hanna-chan?“ Ja, das hätte wohl ich sein können, aber nein: Das war Sawa, die gerade noch bei mir gestanden hat und soeben nach vorn geprescht ist. Direkt auf das mir nicht unbekannte Mädchen zu, das mit etwas Abstand neben Waka zum Stehen gekommen ist. „Was machst du denn hier? Solltest du nicht zu Hause sein und das Bett hüten? Du Dummkopf, sei doch nicht so übermütig! Und das so spät im Dunkeln. Bist du ganz allein hergekommen? Geht es dir auch gut?“ Wie versteinert beobachte ich, wie Sawa dem Mädchen um den Hals fällt. Sie, Hanna, erwidert die Umarmung etwas zögerlich, aber mit einem weichen Lächeln. Es ist dasselbe Lächeln, welches ich schon so oft gesehen habe. Auf Bildern, bewegt wie unbewegt. Ich bin wie paralysiert, jedoch in meinem Inneren ist alles in Bewegung. Mein Kopf läuft Amok, in meiner Brust wummert es und meinen Körper überkommen allerlei Temperaturen von heiß bis kalt. Emotionen von gegensätzlicher Natur werfen sich fröhlich Bälle hin und her, sodass ich nicht recht weiß, ob ich euphorisch oder panisch bin beim Anblick unseres unerwarteten Besuches. »Hanna«, sie ist die Heroine. Wie ich es mir gedacht habe. Wie ich es gehofft habe. Sie sieht genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Fast schockiert es mich. Sie ist genau so, wie ich sie erwartet habe. Und genau aus diesem Grund frage ich mich plötzlich, ob es wirklich so eine gute Idee war, ihr begegnen zu wollen. „Erdrück sie nicht. Ich bin froh, dass sie wieder geradeaus laufen kann, ohne dass ich sie stützen muss.“ Durch meinen Körper geht ein Ruck. Ich erkenne Toma, der gerade aus dem hinteren Bereich nach vorn gekommen ist und sich direkt zu den beiden Freundinnen gesellt. Lässig liegen seine Hände in den Taschen seiner schwarzen Jacke und er besieht die Mädchen mit einem offenen Lächeln. „Toma-san? Du hier? Warte, hast du sie etwa herbegleitet?“ „Sehe ich etwa so aus, als würde ich sie im Dunkeln allein durch die Gegend ziehen lassen? Besonders in ihrem Zustand?“ „Mir geht es gut …“ „Das reicht!“, braust Waka dazwischen und bringt ihre Unterredung zu einem raschen Ende. „Ruhe, alle miteinander! Das ist kein Kaffee-und-Kuchen-Treff, was wir hier veranstalten. Ich erwarte mir Disziplin von jedem Mann! Jedem Einzelnen! Setzen, sofort!“ Unter leisem Getuschel, aber immerhin gehorsam, setzt sich das Dreiergespann in Bewegung. Auch ich ermahne mich im Stillen, nicht länger wie festgewachsen dazustehen, und gehe hinüber zu den Bänken. Neben mir findet Hanna ihren Platz, ihr gegenüber Sawa und Toma wiederum daneben auf je einem der Stühle. Ikki hat sich nicht zu uns gesetzt, er bevorzugt offensichtlich die andere Seite des Cafés und sitzt dort mit vornehm überschlagenen Beinen auf der rotgepolsterten Bank. „Chef“, tritt Kento aus der Küche und wendet sich direkt an Waka. In seiner Hand hält er einen Teller, auf dem ich ein paar der Windbeutel erkenne, die ich den Tag über den Kunden aktiv angeboten hatte. „Was mache ich mit denen? Wenn ich sie über Nacht in die Kühlung lege, ist die Sahne morgen eingefallen. Wir sollten sie den Kunden dann nicht mehr unter dem vollen Preis anbieten“, erklärt er. „Zeig her.“ Die beiden stellen sich zusammen und ich beobachte interessiert, wie Waka die Gebäckstücke genauestens inspiziert. Er scheint zu überlegen, wobei er sich eine Hand an das Kinn legt. „Verteile sie. Morgen will ich sie nicht mehr im Altbacksortiment haben. Macht damit, was ihr wollt.“ Ich zucke mit den Ohren. Hoffnung flimmert in mir auf. Heißt das, wir verteilen sie unter den Anwesenden zum Verzehr? Oh, ich will, ich will! Mag haben, mag haben! Windbeutel! Windbeutel von Kento, yay! Kento sieht erst auf den Teller, dann in die Runde. „Also gut, wir haben hier drei Windbeutel übrig. Wie teilen wir sie auf?“ Erwartungsvoll sehe ich in die Runde, aber irgendwie scheint keiner etwas sagen zu wollen. Ich möchte unbedingt einen der Windbeutel probieren, traue mich aber nicht, als Erste wie ein hungriger Aasgeier aufzuspringen und den Egoisten heraushängen zu lassen. „Naja … wir sind sechs Leute“, sage ich daher und wage einen vorsichtigen Anfang. „Gut, mit Waka-san eigentlich sieben. Wir könnten die Windbeutel in der Mitte teilen, sodass jeder etwas abbekommt?“ „Für mich nicht“, sagt Toma gleich, wobei er lächelnd abwinkt. „Ich bin nur zu Besuch und auch nur zur Begleitung hier. Ich habe gar kein Anrecht darauf, euch eure Belohnung für die harte Arbeit wegzunehmen.“ „Eh? Seit wann bist du denn so selbstlos?“, neckt Sawa ihn von der Seite. „Bin ich das nicht immer?“ „Für mich bitte auch nicht“, spricht Hanna leise neben mir und zeigt ein vorsichtiges Lächeln. „Wie Toma schon gesagt hat, sind wir nur zu Besuch. Außerdem haben wir schon gegessen.“ „Ihr wisst schon, dass es wenig sinnvoll ist, wenn alle nur ablehnen?“, gibt Sawa zu bedenken, wobei sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnt und betont die Arme verschränkt. Ich wittere meine Chance. „Also ich würde sehr gern einen probieren“, melde ich mich zu Wort und strecke die Hand nach oben. „Für mich bitte keinen“, verkündet Ikki von der anderen Seite. Die beiden Freunde werfen sich einen Blick zu, was Ikki ein Schmunzeln auf die Lippen lockt. „Nicht, dass ich Kens Fähigkeiten in der Küche nicht vertrauen würde. Du weißt, ich liebe deine handgemachten Schinkenröschen sehr. Aber geben wir doch lieber den anderen den Vorzug.“ Kentos Augen verschmälern sich. „Wenn du meinen Fähigkeiten so sehr vertraust, wozu dann dieser Kommentar?“ Dann richtet er sich erneut an uns: „Ich lehne ebenfalls ab. Süßes zum späten Abend spricht entgegen meiner Gewohnheit. Macht also bitte unter euch aus, wer sie nimmt.“ „Dann gib doch Hanna einen“, schlägt Sawa vor. Breit lächelnd sieht sie zu der Freundin hinüber. „Besuch hin oder her, du arbeitest schließlich auch hier. Dir muss doch der Gaumen kitzeln nach etwas so Leckerem, nach all dem Verzicht der letzten Tage.“ „Aber ich habe nichts dafür getan“, entgegnet sie zögerlich. „Ihr habt heute alle hart gearbeitet, nicht? Du solltest einen nehmen, Sawa-chan. Du magst doch Gebäcke mit Sahne, richtig?“ Ich bemerke, wie sich Sawas Wangen rötlich verfärben. Sie scheint widersprechen zu wollen, findet aber wohl keine Argumente, weswegen sie schließlich die Schultern hebt und mit einem leisen „Na gut, überredet“ nachgibt. „Na schön, dann gib mir eben den Letzten, damit das hier ein Ende hat“, erklärt sich Toma bereit. „Natürlich nur, wenn Waka-san nicht möchte“, richtet er sich rückversichernd an unseren Boss. „Kein Bedarf“, lehnt dieser ab. „Seht nur zu, dass es zu einem Ende kommt. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich würde gern irgendwann einmal nach Hause kommen.“ „Dann sage ich nicht Nein.“   Kurz darauf sind die übrigen Windbeutel unter mir, Sawa und Toma aufgeteilt und auch Kento hat seinen Platz gegenüber von Ikki eingenommen. Ich bin voller vorfreudiger Erwartung, das Gebäck zu probieren. Es ist ewig her, dass ich zuletzt einen richtigen Windbeutel genießen durfte. „Beginnen wir nun die Konferenz.“ Vorsichtig hebe ich den oberen Deckel von der Sahne, der mit Puderzucker bestreut ist. Mit der Kuchengabel probiere ich von der Füllung. Hm, nicht schlecht. Die Sahne ist sehr leicht, locker geschlagen, schmeckt aber ziemlich süß. Etwas zu süß für meinen Geschmack, aber ich erinnere mich, dass in Japan etwas mehr Süße wohl nicht so unbeliebt ist. Von den Kunden hatte sich auch niemand beschwert, also wird es nur mein persönliches Ermessen sein. Egal, es stört mich nicht sonderlich. „Zum Ersten: Wie ihr inzwischen mitbekommen habt, ist unsere Armee wieder vollständig. Hanna hat mir verkündet, dass sie rehabilitiert ist. Sie wird ab morgen wieder mit uns in die Schlacht ziehen.“ Ich wage nicht, zu Hanna hinüberzusehen. Reglos und ruhig sitzt sie neben mir, dass ich mir fast einbilden könnte, sie wäre gar nicht da. Leider sagt mir mein unruhiges Gefühl, dass dem nicht so ist. Egal, ich will nicht zu sehr darüber nachdenken. „Zum Zweiten: Es ist entschieden. Der 6. Dezember wird unter dem Kodex »Nikolaus und Knecht Ruprecht« stehen. Ihr werdet von eurer üblichen Dienstuniform absehen und stattdessen den Feind unter einer themengeführten Tarnung in die Irre führen. Spielt eure Rolle gut, täuscht ihn und haltet ihn somit unter Beschuss. Vergesst nicht: Der Kunde ist der Feind!“ Zweifelnd blicke ich zu meinem Boss auf. Es ist wirklich bedenklich, welche Ansichten er zu seiner Kundschaft vertritt. Erwartet er, dass wir sie mit der Rute verdreschen und schreiend aus dem Café verjagen? Was ist das bitte für ein Geschäftskonzept und wie um alles in der Welt schafft es Waka, dass sein Café trotzdessen läuft? Und das gar nicht einmal so schlecht, wie ich anmerken möchte. „Wir werden ihm unsere Kooperation vortäuschen. Es werden Naschereien auf den Tischen bereitstehen, an denen er sich laben kann. Maids reichen ihm als Nikolausvertreter die Hand, Butler schlagen sie als Knecht Ruprecht zurück. Ist das Konzept jedem klar? Verwirrt ihn, und dann überrennt ihn! Wir werden siegreich aus dieser Schlacht hervorgehen!“ Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Heißt das, die Maids spielen den freundlichen Nikolaus und die Butler den bösen Knecht Ruprecht? Ich kann mir schwerlich vorstellen, wie er das genau beabsichtigt. Vor allem das mit dem Zurückschlagen der Hand. – Yay, Kirschfüllung unter der Sahne! „Des Weiteren erhaltet ihr folgenden Auftrag: Angesichts der Tradition und um das Manöver perfekt zu gestalten, schieben wir den Stammkunden einen Extrastock in den Arsch. Also, Männer, backt Kuchen! Ich erwarte, dass ihr dem Feind Glauben macht, es handle sich um ein Friedensangebot. Aber da hat er sich geschnitten! Niemals geben wir unsere Stellung auf! Niemals weichen wir vor dem Feind zurück! Niemals!“ Huh, Kuchen? Hat er sich das auch wohlüberlegt? „Entschuldige bitte, Chef“, meldet sich Sawa zu Wort und hebt die Hand. „Heißt das, dass wir Kuchen für die Kunden backen sollen?“ „Für den Feind!“, korrigiert er. „So ist es.“ „Wären dann nicht kleine Küchlein angemessen? Alles andere wäre zu viel Aufwand und könnten die Kun… der Feind ohnehin nicht allein essen.“ „Das übergebe ich ganz in eure Hand“, erklärt er. „Die Beschaffung wie Herstellung dieser Waffe ist euer Kampf, den ihr allein ausfechten müsst. Aber seid gewiss, dass er uns zu unserem gemeinsamen Sieg verhelfen wird.“ „Dann schlage ich die Küchlein von IsyBake vor“, erklärt sie und sieht freudestrahlend in die Runde. „Die haben wirklich ganz tolle Backmischungen von Vanille über Schoko bis Stracciatella und hast-du-nicht-gesehen! Es gibt auch noch welche, die man füllen oder dekorieren kann und jedes Päckchen hat noch weitere Serviervorschläge dabei. Außerdem ist direkt eine Kuchenform enthalten und die Anwendung ist supereinfach. Sie kosten auch nicht sehr viel, der Aufwand ist minimal und das Ergebnis echt lecker. Mit denen kann man einfach nichts falschmachen!“ Oh, da kennst du mich aber schlecht. Ich habe seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gebacken. Jedenfalls nichts, wo ich zuvor noch etwas hätte selbst anrühren müssen. „Kuchen für die Kunden, hm?“, gibt Toma laut zu bedenken. „Da werden wir aber einiges aufwarten müssen, um Shin zu überzeugen“, wendet er sich grinsend an Hanna. „Für den Feind!“ „Wie lautet der Plan, Ken?“ „Hm.“ Ich beobachte, wie Kento in einer nachdenklichen Geste die Arme vor der Brust verschränkt. „Du hast gehört, was der Boss gesagt hat. Das ist eine Schlacht, die jeder für sich selbst zu schlagen hat. Allerdings sehe ich in diesem Zusammenhang Anlass zu bedenken, ob es nicht sinnvoller wäre, in diesem Fall eine Ausnahme zu machen und für diese Aufgabe in Teams zu arbeiten.“ Ikki zeigt ein erfreutes Lächeln. „Nicht wahr?“ „Ikki-san, Kento-san. Denkt ihr, dass ihr allein zurechtkommen werdet?“, wirft Toma ihnen neckend zu. „Hegst du etwa Zweifel in meine Backfertigkeiten?“, fängt Ikki seine Bemerkung mit einem amüsierten Schmunzeln auf. „Kannst du denn backen?“ Oh, darauf bin ich jetzt aber gespannt! „Wie wäre es, wenn du es für dich selbst herausfindest?“, gibt Ikki herausfordernd zurück. Langsam schlägt er das überschlagene Bein zurück und hebt den Zeigefinger empor, um Aufmerksamkeit zu erfordern. „Wie steht es darum: Ich schlage einen Wettbewerb vor. Wer die besseren Kuchen bäckt, gewinnt. Teams sind gestattet, Schiedsrichter sind die Kunden. Das Verliererteam trägt die entstandenen Kosten des Gewinnerteams und übernimmt für eine Woche die Bodenreinigung. Es gewinnt, wessen Kuchen besser bei der Kundschaft angekommen sind. Was sagst du?“ Toma verfällt in ein andächtiges Schweigen. Ich kann seinem ernsten Gesicht ablesen, dass er mit Zweifeln ringt. „Und die Teamaufstellung?“, will er wissen. „Shin und ich gegen Kento-san und dich?“ „So sieht es aus“, lächelt Ikki zurück. Er scheint zuversichtlich. „Und was ist mit den Mädchen?“ „Ich glaube, wir halten uns da besser raus“, sagt Sawa und schenkt Hanna und mir ein breites Grinsen. „Wenn die Jungs ihre Spiele spielen, müssen ja noch ein paar Leute vernünftig bleiben, nicht?“ Hanna bestätigt diese Aussage mit einem zaghaften Kopfnicken. Ich selbst halte mich gänzlich aus dieser Angelegenheit heraus. Um ehrlich zu sein, amüsiert mich das kleine Schauspiel, welches die Jungs uns bieten, und ich wäre sehr gespannt auf ihren Wettstreit. Auch wenn ich jetzt schon glaube zu wissen, wie er ausgehen wird. Meine Aufmerksamkeit bleibt an Hanna haften. Nur für diesen kurzen Moment, in welchem ich bemerke, wie sie einen zögerlichen Blick zu Ikki herüberwirft. Ich folge ihm und erkenne Ikkis vorsichtiges Lächeln, das ihr zu gelten scheint. Irgendeine Botschaft scheint darin zu liegen, und als ich wieder zu Hanna sehe, hat sie ihren Blick auch schon wieder gesenkt. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber ich habe das unweigerliche Gefühl, dass hier etwas in der Luft liegt. Und fühle mich unbehaglich dadurch. „Also gut“, höre ich wieder Toma sagen, was mich zu ihm sehen lässt. „Einverstanden. Aber denke nicht, dass wir gegen euch verlieren werden. Sowohl Shin als auch ich sind sehr gut in der Küche“, grinst er siegessicher. „Gebt euer Bestes“, besieht Ikki seine Worte mit einem Lächeln. Es bewirkt, dass Toma um ein Weiteres die Mundwinkel geradezieht. Ich schüttle den Kopf, während ich mich dem Rest meines leckeren Windbeutels zuwende. Oh, Toma. Lass dich doch nicht so sehr von ihm einschüchtern. Es ist wirklich nicht fair, aber ich werde mich hüten, etwas zu sagen.   Nach Beendigung unseres Teammeetings habe ich mich bereiterklärt, das Wischen des Bodens im Café zu übernehmen. Sawa hat verkündet, dass sie früh aufbrechen will, um Mine noch über die Pläne für den 6. Dezember zu informieren. Auch Toma und Hanna wollen so langsam los, damit sie sich noch ein wenig ausruhen und Toma sich mit Shin beraten kann, sofern dieser noch wach ist. Ikki und Kento dürften derweil schon in der Umkleide sein, aber so genau weiß ich das nicht. Lange brauche ich nicht für diese Aufgabe. Als ich endlich fertig bin und das Wasser wegbringen will, bemerke ich Hanna und Ikki nahe der Tür zum Personalbereich. Beide scheinen in ein Gespräch verwickelt zu sein, was mich ärgert, denn ich muss wohl oder übel an ihnen vorbei. „Und dir geht es wirklich besser?“, höre ich Ikki zu ihr sagen, was mir einen kleinen Stich versetzt. „Bist du sicher, dass du morgen wieder auf Arbeit kommen kannst?“ „Ja. Das Fieber ist verschwunden, also …“ „Überanstreng dich nicht. Wenn du noch Zeit brauchst, nimm sie dir ruhig. Der Boss wird sicherlich Nachsicht haben.“ Ich seufze innerlich. Dieses Süßholzgeraspel will ich wirklich nicht mitanhören. So schnell ich kann versuche ich, an den beiden vorbeizukommen. „Wie wirst du nach Hause kommen?“ „Toma begleitet mich.“ „Hm, verstehe.“ „Ikkyu, ich bin fertig. Können wir dann los?“ Auf meinem Weg zum Pausenraum kommen mir Kento und Toma entgegen. Alle sind aufbruchbereit, bis auf mir. „Sekunde noch“, erwidert Ikki. Ich sehe es nicht, höre aber, dass er sich darauf noch einmal an Hanna wendet: „Also dann, ich muss los. Pass bitte gut auf dich auf.“ „Ja, du auch auf dich.“ „Können wir dann ebenfalls los? Ich muss unterwegs noch Shin anrufen.“ „Ähm, wäre es okay für dich, noch einen kleinen Moment zu warten? Es gibt da etwas, das ich noch erledigen möchte.“ „Hm? Mich stört’s nicht … Dann gehe ich derweil schon einmal mit raus und rufe ihn direkt an.“ „In Ordnung.“ Ich mache meiner Schwermut in einem langen Seufzer Luft, während ich das benutzte Wasser entsorge. Aus dem Flur rufen mir die Jungs noch einen schönen Feierabend zu, ehe ich höre, wie sie das Café im Geplauder verlassen. Mir ist wirklich nicht wohl. Alles, woran ich jetzt noch denken kann, ist, dass ich ebenfalls so schnell es geht nach Hause will. Ich will eine rauchen, mich verkriechen und mich selbst einen Idioten schimpfen. Es ärgert mich, dass ich so viele Dinge nicht bedacht und falsch kalkuliert habe. Jetzt ist Hanna endlich da und sie ist die, die ich gehofft hatte, aber ich kann mich nicht so darüber freuen, wie ich es gern getan hätte. Dabei kommt diese Gelegenheit nie wieder. Verdammt! Ich hätte es früher bedenken müssen. Wenn Hanna hier ist, bedeutet das, dass Ikki ihr Lover ist. Sie ist außerdem eine wichtige Person für Shin, Toma, Sawa und Ukyo. Und was bin ich dagegen? Ein Nichts. Nur ein Fremdling, der nicht einmal weiß, warum er hier ist und wozu. Neben Hanna bin ich bedeutungslos, überflüssig. Ich habe mich die ganze Zeit überschätzt und war drauf und dran, mir etwas einzureden. Das trübt das Bild schon sehr. Wie dumm von mir! Ich bin ja so naiv! „Entschuldige bitte, Shizana-san?“, höre ich eine zögerliche Stimme zu mir sagen, gerade als ich alles weggestellt habe und zu meinem Spind gehen will, um mich umzuziehen. In der Tür erkenne ich Hanna, die vorsichtig zu mir herübersieht und nicht sicher zu sein scheint, ob sie eintreten darf oder nicht. Oh nein, bitte nicht jetzt. Nicht, wenn ich gerade mit mir selbst zu kämpfen habe. Sie anzusehen, wie sie unschuldig und vollkommen ahnungslos zu meinen finsteren Gedanken dasteht, löst ein schweres Gefühl in meiner Brust aus. Aber ich bringe es nicht fertig, sie wegzuschicken und von mir zurückzuweisen. War es nicht das, was ich gewollt hatte? Ich bin ja so scheinheilig. Ich mahne mich, mich zusammenzureißen. Sie kann schließlich nichts dafür und wird kaum wissen können, was ihr Anblick in mir auslöst. Also halte ich mich an, sie freundlich zu empfangen. „Ist schon okay, du kannst ruhig reinkommen“, lade ich sie ein und schenke ihr ein tapferes Lächeln. „Wolltest du nicht mit Toma los?“ „Ich … wollte zuvor kurz mit dir reden“, spricht sie leise. Ich staune. Welchen Grund sollte sie haben, mit mir reden zu wollen und dafür später nach Hause zu können? Zumal Toma draußen auf sie wartet. „Hm, okay?“, bringe ich vorsichtig hervor. Schnell angle ich meine Sachen aus dem Spind hervor, lehne die Tür an und gehe hinüber zu den Stühlen, wo ich sie ablege. Offen wende ich mich Hanna zu: „Was gibt’s denn?“ Zögerlich, als könnte ich sie beißen, tritt sie an mich heran. „Toma hat mir erzählt, dass du für mich eingesprungen bist und meine Schichten übernommen hast“, erklärt sie leise. „Es tut mir leid, dass ich dir damit so viel Ärger bereitet habe. Und ich möchte mich bei dir bedanken. Vielen Dank, dass du mir ausgeholfen hast.“ Ich bin mit ihrer höflichen Geste überfordert. Für mich ist es ganz selbstverständlich, dass Kollegen einander aushelfen. Auf meiner Arbeit hätte sich auch niemand dafür bedankt. Davon abgesehen, habe ich bis vor Kurzem gar nicht gewusst, dass einige meiner Schichten nur ihren Ausfall gedeckt haben. Und trotzdem steht sie, die Heroine, jetzt vor mir und verneigt sich höflich, ohne dass ich weiß, warum eigentlich. „Das ist doch ganz selbstverständlich“, erkläre ich und überlege, wie ich sie dazu bewegen kann, keinen Hehl aus dieser Sache zu machen. „Du warst krank, richtig? Dafür kann doch keiner was. Das hätte jeden treffen können. Und ich bin mir sicher, jeder andere hier hätte genau das Gleiche getan, ganz gleich, wen es erwischt hätte. Wir sind schließlich Kollegen, richtig? Da ist das doch ganz normal. Kein Grund, sich zu entschuldigen und du musst dich dafür auch wirklich nicht bedanken.“ „Es ist nicht so selbstverständlich“, sagt sie, wobei sie sich wieder in eine aufrechte Haltung begibt. Sanftmütig lächelt sie zu mir herüber. „Es muss viel Stress für dich bedeutet haben. Shin hat mir erzählt, dass es dir auch nicht so gut ging.“ „Er übertreibt“, werfe ich zurück und stoße ein leises Schnauben aus. „Ich war an dem einen Tag etwas durch den Wind, das ist alles. Mir geht es bestens.“ „Geht es dir auch wirklich gut?“, will sie wissen. Ich erkenne, dass ihre Bemerkung meinem Halstuch gilt, welches sie bemerkt hat. „Nur ein wenig Halsschmerzen heute Morgen. Alles gut“, erkläre ich knapp und versuche, es fortzulächeln. „Wirklich?“ Gott, dieses Mädchen schafft mich. „Ja, wirklich“, versichere ich ihr. Schnell wechsle ich das Thema, um von mir abzulenken: „Und du? Du fühlst dich wirklich wieder besser?“ „Ja“, antwortet sie mit einem kleinen Lächeln. „Shin und Toma haben sich sehr um mich gekümmert. Ohne ihre Hilfe wäre ich vermutlich nicht so schnell zurück auf die Beine gekommen.“ „Das ist schön“, sage ich und versuche, es positiv klingen zu lassen. „Die beiden sind wirklich feine Kerle, nicht? Man kann über sie sagen, was man will, aber wenn man sie braucht, sind sie für einen da. Es ist schon toll, so gute Freunde zu haben, und ihr drei steht euch wirklich nahe, hm?“ „Ja.“ Sie besieht es mit einem Nicken. „Shin, Toma und ich, wir sind Freunde aus Kindertagen. Soweit ich mich zurückerinnern kann, sind sie immer an meiner Seite gewesen und waren für mich da. Sie sind mir sehr wichtig.“ „Beneidenswert“, sage ich und stoße ein leises Seufzen aus. „Na, dann solltest du dich umso mehr reinhängen und ab morgen wieder dein Bestes geben. Nicht, dass ihr Aufwand noch umsonst war, ne? Mach sie stolz!“ Sie zeigt ein breites Lächeln. „Ja.“ Es erwärmt mir das Herz. Ich weiß nicht, warum, aber es fällt mir leichter als gedacht, mit ihr zu reden. Sicher, da ist noch immer eine Restunsicherheit in mir, aber ich empfinde es als nicht so schlimm, wie ich erst befürchtet hatte. „Du scheinst selbst auch eine nette Person zu sein“, höre ich sie sagen, was mir einen kurzen Dämpfer versetzt. Hat sie mich gerade allen Ernstes »nett« genannt? The fuck? „Ich stelle es mir schwer vor, den langen Weg vom Festland bis nach Japan zurückzulegen und dabei alles zurückzulassen. Freunde, Familie … Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“ Ich schlucke hart. Ihre Worte versetzen mir einen Stich mitten durchs Herz. „Du hast noch nicht viele Freundschaften hier geschlossen, nicht wahr?“ „Ähm …“ Keine Ahnung? Ihr Gesicht nimmt einen zögerlichen Ausdruck an. „Also, ich habe mich gefragt … Mine-chan, Sawa-chan und ich, wir verabreden uns einmal im Monat zu einem Mädchenabend. Es wäre eine gute Gelegenheit, sich besser kennenzulernen und ich … ich würde sehr gern mehr mit dir reden und mehr über dich erfahren. Ich müsste die beiden zwar erst noch fragen, aber vielleicht … hättest du ja Lust, uns einmal dabei Gesellschaft zu leisten?“ Mir würde bei dieser Frage glatt die Kinnlade bis zum Fußboden herunterklappen, wenn ich nicht ich wäre. Physikalisch wie anatomisch ist das natürlich unmöglich, aber ich habe dennoch das Gefühl, dass ich gerade ziemlich blöd aus der Wäsche gucken muss. „Oder wäre das zu aufdringlich?“, druckst sie, wobei sie unsicher den Blick senkt. „Nein“, sage ich schnell mit einem Kopfschütteln. „Ich würde schon sehr gern kommen und ich freue mich wirklich wahnsinnig über die Einladung. Aber denkst du, das wäre auch für die anderen beiden okay?“ „Ich werde sie fragen“, verspricht sie und lächelt zuversichtlich. Wirklich überzeugt bin ich nicht. Bei Sawa habe ich weniger Bedenken, dass sie etwas dagegen haben könnte. Aber Mine? Ich hatte bisher noch nicht die Gelegenheit, sie kennenzulernen, und kann daher nicht einschätzen, wie sie auf diesen Vorschlag reagieren würde. Was, wenn sie das gar nicht möchte? „Wir wollten das vermutlich nächsten Samstag nach der Arbeit machen. Meinst du, du hättest da Zeit?“  „Ich denke schon.“ Hoffe ich zumindest. Notfalls nehme ich sie mir einfach. Vorausgesetzt, ich bin noch so lange hier und es passiert nichts Schlimmes bis dahin, was ich nicht verhindern kann. Kann ich in dieser Welt überhaupt so weit im Voraus planen? „Das würde mich freuen“, sagt sie mit einem so aufrichtig strahlenden Gesichtsausdruck, dass ich es ihr sogar glaube. „Es wird bestimmt lustig. Dann können wir dich alle ein wenig besser kennenlernen und du uns.“ „Ja“, nicke ich und unterstreiche es mit einem vorsichtigen Lächeln. „Mich auch.“ „Also dann, ich muss los. Toma wartet auf mich.“ „Mhm“, bestätige ich mit einem weiteren Kopfnicken. „Ist okay, lass ihn nicht so lange warten. Vielen Dank für das Gespräch und kommt gut nach Hause. Bis morgen dann.“ „Ja, bis morgen. Gute Nacht.“ „Gute Nacht. … Ach so, Hanna?“ Sie bleibt stehen, kurz bevor sie die Tür erreicht hat. Fragend sieht sie zu mir zurück. „Ja?“ Ich zögere. Ich bin nicht sicher, ob ich diese Frage wirklich stellen soll. Es belastet mich, nicht zu wissen, wo genau ich stehe und damit immerzu zu riskieren, jemanden zu belügen oder falsch zu behandeln. Es gibt Dinge, zu denen muss ich einfach Klarheit haben, wenn ich weiterhin aufrichtig mit den Leuten umgehen will, die mich umgeben. Auch wenn das bedeutet, dass mir die eine oder andere Wahrheit wehtun wird. Ich senke meinen Blick. „Darf ich dich vielleicht noch etwas fragen?“ „Natürlich. Was ist denn?“ „Also … ich hoffe, dass ich dir damit nicht zu nahe trete oder etwas anspreche, das mich nichts angeht …“ Wieder zögere ich. Es fällt mir wirklich ungemein schwer, diese Sache anzusprechen. Aber ich muss, sonst wird es mir keine Ruhe mehr lassen, wann immer ich Hanna sehe oder nur an sie denke. Ich atme tief durch. Entschlossen recke ich das Kinn, um sie anzusehen. „Vorhin, im Café … Ich habe bemerkt, wie Ikki und du einander angesehen habt. Seid ihr …?“ Ich bekomme den Satz nicht fertig formuliert. Eine Reihe von Emotionen spielen sich auf Hannas Gesicht ab. Ich kann in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Und was ich sehe, behagt mir überhaupt nicht. Meine Frage hat Verwunderung in ihr ausgelöst, welcher fast im selben Moment ein schmerzlicher Ausdruck gefolgt ist. Ihr muss das bewusst sein oder sie hält meinem Blick nur nicht lange stand. Was immer von beiden es ist, ich beobachte, wie sie ihre Augen von meinen senkt. Das allein wäre schon Antwort genug gewesen, aber ich will sie nicht wahrhaben. Die Sekunden ziehen sich wie Minuten. Ich befürchte fast, dass sie mir nicht antworten wird. Aber ich will es von ihr hören, ich muss! Leise, und nur unter Zögern, beginnt sie zu sprechen: „Ikki-san und ich …“ Ein Stich zieht durch meine Brust. Nur diese drei Wörter reichen aus, um bereits alles zu wissen. »Ikki-san und ich«? Was zum …? „Ikki-san und ich … wir waren zusammen.“ »Waren«? Vergangenheitsform? Bitte, sag mir nicht …? „Aber das liegt schon eine Weile zurück.“ Ich kann nicht glauben, was sie mir da erzählt. Es muss ein Fake sein, richtig? Irgendeine Ausrede für etwas, das ich nicht wissen soll. Sie hebt ihren Kopf. Ihr Lächeln, welches sie mir zeigt, erscheint mir so falsch und verlogen, dass ich es ihr aus dem Gesicht schlagen will. „Wir sind gute Freunde.“ … Sie meint es ernst.   Waka ist der Letzte, der noch neben mir im Café ist. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet habe, mache ich mich geradewegs auf den Heimweg. Es ist das erste Mal, dass ich allein nach Hause gehe, was sich irgendwie seltsam anfühlt. Aber ich bin froh, den Weg damals mit Luka abgegangen zu sein, sodass ich jetzt weiß, wie ich laufen muss. Es ist ausgesprochen kühl an diesem Abend und ich merke, dass es Winter ist. In Deutschland würden jetzt vermutlich schon weit niedrigere Grade herrschen, dagegen hält es sich in Japan in Grenzen. Ich bin dennoch froh, meinen Mantel zu haben. Es wird spürbar kühl an der Hand, während ich mir meine wohlverdiente Feierabendzigarette genehmige. Ich bin fix und alle, körperlich wie geistig. Dieses ständige Auf und Ab an Emotionen macht mir wirklich zu schaffen. Ich bin so am Ende mit allem, was ich zuletzt gehört und erlebt habe, dass ich gar nicht mehr weiß, was ich denken und wie ich fühlen soll. Hanna. Unser kurzes Gespräch will mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich kann nicht glauben, was sie mir erzählt hat. Sie und Ikki haben sich getrennt? Das muss ein schlechter Scherz sein, richtig? Diese kleine Tatsache überschattet alles, was ich heute Positives erlebt habe: meine Zeit allein mit Kento, Ikkis Fürsorge, mein Lachen mit Sawa, der wirklich äußerst leckere Windbeutel von Kento, Hannas Einladung. Nichts von alledem kann mich jetzt noch aus diesem Loch herausholen, in das ich vor weniger als zwanzig Minuten gestürzt bin. Selbst der Fakt, dass ich heute Morgen beinahe hopsgegangen wäre, erscheint mir eine Lappalie gegen diese Information. Warum nur, Hanna? Du warst dazu bestimmt, in dieser Welt glücklich mit ihm zu werden. Du warst dazu bestimmt, mit ihm zusammenzuziehen und nach und nach ihm gegenüber aufzutauen. Du hast so lange gebraucht, um keine Zweifel mehr gegenüber seiner Gefühle für dich zu empfinden, und jetzt das? „Warum?“ Ich verstehe es einfach nicht. „Wieso nur, Hanna, wieso? Bist du nicht die Protagonistin hier? Wieso … seid ihr nicht glücklich in dieser Welt?“ Ich fühle mich scheußlich. Zu denken, wie die beiden sich jetzt fühlen müssen, bereitet mir Herzschmerz. Und insbesondere Ikki … Er hat Hanna so sehr geliebt, nicht wahr? Zu denken, was diese Trennung für ihn bedeuten muss … es ist kaum zu ertragen. Ich weiß nicht, wie ich ihm jetzt noch gegenübertreten soll, ohne sein Unglück die ganze Zeit zu betrauern und ihn zu bemitleiden. Das würde er nicht wollen, richtig? Aber wie könnte ich anders? „Toll, jetzt haben wir hier zwei gebrochene Männerherzen, die mich nicht kaltlassen“, wispere ich leise zu mir selbst. Ukyo und Ikki sind mir gleichermaßen wichtig, wenn es mir auch noch vermessen erscheint, das so zu benennen. Aber es stimmt, beide sind mir sehr liebgewonnene Charaktere und zumindest Ukyo habe ich auch als Person bereits fest in mein Herz geschlossen. Ich will keinen von ihnen unglücklich sehen, das würde ich nicht ertragen. „Ich ahne Schlimmes auf mich zukommen“, seufze ich geschlagen und ergebe mich dem Gedanken, ein weiteres Mal die aufopfernde Mutter Theresa zu spielen, wie ich es immer getan habe und wohl nie anders können werde. Ich muss irgendeinen Tick haben, dass ich nie die Finger von den Problemen anderer lassen kann und immerzu helfen will, wenn ich das Gefühl habe, jemand könnte von meinem Wissen und meiner Erfahrung profitieren. Vorausgesetzt, derjenige will es auch und lässt es zu. Nur leider lernen die meisten nichts aus dem, was ich ihnen zu vermitteln versuche. Und ich selbst? Ich lerne auch nicht aus diesen belastenden Zeiten, die oft alles andere als rosig für mich waren. Wenn das nicht unter Dummheit fällt? Na super, große Klasse.   Das Apartment ist ruhig, als ich es betrete. Wie überraschend. Scheint, als wäre Ukyo wieder einmal nicht zu Hause. Wie so meist. Ohne weitere Umschweife durchquere ich die Wohnung. Vielleicht ist es ganz gut, dass er nicht da ist. Eigentlich hätte ich gern noch mit ihm über seinen Besuch im Café gesprochen, um in Erfahrung zu bringen, was er und der Fremde beredet haben. Ich erinnere mich dumpf, dass einige Begriffe gefallen sind, die mir Unbehagen bereiten. Aber nach meinem Gespräch mit Hanna sehe ich mich nicht mehr als sonderlich aufnahmefähig an. Es ist schon richtig, dass er gerade nicht da ist und ich so die Möglichkeit habe, mich einfach stillschweigend in mein Zimmer zu verziehen und zu verkrümeln. Es ist noch jung am Abend, für meine Verhältnisse gesprochen, trotzdem zieht es mich bereits ins Bett. Ich bin emotional ausgelaugt und will diesen Umstand nutzen, bevor mein Kopf wieder groß auf Touren kommen kann. Schlafen und somit den unnützen Gedanken aus dem Weg gehen, das erscheint mir eine gute Idee. Im Bett greife ich nach meinem Handy und gehe noch einmal die Kontaktliste durch. Mein Finger stoppt bei Ikkis Namen. Kurz streiche ich über die Schriftzeichen, ehe ich weiterscrolle. Bei Ukyos Eintrag stoppe ich als Nächstes und überlege, ob ich ihn anrufen soll. Aber wozu? Er wird seine Gründe haben, warum er nicht hier ist und ich will ihm nicht das Gefühl geben, ihn eingrenzen zu wollen. Leise seufzend scrolle ich weiter, bis ich mich schließlich aus der Liste ausklinke. Ich stelle mir noch schnell einen Wecker für morgen, dann setze ich das Handy in den Standby-Modus und lege es zur Seite. Wie ich es mir gedacht habe, meine Erinnerung war richtig: Hannas Eintrag fehlt. Wie es aussieht, habe ich ihre Nummer nicht. Daraus geschlussfolgert, kann mein anderes Ich ihr nicht sehr nahe gestanden haben, oder irre ich mich? Egal, das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Müde drehe ich mich herum, ziehe die Decke über mich und hoffe, trotz der einschlagenden Neuigkeiten einen ruhigen Schlaf finden zu können. Kapitel 12: Backe, backe Kuchen ------------------------------- Der Weckton meines Handyweckers holt mich aus dem Schlaf. Ich überlege, ihn einfach zu ignorieren und weiterzuschlafen, aber irgendwo in meinem Unterbewusstsein weiß ich, dass das keine gute Idee wäre. Heute habe ich noch einmal Schicht im »Meido no Hitsuji« und ehe ich anfange, gibt es noch eine Menge, was ich erledigen muss. Murrend drehe ich mich also auf die Seite, angle blind nach dem Smartphone und schalte die Weckmusik ab. Kurz bleibe ich noch liegen, bis ich genug Lebensgeister beisammen habe, um mich schlussendlich unter meiner warmen Bettdecke hervorzuquälen. Genussvoll strecke ich mich. Es war die erste erholsame Nacht seit Langem. Keine unangenehmen Träume, kein unwillentliches Aufwachen. Jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern würde. Es war ruhig und friedvoll, was auch mein Körper begrüßt. Sieben Uhr, moah. Viel zu früh, wenn ich bedenke, wann heute meine Schicht beginnt. Ich hätte getrost noch etwas länger schlafen können, wenn Waka nicht mit seiner genialen Idee aufgewartet wäre. Kuchen backen, hm? Das kann ich nur heute vor der Arbeit machen, alles andere wäre zu knapp und hektisch. Nachdem ich mir etwas übergezogen und das Fenster angeklappt habe, verlasse ich mein Zimmer. Erst einmal einen Cappuccino, um auch geistig in die Gänge zu kommen. Und dann schön langsam, Schritt für Schritt. Schlaftrunken wie ich noch bin, hätte ich auf meinem Weg zur Küche fast nicht bemerkt, dass ich nicht allein bin. Ich weiß nicht, wann er zurückgekehrt ist, aber im Wohnzimmer erkenne ich auf der Couch Ukyo sitzen. Es hätte mir beinah einen Schrecken eingejagt. Er sitzt einfach nur da, ist ganz still und gibt keinen Mucks von sich. Anhand seiner vornübergebeugten Haltung kann ich erkennen, dass er mit irgendetwas beschäftigt sein muss, aber mit was, das kann ich von hier nicht ausmachen. Ich zögere, ihn anzusprechen. Was, wenn ich ihn damit bei etwas Wichtigem störe, aus der Arbeit hole oder gar erschrecke? Er wirkt ziemlich konzentriert auf mich. Bemüht leise gehe ich also zu ihm, schleiche regelrecht, um unbemerkt hinter die Couch zu gelangen. Mir scheint, dass meine Bemühungen eigentlich unnötig sind, denn Ukyo regt sich kein einziges Mal. Er sitzt weiterhin nur da, das Kinn auf die verschränkten Finger gesenkt, und hält den Blick auf etwas gerichtet, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Hinter der Couch werfe ich einen vorsichtigen Blick über seine Schulter. Auf dem Tisch erkenne ich sein Equipment: die Kamera, Reinigungsutensilien, ein kleines, schlicht-schwarzes Fotomäppchen und eine einzelne Fotografie, die meine Aufmerksamkeit erregt. Ich beuge mich etwas näher nach vorn, um das Motiv besser erkennen zu können. Es lockt mir ein kleines Lächeln auf die Lippen. „Ein schönes Foto“, bemerke ich, was Ukyo erschrocken auffahren lässt. Obwohl ich nur leise gesprochen habe, muss meine Stimme ihn wohl aus seinen Gedanken gerissen haben. Irgendwie süß. „Ganz ruhig, ich bin’s nur“, sage ich beschwichtigend, kann mir ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. „Guten Morgen.“ „Hast du mich erschreckt!“, stößt er ein schweres Seufzen aus, eine Hand an seine Brust gepresst. Im nächsten Moment spielt er sein freundliches Lächeln auf, welches ich allmählich an ihm gewohnt bin. „Guten Morgen. Du bist schon wach?“ „Mhm, zwangsweise“, antworte ich knapp, woraufhin ich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Fotografie lenke. „Hanna, hm?“ Seine Haltung entspannt sich, gleichzeitig zeigt sie seine Unsicherheit. Er erwidert ein leises „Mh“ zur Bestätigung, bevor er die Hand nach dem Bild ausstreckt, als wolle er nicht, dass ich es sehe. „Darf ich?“ Ich warte, bis er mir die Erlaubnis erteilt, wenn dies auch nur zögerlich geschieht. Erst dann strecke ich mich ein Stück weiter über die Couchlehne, um den kleinen Farbausdruck an mich zu nehmen. Respektvoll halte ich es zwischen den Fingern und betrachte es ausgiebig von allen Seiten. Das Foto erscheint mir schon etwas älter. Es weist einige schmale Knitter an der geschundenen Rückseite auf. Die farbliche Frontseite scheint mir unbeschädigt, nur die Ecken sind schon ein wenig abgegriffen. Es zeigt eine Hanna, die vor einem bunten Blumenbeet steht und schüchtern in die Kamera lächelt. Ein wirklich sehr schönes Motiv voller Farbe und Freiheitsgefühl. „Wie alt ist dieses Foto?“, will ich wissen, ohne mich von Hannas lächelndem Gesicht lösen zu können. „Es ist im Juli aufgenommen worden“, spricht er so leise, dass der Kummer, der diese Worte begleitet, nur umso deutlicher wird. Ich verstehe, was das bedeutet. Das Foto ist zu einer Zeit entstanden, in der die beiden noch glücklich zusammen gewesen waren. Zu einer Zeit, in der sie sich noch an ihn erinnern konnte, bevor all das Unglück passierte, das sie ab dem 1. August stets und von Welt zu Welt verfolgt hatte. Eine Zeit, in der diese Hanna noch seine Hanna gewesen war. „Ein halbes Jahr schon, hm?“, flüstere ich leise, andächtig. Das ist eine ganz schön lange Zeit. Kaum zu glauben. „Wo wart ihr da?“ „Wir hatten einen Ausflug gemacht, einfach mal raus aus der Stadt. Unterwegs haben wir diese Blumenwiese gesehen und sie war so begeistert davon gewesen … und die anderen.“ »Und die anderen«, hm? Ach wirklich? „Weiß sie von diesem Foto?“ Ukyo wird verdächtig ruhig. Erst nach einer längeren Pause flüstert er ein vorsichtiges: „Ich glaube nicht, dass sie sich noch daran erinnert.“ Hm. Vermutlich ist die Hanna auf diesem Foto jene, die Ukyo ursprünglich in seiner Welt verloren hat. Es ist wirklich sehr unwahrscheinlich, dass die Hanna in dieser Welt sich an diese Aufnahme erinnern würde. Wie könnte sie auch? Sie hat diesen Ausflug ja nie mit ihm erlebt. „Sie ist dir sehr wichtig.“ Hastig dreht sich Ukyo nach mir um und besieht mich mit einem erschrockenen Blick. Etwa diese Reaktion habe ich auch von ihm erwartet. Sie bestätigt meine Vermutung. „Diese Erinnerung“, sage ich, wobei ich abmildernd zu ihm herunterlächle. „So, wie der Zustand des Fotos ist, trägst du es immer bei dir und siehst es dir oft an. Habe ich recht?“ Er sagt nichts darauf. Sein Schweigen ist nur eine weitere Bestätigung. Es ist unnötig, auf eine Antwort zu beharren. Ich kenne sie auch so. Meine Worte waren bewusst so gewählt, wie ich sie gesagt habe. Auch ohne mein Hintergrundwissen ist es kein Akt, die Wahrheit zu erkennen. „Sie war übrigens gestern da“, erzähle ich, was mir einen kleinen Stich versetzt. Damit er nicht bemerkt, was dieses Thema in mir auslöst, drehe ich mich herum und lehne mich lässig gegen das hellgraue Polster. „Ihr scheint es wieder besser zu gehen“, erkläre ich. „Sie wird ab heute wieder auf Arbeit sein.“ „Ach so? Das ist schön. Das freut mich sehr zu hören.“ Ich überlege. Wäre es sinnvoll, ihm auch von Hannas gescheiterter Beziehung zu Ikki zu erzählen? Ob er darüber wohl schon im Bilde ist? Sicher wird er wissen, dass die beiden in dieser Welt ein Paar waren. Aber dass sie sich getrennt haben? Es scheint schließlich schon eine Weile her zu sein, dass sie sich zu diesem Schritt entschieden haben, wenn ich mir Hannas Worte von gestern bedenke. Über die Schulter sehe ich prüfend zu Ukyo. Er hat das Gesicht von mir abgewandt, sodass ich nicht daraus lesen kann. Doch ich versuche, mir vorzustellen, wie es in ihm aussehen mag. Es muss hart für ihn sein, in dieser Welt neben seiner Geliebten zu leben, die ihn nicht erkennt. Es muss hart sein, so viele Erinnerungen an sie zu tragen, die er nicht mit ihr teilen kann. Ihr auf der einen Art nah sein zu können, und auf der anderen doch so unsagbar weit entfernt von ihr zu sein. Still frage ich mich, was wohl schwerer zu ertragen sein muss: Sie neben jemand anderem glücklich zu sehen, oder zu erfahren, dass dieses Glück nicht seine Bestimmung gefunden hat? So, wie ich Ukyo kenne und einschätze, dürfte es das Zweite sein. Aber würde er die Chance wohl nutzen, die sich ihm daraus ergibt? Ich stoße ein leises Seufzen aus. Wohl eher nicht. Ich beschließe, dass es das Beste ist, fürs Erste nichts zu sagen. Zumindest für solange, bis ich Näheres weiß, auf welchem Stand Ukyo hinsichtlich der beiden ist. Ich möchte nicht die Schuldtragende sein, dass es ihm schlechter geht, als es notwendig wäre. Früher oder später werde ich die Hints bemerken und sie auffangen, um dann für Ukyo da zu sein, wenn er einen Freund an seiner Seite benötigt. Was immer das dann auch bedeuten möge. „Magst du einen Kaffee haben?“, frage ich, wobei ich mich von der Couch wegstoße. „Wenn du willst, brühe ich uns etwas auf. Außerdem hoffe ich, dass du ein wenig Zeit hast. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“ „W-warte! Hey!“ Ich bin noch keine drei Schritte gegangen, als er mir hinterherruft. Irritiert bleibe ich stehen und drehe mich fragend nach Ukyo um. Dieser hat sich von seinem Platz erhoben, steht vor der Couch und scheint selbst über sich erschrocken, als sich unsere Blicke begegnen. „Würdest du … Gib sie mir bitte zurück“, stammelt er, wobei er ein vorsichtiges Lächeln zeigt. Seine Worte versetzen mir einen tiefen Stich. Ich weiß, dass er die Fotografie meint, welche ich noch immer in den Hände halte. Mein Kopf allerdings impliziert noch etwas ganz anderes in sie hinein. „Das würde ich nur zu gern“, flüstere ich leise, nur zu mir selbst. Ich atme einmal tief durch, bevor ich mir einen Ruck gebe und ruhigen Schrittes zu ihm zurückkehre. „Hier“, sage ich, wobei ich das Foto mit einem milden Lächeln an ihn zurückreiche. „Aber im Gegenzug versprichst du mir, mit mir zu frühstücken. Einverstanden?“   In der Schnelle habe ich uns ein paar Toaste zubereitet. Ich bin immer noch erstaunt, dass die Küche überwiegend Dinge enthält, die mich sehr an zu Hause erinnern. Ukyo hat mir allerdings versichert, dass das schon okay wäre, und tatsächlich verputzt er die noch warmen, gerösteten Brote, ohne zu mosern. Während ich an meinem Nougatcremebrot kaue, beobachte ich Ukyo, wie er die bereits zweite Scheibe mit flüssigem Honig bestreicht. Es ist ein Anblick, mit dem ich noch immer nicht richtig umzugehen weiß. Von zu Hause bin ich es nicht gewohnt, Gesellschaft beim Frühstück zu haben. Generell bin ich es nicht gewohnt, schon so früh am Morgen am Tisch zu sitzen und brav der angeblich wichtigsten Mahlzeit des Tages nachzukommen. Und nun erlebe ich diese Veränderung ausgerechnet mit jemandem, der bis vor wenigen Tagen noch eine fiktive Figur für mich gewesen war. Was für ein grotesker Gedanke. Niemand würde mir das glauben. Doch inzwischen weiß ich nur zu gut, dass es Realität ist. Wenn ich auch noch immer nicht weiß, wie das möglich ist. „Sag mal, weißt du zufällig, wo ich etwas von IsyBake herbekomme?“ „IsyBake?“, sieht Ukyo fragend zu mir auf. Ich nicke. „Ja. Sawa hat da was empfohlen.“ „Ah, für eure Kuchen, die ihr backen müsst?“ Erneut nicke ich. Während wir in der Küche gestanden und ich ein schnelles Frühstück zubereitet hatte, hatte ich Ukyo von dem gestrigen Tag berichtet. Ich erzählte ihm, wie mich Kento zur Arbeit abgeholt hatte und wie die Schicht mit Ikki verlaufen war. Meine Ausführungen waren sehr allgemein gehalten, so erwähnte ich zum Beispiel nichts von meiner Mentalität, die an diesem Tag stetig auf und ab gesprungen war. Auch hielt ich damit zurück, wie sich Sawa gegenüber Ikki verhalten und was ich zwischen ihm und Hanna beobachtet hatte. Nur am Rande erwähnte ich das kleine Mädchen, welches mir noch immer Rätsel aufgab, und ich verwarf den Gedanken, Ukyo nach seiner Meinung zu fragen. Möglich, dass er eine Idee hätte, was diese Begegnung zu bedeuten hatte, aber mir ist es fürs Erste lieber, dieses unheimliche Erlebnis in eine hinterste Ecke zu verdrängen. Zumindest solange, bis sich mir ein neuer Sinn daraus erschließen konnte. Ausschweifender berichtete ich von Wakas Idee für den Nikolaustag. Ich ließ es mir auch nicht nehmen, Ukyo mit dem kleinen Wettstreit zu erheitern, welchen die Jungs miteinander ausgehandelt hatten. Dass ich noch kurz mit Hanna gesprochen hatte, erwähnte ich hingegen wieder nur am Rande. „Sawa meint, da gäbe es gute Backmischungen. Und die Herstellung soll einfach sein“, kehre ich zu unserem Gespräch zurück. „Gut und schön, ich weiß nur nicht, wo ich so etwas herbekomme.“ „Ah, das ist kein Problem. Du bekommst diese Backmischungen in nahezu jedem Supermarkt. Sie sind wirklich superbeliebt, soweit ich es höre“, erklärt er mit einem Lächeln. „Wenn du magst, kann ich dich nachher beim Einkaufen begleiten und sie dir zeigen.“ „Das wäre wirklich super.“ Diese Idee löst tatsächlich Entzücken in mir aus. Einkaufen mit Ukyo … In meinem Bauch macht sich ein angenehmes Kribbeln breit. „Hast du denn so viel Zeit?“, will ich wissen. „Noch habe ich für den Vormittag nichts vor.“ „Sehr gut, dann kannst du mir ja gleich beim Backen helfen“, schmunzle ich. Heute muss mein Glückstag sein. Shoppen und backen mit Ukyo … Es würde das erste Mal sein, dass wir so viel Zeit miteinander verbringen und etwas zusammen unternehmen. Bisher hatten wir ja immer nur geredet, wenn er denn einmal zu Hause war. Aber dieses Mal würden wir einer gemeinsamen Aktivität nachgehen. Ich kann die Vorfreude auf diese Aussicht kaum zügeln. Um zu verschleiern, dass sich ein breites Grinsen meines Gesichts bemächtigen will, setze ich meine Tasse zum Trinken an. Das wird toll werden!   Keine halbe Stunde später haben wir unser Frühstück beendet und ich bin mit allem fertig, um mich vor die Tür trauen zu können. Der Blick in den Spiegel hat mich wieder daran erinnert, dass ich auf gar keinen Fall mein Halstuch vergessen darf. Meine Befürchtung hat sich bewahrheitet: blaue Flecken schimmern unverkennbar durch meine Haut und sind Zeuge meiner kleinen Auseinandersetzung mit Ukyos anderem Ich. Ich muss höllisch aufpassen, dass niemand sie zu sehen bekommt, sonst stecken sowohl Ukyo als auch ich in noch ungeahnte Schwierigkeiten. Ukyo führt mich zu einem Konsum, der zu meiner Überraschung nur zwanzig Minuten Fußmarsch von zu Hause entfernt liegt. Das richtige Regal mit dem Backzubehör ist schnell gefunden, sodass wir davorstehen und überlegen, was sich wohl am besten für meinen morgigen Feldzug eignen würde. IsyBake ist, wie ich schnell feststelle, ein großer Hersteller für Heimbäckerei. Neben Küchlein gibt es auch eine Auswahl an Cookies, Waffeln und sogar Broten, Croissants sowie anderen Neckereien. Ich staune nicht schlecht. Ein Blick auf die Verpackungsrückseite zeigt mir auch, dass Sawa nicht übertrieben hat. Die Herstellung ist in wenigen Schritten erklärt und sieht selbst für mich als Backmuffel sehr einfach aus. Auch sind die Backzeiten nicht sehr lang und Ukyo versichert mir, dass der Preis mit 160 Yen sehr günstig liegt. Besonders wenn man wohl bedenkt, wie viel Inhalt man damit erwirbt. „Hm, wie viel benötigen wir?“ Unschlüssig wiege ich den Kopf hin und her, während ich angestrengt überlege. Wir sind vier Maids und zwei Butler. Das Meido hat einen relativ guten Kundenzuspruch. Aber wie viele Stammkunden machen diese Zahl aus? Wenn jeder von uns fünf Kuchen bäckt, kämen wir auf eine Summe von dreißig. Würde das genügen? Vielleicht wäre es klug gewesen, sich zuvor abzusprechen, was genau wir benötigen und wer wie viele Kuchen übernimmt. Auf die Art kann ich weder kalkulieren noch planen. Mir bleibt nur, ins Blaue hineinzuraten. Ich seufze müde. Kurzerhand beschließe ich, dass fünf Kuchen reichen müssen. Vielleicht genügt das, wenn die anderen ähnlich wie ich gerechnet haben. Und wenn nicht, tja, dann ist das zumindest nicht meine Schuld. Es ist nicht mein Bier, wenn Waka nicht von Anfang an klare Anweisungen machen kann, was genau er von uns erwartet. Und dass der Rest von uns sich nicht abgesprochen hat … nun ja, daran habe ich vermutlich gleichermaßen ein Päckchen zu tragen wie der Rest, aber es ist zumindest nicht meine alleinige Schuld! „Meinst du, das reicht?“, höre ich Ukyo neben mir fragen. „Ich denke es“, erwidere ich. Meine Augen gehen skeptisch durch die Reihen, während ich aus den verschiedenen Sorten zu wählen versuche. „Oder vielmehr hoffe ich es.“ „Habt ihr euch nicht zuvor abgesprochen?“ Bing-bong! Mitten ins Schwarze getroffen. „Nope.“ „Im Ernst?!“ „Magst du lieber Schoko oder Erdbeere?“ „Äh … wie?“ Unentschlossen halte ich zwei der IsyBake-Päckchen in den Händen. Ich möchte unbedingt eines der Küchlein für uns privat haben, kann mich aber nicht zwischen den beiden Sorten entscheiden. Normalerweise würde ich ohne Frage Schoko bevorzugen, aber eine Fertigkuchenbackmischung mit Erbeergeschmack klingt für mich so absurd, dass ich es probieren muss. „Für uns zu Hause“, erkläre ich. „Hättest du etwas gegen Erdbeere einzuwenden? Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie das schmecken soll.“ „Also von mir aus.“ Skeptisch schaue ich neben mich. „Also du kannst ruhig sagen, wenn dir Schoko lieber wäre. Es muss hier nicht nur nach mir gehen.“ „Nein, nein, das ist schon okay“, lächelt er versichernd. „Wenn du Erdbeere gern probieren magst, gehe ich mit. Es wird schon nicht schaden.“ Hm, na wenn er meint. „Ich möchte es nur gesagt haben“, erwidere ich, womit das Thema für mich beendet ist. Ich entscheide mich für je zwei Exemplare aus den Geschmacksrichtungen Schoko, Schoko-Banane und Erdbeere und lege sie in den kleinen Einkaufskorb hinein. „Okay, was brauchen wir noch? Da fällt mir ein, wir könnten bei der Gelegenheit auch gleich schauen, was wir noch für zu Hause brauchen.“ Offen wende ich mich Ukyo zu. „Weißt du, mir ist nämlich aufgefallen, dass wir derzeit eigentlich nur Dinge im Haus haben, die ich gern mag. Aber gibt es überhaupt irgendetwas darunter, das für dich ist?“ „Ach, das ist schon in Ordnung“, winkt er ab. Ich will gerade etwas sagen, als er sich zu dem Korb an meiner Armbeuge lehnt und zwei der Verpackungen herausnimmt. „Hm, wenn ich das richtig sehe, brauchst du gar nicht mehr groß etwas dazukaufen. Schau, dieses hier enthält bereits Schokoraspeln und hier ist eine Art Soße oder Guss mit dabei. Und in diesem hast du bereits Zuckerstreusel enthalten. Also wenn, dann wären das freiwillige Extras, die du hinzuholst. Hattest du vor, sie speziell zu dekorieren oder so?“ „Ukyo, ich mein’s ernst“, mahne ich ihn. „Es muss doch etwas geben, das du magst? Ich möchte nicht, dass hier alles nur nach mir geht.“ „Aber wenn ich es doch sage“, beteuert er, womit er mir ein zaghaftes Lächeln schenkt. „Ich bin doch ohnehin kaum zu Hause und esse meist schon außerhalb. Du hingegen solltest immer gestärkt für die Arbeit sein. Und wenn du essen kannst, was du gewohnt bist und dir schmeckt, ist das doch etwas Gutes?“ Das ist nicht wirklich das, was ich von ihm hören wollte. „Außerdem mag ich die europäische Küche. Es gibt so vieles, was ich noch nicht versucht habe. Man sagt doch, dass man immer ein wenig weltoffen sein soll, oder nicht? Und durch dich lerne ich viel Neues kennen“, versucht er mich wohl zu überzeugen. Ich seufze gequält. „Ukyo …“ „Ganz ehrlich! Ich bin, was Essen anbelangt, nicht sehr zimperlich.“ Hm? Moment! War da nicht …? Prüfend sehe ich zu ihm auf. „Etwa wegen deiner vielen Auslandsreisen?“ „Oh, ich habe dir davon erzählt?“ Keine Ahnung, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Stimmt, da war ja etwas gewesen. Im Spiel hatte er sich einmal einem Fragebogen vom Fanclub unterziehen müssen. Unter dem Punkt »Lieblingsessen« hatte er dort ebenfalls angegeben, dass er nicht wählerisch sei. Argh, wie konnte ich das nur vergessen? Aber, eine Sekunde! Gab es da nicht noch etwas? Oh, verdammt! Was war es noch gleich? Was stand da noch? Ich fahre aus meinen Gedanken hoch, als mein Handy in meiner Handtasche losgeht. Für gewöhnlich mag ich meinen SMS-Klingelton wirklich sehr, aber hier im Konsum erscheint mir das fröhliche „Wowowowo~“ doch recht laut. Eilig hole ich es heraus und unterbreche die Melodie, indem ich mich in die jüngst empfangene Nachricht einklinke. „Wer ist es?“, möchte Ukyo wissen, woraufhin ich mit den Schultern zucke. „Keine Ahnung, die Nummer ist anonym.“ Seltsam. Wie kommt jemand dazu, mir mit einer unterdrückten Nummer eine Nachricht zu senden? Ich würde es ja noch verstehen, wenn sie unbekannt wäre, dann könnte ich es als Spam, Werbung oder ein Versehen abtun. Aber beim Absender steht unverkennbar »Anonymer Teilnehmer«. Irritiert lese ich den Inhalt der Nachricht: »Ich freue mich schon darauf, dich heute zu sehen und deinen Kuchen zu probieren.« Das ist alles. „Kapier‘ ich nicht“, sage ich leise zu mir selbst. „Ne, Ukyo. Sag mal, weißt du, wer das sein könnte?“, wende ich mich an ihn und zeige ihm die SMS. „Woher soll ich wissen, wem du alles deine Nummer gegeben hast?“, gibt er zweifelnd zurück. Tja, wenn ich das einmal selbst wüsste. In Gedanken gehe ich alle Möglichkeiten durch. Ich weiß, dass bis auf Hanna und Kento jeder vom »Meido no Hitsuji« meine Nummer hat. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass einer von ihnen mir anonym schreiben würde. Wozu auch? Des Weiteren hat Luka meine Nummer, aber beim letzten Mal hatte er seine ebenfalls nicht unterdrückt. Es muss auf jeden Fall jemand sein, der vom Event weiß. Dass wir dafür Kuchen backen, wissen wir selbst erst seit gestern. Dementsprechend ist der Raum an Verdächtigen doch ziemlich klein. Hm … Rika? Nein, ausgeschlossen. Vielleicht ein Stalker? Ich weise diesen Gedanken mit einem entschiedenen Kopfschütteln zurück. Entschlossen, mich davon nicht weiter beirren zu lassen, klicke ich die Nachricht weg, ohne sie zu löschen, und stecke das Handy zurück in meine Tasche. Mysteriös, äußerst mysteriös. Aber nichts weiter. „Wie dem auch sei“, stoße ich ein kapitulierendes Seufzen aus, um mich wieder unserem eigentlichen Vorhaben zuzuwenden. „Also schön, was brauchen wir noch?“   Kaum zu Hause angekommen, treffen Ukyo und ich alle Vorbereitungen für unsere anstehende Backstunde. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt mir, dass uns dafür nicht mehr allzu viel Zeit bleibt. Es sollte aber noch genügen, um die Küchlein vorzubereiten. Wenn sie erst einmal fertig gebacken sind, kann ich die Kleinigkeiten immer noch später vornehmen. Sie müssen ohnehin erst abkühlen, damit ich sie gescheit aus ihrer Form schneiden, dekorieren und fertig verpacken kann. Das können sie getrost tun, während ich auf Arbeit bin. So viel Restaufwand wird es dann nicht mehr werden. „Bist du sicher, dass das gut werden soll?“, frage ich skeptisch in Ukyos Richtung, während ich die Rückseite einer der Verpackungen studiere. Die Zubereitung ist laut Beschreibung wirklich sehr simpel: das erste Tütchen mit etwas Wasser anrühren, das zweite Tütchen hinzugeben und alles gut zu einer glatten Masse vermischen, die beigelegte Form einfetten, Masse eingeben, unter Vorgabe von Temperatur und Zeit backen, fertig. „Sie sollen jedenfalls sehr lecker sein“, höre ich Ukyo sagen. Gerade stellt er den Herdofen in der Temperatur ein, wie es auf der Verpackung vorgegeben ist. „Ich muss allerdings zugeben, dass ich bisher selbst noch keinen probiert habe.“ Na, das sind ja tolle Aussichten. „Ich will gar nicht wissen, was da alles an Zusatzstoffen drin ist“, merke ich an, wobei ich das kleinere der beiden silbernen Aluminiumtütchen von allen Seiten inspiziere. „Wenn du so viele Zweifel hast, wäre es dann nicht besser gewesen, direkt einen Kuchen aus ganz eigener Hand zu machen?“ „Bei meinen überaus überragenden Backfertigkeiten? Nein, glaube mir: Dagegen ist das hier reine Schadensbegrenzung. Ich bin schon froh, wenn ich so’n Fertigzeug einigermaßen so hinbekomme, dass es am Ende auch wirklich essbar ist.“ „Ach, so schlimm kann das doch gar nicht sein“, lächelt er mir aus der Hocke zu. „Oh doch“, widerspreche ich entschieden. „Das letzte Mal, als ich vor einigen Jahren Zimtsterne zu Weihnachten backen wollte, konnte ich am Ende Leute damit erschlagen. Gut, der Teig war auch echt furchtbar gewesen … auch so’n Fertigzeug. Die waren ungenießbar gewesen. Davor hatte ich mich einmal an Plätzchen versucht, die waren zu lasch und mehlig gewesen. Lustigerweise bekomme ich Brötchen ganz gut hin und Brot würde ich zu gern einmal versuchen, aber bei so leckeren und eigentlich stinkeinfachen Sachen versage ich total.“ Ich seufze. „Weißt du, ich kann dir wirklich jeden Kuchen und jede Backware erklären und fachkundig verkaufen, aber vom Selberbacken lasse ich besser die Finger. Ich habe zwar in diesem Bereich gelernt, aber eben nur in Verkaufsrichtung. Das ist nicht dasselbe, wie wenn man Bäcker oder Konditor erlernt hat. Trotzdem setzen das viele Leute irrtümlicherweise gleich. Dabei sind Theorie und Praxis nun einmal zwei grundverschiedene Dinge, auch wenn ich ein wenig Praxis dabeihatte“, erkläre ich. „Hm … ja, das stimmt schon.“ „Davon ganz abgesehen“, fahre ich fort, „einen Kuchen ganz von selbst zu machen, kostet viel zu viel Zeit und Aufwand. Von dem Geld einmal ganz zu schweigen, wovon ich auch nicht so viel zu verschenken habe. Wenn es nicht nur fürs Event wäre und nicht so auf den letzten Drücker, würde ich es ja noch verstehen und auch mehr Mühe darin investieren. Aber so sehe ich das einfach nicht ein, Waka hin oder her.“ „Die Kuchen sollen für die Stammkunden sein, richtig?“, richtet er sich zurück auf die Beine. Neben mir findet Ukyo Platz an der freigeräumten Küchenzeile, löst die Knöpfe seiner Hemdärmel und krempelt sie zurück, um sie während unserer Mission nicht zu beschmutzen. Ich glaube, so etwas wie Vorfreude in seinen Gesichtszügen zu erkennen, als er mir ein offenes Lächeln schenkt. „Weißt du, ich halte es für besser, wenn du in ihrer Gegenwart nicht auf die Art argumentierst, wenn du sie ihnen überreichst. Das nimmt der ganzen Sache ein wenig die Botschaft“, amüsiert er sich sichtlich über meine Worte. Ich runzle die Stirn. „Na was denn? Es ist doch wahr“, rechtfertige ich mich. Aus irgendeinem Grund stimmt mich die Situation verlegen, weswegen ich mich unserem Vorhaben zuwende, eine der kleinen Plastikschüsseln greife und den Boden mit minimal Wasser abdecke. „Die Kuchen sind immerhin gratis“, sage ich, wobei ich zu der größeren der beiden Alutütchen greife, es vorsichtig aufschneide und das vorportionierte Mehl langsam hinzugebe. „Sie müssen am Ende nur gut aussehen, das ist alles. Ich will ja auch nicht, dass sie sofort gegen die Wand gepfeffert werden, kaum dass man sie in der Hand hält. Für alles andere übernehme ich allerdings keinerlei Haftung. Den Wettkampf würde ich mit solchem Billigzeug ohnehin nicht gewinnen, aber zum Glück nehmen wir Mädels auch nicht daran teil.“ Ukyos losgelöstes Lachen und sein „Ich kann nicht glauben, dass du das jetzt wirklich gesagt hast“, lassen mein Herz kurz höher schlagen. Es tut so gut, ihn so lachen zu hören. Es tut so ausgesprochen gut, zu erleben, dass er neben mir so ausgelassen sein kann. Zu erfahren, dass meine Anwesenheit und natürliches Selbst dafür sorgen können, dass er sich gut fühlt, löst ein unglaubliches Glücksgefühl in mir aus. Ein Lächeln erobert mein Gesicht. Ich möchte Ukyo noch ganz oft so erleben. Ich möchte noch ganz viele solcher Momente mit ihm teilen. Und ich möchte ihn noch sehr viel besser kennenlernen. Als die Person, die er ist. „Bei der Gelegenheit“, schwenke ich im Thema um, gerade als mir wieder etwas eingefallen ist. Vorsichtig sehe zu Ukyo herüber. „Wegen gestern … Also erst einmal war ich sehr überrascht, dass du uns im Café besucht hast. Ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut.“ „Ach ja?“, gibt er erstaunt zurück. Ich kann nicht glauben, dass er diese Möglichkeit tatsächlich in Frage stellt. Zum Glück weicht sein überraschter Gesichtsausdruck schnell wieder einem schüchternen Lächeln. „Naja, also … ich habe mich auch sehr darüber gefreut. Du hattest recht, ich war wirklich lange nicht mehr dort gewesen. Ich habe erst dann gemerkt, wie sehr ich es doch vermisst habe. Das Meido ist wirklich ein schöner Ort und jeder war so nett zu mir“, erzählt er, wovon ich ihm jedes einzelne Wort glaube. „Na klar, wieso sollten sie auch nicht? Du bist schließlich ein geschätzter Kunde, soweit ich das beurteilen kann. Und ein Freund, soweit ich weiß.“ Verlegen wendet er sich wieder seinem Kuchen zu. Von der Seite erkenne ich, wie das Lächeln nicht von seinen Zügen weicht. Ich kann nicht anders, als ihn in dem Moment ausgiebiger zu betrachten. Ukyo ist wirklich ein sehr hübscher Mann. Das Lächeln steht ihm und lässt das Grün seiner Augen intensiver als sonst leuchten. Überhaupt fällt mir nicht zum ersten Mal auf, was für ein hübsches Gesicht er hat. Man kann ihn lange Zeit ansehen, ohne das Bedürfnis nach Abwechslung zu entwickeln. Auch bemerke ich, während ich ohne Absätze neben ihm stehe, wie groß er eigentlich ist. Vielleicht bin ich auch nur klein, so sicher bin ich mir da nicht. Wobei, eigentlich bezweifle ich es. Bedenke ich nur, in welchem Größenverhältnis ich neben Hanna gestanden hatte – ganz ohne Schuhe –  steht diese Vermutung ganz außer Frage. Und auch zu Hause, in meiner Welt, hat es mehr als genug Mädchen und Frauen gegeben, die neben mir klein gewirkt haben. Demzufolge ist es tatsächlich Ukyos Größe, die es zu bewundern gilt. Wie waren die Maße noch gleich? Um die eins fünfundachtzig? Verdammt, ich habe eine Schwäche für große Männer! Schnell wende ich meinen Blick von ihm ab. Es gibt noch genug zu tun, deswegen will ich keine weitere Zeit verlieren und nehme mich dem Rühren meines ersten Kuchens an. Ukyo ist attraktiv, ganz ohne Frage. Er ist zudem eine äußerst liebenswerte Person, die man gern um sich hat, und interessant obendrein. Jedoch habe ich mir geschworen, die Finger von ihm zu lassen. Er ist mein Freund und Mitbewohner, mehr aber auch nicht. Gut, und zudem noch der Einzige, dem ich im Moment weitestgehend vertrauen und bei dem ich mich einigermaßen gehen lassen kann. Aber, verdammt! Mir darüber bewusst zu werden, lässt mich nicht kalt. „Weißt du“, sage ich fließend, ohne mir meine letzten Gedanken anmerken zu lassen, „wenn ich so darüber nachdenke, wäre es eigentlich sinnvoll, wenn du morgen auch vorbeikommen würdest. Du bist schließlich auch ein Stammkunde. Ich wäre gespannt, wer dir einen Kuchen gibt.“ Natürlich denke ich dabei an eine ganz bestimmte Person. Erst das Schweigen, welches sich über längere Zeit zwischen Ukyo und mir erstreckt, macht mir deutlich, dass er wohl denselben Gedanken hegt. Ups, nicht mein geschicktester Schachzug, so viel wird mir klar. „Vielleicht reißen sie sich ja um dich“, spreche ich weiter, ruhig und mit einem kleinen Lächeln versehen. „Das wäre doch mal was? Du ganz im Mittelpunkt als Objekt der Begierde.“ „Sh-Shizana!“ Ich kann mir ein Auflachen nicht verkneifen. „Ach komm, das wird sicher lustig! Schon allein für den Wettbewerb der Jungs müsstest du vorbeikommen. Das wird bestimmt ein Schauspiel für sich. Ich bin echt gespannt, wer das Rennen machen wird und wie sie das entscheiden wollen, haha.“ Ukyo neben mir sagt nichts. Ein heimlicher Blick zu ihm gibt mir Gewissheit, dass es nur aufgrund der Verlegenheit ist, dass er den Stummen mimt. Mein Spruch von gerade eben muss ihn komplett aus der Bahn geworfen haben – wieder einmal. Vielleicht ist es auf gewisse Art fies, aber ich kann nicht leugnen, dass ich ihn in der Weise wahnsinnig gern ein wenig aufziehe. Ich bin mir sicher, dass ich auch in Zukunft nicht widerstehen können werde, es hin und wieder zu tun. Er lässt sich einfach zu leicht aus dem Konzept bringen. „Überleg’s dir einfach“, unterbreite ich ihm, womit ich das Thema beende. Mein erster Teig ist inklusive der Backmischung fertig gerührt, so stelle ich die Schüssel zur Seite und nehme mich dem nächsten Kuchen an. Ich bin von meinem Ursprung abgekommen, wie mir auffällt. Indem ich weiterhin meiner Tätigkeit nachgehe, lenke ich auf jenes Thema zurück. „Auf jeden Fall, wegen gestern … Wie gesagt, ich habe mich wirklich sehr über deinen Besuch gefreut. Aber ich war doch ein wenig irritiert, dass du in Begleitung warst“, sage ich unter Bedacht. „So?“ Fragend sieht er mich an. „Wer war das? Ein Freund von dir?“ „Ah …“ Er wirkt auf einmal unsicher. Ich weiß nicht, was ihn dazu bewegt, aber er wendet seinen Blick von mir zur Seite ab. „Ah, mh … ja, nur ein Freund“, spricht er leise. Das dünne Lächeln, was er dabei trägt, wirkt irgendwie falsch auf mich. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Lügt er oder möchte er nur vermeiden, dass ich weiter auf dieses Thema eingehe? Aber wenn dieser seltsame Fremde doch ein Freund ist, so wie er sagt, wieso sollte es ihm dann unangenehm sein, darüber zu reden? Soll ich wirklich weiter nachbohren oder wäre es besser, auf Ukyos abweisende Haltung einzugehen und das Thema fallen zu lassen? „Sicher?“, hake ich mit einer einfachen Frage nach. Ukyo zeigt ein Nicken. „Ja.“ „Hm.“ Ich wende mich wieder meinem Teig zu. Mir gehen zig Fragen durch den Kopf, während ich mich dem kontinuierlichen Rühren hingebe. Wieso habe ich nur dieses beklemmende Gefühl, keine einzige davon stellen zu dürfen? Und das, obwohl wir doch Freunde sind, wie ich dachte? Das ist doch absurd! „Du möchtest nicht darüber reden, habe ich recht?“ Ukyo schweigt auf hin meiner Frage. „Tut mir leid“, sagt er schließlich, was mehr geflüstert ist. Ich höre aus diesen einfachen Worten und seiner leisen Stimme so viele Emotionen heraus, dass es mir einen Ruck versetzt. „Später vielleicht, okay?“ Ich seufze lang. Mein zweiter Teig ist fertig und ich stelle ihn zu dem anderen. Es ist Zeit, die Formen vorzubereiten. Doch bevor ich mich ums Einfetten kümmere, gibt es noch etwas anderes, das ich erledigen muss. „Au!“ – Er übertreibt, so fest war es gar nicht. Erschrocken sieht Ukyo zu mir. Man könnte wirklich meinen, ich hätte hart zugeboxt, so wie er sich schmerzlindernd über den rechten Oberarm streicht. „Wofür war –“ „Der für gerade eben“, erkläre ich. Während er noch seine Gedanken ordnet, was ich gemeint haben könnte, versetze ich ihm bereits einen zweiten Angriff in die Seite. „Dieser hier für gestern, bevor du aus dem Haus gegangen bist. Und dieser“, ein Dritter landet knapp über dem Ersten, „dafür, dass du das Café verlassen hast, ohne dich zu verabschieden.“ Eigentlich hätte er noch einen vierten Schlag verdient, dafür, dass er mir ohne jeden Zweifel etwas verheimlicht und vorzumachen versucht. Aber ich befinde, dass diese Schuld mit dem dritten Boxen getilgt ist. Ich muss ihm ja nicht verraten, dass es für mehrere Gründe steht. Wäre ich nicht diejenige, die Ukyo diese Schläge zugesetzt hat, würde ich ihn glatt bemitleiden. Er steht da mit einem wehleidigen Gesichtsausdruck und reibt sich über die getroffenen Stellen, als hätte ich ihn verdroschen. Dabei dürfte er nicht einmal wirkliche Schmerzen haben. Die Boxer waren fest gewesen, ja, aber nicht brutal. Er würde keinen einzigen blauen Fleck von ihnen davontragen. Dasselbe kann ich nun nicht gerade von seinem gestrigen Überfall behaupten. „Hör mal“, sage ich und mache mich daran, die Formen zu fetten, damit der Teig hinein und gebacken werden kann, „es ist okay, wenn es Dinge gibt, über die du nicht mit mir reden magst. Jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse, da schließe ich mich nicht aus. Vielleicht habe ich sogar ein paar mehr, als gut für mich wäre … Aber es ist ganz normal, dass es diese Dinge gibt und ich halte es für wichtig, dass man die Privatsphäre des anderen respektiert. Freundschaft sowie jegliche andere Form der Beziehung baut auf gegenseitigem Vertrauen. Ich möchte nur nicht, dass wir einander anlügen, in Ordnung?“ Ich schlucke hart bei meinen Worten. Ich bin gerade die Richtige, so etwas zu sagen. Seit ich in diese Welt gekommen bin, habe ich doch nichts anderes getan, als jeden um mich herum anzulügen. Inklusive Ukyo. Selbst jetzt, in diesem Moment, lüge ich. Ja, sicher, ich möchte das nicht und gäbe es einen Weg, aufrichtig zu ihnen zu sein, ich wäre es sofort. Aber im Moment weiß ich nicht, wie ich das anstellen soll. Ich fühle mich wie eine Heuchlerin. Dennoch, ich möchte das ändern. Egal wie. Ich werde meine Beziehungen zu den Leuten in dieser Welt neu aufbauen und noch einmal komplett von vorn beginnen. In der Hoffnung, dass ich dann, eines Tages, vollkommen offen und ehrlich vor ihnen stehen kann.   Wenig später habe ich mich, gewappnet mit einer frischen Tasse Cappuccino, am Wohnzimmertisch eingefunden. Ukyo sitzt mir gegenüber auf einem der Hocker und fummelt irgendetwas an seiner Kamera herum. Was genau er macht, weiß ich nicht, aber es wird schon seine Richtigkeit haben. Die Küchlein sind im Ofen und brauchen noch eine Weile, bis sie gar sind. Eine Zigarette habe ich mir gegönnt, nun bleibt mir noch knapp eine Stunde, bis ich mich für die Arbeit rüsten muss. Hoffentlich genug Zeit, um aufzuholen, was ich noch als Versprechen einzulösen habe. Kurzerhand hebe ich den Laptop von seiner Ablage und baue ihn vor mir auf der Tischplatte auf. Vorhin beim Backen habe ich mich bei Ukyo rückversichert, ob es okay sei, wenn ich ihn verwende. Ein wirklich peinliches Unterfangen, denn wie ich erfahren habe, gehört der Laptop quasi mir. Wir haben ihn zusammen gekauft, hat mir Ukyo verraten, und hin und wieder nutzt er ihn auch für schnelle Onlinebestellungen oder um irgendetwas herauszufinden. In erster Linie aber hätte ich ihn in Verwendung, um darauf schreiben zu können. Ups, das hätte ich mir eigentlich auch denken können. Aber woher sollte ich das wissen? Ich weiß nicht, zum wievielten Male an diesem Tag, aber ich verliere ein weiteres, schweres Seufzen. Immerzu höre ich von allen Seiten, dass »ich« in der Vergangenheit viel geschrieben haben soll. Luka hat es erwähnt, Ukyo und sogar Kento. Natürlich habe ich daran keinen Zweifel, es klingt logisch und nach mir. Aber wie es ist, von sich selbst wie in der dritten Person zu hören, kann sich schlichtweg niemand vorstellen. Es ist befremdlich, bedrückend und in gewisser Weise auch beängstigend. Ich habe keine Ahnung, was »ich« vor meiner Ankunft in dieser Welt gemacht habe. Ich höre es nur und muss darauf vertrauen, dass es wahr ist, was man mir erzählt. Doch selbst der Wahrheit auf die Schliche kommen zu wollen, ist etwas, das mich mit einem wirklich kaum zu beschreibenden Gefühl erfüllt. Irgendwie unheimlich und aufregend zugleich. – Und genau das ist es, was ich in diesem Moment vorhabe. Ich klappe den metallschwarzen Deckel auf und fahre das Gerät hoch. Kurz muss ich warten, bis sich mir der bereits vertraute Desktop zeigt. Dieses Mal sitze ich nicht hier, um zu schreiben. Ich habe Kento etwas versprochen, doch um dieses Versprechen einzulösen, stehen mir einige Herausforderungen bevor. Er hat mir eine E-Mail geschrieben, hat er gesagt. Ich weiß, dass ich auf meinem Smartphone kein E-Mail-Programm installiert habe. Folglich muss mein anderes Ich vom PC aus auf die Nachrichten zugegriffen haben. Fragt sich nur, auf welchem Wege. Ich öffne das Startmenü und durchforste die Auswahl nach einem Programm, das mir für E-Mails kompatibel scheint. Es dauert einige Zeit, doch dann ist diese erste Hürde auch schon gemeistert. Ich finde ein Programm, das sich »insMitter« nennt und mich entfernt an Outlook erinnert. Ich kenne Outlook von der Arbeit, privat habe ich immer einen anderen Client für meine E-Mails verwendet. Dieses Programm scheint sich ähnlich wie Outlook bedienen zu lassen. Damit stehe ich auch schon vor dem zweiten Hindernis: Ein Login ist erforderlich. Zu meiner Erleichterung ist meine augenscheinliche E-Mail-Adresse bereits vorgemerkt. Ich habe zumindest keine Bedenken, dass es meine ist, da sie meinen Namen enthält. Der Provider scheint ein privater zu sein. Aber wie steht es um das Passwort? Ich lehne mich weit gegen die Couch zurück und gönne mir ein tiefes Durchatmen, um meine grauen Zellen in Bewegung zu setzen. Es gibt viele Passwörter, die ich daheim verwendet habe. Einige sind sicherer, andere weniger. Wie viele ich insgesamt in Verwendung hatte, kann ich gar nicht zählen und es ist fraglich, ob ich mich ohne meine Aufzeichnungen an jedes einzelne erinnern werde. Ich hatte ähnlich wiederkehrende Passwörter für vielerlei Nutzungen, Einmalpasswörter für weniger wichtige Dinge und solche, die mit einer deutlich höheren Sicherheit versehen waren, wenn der Zugang mir besonders schützenswert erschien. Nun ist die Frage, in welche dieser Kategorien mein E-Mail-Postfach fällt. Vielleicht wäre es das Einfachste, das Passwort zurückzusetzen. Hm, vermutlich. Aber irgendwie verspüre ich das Bedürfnis, zu testen, ob ich mich selbst durchschauen kann. Das klingt doch auf einer Art sehr spannend, oder etwa nicht? Ich versuche es. Entschieden beuge ich mich vor und probiere das erste Passwort, das mir spontan in den Sinn kommt. – Falsch. Es folgt ein Zweites und ein Drittes, doch auch diese geben mir den Zugang zu meinem Postfach nicht frei. Das Vierte gebe ich nur zögerlich ein, mit demselben Ergebnis. Ich beschließe, es auf einen letzten Versuch ankommen zu lassen, bevor ich doch eine Passwortänderung durchführe. Bisher stammten alle versuchten Passwörter aus dem Privaten. Doch was, wenn …? Ich gebe die vertraute Kombination ein und betätige Enter. Dieses Mal scheint sich etwas zu tun. Ein Rädchen arbeitet, dann endlich öffnet sich mir eine neue Benutzeroberfläche und ich habe freien Zugang zu meinen privaten E-Mails. Ich lächle, stolz auf mich und mein anderes Ich. Ohne weitere Zeit zu verlieren, suche ich nach der E-Mail, von der Kento gesprochen hat. Sie zu finden, ist nicht schwer. Schon die Begrüßung verkündet mir unter meiner Namensansprache, dass ich eine ungelesene Nachricht habe. Der Eingang gestaltet sich sehr übersichtlich. Es liegen nicht sehr viele Nachrichten aus der Vergangenheit vor. Mehr noch stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass nahezu alle E-Mails von ein- und demselben Absender stammen. Dass es sich bei diesem um Kento handelt, erkenne ich sofort. Die E-Mail-Adresse verrät es und ich bemerke, dass der Provider derselbe ist, wie ich ihn verwende. Ich öffne die einzige Nachricht, die fett hervorgehoben ist. Ein einfaches Anklicken genügt, schon wird der Inhalt in das weite Anzeigefenster linkerseits hineingeladen. Ein Bericht taucht vor mir auf, der mich im ersten Moment überrascht, da er mehr Lesestoff beinhaltet, als ich im Vorfeld erwartet hätte. Flüchtig überfliege ich die vielen Zeilen. Wie ich schnell feststelle, handelt es sich hierbei um eine umfassende Erörterung auf Grundlage eines vorliegenden Textes, ganz wie Kento es gesagt hat. Ich erkenne aber auch Ansätze einer versuchten Interpretation. Auf den ersten Blick bin ich beeindruckt. Es macht den Anschein, dass sich Kento tatsächlich Zeit genommen hat, den mir unbekannten Text zu lesen und ihn auszuwerten. Kurz frage ich mich, wie lange er wohl an dieser Mail gesessen haben muss. Ganz egal. Ich freue mich, dass er sich sichtlich so viel Mühe für etwas gegeben hat, worum »ich« ihn offenbar gebeten haben muss. Ich scrolle nach unten, während meine Augen weiterhin über die Zeilen streifen. Ganz am Ende der Mail bemerke ich etwas, das wie eine Verlinkung aussieht, aber lediglich einen Titel mit Dateiendung beinhaltet: »Rain Beat«. Ich stutze. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Nur kurz wäge ich ab, ob ich den Link anklicken soll oder nicht. Eigentlich steht das ganz außer Frage, denn etwas in mir ahnt, dass es sich bei »Rain Beat« um die dazugehörige Geschichte handeln muss. Eine Geschichte, die »ich« geschrieben habe. Dieser Gedanke versetzt mein Herz in rege Aufruhr. Mein Zweifel besteht keine fünf Sekunden gegen meine Neugier. Ein simpler Klick leitet mich auf eine neue Seite, die anfangs weiß ist, dann eine Art kleines Verzeichnis offenbart. Ein Server zum Ablegen von Dateien, vermute ich. Die Adresszeile verrät mir, dass er zum E-Mail-Provider gehören muss. Das Verzeichnis enthält exakt drei Dateien. Allesamt Textdokumente, wie ich anhand der Endung schlussfolgern kann. Hier finde ich »Rain Beat« wieder. Anhand der Auflistung, die nicht alphabetisch ist, kann ich mir sicher sein, dass es »mein« jüngstes Schaffenswerk ist. Darüber finden sich zwei Dokumente mit den Titeln »Outsider« und »Canaria«. Hm, irgendwie klingen sie untypisch für mich. Mit einem Doppelklick auf »Rain Beat« versuche ich, das Dokument zu öffnen. Mir erscheint ein kleines Dialogfenster, dass ein Download durchgeführt wird. Im nächsten Moment öffnet sich das Schreibprogramm, welches ich bereits kenne, und »Rain Beat« ist mir frei verfügbar. Es ist das erste Mal, dass ich einen der Texte vor mir sehe, welche mein anderes Ich in dieser Welt verfasst hat. Mein aufgebrachter Herzschlag ist kaum zu toppen. Ich bin so nervös, dass ich in Tränen ausbrechen könnte. Das Gefühl, welches mich überkommt, ist kaum zu beschreiben. Kurz prüfe ich den Umfang des Dokuments. Die Geschichte ist nicht sehr lang. Sie scheint mir etwas Kleines zu sein, was ich locker binnen einiger Stunden schreiben würde. Ich beginne zu lesen …   In der Küche schrillt der Ofenwecker. Ich bin noch nicht ganz fertig mit dem Text, aber ich muss wohl oder übel unterbrechen, um die Kuchen herauszuholen, bevor sie schwarz werden. „Ich glaube, die Kuchen sind fertig.“ „Ich geh‘ schon.“ Nur widerwillig klappe ich den Laptop zu und erhebe mich. Ukyo muss irgendwann, ohne dass ich es bemerkt habe, in sein Zimmer gegangen sein. Nicht schlimm, die Tür steht immerhin offen. Mir soll’s recht sein, es kommt mir nur gelegen. Es wäre mir äußerst unlieb, wenn er mir jetzt ins Gesicht sehen und die Emotionen daraus ablesen könnte, die sich darauf spiegeln müssen. Noch nicht ganz bei mir, gehe ich die wenigen Schritte zur Küche hinüber. Flüchtig werfe ich einen Blick auf die Wanduhr. Sobald ich mit den Kuchen durch bin, muss ich mich auch schon für die Arbeit fertig machen. Ich sollte diesmal etwas mehr Zeit dafür einplanen, denn mit meinem aktuellen Gefühlschaos mag ich wahrlich nicht vor die anderen treten. Kapitel 13: Weiter auf Irrwegen ------------------------------- »Rain Beat« will mir einfach nicht aus dem Kopf. Seit ich die Wohnung verlassen habe, kreisen meine Gedanken um die Zeilen, die ich gelesen habe. Mit einem beladenen Gefühl begleiten sie mich auf meinem Weg zur Arbeit. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich da eigentlich gelesen habe. Die Bedeutung des Textes erschließt sich mir noch nicht so ganz. In der kurzen Geschichte, die mir keine zu sein scheint, liegt viel Raum für Interpretationen. Etwas zu viel, nach meinem Ermessen. Nach nur wenigen Sätzen war mir bereits klar, dass ich nicht umhin kommen werde, sie zu einem ruhigeren Zeitpunkt erneut zu lesen. Die Ampel vor mir zeigt Rot. Zwischen einigen Leuten bleibe ich stehen und warte auf die Freigabe zum Überqueren der Straße. Neben mir tauscht eine Gruppe Jugendlicher Meinungen zu irgendwelcher Rap-Musik aus, und das in einer Lautstärke, die die ihres Gedudels noch übertönt. Eine Kombination, die meine Nerven strapaziert. Es bedarf nur eines kurzen Blickes, um mir zu bestätigen, dass es sich um einige Halbstarken handelt. Ich richte meine Augen wieder nach vorn, gerade als die Ampel auf Grün springt. Im Geleit der Menschen um mich herum setze ich mich in Bewegung und beobachte, wie die Gegenseite es uns gleichtut. Es ist nur ein kurzer Augenblick, der diesem Trott für mich ein abruptes Ende bereitet. Nur ein vager Moment ohne jede Gewissheit, der mich aus dem Gleichschritt bringt. ‚Orion?‘ So plötzlich er in der Masse auf der gegenüberliegenden Seite aufgetaucht war, so schnell ist er schon wieder verschwunden. Ich rede mir ein, dass es auch nur eine Einbildung gewesen sein könnte. Es gibt sicherlich ein paar Jungs, die seine Frisur tragen und seine Haarfarbe besitzen. Und Cosplay ist in Japan ja auch noch so eine Sache. Aber wie viele Kinder können über einen Erwachsenen hinausragen, gerade so, als ob sie schweben? ‚Vergiss es!‘, appelliert mein Verstand an meine Vernunft. ‚Selbst wenn, du könntest ihn nicht sehen!‘ – Sinnlos. Ich reiße fast eine junge Frau mit mir, als ich losstürze. Ich weiß nicht, warum, aber ich breche mir regelrecht eine Bahn durch die Menschen, die mir entgegenkommen. Es ist grotesk. Ich renne hier einer Fata Morgana hinterher, da besteht überhaupt gar kein Zweifel. Aber ich komme nicht dagegen an. Alle Logik nützt nichts gegen das wilde Herzklopfen, das mich wie ein Motor vorantreibt. Es ist gar nicht so einfach. Mit Mühe quäle ich mich an den Menschen vorbei, die mir Blicke zuwerfen, als sei ich ein Flüchtling. Zwischen all den Leuten ist es schwer, das schwarz-gelbe Zipfelcape nicht aus den Augen zu verlieren. Bei jeder Ecke, um die ich biege, fürchte ich, aus meinem kleinen Traum zu erwachen. Zu meinem eigenen Erstaunen halte ich länger durch, als ich erwartet hätte. Irgendwann finde ich mich in einem Kaufhaus wieder. Ich weiß nicht, wie lange ich dieser Hetzjagd gefolgt bin und wie viele Straßen ich dabei hinter mir gelassen habe. Hier stehe ich inmitten von Menschen und umringt von Geschäften, die ich noch nie betreten habe. Ich weiß, dass dies das Ende meines kleinen Irrwahns ist. „Mist“, fluche ich leise und trete ein Stück vom Tumult weg. Mit den Fingern fahre ich mir unter den Pony, um meine Stirn zu trocknen. Meine Wangen fühlen sich heiß an vor lauter Anstrengung und Frust. „Verdammt, Orion. Hör doch einfach auf, mich zu verfolgen! Ob Trugbild oder nicht, ich kann das echt nicht gebrauchen.“ Aufmerksam prüfe ich mein Umfeld, ob auch niemand meinen leisen Monolog mitbekommen hat. Und ob ich vielleicht doch noch irgendwo einen Sternenzipfel hinter einer Ecke entdecke. Warum auch immer ich noch nach ihm suche. Es ist witzlos, das weiß ich selbst nur zu gut.  Toll, Zeit vertrödelt. Und wo bin ich überhaupt? Mein Handydisplay verrät mir eine Zeit von 11:26 Uhr. Na wunderbar. Jetzt um den Dreh wollte ich eigentlich schon beim »Meido no Hitsuji« sein. Allein der Weg von dort, wo ich abgekommen bin, bis zum Café wäre nicht in fünf Minuten zu schaffen gewesen. Ich werde zu spät zur Arbeit kommen, das weiß ich jetzt schon. Wirklich großartig. Waka wird mich umbringen. Ich begebe mich nach draußen, um mir einen Überblick zu meinem Standort zu verschaffen. Die Straße sagt mir nichts, mir kommt nichts bekannt vor. Von wo bin ich nochmal gekommen? „Entschuldigen Sie bitte“, halte ich den nächstbesten Passanten an, der gerade hinter mir aus dem Kaufhaus tritt. „Ich komme nicht aus der Gegend. Kennen Sie das »Meido no Hitsuji«?“ „Nein, nie davon gehört“, entgegnet mir der breitschultrige Mann, der mir wie ein Kraftsportler im Anzug erscheint, mit einem entschuldigenden Schulterzucken. Ich bedanke mich nichtsdestotrotz und versuche es beim Nächsten. Auch die junge Mutter und die beiden Mädchen, welche ich befrage, können mir nicht weiterhelfen. Erst der vierte Anlauf lässt mich hoffen. „Ah, das Maid-Café?“ Allein diese Resonanz löst eine immense Erleichterung in mir aus. Dieser junge Mann, vielleicht etwa in meinem Alter, ist mir sofort sympathisch. Sein Gesicht wirkt freundlich, hinter der schwarzen Rahmbrille blickt mir ein Paar blauer Augen weltoffen entgegen. Als Vertreter wäre er sicherlich erfolgreich. „Ja“, nicke ich bekräftigend. „Ich komme nicht aus der Gegend und habe mich wohl ein wenig verlaufen.“ „Ist eigentlich nicht schwer von hier zu finden. Sie gehen die Straße runter, über die Ampel, dann rechts und …“, beginnt er zu erklären, wobei ich seinem Fingerzeig folge und versuche, mir seine Wegbeschreibung genau einzuprägen. Da ich die Straßen hier nicht kenne, gestaltet sich das schwierig für mich. „Haben Sie vielleicht ein Handy mit Internetzugang dabei?“ Verwundert über seine Frage blicke ich zu ihm auf. „Ähm, ja?“ „Wissen Sie, wie man online nach Routen suchen kann?“ „Öhm … habe ich noch nie gemacht“, gestehe ich kleinlaut. „Wenn Sie damit einverstanden sind, geben Sie es mir kurz. Ich suche Ihnen den Weg heraus. Natürlich nur, sofern Sie einem Fremden Ihr Handy anvertrauen möchten.“ Kurz studiere ich sein Gesicht und wäge ab, wie wahrscheinlich es ist, dass er sich damit aus dem Staub machen wird. Ich schätze ihn nicht als einen hinterhältigen Dieb ein, weswegen ich zögerlich nicke, mein Smartphone hervorhole und es ihm überreiche. Aufmerksam beobachte ich, wie er es bedient und hoffe, dass er davon absehen wird, mir seine Handynummer zu hinterlegen. So sympathisch er mir auch ist, noch mehr Chaos kann ich nicht gebrauchen. „Fertig“, verkündet er wenig später und reicht mir das Telefon zurück. „Einfach der Beschreibung folgen, dann kommen Sie sicher ans Ziel.“ „Danke.“ Ich zeige ein aufrichtiges Lächeln. Ich bin wirklich zutiefst erleichtert, eine so hilfsbereite Person gefunden zu haben. „Damit verlaufe ich mich gewiss kein zweites Mal.“ „Ganz sicher nicht“, lächelt er überzeugt zurück. „Also dann, ich muss weiter. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“ „Vielleicht. Man sagt ja, man sieht sich immer zweimal im Leben.“ „So ist es.“ „Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe.“ „Keine Ursache. Viel Erfolg“, winkt er mir zu, schon verschwindet mein Helfer im Fluss der Menschenmasse. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf das Handy in meiner Hand. Die Route sieht überschaubar aus und kommt dem gleich, was er mir beschrieben hat. Damit bin ich mir sicher, dass ich zum Meido finden werde. „Tja, dann mal auf.“ Im Drehen rufe ich meine Kontaktliste auf und gehe die Liste durch. Mir ist etwas unwohl, als ich die Nummer anwähle, die ich nie freiwillig hätte anrufen wollen. Einige Schritte warte ich auf Annahme des Gespräches. „Ähm, ja, Chef? Hier ist Shizana. Tut mir leid, aber ich werde mich wohl ein wenig verspäten. Mir ist unterwegs leider etwas dazwischengekommen. Ich bin aber schon auf dem Weg und beeile mich.“   Ich bin ja selbst schuld, trotzdem ist das nicht fair. Offiziell habe ich es noch pünktlich ins Meido geschafft und wäre Wakas Standpauke nicht gewesen, hätte ich meine Schicht noch kurz vor knapp antreten können. Trotzdem empfing er mich mit dem Feldbefehl, die »verlorene Zeit« aufzuholen, indem ich bis Ladenschluss bleiben dürfe. Seine lückenlose Schimpftriade war ohne Frage bis durch die Tür seines Büros zu hören gewesen. Doch das war noch nicht das Schlimmste. Unter ziehenden Gesichtsmuskeln wechsle ich meine Garderobe. Wie kommt Waka nur auf solche Ideen, einen zur Strafe einhundert Mal „Der Kunde ist der Feind“ sagen zu lassen? Und das unter einer Verbeugung und einem falschen Lächeln, versteht sich. Ich befürchte ernsthaft, dass das irgendwelche Schäden an meiner Psyche hinterlassen könnte. Ob ich jetzt noch imstande sein werde, die Kunden mit einem höflichen Lächeln zu empfangen, wage ich zu bezweifeln. „Was war denn los?“, höre ich Sawa fragen, gerade als ich die Tür zu meinem Spind schließe. „Warst du heute nicht etwas spät dran?“ „Mir kam etwas dazwischen“, sage ich knapp. Kurz wäge ich ab, wie viel ich ihr verraten kann, ohne mich ihr erneut als Idiotin zu präsentieren. „Ich bin eigentlich pünktlich losgegangen, aber dann habe ich etwas gesehen und bin dem nachgelaufen. Dummerweise habe ich mich dabei verirrt. Ich kenne mich hier noch nicht so gut aus“, erkläre ich unter einem leisen Seufzen. „Ach ja, das kenne ich. Nur keine Sorge, so etwas kommt vor.“ Es hat etwas Tröstliches, als sie zu mir herüberkommt und mir beide Hände auf die Schultern legt. Sie begegnet mir mit einem offenen Lächeln. „Die Hauptsache ist, dass du jetzt da bist und dir nichts passiert ist. Und mach dir nichts draus. Aus Waka-san, meine ich. Du weißt ja, wie er ist, aber er meint es im Grunde nicht schlecht.“ Ich nicke zur Bestätigung. „Ja, ich weiß. Danke für deine aufmunternden Worte, Sawa“, erwidere ich ihr Lächeln. „Ach was, ist doch selbstverständlich.“ Ihr freundliches Grinsen zeugt von ihrer ausgelassenen Stimmung. Gerade sah ich es noch vor mir, schon ist Sawa in einer flinken Bewegung hinter mir verschwunden. Ich spüre ihre Hände in meinem Rücken, wie sie mich bestimmt voranschieben. „Nun solltest du aber wirklich in die Gänge kommen, sonst tobt er nur wieder. Shin-kun und du, ihr habt heute noch eine Sondermission vor euch.“ „Was? Shin und ich?“, frage ich überrascht und blinzle zu ihr hinter. „Ganz recht. Anweisung vom Boss. Du und Shin werdet vorm Café Flyer an die Passanten verteilen. Ikki-san und Hanna-chan schmeißen den Laden, Kento-san übernimmt die Küche und ich bereite die Naschkörbe für morgen vor. Sobald Mine kommt, wird sie für Hanna übernehmen und sie hilft mir stattdessen bei den Vorbereitungen.“ Mir kommen zwei Fragen in den Sinn: Warum muss ausgerechnet ich Flyer verteilen? Und heißt das, dass ich Mine heute sehen werde? Es wäre das erste Mal, dass wir aufeinandertreffen. Ich muss gestehen, der Gedanke allein stimmt mich ein wenig nervös. „Findest du nicht, dass das alles etwas plötzlich ist? Also das Event an sich, meine ich. Kommt das mit den ganzen Vorbereitungen nicht etwas spät?“ „Frag besser nicht, mach einfach“, rät sie mir an. „Der Boss mag es nicht, wenn man seine Entscheidungen anzweifelt. Er fragt zwar nach, aber ich würde dir nicht empfehlen, ihm zu widersprechen.“ Sie stößt ein schweres Seufzen aus. „Glaub mir, ich habe das selbst schon zu oft hinter mir. Wenn man ihn kritisiert, ist es, als würde man ihn des Hochverrats anklagen. Er spricht dann gleich von Schande und will sich selbst richten. Es ist unheimlich und peinlich zugleich … In was für einer Zeit leben wir eigentlich?“ Ich weiß, was sie meint. Auch zu ihrem leisen „Die Jungs können es trotzdem nicht lassen“ kommt mir sofort ein Bild in den Sinn, über das ich oft gelacht habe. Doch was im Rahmen der Fiktion als Running Gag gilt, ist in real sicher nicht mehr so lustig. Ich bin wirklich nicht sehr erpicht darauf, Waka von seinem nächsten Selbstmordversuch abhalten zu müssen.   Im Café treffe ich auf Hanna, die mir erfreut scheint, mich wiederzusehen. Ikki ist in seiner Begrüßung zuvorkommend wie immer, und doch fällt es mir schwer, ihm sein Lächeln abzukaufen. Vielleicht liegt es an Hannas Anwesenheit, vielleicht bilde ich mir auch nur etwas ein. Was immer es ist, es sorgt dafür, dass die Erinnerung mich einholt. Hannas Worte von gestern kommen mir wieder in den Sinn. Der Gedanke, dass die beiden sich getrennt haben, übt eine wahre Last auf mich aus. Es ist hart, doch noch viel schwerer wiegt, dass ich die beiden nicht dazu befragen kann. Ich habe nicht das Recht und es geht mich auch nichts an. Ich bin mir sogar sicher, dass ich die ganze Sache selbst dramatischer gestalte, als sie es für die beiden ist. Ja, das sähe mir wohl mal wieder ähnlich. „Ist ja nicht viel los heute“, stelle ich fest, was rein dem Zweck zur Selbstablenkung dient. Ein überschauender Blick durchs Café bestätigt mir, dass ich die vorhandenen Kunden an einer Hand abzählen kann. Wirklich ein Kontrast zu den Tagen zuvor. „Das wird schon noch“, versichert Sawa neben mir. „Wir haben jetzt gerade mal Mittag. Warten wir noch ein paar Stunden, dann sieht es schon wieder ganz anders aus.“ Möglich. Für den Moment jedenfalls gibt es nicht genug Arbeit, um vier Leute zu beschäftigen, so viel steht fest. Wir halten kurz Rücksprache, bevor ich mich von der Gruppe in Richtung Küche löse. Ich hoffe, dort auf Kento zu treffen. Die Aussicht auf ein Gespräch mit ihm – ganz gleich, worüber und für wie lange – verspricht mir ein wenig Trost und Ablenkung. „Hallo, Kento. Shin.“ Bei der Tür bleibe ich stehen und werfe meine Begrüßung lediglich in den kleinen Raum hinein. Zu meinem Bedauern ist Kento nicht allein, Shin ist bei ihm. Die Jungs wenden sich mir kurz zu, grüßen, ehe sie sich wieder ihrem Tun zuwenden. Wie es aussieht, störe ich sie bei irgendeiner Beratung. „Glaub mir, Butter macht sich hier besser. Versuch es beim nächsten Mal einfach. Ich geh‘ mich jetzt umziehen.“ Ich mache ein wenig Platz, um Shin vorbeizulassen. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem sich unsere Blicke begegnen, bevor er schweigend an mir vorüberzieht. Ein seltsames Gefühl der Intensität bleibt in mir zurück. Sensibel verfolgen meine Ohren, wie sich Shins Schritte hinter mir entfernen. Ich bin nicht sicher, was da gerade zwischen uns passiert ist. Zu meiner Verwunderung stelle ich fest, dass es mir tatsächlich schwerfällt, mich nicht herumzudrehen und ihm fragend hinterherzusehen. „Gibt es etwas Bestimmtes, das du wolltest?“, holt mich Kentos Stimme ins Hier zurück. Ich bin ihm dankbar dafür. Aus irgendeinem Grund habe ich meinen Rücken durchgespannt, wie ich bemerke. Indem ich langsam ausatme, lasse ich locker. „Nein, eigentlich nicht.“ „So.“ Ich gestehe: Mit Kento Smalltalk zu führen, ist gar nicht so einfach. „Ich habe deine E-Mail gelesen.“ „Ja, das habe ich gesehen.“ Gar nicht so einfach. „Ich bin noch nicht ganz fertig. Ich werde dir später darauf antworten.“ „Dann tu das.“ Gibt es nicht irgendetwas, worüber wir reden können? „Mh, sag mal …“ Mir mag einfach nichts einfallen. „Der Windbeutel war echt lecker.“ „So? Das freut mich.“ Ich seufze leise. Könnte er nicht wenigstens ein wenig Begeisterung in seine Worte legen? „Ich schätze, ich störe dich. Ich werde dann mal wieder nach vorn gehen.“ „Im Augenblick gibt es nichts, wobei du stören könntest“, entgegnet er zu meinem Erstaunen. Zuwenden tut er sich mir allerdings noch immer nicht. Der Hefter vor ihm muss ja mächtig interessant sein. „Ich gehe nicht davon aus, dass du eine Kundenbestellung abgeben möchtest?“ „Nein. Es ist nicht wirklich etwas los im Café.“ „Der Beobachtung entsprechend wird sich das gegen Nachmittag ändern. Die volle Besetzung aller Café-Angestellten zu den Wochenenden war schon immer unnötig gewesen.“ Hm, wohl wahr. Ich frage mich, was sich Waka dabei gedacht hatte, als er diese Schichtregelung eingeführt hat. „Naja, aber so kommt man wenigstens einmal dazu, jeden zu sehen. Und wenn weniger los ist, kann man auch mal miteinander reden. Diesen Luxus hat man in den regulären Schichten ja nun nicht zwangsweise“, bemerke ich. Endlich dreht sich Kento mir zu. Sein wacher Blick fixiert mich einige Zeit, ohne dass ich eine bestimmte Gefühlsregung aus ihm lesen kann. „Wozu genau soll das gut sein?“ „Öhm, naja … zur Kollegenbindung, zum Beispiel?“, strauchle ich, irritiert von seiner Frage. „Es arbeitet sich sehr viel angenehmer zusammen, wenn man einander besser kennt und eine gewisse Bindung zueinander hat. Soziale Kontakte unter den Kollegen sind schon nicht ohne, meiner Erfahrung nach.“ „Hm.“ Ich kann wirklich nicht bestimmen, was in ihm vorgehen mag. „Siehst du das nicht so? Du wirst doch sicherlich auch zu dem einen oder anderen eine gewisse Beziehung mit der Zeit aufgebaut haben? So lange, wie ihr hier schon zusammenarbeitet.“ „Ich arbeite noch nicht so lange hier“, erklärt er, was mich kurz stutzen lässt. „Ich habe erst kurz vor dir hier angefangen. Abgesehen von Ikkyu und Shin würde ich nicht behaupten, zu irgendjemandem sonst irgendeine Form der Beziehung aufgebaut zu haben.“ „Ach so?“ Das verwundert mich jetzt. Habe ich irgendetwas außer Acht gelassen? „Ist ja lustig, das merkt man dir gar nicht an. Dann sitzen wir ja quasi im selben Boot.“ Seine Augenbrauen senken sich bei meinen Worten. „Wieso sollte man mir so etwas anmerken?“ „Naja, wenn man irgendwo neu ist oder eine neue Tätigkeit beginnt, äußert sich das in der Regel anhand einer anfängliche Unbeholfenheit und Unsicherheit. Das ist eigentlich normal und bei den meisten so. Ich schätze, man merkt mir selbst nach einem Monat noch an, dass ich noch nicht so lange hier bin, haha.“ „Hm.“ „Wie kam es denn dazu, dass du hier angefangen hast?“, will ich wissen. „Ikkyu hat mir dazu geraten“, bestätigt er meine Vermutung. „Laut seiner Aussage hätte das Vorteile für beide Seiten: das Meido erhält Unterstützung und ich einen Nebenverdienst, der mich nicht bei meiner Forschungsarbeit behindert. Ihm nach würde es lustig werden … Was immer ihn zu solch einer Annahme bewegt.“ In einer kurzen Pause scheint er seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, bevor er fortfährt: „Ursprünglich sollte ich in derselben Stellung wie Ikkyu beginnen, doch wie wir bald festgestellt haben, bin ich für diese Art von Arbeit nicht geeignet. Also wurde ich stattdessen für die Küche eingestellt.“ ‚Und das, wo er kein bisschen kochen kann.‘ Der Gedanke lässt mich unweigerlich grinsen. Ich versuche dagegen anzukämpfen – es gelingt mir nicht. „Darf man erfahren, was so lustig ist?“, schneidet seine Stimme in mein Bewusstsein. Sein Blick verrät, dass er mit meiner Reaktion nichts anfangen kann. „Teile deine Gedanken offen mit. Ich erkenne den Witz nicht.“ „Sorry, nicht böse gemeint“, lächle ich entschuldigend. „Es gibt Gedanken, die behält man besser für sich.“ „Weswegen auch immer.“ „Auf jeden Fall eine schöne Geschichte“, sage ich zur Ablenkung. Mir entgeht die Skepsis nicht, die ich von Kentos Stirn nur zu deutlich ablesen kann. „Irgendwie passt das zu euch. Damit kann ich nicht mithalten.“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Ich blinzle fragend. „Was genau?“ „Wenn ich mich richtig erinnere, bist du auch auf Empfehlung eines Freundes hier“, offenbart er. Es trifft mich unvorbereitet. „Oder täusche ich mich?“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bevor ich dazu komme, etwas zu fragen, höre ich Shin hinter mir sprechen: „Du stehst ja immer noch hier herum. Los jetzt, wir haben zu tun. Zieh dich um, Dummkopf.“   Was für eine irrwitzige Szene. Ich stehe draußen vor dem »Meido no Hitsuji«, zusammen mit Shin und verteile Flyer an vorbeikommende Passanten. Ich, Flyer verteilen, mit Shin. Und das in diesem Aufzug. Oh Mann. Es ist mir schon ein wenig peinlich. Zu dem Maidkostüm trage ich eine rote Nikolausmütze, zwischen derer Bommeln kleine Glöckchen für Aufmerksamkeit sorgen. Innerhalb des Cafés beschwere ich mich ja nicht, ich habe mich irgendwie daran gewöhnt. Aber außerhalb ist es etwas anderes für mich. Mich trösten genau zwei Dinge: Erstens, es könnte schlimmer sein. Zweitens, Shin hat es tragischer getroffen als mich. Verstohlen schaue ich zu ihm herüber. Ein knöchellanger Baumwollmantel bildet das Herzstück des Knecht Ruprecht-Kostüms. Sein schwarzer Stoff ist so verarbeitet, dass er trotz des neuen Zustands abgegriffenen wirkt. Der tief schließende Kragen wird über der Brust von drei silbernen Ketten zusammengehalten. Darunter sind schwarze Weste und ein dunkelrotes Hemd im Schneekristallmuster zu erkennen. An der Taille, wie mir scheint, fixieren einige Schnüre den akkuraten Sitz und raffen den Stoff. Das Reststück fällt fransig herunter, was ihm einen verwitterten Eindruck verleiht. Schwarze Leggins, hohe Plateaustiefel – vom selben Kunstfell verziert wie der Trennbereich von Schultern und Ärmel – und dazu passende Stoffhandschuhen runden das Bild ab. Das also ist Wakas Interpretation des europäischen Knecht Ruprecht. Sie scheint mir … interessant. Ich bin unschlüssig, ob es mir wirklich zusagt oder nicht. „Was ist?“, klingt Shins Stimme vorwurfsvoll zu mir herüber und lässt mich zusammenfahren. „Könntest du wohl bitte damit aufhören, mich so anzustarren?“ „Man wird ja wohl noch gucken dürfen“, grummle ich leise, wobei ich meinen Blick von ihm abwende. Im Schatten der tiefsitzenden Kapuze, die im langen Zipfel seinen Rücken hinabfällt, wirkt das leuchtende Rot seiner Augen noch intensiver als sonst. Irgendwie unheimlich. „Einen vorlauten Knecht Ruprecht sieht man schließlich nicht alle Tage.“ Ich höre ihn seufzen. „Wenn du deine ungeteilte Aufmerksamkeit und bahnbrechenden Sprüche lieber der Arbeit zukommen lassen würdest, wäre uns allen besser geholfen“, lässt er mich wissen. Allein dafür möchte ich ihm am liebsten den Hals umdrehen. „Witzig, Shin. Was ist los? Hast du heute Morgen einen Clown gefrühstückt?“ „Nein, ich war an der Universität und kurz darauf pünktlich auf Arbeit. Im Gegensatz zu manch anderen Personen, verfolge ich einen straffen Zeitplan und halte mich daran.“ Zu deutlich kann ich seinen Blick auf mir spüren. Eigentlich unnötig, denn selbst einem Blinden mit Krückstock wäre nicht entgangen, dass diese Anspielung an mich ging. Muss ich mir das wirklich von ihm bieten lassen? „Hm, wie war das noch gleich mit den bahnbrechenden Sprüchen?“ Und da wären wir wieder. Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie es uns gelingt, jedes Gespräch in einem Wortgefecht enden zu lassen. Vielleicht haben die anderen recht, was Shin und mich angelangt. Aber möchte ich das wirklich? „Sei’s drum“, lenke ich ein. Ich atme einmal tief durch, um mein aufgebrachtes Gemüt zu beruhigen. „Weißt du, was mir nicht mehr aus dem Kopf geht?“ „Hm? Was denn?“ „Müsste ich dich nicht eigentlich mit »senpai« ansprechen?“ „Was? Wie … wie kommst du denn bitte auf so etwas?“ Der Gedanke zusammen mit seiner Reaktion macht es mir unmöglich, nicht zu grinsen. Ich hatte gehofft, ihn damit aus dem Konzept zu bringen. Meine kleine Rache an ihn. Aber es stimmt. Beim Umziehen erst ist mir wieder bewusst geworden, was ich beim Gespräch mit Kento ganz aus dem Blick verloren hatte. Ich befinde mich hier im Spadeverse von Amnesia. Laut Spiel haben in diesem Universum lediglich Ikki, Shin, Hanna und Mine im »Meido no Hitsuji« gearbeitet. Etwas, das ich eigentlich weiß. Eine solche Unachtsamkeit hätte mir nicht unterlaufen dürfen. Aber das passiert wohl, wenn man plötzlich nicht mehr der außenstehende Beobachter, sondern selbst mittendrin ist. Jedenfalls bedeutet das im Umkehrschluss, dass Kento, Toma und Sawa erst seit frühestens September eingestellt sein können. Das macht sie ebenso zu Neulingen im Vergleich, wie mich. Daraus geschlussfolgert wären die anderen vier unsere Mentoren, wenn man es streng betrachten möchte. Schon ein sehr seltsamer Gedanke … und gleichzeitig sehr erheiternd. Der Gedanke, wie Shin Kento das Kochen beigebracht haben muss, lässt mich schmunzeln. Es gibt keine andere Erklärung. Von Ikki kann er es sich kaum abgeguckt haben, und das hier ist auch nicht das Later-Cloververse. „Mach dich nicht lächerlich“, holt mich Shin aus den Gedanken. Er hat das Gesicht inzwischen von mir abgewandt, doch seinem vorwurfsvollen Ton kann ich noch einen Rest Verlegenheit entnehmen. „Vergiss nicht, du bist älter als ich. Und wenn bisher niemand sonst auf solch eine blöde Idee gekommen ist, dann möchte ich das erst recht nicht von dir hören. Davon abgesehen …“ „Davon abgesehen?“, greife ich seine Worte auf. Er hat seinen Satz noch immer nicht beendet, obwohl schon Sekunden verstrichen sind. Ich ernte stures Schweigen, bis er sich ermuntert, mir einen nichtssagenden Blick über die Schulter zuzuwerfen. „Konzentrier dich auf die Aufgabe. Im Gegensatz zu dir habe ich nicht den ganzen Tag Zeit, hier draußen herumzustehen.“   Es ist wahrlich eine Tortur, mit Shin zu arbeiten. Seit seiner letzten Ansage haben wir kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Inzwischen ist es mir egal, was er mir verschwiegen hat. Es wäre sicher eh nichts Gutes dabei herumgekommen, insofern habe ich nichts versäumt. Auf meinem Weg zur Umkleide durchquere ich das Café. Ikki ist in der Bedienung, aber ich kann keines der Mädchen ausfindig machen. Ich frage mich, ob Hanna eventuell gerade Pause macht. „Ah, Vorsicht!“ Auch mit diesem Ausruf wäre es um ein Haar zu spät gewesen. Im letzten Moment kann ich einen Zusammenstoß vermeiden, indem ich zur Seite ausweiche. Ich will schon tadeln, dass man im Café nicht rennen soll, doch beim Anblick der zierlichen Person vor mir bleibt es mir regelrecht im Halse stecken. „Phew, das war knapp. Tut mir leid, ich … Oh, du.“ Ganz automatisch deute ich ein Nicken. „Hi, Mine.“ Ich bin überrascht, sie zu sehen. Auch wenn es abzusehen war, dass wir uns früher oder später an diesem Tag in die Arme laufen würden. Aber wer hätte gedacht, dass es wortwörtlich passieren würde? Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Sie ist kleiner als erwartet. Neben ihr komme ich mir fast wie ein Riese vor. Verdammt, das macht sie nur umso niedlicher. Als ob es nicht schon genug ist, dass sie ein sehr hübsches Gesicht hat. Das Maidkostüm schmeichelt ihr besser als irgendeiner von uns. Sie ist wirklich unglaublich feminin, was der süßliche Duft, der schwach von ihr ausgeht, noch unterstreicht. „Mh.“ Sie wendet den Blick von mir ab. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mir damit ausweicht. „Bitte entschuldige mich, die Kunden warten“, erklärt sie knapp, schon zieht sie an mir vorbei. Irritiert sehe ich ihr nach. Kommt es mir nur so vor, oder war sie etwas unterkühlt zu mir gewesen? Im Spiel hatte sie immer einen anderen Eindruck auf mich gemacht. War Mine nicht eigentlich ein aufgeweckter, leicht vorlauter Charakter? Habe ich ihr irgendetwas getan, dass sie mich nicht leiden kann?   Nach dieser ernüchternden ersten Begegnung mit Mine lenkte der restliche Tag in eine einigermaßen ebenmäßige Bahn zurück. Toma erschien kurz darauf im Café, womit die Besatzung komplett war. Tatsächlich bewahrheitete sich auch Sawa und Kentos Prognose und wir gewannen am Nachmittag an Kundschaft. Dadurch jedoch, dass wir ein Satz von je zwei bedienenden Maids und Butlern waren, gab es dennoch nicht viel mehr für uns zu tun. Zum Spätnachmittag traten Ikki und Hanna ihren wohlverdienten Feierabend an. Sawa und Shin folgten nur kurz darauf, womit die Küche in Kentos alleinige Führung überging. Die Bedienung übernahmen fortan nur noch Mine, Toma und ich. Es war das erste Mal, dass mich auf Arbeit ein Gefühl der Einsamkeit befiel. Noch während alle da waren, waren die gewohnten Gruppenkonstellationen deutlich gewesen. Die Mädchen fanden sich zu jeder Gelegenheit zusammen, um über verschiedenste Themen zu plaudern. Ich habe nicht gewagt, mich zu ihnen zu gesellen und ihre Vertrautheit zu stören. Die Jungs waren da eher eine Option, aber nur so lange, bis sie Teil der Mädchenkonversation wurden. Ich kann nicht sagen, dass sie mich willkürlich ausgegrenzt hätten. Mir war lediglich bewusst geworden, dass ich ihnen längst nicht so nahe stand, wie ich es gern gehabt hätte. Diese Erkenntnis gab mir ein Gefühl der Ausgeschlossenheit. Und so ist es noch jetzt. Ich bin zusammen mit Mine und Toma, reden tue ich aber mit keinem von beiden. Zu gern hätte ich mir Toma gekrallt, einfach um mich mit losem Geplauder ein wenig aufzulockern. Der Gedanke jedoch, dass es Mine umso mehr gegen mich aufbringen könnte, hält mich von dem bloßen Versuch ab. Bis jetzt hat sie nicht weiter mit mir gesprochen, was meinen Verdacht bekräftigt, dass irgendetwas zwischen uns steht. Wann immer ich kann, beobachte ich sie heimlich, um die kleinsten Hinweise aufzuschnappen. Mir fällt auf, dass sie sich viel an Toma hält, wohl um nicht mit mir interagieren zu müssen. Begegnen sich unsere Blicke per Zufall, wendet sie ihren schnell wieder ab, als würde sie mich meiden. Ich gebe es nicht gern zu, aber es wurmt mich. Auch wenn ich ein solches Verhalten einfach nur albern finde.   So vergehen zwei lange Stunden. Die zwei Längsten, seit ich hier bin, wie es mir vorkommt. Dann endlich trommelt uns Waka zum Routineabschluss zusammen und ich habe es überstanden. Naja, fast. „Shizana wird den Bodendienst übernehmen“, lautet der neue Befehl. Hoffentlich der Letzte für diesen Tag. Ich will einfach nur noch nach Hause. „Ich gehe dann“, verkündet Mine etwas später in bester Stimmung, gerade als ich den letzten Stuhl hochgestellt habe. „Na so etwas. Toma-san? Bist du noch gar nicht fertig?“ Ich verkneife mir den Drang, hinter mich blicken zu wollen. Es kratzt mich, dass Mine zurückgekommen ist, nur um nach Toma zu fragen. Er hatte sich netterweise bereiterklärt hat, mir mit den Stühlen zu helfen, damit es schneller geht. Das Angebot habe ich dankend angenommen. „Sorry, Mine“, höre ich ihn sagen. „Ich werde noch ein Weilchen brauchen. Geh doch am besten schon vor. Du bist sicher müde von der Arbeit.“ „Ich bin putzmunter“, erklärt sie fröhlich. Ihr anschließendes Seufzen lässt mich Enttäuschung vermuten. „Na schön, dann gehe ich jetzt. Gute Arbeit heute.“ „Komm gut nach Hause.“ „Bis morgen“, setzte ich hinzu, erhalte jedoch keine Antwort. Nicht, dass ich eine erwartet hätte. Als die Tür endlich ins Schloss fällt, stoße ich ein schweres Seufzen aus. Es ist, als würde jegliche Anspannung des Tages von mir abfallen. Ich bin regelrecht erleichtert, obwohl von Feierabend noch nicht zu reden ist. „Ich würde vorschlagen, wir teilen die Räume untereinander auf. Möchtest du das Café übernehmen? Dann kümmere ich mich derweil um die hinteren Räume.“ Ich unterbreche meine Arbeit, um mich nach Toma umzudrehen. Er hat sich extra die Mühe gemacht, zu mir zu kommen, um mir seinen Vorschlag zu unterbreiten. Und das, nachdem er mir schon mit den Stühlen und Tischen geholfen hat. „Danke, das ist lieb von dir, aber du musst das nicht tun. Du hast Feierabend.“ „Ich bin in der Spätschicht“, erklärt er, wobei er mir ein ermutigendes Lächeln schenkt. „Und die Spätschicht geht, wenn alles erledigt ist.“ „Aber das Wischen ist meine Aufgabe“, entgegne ich. „Es ist nicht verboten zu helfen. Zumal, wenn zwei sich die Arbeit teilen, geht sie doppelt so schnell von der Hand. Du möchtest doch sicher auch sobald es geht nach Hause?“ „Ja, schon. Aber ich habe mir das selbst eingebrockt. Du brauchst dir das nicht aufzulasten.“ „Hm, ich habe dazu eine etwas andere Ansicht.“ Lässig lehnt er sich gegen einen der Tische. Ich erkenne in seinen sanften Zügen und dem festen Blick, dass er nicht von seinem Standpunkt zurückweichen wird. „Zum Ersten ist das Bodenwischen Teil meiner Aufgaben. Und zum Zweiten überlässt man die Schwerstarbeit keiner gesundheitlich angeschlagenen Person.“ „Gesundheitlich angeschlagen?“ Ich blinzle irritiert. Erst Tomas verdeutlichender Fingerzeig auf seinen Hals macht mir klar, was er meint. „Oh, das. Nein, das ist nicht …“ Meine Hand legt sich unwillkürlich an das Tuch um meinen Hals. Kurz stocke ich, als ich nicht weiß, was ich eigentlich sagen will. „Das ist nicht so schlimm“, weiche ich aus und versuche es harmlos klingen zu lassen. „Hast du Halsschmerzen?“ „Mh, ein wenig.“ Je nach Auslegung ist das schließlich nicht gelogen. „Dann solltest du zusehen, dass du dich nach einem anstrengenden Tag ein wenig erholst. Du bist seit Mittag hier, nicht?“ „Ja, das ist richtig. Wenn auch mit leichter Verspätung.“ „Siehst du.“ Damit sieht er sich wohl als Sieger unserer kleinen Diskussion und stößt sich nach vorn. „Damit arbeitest du heute schon länger als ich. Lass uns das hier beenden und den Rest hinter uns bringen. Ich helfe dir, keine Widerrede.“ Ich sehe ein, dass ich ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen kann. Wenn ich ehrlich bin, freut mich Tomas Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Ein leises schlechtes Gewissen bleibt dennoch. „Na schön, du hast gewonnen. Aber nur unter einer Bedingung!“ „Hm? Welche?“ „Ich revanchiere mich für deine Hilfe.“ Jetzt ist er es, der blinzelt. „Das ist eigentlich nicht nötig.“ „Ich bleibe dabei.“ „Wieso willst du das tun?“ „Weil ich deine Hilfe nicht als selbstverständlich annehmen möchte.“ „Du bist ganz schön stur, weißt du das?“ Er wirkt verzweifelt, trotz seines milden Lächelns. „Ich schätze, was ich jetzt auch sage, du wirst nicht davon abweichen. Shin ist da genauso.“ Ich nicke bekräftigend. Die Tatsache, dass er mich soeben mit Shin verglichen hat, versuche ich von mir zu schieben. Er seufzt geschlagen. „Na schön, einverstanden. Wenn ich auch auf Anhieb nichts wüsste, wie du dich revanchieren könntest …“ Für einen Moment scheint er ernsthaft darüber nachzudenken. Als er sich mir wieder zuwendet, hat er ein unbeholfenes Lächeln aufgesetzt. „Verbleiben wir so, dass ich darauf zurückkomme, wenn sich etwas ergibt. In Ordnung?“ Damit kann ich leben. Ich gebe ihm mein Einverständnis, festige unser Abkommen mit einem Handschlag, bevor wir zur letzten Arbeit übergehen.   Kurz darauf ist es geschafft. Alle Räume sind gewischt und Waka verabschiedet. Draußen stehe ich mit Toma und kann kaum glauben, wie gut es tut, die kühle Abendluft an meinen Wangen zu spüren. „Das haben wir doch ganz gut hinbekommen“, spricht Toma an meiner Seite. Er klingt ebenso zufrieden, wie ich mich fühle. „Zwanzig Minuten für alles. Stell dir nur mal vor, wenn das einer allein gemacht hätte, wäre er jetzt noch mit den Wegräumarbeiten beschäftigt.“ „Mhm, das war gutes Teamwork“, stimme ich zu. „Danke dir, Toma. Ohne dich stünde ich jetzt nicht hier.“ „Ach was, nicht der Rede wert.“ Ausgiebig streckt er die Arme in die Höhe. Sein genussvolles Grummeln dabei lässt mich schmunzeln. „Mine und Kento-san sind in der Zwischenzeit sicher längst zu Hause angekommen. Die Glücklichen.“ „Mh.“ Ich nicke. Nur bei der Erwähnung von Mines Namen denke ich wieder daran, wie sie sich den ganzen Tag mir gegenüber verhalten hatte. Es ärgert mich, wie sie mich die ganze Zeit gemieden hat, als hätte ich Spinnen im Haar oder so. Aber warum eigentlich? „Apropos Mine“, lenkt Toma unerwartet ein. Fragend drehe ich den Kopf und bemerke, wie er mitleidig in meine Richtung lächelt. „Ihr beide versteht euch wohl immer noch nicht, hm? Gibt es irgendwelche Uneinigkeiten zwischen euch?“ Seine Aussage überrascht mich. Gehe ich nach seiner Wortwahl, ist Mines Ablehnung mir gegenüber also kein Neuzustand. Was mich umso mehr zu der Frage bringt, warum dem so ist. „Ich weiß nicht“, gebe ich offen zu. Das Rätsel macht mir echt zu schaffen, weswegen ich meine Hand nachdenklich in den Nacken schiebe. „Ich bin mir ehrlich gesagt selbst nicht ganz sicher. Hatten wir in der Vergangenheit möglicherweise Streit gehabt?“ „Da fragst du leider den Falschen.“ Toma lacht leise, unbeholfen. „Ich halte mich für gewöhnlich aus solchen Angelegenheiten heraus. Du weißt schon. Wenn Frauen streiten, geht ein kluger Kerl besser nicht dazwischen. Außer natürlich, es wird handgreiflich.“ „Mhm, schon klar.“ Naja, einen Versuch war es immerhin wert. „Das war auch mehr rhetorisch gemeint. Aber ich frage mich schon, ob mich Mine vielleicht aus irgendeinem Grund nicht leiden kann.“ „Am besten fragst du sie“, schlägt er vor. „Ich weiß, das ist immer leichter gesagt, als getan, gerade wenn man schon unsicher ist. Aber ist es nicht immer noch besser, anschließend Gewissheit zu haben, als weiterhin gar nichts?“ Ich stoße ein schweres Seufzen aus. „Ja, da hast du wohl recht.“ „Kopf hoch, ihr beiden macht das schon.“ Sicher, aber mich beschäftigt noch ein ganz anderer Gedanke: Effektiv werde ich gar keine andere Wahl haben, als mich mit Mine auseinanderzusetzen. Die Frage, ob ich am Mädchenabend teilnehmen werde, hängt schließlich nicht minder von ihrer Meinung ab. Und ich würde schon ganz gern hingehen, nach wie vor. „Hm … Hoffentlich denkt sie morgen daran, nicht sofort nach Arbeit gehen zu wollen.“ Fragend hebe ich den Blick. „Wieso?“ „Na wegen der Überraschungsparty morgen.“ Ich falle aus allen Wolken. Was denn bitte für eine Überraschungsparty? Ich traue mich nicht zu fragen. Und vermutlich ist es genau mein Schweigen, das mich verrät. „Sag mir nicht, du hast es vergessen? Shins Geburtstagsparty.“ Kapitel 14: Kampf der Kuchen an St. Nikolaus -------------------------------------------- Ein Klopfen an meiner Tür. Ich nehme es nur dumpf wahr. „Shizana? Hey, bist du wach?“ Brummend drehe ich mich auf die Seite und ziehe die Decke weiter über mich. „Shizana?“ „Bin nicht da“, grummle ich zur Antwort. Geistig bin ich tatsächlich noch nicht anwesend. „Ähm, wolltest du nicht aufstehen?“ So? Wollte ich das? „Wie spät ist es?“, brumme ich zurück. „Also inzwischen … zehn nach sechs.“ Mhm, zehn nach sechs. Na dann … Warte! Zehn nach sechs? „Mist, ich habe den Wecker nicht gehört!“ Endlich bin ich wach. Ruppig schlage ich die Decke zurück und winde mich von der Matratze. Verdammt, wie konnte mir das passieren? Ich wollte schon seit zehn Minuten auf den Beinen sein! So schnell mein Geist auch hochgefahren ist, so schleppend ist meine körperliche Koordination. Die Beine wollen nicht recht mitspielen, ich verliere für einen Moment das Gleichgewicht und finde mich schon auf dem Boden wieder. Der Aufschlag ist alles andere als liebkosend. „Ist da drin alles in Ordnung?“ „Mist … Ja, alles okay. Mein Körper schläft nur noch“, antworte ich in Richtung Tür. Zischend rapple ich mich zurück auf die Beine und streiche mir kurz über die schmerzenden Knie. Unter den Scheiben pocht es wütend. Auf der anderen Seite der Tür verharrt Ukyo in Schweigen. Ich weiß nicht, was er da macht, aber ich verliere keine weitere Zeit und suche mir meine Klamotten zusammen. „Ich habe dir einen Cappuccino gemacht. Er ist noch heiß.“ „Ja, danke. Ich beeile mich.“ „Möchtest du etwas frühstücken?“ „Nicht unbedingt. Hab‘ keinen Hunger.“ „Du solltest aber zumindest etwas Kleines am Morgen zu dir nehmen“, werde ich belehrt. Ich seufze geschlagen. „Na schön. Das Müsli, das wir gestern gekauft haben, und den Joghurt dazu.“ „Okay. Ich warte auf dich.“ Ich weiß ja, dass er recht hat. Ein bisschen kommt es mir aber doch so vor, als würde er sich zu sehr um mich sorgen. Sonst komme ich auch immer super ohne Frühstück aus. Naja, was soll’s.   Wenig später bin ich angezogen und habe eine kurze Wäsche im Badezimmer vorgenommen. Im Wohnzimmer hat sich Ukyo an dem kleinen Esstisch eingefunden und studiert die Zeitung. Ich empfange den erquickenden Geruch frisch aufgebrühten Kaffees, was mir ein wohles Gefühl beschert. Zugegeben, ich trinke ihn selbst eher selten, liebe den Duft aber ungemein. „Guten Morgen.“ „Oh, guten Morgen.“ Ukyo lässt die Zeitung vor sich sinken und schenkt mir ein freundliches Lächeln. Damit wird der Morgen um einen weiteren Grad besser. „Da bist du ja.“ „Mhm, sorry für den Tumult. Und danke, dass du mich geweckt hast.“ Seufzend lasse ich mich auf den Platz ihm gegenüber nieder. Meine Hände langen sogleich nach der schwarz-weißen Katzentasse. Der erste Schluck schmeckt herrlich warm und süßlich, wie ich es liebe. Die vertraute Note entspannt meine letzten aufgebrachten Nerven. „Ich habe meinen Wecker nicht gehört. Ich bin mir sicher, dass ich ihn gestellt habe.“ „Hast du“, bestätigt er mir schmunzelnd. „Ich habe ihn gehört. Beide. Ich war schon verwundert, dass sich nichts im Zimmer getan hat. Irgendwann dachte ich mir, gehe ich lieber auf Nummer sicher.“ „Mhm, das war auch besser so.“ Ich seufze leise in die Tasse hinein. „Theoretisch wäre es nicht schlimm gewesen, wenn du noch ein wenig geschlafen hättest. Aber ich erinnere mich, dass du mal zu mir gesagt hast, dass du lieber etwas früher aufstehst, um in Ruhe starten zu können.“ „Mhm.“ Aufmerksam studiere ich das Gesicht meines Mitbewohners. Mich irritiert schon nicht mehr, dass er Dinge über mich weiß, die noch nie zwischen uns vorgefallen oder zur Sprache gekommen sind. Aus seiner Sicht leben wir seit nunmehr zwei Monaten zusammen. Soweit ich es beurteilen kann, war mein Ich, das er kennt, mir sehr ähnlich. Kein Wunder also, dass ihm eine solch morgendliche Aktion nicht neu ist. „Ich bin eben ein unverbesserlicher Morgenmuffel. Wenn ich am Morgen nicht wenigstens meinen Cappuccino schaffe und mich kurz ordnen kann, ist der Tag für mich gelaufen“, reflektiere ich. Er lacht. „Ja, das kenne ich gut.“ Ach ja? Er macht jedenfalls nicht den Eindruck auf mich, als hätte er je mit solchem Ballast zu kämpfen. Seit wann ist Ukyo eigentlich wach? Und wie kann er schon am frühen Morgen so guter Dinge sein? „Wann bist du eigentlich nach Hause gekommen?“, will ich wissen, ohne von ihm abzulassen. Ich habe nicht vergessen, dass ich die Wohnung um ein Weiteres verlassen aufgefunden habe, als ich gestern zurückkam. „Uhm … spät“, versucht er mir wohl auszuweichen. Sein verschobenes Lächeln lässt nichts Gutes vermuten. „Du hattest schon geschlafen. Ich denke nicht, dass du es mitbekommen hast.“ „Sonst hätte ich auch nicht gefragt.“ Ach, was soll’s. Inzwischen sollte ich es gewohnt sein. Nicht, dass das irgendetwas besser machen würde. „Ist ja auch egal. Wir müssen nachher noch die Kuchen verpacken. Um acht müssen wir schon los, ne?“ „So im Dreh. Ich überlege, ob es nicht sogar besser wäre, wenn du etwas früher losgehen würdest“, überlegt er. Es raschelt laut, als er die Zeitung gänzlich zusammenfaltet und schlussendlich zur Seite legt. Ich beobachte, wie er selbst nach seinem Kaffee greift und einen zögerlichen Schluck aus der dampfenden Tasse nimmt. „Ihr habt bestimmt noch einiges zu besprechen, bevor die ersten Kunden kommen. Heute ist schließlich euer Nikolaus-Event, nicht?“ „Mhm.“ Zögernd schwenke ich die Tasse in meiner Hand. Ich versuche mir auszumalen, wie der heutige Tag wohl ablaufen wird. „Kommst du mit?“ „Nachher gleich?“ Er hält einen Moment inne, wohl um darüber nachzudenken. „Naja, also ich hatte heute schon vor, kurz vorbeizukommen. Aber darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ „Es wäre ganz hilfreich, um die ganzen Kuchen zu transportieren. Und ich hätte nichts dagegen, wenn du mich begleiten würdest“, argumentiere ich. „Meinst du, es ist wirklich in Ordnung, wenn ich mitkomme?“ Irritiert von seiner Frage blicke ich auf. „Wieso sollte es nicht?“ „Naja, ich meine … Ich arbeite ja nicht dort. Ich bin nur ein Kunde und … ich weiß nicht, ob es nicht etwas seltsam ist, wenn ein Kunde schon so früh vor Ladenöffnung dort auftaucht.“ Ich blinzle. Einmal, zweimal. „Ist das dein Ernst?“, breche ich lachend los. Ich kann einfach nicht an mich halten. „Du zweifelst wirklich, dass du zu irgendeiner Zeit im Meido nicht willkommen bist, nur weil du nur ein Kunde bist? Ach, Ukyo, ehrlich …“ „W-was ist daran so lustig?“, empört er sich leise. Ich kann seine Verunsicherung heraushören. „Ach, komm schon. Das ist doch albern.“ Ich versuche mich zusammenzureißen. Mir sitzen die Tränen in den Augenwinkeln, die ich mir wehleidig wegwische. „Die Leute dort mögen dich. Waka selbst hat doch nach dir gefragt, weil du so lange nicht mehr da warst. Also ich bitte dich!“ Ukyo drückt sich vor einer Antwort, indem er von seinem Kaffee trinkt. Ich selbst finde das Ganze immer noch wahnsinnig witzig. Ich könnte jederzeit wieder in lautes Gelächter losbrechen. „Also nehme ich das als ein Ja. Schön, das freut mich, Ukyo. Wirklich.“ In dem Moment bin ich mir sicher, dass ich über das ganze Gesicht grinse. Es ist mir egal. Ukyo wird mich zum ersten Mal zum Meido begleiten. Ich freue mich wie ein Kind darauf.   Die Zeit am Morgen verfliegt immer so viel schneller, als mir lieb ist. Frühstück ist wahrlich nicht meins, aber mit Ukyo morgens an einem Tisch zu sitzen, daran könnte ich mich glatt gewöhnen. Auch wenn das heißt, dass ich etwas Nahrhaftes zu mir nehmen muss, weil es »gesund und wichtig« ist. Ich erzähle ihm von meinem gestrigen Arbeitstag. Mines abweisendes Verhalten, das mich noch immer beschäftigt, spielt dabei keine geringe Rolle. Leider kann mir Ukyo auch nichts Näheres dazu sagen. Er spricht mir lediglich Trost zu, dass sich das sicherlich klären lässt und ich mich davon nicht entmutigen lassen soll. Ich glaube ihm, trotzdem macht mir die Ungewissheit zu schaffen, was für dieses Verhalten verantwortlich ist und wie ich sie darauf ansprechen soll. Wir beenden das Frühstück und nach einer Zigarette verschwinde ich im Badezimmer. Nachdem ich mich hergerichtet und meine Prellungen versorgt habe, geht es über in die Küche. Über Nacht sind die Dekorationen, die ich an den Kuchen vorm Schlafengehen noch vorgenommen habe, inzwischen getrocknet. Aus einer Ecke krame ich die Pappkartons und die breite Plastiktüte hervor, die Ukyo und ich in weiser Voraussicht gekauft hatten. In aller Sorgfalt stelle ich die Kuchen einzeln in die Kartons, ehe ich sie in die Tüte staple. „Pack besser nicht alle fünf in eine Tüte“, höre ich Ukyo sagen, gerade als ich den letzten Kuchen verstauen will. Irritiert halte ich inne und schaue auf, als sich Ukyo bereits neben mir eingefunden hat. „Wenn du sie zu hoch stapelst, verrutschen sie am Ende und du machst deine schöne Dekoration kaputt.“ „Es sind doch nur zwei Lagen“, versuche ich mein Tun zu begründen. Überzeugen tut es ihn wohl nicht. „Und wenn. Unterschätze das Gewicht nicht. Und du weißt nicht, was auf dem Weg alles passieren kann.“ Ich seufze ergeben. Auf diese Art von Diskussion habe ich wirklich keine Lust. „Hast du einen besseren Vorschlag?“ „Es müsste noch eine zweite Tüte dort gelegen haben. Ich bin mir sicher, dass ich sie hinzugetan habe.“ „Du hast noch eine geholt?“, frage ich verwundert. Er nickt. „Ich war mir im Nachhinein nicht mehr sicher, ob eine wirklich ausreicht. Also bin ich nochmal in den Konsum gegangen und habe lieber vorgesorgt.“ Wow, wie voraussichtig von ihm. Von mir wäre das sicher nie gekommen. „Okay, das wusste ich nicht. Dann teilen wir sie besser auf beide Tüten auf.“ Gesagt, getan. Mit Ukyos Hilfe sind die Stücke schnell umgepackt und sicher auf den Tresen geparkt. Damit wäre das schon einmal erledigt. „Vielleicht sollten wir uns ein Taxi nehmen?“, schlägt Ukyo zur Frage des Transports vor. Auch ich überlege. „Hm, oder wir lassen uns fahren.“ Mir fallen auf Anhieb zwei Personen ein, die wir fragen könnten. Theoretisch. Grundsätzlich hätte ich bei keinem der beiden etwas dagegen, mitzufahren. Andererseits möchte ich keinen von ihnen wegen so etwas anrufen. Zumal ich von einer Person nicht einmal die Nummer habe. Hm, zu doof. „Ich schlage vor, wir bleiben beim Altbewährten“, wende ich mich Ukyo zu. „Wenn jeder eine Tüte nimmt, ist das schon sicherer, als wenn einer beide allein trägt. So viel wird schon nicht passieren, wenn uns nicht gerade ein Irrer umkutschen oder ausrauben will.“ „Das weiß man im Voraus nie“, entgegnet er mir besorgt. Wenn ich nicht wüsste, dass Ukyo durchaus Erfahrungen dieser Art gemacht haben könnte, würde ich es einfach belächeln. „Ach was. Wir transportieren nur Kuchen. Und wir sind zu zweit. So weit ist es ja nicht, wenn wir mit der Bahn fahren.“ Nur zögerlich nickt er. Ich sehe es als ein gutes Zeichen, dass er kein weiteres Drama aus unwahrscheinlichen Tragödien macht. „Ich hole eben mein Zeug, dann können wir los“, lasse ich ihn wissen. Auf dem Weg zu meinem Zimmer erinnere ich mich selbst daran, was ich alles mitnehmen muss. Mein Handy darf ich nicht vergessen und das Geschenk, das ich gestern noch in letzter Not besorgt habe. Die Information gestern traf mich wie ein Blitz. Wenn Toma es mir nicht zufällig verraten hätte, woher hätte ich dann von der Überraschungsparty wissen sollen? Ein Blick auf den Kalender hatte mich daran erinnert, dass Shins Geburtstag diesen Montag war. Einen Tag, bevor ich in diese Welt gekommen bin. Hat mein anderes Ich ihm schon gratuliert? Wie steht Shin eigentlich zu seinem eigenen Geburtstag? Aus meiner Handtasche hole ich den kleinen Plüschhund-Anhänger hervor, den ich in der Not gekauft habe. Ich wusste nicht, worüber sich Shin freuen würde. In dem Kaufhaus, in das ich mich den Tag verirrt hatte, fand ich auch nichts Ansprechendes. Bei der Auswahl von Anhängern blieb ich schließlich stehen, sah diesen und musste unweigerlich an die OVA denken. Wenn ich eines weiß, dann dass Shin eine heimliche Schwäche für niedliche Hunde hat. Also warum ihn nicht mit einem kleinen Plüschhündchen aus der Reserve locken? „Ich bin gespannt, wie er darauf reagiert.“ Ich schmunzle in mich hinein. Eigentlich ist es egal. Ich bin mir sicher, dass er nörgeln wird, aber ich habe ein gutes Gefühl, dass es ein passendes Geschenk für ihn ist. „Ach ja, Ukyo?“, rufe ich hinaus, während ich die letzten Dinge in meiner Tasche verstaue. „Hast du noch Shins CD? Die, die ich ihm den Tag geben sollte. Wenn ja, vergiss nicht, sie mitzunehmen. Das ist eine gute Gelegenheit, sie ihm zurückzugeben.“ „Ah, gute Idee!“ Ich bin selbst ganz begeistert. Es ist immer wieder toll, wenn man einen Einfall hat, der jemand anderem weiterhilft. Damit sind wir quitt, Ukyo.   Wir bleiben bei dem Plan, per Bahn zum Meido zu fahren, um eventuelle Zwischenfälle bestmöglich auszuschließen. Im Gespräch erfahre ich, dass Ukyo genauso wenig von der Überraschungsparty gewusst hat wie ich. Klar, auf der einen Seite hätte ich auch bezweifelt, dass ihm einer der anderen nahe genug steht, um ihn darüber zu informieren. Auf der anderen Seite bin ich erstaunt, dass er es nicht von »mir« weiß. Die Party muss schon länger geplant gewesen sein, also wieso hat ihm mein anderes Ich nichts davon erzählt? Das ist sehr bedenklich. Ich frage mich, ob ich mir deswegen Sorgen machen sollte. Es ist zehn vor acht, als wir beim »Meido no Hitsuji« ankommen. Viel zu früh, wie ich befürchte, da wir erst um neun öffnen. Wird irgendjemand so verrückt sein, über eine Stunde vorher hier aufzuschlagen? „Lass es uns hinten versuchen“, schlägt Ukyo vor. Verdeutlichend nickt er in Richtung Personaleingang. „Vielleicht haben wir Glück. Waka ist in der Regel immer weit vor Ladenöffnung da. Möglicherweise ist die Tür offen.“ Ich frage mich kurz, woher er das weiß und warum. Egal. Es gibt vermutlich Dinge, über die ich nicht zu sehr nachdenken sollte. Zu meinem Erstaunen stellt sich Ukyos Vermutung als richtig heraus. Die Tür ist unverschlossen und wird mir höflich aufgehalten, damit ich als Erstes eintreten kann. Der Flur ist hell erleuchtet und lässt keinen Zweifel zu, dass wir nicht die ersten Ankömmlinge an diesem Morgen sind. „Habe ich mich also nicht verhört“, empfängt uns Waka kurz darauf, noch bevor wir den Pausenraum erreicht haben. Ich bin überrascht, dass er bereits umgezogen ist. Wie selbstverständlich steht er in seiner Butleruniform vor uns, was mich zweifeln lässt, ob wir wirklich zu früh dran sind. „Guten Morgen. Wie unerwartet … Ukyo, bist du nicht zu früh dran?“ Ich wage die Begrüßung nur leise zu erwidern. Als ich aus meiner Verbeugung zurückkehre, blicke ich sorgenvoll zu Ukyo auf. „Guten Morgen. Ich weiß, ihr öffnet erst in einer Stunde. Eigentlich bin ich auch nur hier, weil ich Shizana mit dem Transport der Kuchen helfen wollte. Ich störe euch nicht lange, versprochen.“ „Shizana, geh dich umziehen“, richtet Waka das Wort an mich. Die Ansage ist deutlich, zielt jedoch weit an einem Befehl vorbei. „Ich übernehme hier.“ Mir ist nicht wohl dabei, Ukyo mit Waka allein zu lassen. Erst mit Ukyos Bestätigung, in Form eines Nickens und milden Lächelns, wende ich mich von den beiden ab.   Mit dem Umziehen verbringe ich so wenig Zeit wie möglich. Ich befürchte, dass Ukyo sonst verschwunden sein wird, wenn ich mich nicht beeile. Ich kann nicht zulassen, dass er ein zweites Mal geht, ohne sich zu verabschieden. Zumal ich ihn nicht länger als nötig mit Waka allein lassen will. Fertig angezogen eile ich ins Café zurück. Ich bin erleichtert, als ich Waka und Ukyo an einem der Tische finde, wo sie in einem Gespräch verwickelt sind. Sehr gut. Solange sie sich unterhalten, muss ich mir keine Sorgen machen. Ich bin dabei, die übrigen Stühle runterzustellen, als ich Stimmen aus dem Flur höre: „Sieht so aus, als seien wir nicht die Ersten.“ „Hey, sei vorsichtig damit. Willst du, dass sie Schaden nehmen?“ „Schon gut, schon gut. Ich bringe sie besser gleich in die Küche. Nanu, Ukyo-san?“ Die beiden Stimmen sind schnell identifiziert. Es verwundert mich wenig, als ich Toma und Shin in der Tür erkenne, als ich mich dem Tumult zuwende. Eher überrascht es mich, als ich Hanna entdecke, die hinter den beiden Jungs schwer auszumachen ist. „Lange nicht gesehen. Du warst ewig nicht mehr hier, oder? Ich habe mich schon gefragt, wo du wohl abgeblieben bist“, nimmt Toma meinen Mitbewohner sogleich in Beschlag. Ich beobachte, wie Ukyo der Gruppe ein vorsichtiges Lächeln schenkt, als sie zu ihm an den Tisch treten. „Es ist schön, euch zu sehen. Toma, Shin. Es ist wirklich lange her.“ „Wir haben überlegt, ob du Tokyo vielleicht verlassen hast. Hattest du viel zu tun?“ „So … kann man es vielleicht sagen.“ Ukyos Blick schweift von Shin ab, als er Hanna hinter den beiden Jungs schlussendlich entdeckt hat. Aus der Ferne erkenne ich, wie sie ihm ein höfliches Nicken schenkt, als sich ihre Blicke begegnen. Zu gern wüsste ich in dem Moment, was in Ukyo vorgehen mag. Die minimale Veränderung, die auf seinem Gesicht stattfindet, weiß ich nicht zu definieren. „Hallo, lange nicht mehr gesehen“, spricht Ukyo leise. Sanft. Jetzt weiß ich die Veränderung an ihm zu fassen. „Ich habe gehört, dass du krank warst. Geht es dir wieder besser?“ „Mh“, bestätigt sie mit einem Nicken. „Mir geht es gut. Es tut mir leid, dass ich allen solche Sorgen bereitet habe.“ „Das ist schön zu hören.“ Beide tauschen ein Lächeln. „Wir sollten uns umziehen. Toma, wolltest du die Kuchen nicht in die Küche bringen?“ „Ah, ja, richtig.“ Der Gedanke scheint ihm ganz entwichen zu sein. Shin dreht sich bereits ab, doch statt ihm zu folgen, richtet sich Toma erneut an Ukyo. „Da fällt mir ein … Ukyo-san, was machst du eigentlich hier? Bist du nicht ein wenig zu früh dran?“ „Oh, ich“, richtet er seinen Blick auf mich, „bin wegen Shizana hier.“ Na klasse. Ukyo, was machst du denn da?! Schon bin ich das Zentrum aller Aufmerksamkeit. „Er hat mir mit den Kuchen geholfen“, erkläre ich möglichst gelassen, um die Situation zu entschärfen. „Es war zu zweit einfacher, sie zu Fuß herzubringen.“ „Hm, sieh an?“ Ich bin nicht sicher, was ich von Tomas Reaktion halten soll. Sein freundliches Lächeln steht im Kontrast zu dem Erstaunen, das aus seinen Worten klingt. „Es ist ja nicht wirklich überraschend, dass ihr zwei befreundet seid. Aber wer hätte gedacht, dass ihr euch so nahe steht? Euch so früh zu treffen, um Kuchen zu transportieren … Das ist kein selbstverständlicher Freundschaftsdienst, oder?“ „So ist es nicht“, erhebt Ukyo Widerspruch. Sein Einwand überrascht mich. „Wir sind uns nur zufällig begegnet. Sie sah mir bemüht aus, da habe ich ihr meine Hilfe angeboten.“ Mhm? Interessant. Ukyo versucht also unsere Beziehung zu verschleiern. Das hatte ich mir fast gedacht. Es wäre auch bestimmt verdächtig gewesen, wenn die anderen die Wahrheit wüssten. Eine WG zwischen Mann und Frau, die sich noch nicht so lange kennen, sähe sicherlich seltsam aus. Mich würde es auch nicht wundern, wenn man uns bei der Enthüllung nachsagen würde, wir seien ein Liebespaar. Wuah, nein, das wäre wirklich nicht sehr klug. Aber gut, sie wissen zumindest, dass Ukyo und ich Freunde sind. Ob er mich in der Vergangenheit wohl öfters im Café besucht hat? Ganz gleich, wenigstens das brauche ich nicht länger zu verheimlichen. Gut zu wissen. Prüfend studiere ich die Gesichter der anderen. Ukyos Blick ist zweifelnd, doch seine streng gezogenen Lippen lassen ihn vorwurfsvoll erscheinen. Ich denke, dass Toma und Hanna ihm die kleine Notlüge abkaufen. Nur bei Shin bin ich mir nicht ganz so sicher. Er ist der Einzige, der nicht zu Ukyo sieht. Stattdessen ist sein Blick auf mich gerichtet, als erwarte er, aus meiner Reaktion die Wahrheit zu erfahren. Seine leuchtend roten Augen halten mich in einem Bann, aus dem ich nicht auszubrechen wage. Ich kann nur gegenhalten, indem ich ruhig und entspannt bleibe. Dummerweise sieht es auf seiner Seite ganz genauso aus. Es ist mir unmöglich, aus seiner zwanglosen Haltung und ausdruckslosen Miene zu lesen. Verdammt. Ich wage mich kaum zu fragen, was wohl gerade in ihm vorgehen mag.   Es dauert nicht allzu lange, bis unser Team Verstärkung bekommt. Ikki und Kento sind die Nächsten, die im Café eintreffen. Kurz vor knapp erscheinen auch Sawa und Mine, sehr zum Missfallen Wakas. Obwohl die beiden noch pünktlich sind, fallen sie seiner Moralpredigt zum Opfer, die mir zu angezogen scheint. Sie tun mir leid, aber dazwischenzugehen würde alles nur schlimmer machen. Nach Wakas anführender Kriegsrede sind die Schwerter geschärft. Maids, Butler und Köche stehen in ihren Nikolauskostümen zum Kampf bereit. Die Kuchen sind zum größten Teil geschnitten und zu unseren siegführenden Waffen ernannt. Der Feind wartet vor den Toren, die Krieger steh‘n bereit. Zeit, das Schlachtfeld zu eröffnen! … Naja, oder so etwas in der Art. Kein Mensch wartet, als wir das Café als geöffnet ausweisen. Es braucht eine geschlagene halbe Stunde, bis wir den ersten Kunden begrüßen dürfen. Er bestellt nicht mehr als einen Kaffee, bei welchem er die Morgenzeitung liest. Unspektakulär, und schon kehrt wieder Stille ein. „Wenn das so weitergeht, dürfen wir den Großteil der Kuchen allein essen“, seufze ich leise. „Der Tag hat gerade erst begonnen“, merkt Toma neben mir an. Er versucht mir wohl Mut zuzusprechen. „Warten wir erst einmal ab, was passiert. Shin und du habt doch gestern noch Flyer verteilt. Ich bin sicher, die Kunden kommen noch, sobald sie ausgeschlafen haben.“ Na hoffentlich. Ich habe zwar nichts gegen Kuchen, ich esse ihn sogar ganz gern, aber gleich dutzende davon wäre doch zu viel des Guten. „Wie machen wir das nun eigentlich?“, spricht er erneut und ein Seitenblick verrät mir, dass es an Ikki gerichtet ist. Hinter dem Tresen vertreibt er sich die Zeit, indem er einige Gläser poliert. „Wir hätten das vielleicht besser absprechen sollen. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr Törtchen macht.“ „Es war die einzige Wahl.“ Sorgsam stellt er das Glas ab, legt das Tuch beiseite, bevor er sich uns zuwendet. Ich bin dankbar für das Ruprecht-Kostüm, dessen Kapuze sein Gesicht hervorstehend umrahmt. Seine Augen liegen im Schatten, wodurch ich weniger Sorge haben muss, ihn auf sicherem Abstand anzusehen. „Mir schwebte ja eher etwas Eleganteres vor, aber Ken war dagegen. Die Meido-Geburtstagstorten sind das einzige Rezept in dieser Richtung, das ihm vertraut ist. Er wollte keine Experimente eingehen.“ Und offenbar konnte ihn keines von Ikkis Argumenten vom Gegenteil überzeugen. Interessant. Kento muss die Aufgabe ernster genommen haben, als ich ihm je zugemutet hätte. Toma stößt ein schweres Seufzen aus. „Das ist wirklich ungünstig. Shin und ich sind bei Formkuchen geblieben. Nachdem Sawa die Kuchen von IsyBake vorgeschlagen hat, gingen wir in der Annahme, das wäre das Sinnvollste. Wir haben keine fertige Backmischung verwendet, allerdings dachten wir, dass wir zumindest vom Optischen her einheitlich bleiben sollten.“ Tja, das war wohl nichts. Im Vergleich zu meinen Kuchen können die beiden vielleicht noch mithalten, aber Ikki und Kento fallen mit ihrer Umsetzung gänzlich aus dem Rahmen. Kastenförmige Topfkuchen versus edle Rundtörtchen, das kann man wahrlich nicht als »einheitlich« bezeichnen. „Ich habe keine Bedenken, dass unsere Kuchen geschmacklich die besseren sind. Aber wenn die Kunden die Wahl haben …“ „Langsam, Toma. Urteilst du nicht zu voreilig?“, geht ihm Ikki dazwischen. Die Seelenruhe in seiner Stimme macht sein Lächeln im Grunde überflüssig. „Ich streite nicht ab, dass unsere Kreationen im Vergleich kleine Blickfänger sind. Aber heißt es nicht, dass es die inneren Werte sind, auf die es ankommt?“ Und das gerade von ihm. „Das sagt sich so einfach.“ „Soll das heißen, dass du den Wettbewerb trotzdem durchziehen willst?“, möchte ich wissen. „Selbstverständlich.“ Er wirkt selbstüberzeugt. Der direkte Blickkontakt ist mir unangenehm. Ich sehe weg, nur um sicherzugehen, und wende mich stattdessen Toma zu. „Tja, da hast du’s.“ „Aber wie sollen wir das machen? Unter diesen Umständen –“ „Sprecht ihr über den Wettbewerb?“, wird er von Sawa unterbrochen. Sie, Mine und Hanna gesellen sich vom Personalbereich zu unserer kleinen Runde. Ich frage mich, was sie so lange da hinten getrieben haben. „Klärt uns bitte auf. Wir haben ebenfalls das Recht, die Spielregeln zu kennen.“ „Wieso?“, gibt er fragend zurück. Das würde mich auch interessieren. „Na, weil wir mitmachen. Hast du mir vorhin nicht richtig zugehört?“ Was? „Beim Wettbewerb?“, frage ich verdutzt. „Ja, bei was denn sonst?“ „Moment. Ich denke, es hieß, wir Mädels halten uns da raus?“ „Ja, schon“, bestätigt sie mir leise. Sie wirft einen kurzen Blick zu den anderen Mädchen, ehe sie sich breit grinsend an mich zurückwendet. „Naja, also es war so: Wir haben uns zum Backen verabredet und während wir so geredet haben, kam uns der Gedanke, dass es doch ganz lustig wäre. Backen ist schließlich Frauensache, richtig?“ Ich verkneife mir einen Kommentar. Wenn das die Bedingungen sind, dann bin ich wohl keine Frau. Definitiv nicht. „Außerdem hat es etwas für sich, wenn einem die Putzarbeit abgenommen wird“, pflichtet Mine ihr bei. Es scheint weniger an mich gerichtet zu sein. Auf jeden Fall gilt ihr zufriedenes Engelslächeln nicht mir. „Vor allem, wenn es einer unserer Jungs ist. Ich persönlich würde es ja am ehesten Shin-kun und Toma-senpai gönnen.“ „Wieso denn mir?“ „Ich eher Ikki-san“, kommentiert Sawa leise. Ihr missgönnender Blick ist auf Besagtem gerichtet. Ich bin nicht sicher, ob er es mitbekommen hat. Hanna ist die Einzige, die nichts zu dem Ganzen sagt. Sie steht nur neben den beiden Freundinnen und behält sich ihr tapferes Lächeln. Mir drängt sich die Frage auf, ob sie die ganze Aktion überhaupt unterstützt. Vielleicht ist sie nur überstimmt worden, oder könnte sie wirklich ein eigenes Interesse an diesem Wettbewerb haben? „Ganz ehrlich, Sawa“, richtet Toma das Wort an sie. „Das macht es nicht gerade einfacher. Davon abgesehen war es nicht abgesprochen, dass ihr mitmacht.“ „Mann, sei doch mal ein bisschen flexibler! Wo ist denn überhaupt das Problem?“, beharrt sie vorwurfsvoll. „Das Problem ist, dass wir so schon nicht wissen, wie wir den Wettbewerb mit zwei unterschiedlichen Kuchenarten abhalten sollen. Wenn ihr jetzt auch noch mitmacht, wird das nur komplizierter“, erklärt er. „Ich für meinen Teil ziehe es vor, Frauen einen Gefallen zu erweisen, als ihnen eine Niederlage zu bereiten“, vertritt Ikki seinen Standpunkt. „Wenn Toma und Shin verlieren, soll mir das recht sein. Bei einer Frau hingegen fühle ich mich schuldig.“ „Also mir darfst du jederzeit einen Gefallen erweisen, Ikki-san“, fängt Mine seine Worte auf. Für ihre Offensive verdient sie ein charmantes Lächeln. Woah, was geht hier ab? Erst dachte ich, Ikki sei schlimm mit seiner übertriebenen Schmeichelei. Aber Mine ist kaum besser. Sollte das ein Flirt werden? Vor aller Augen? Hat sie ihn noch immer nicht aufgegeben? Verstohlen sehe ich zu Hanna. Ich rechne damit, dass ihr die Situation unangenehm sein muss. Immerhin ist Ikki ihr Ex-Freund, und das noch gar nicht so lange. Jedoch stelle ich erstaunt fest, dass sie dem Austausch keinerlei Beachtung schenkt. Lieber flüstert sie mit Sawa, wobei ich nicht sagen kann, worum es zwischen ihnen geht. „Papperlapapp, wir machen mit! Das steht außer Frage. Wir haben doch nicht ganz umsonst ein ganzes Blech Kuchen gebacken.“ Ich traue meinen Ohren nicht. „Ein ganzes Blech Kuchen?“, wiederhole ich ungläubig. Sie nickt. „Wir konnten uns nicht entscheiden, also haben wir uns letztlich darauf geeinigt. Was glaubst du, warum uns meine Eltern mit dem Auto herbringen mussten?“ Ich bin perplex. Ein ganzes Blech? Um Himmels willen, wie viele Kunden sollen bitte den ganzen Kuchen essen?!   Neben der abwechselnden Kundenbedienung geht die Diskussion weiter. Nicht nur, dass wir keinerlei Einigkeit in unseren gebackenen Kuchen haben. Nein, mit Sawas spontanen Beschluss, beim Wettbewerb der Jungs mitmischen zu wollen, wird das Chaos nur noch konfuser. Ich wusste doch, dass es klüger gewesen wäre, sich im Vornherein besser abzusprechen. Nun haben wir den Salat, und das Event hat längst begonnen. Sawa versucht mich zu bereden, doch noch an dem Wettbewerb teilzunehmen. „Einer mehr oder weniger, das macht nun auch nichts mehr“, argumentiert sie. Außerdem seien dann alle mit dabei. „Nein, lass mal“, lehne ich dankend ab. „Ich hatte das von vornherein nicht vor und es würde sich für mich auch nicht lohnen.“ Schließlich habe ich nur lieblos gebackenen Fertigkuchen vorzuweisen. „Du hast also wirklich die von IsyBake genommen? Die sind richtig lecker, findest du nicht?“ Keine Ahnung, aber das finde ich noch heraus. Zusammen mit Ukyo. Meine Gedanken schweifen zu meinem Mitbewohner. Kurz nachdem Mine und Sawa aufgetaucht waren, hat er sich wieder auf die Socken gemacht. Er will wohl noch irgendetwas erledigen, hat er gesagt. Hoffentlich hält er sein Versprechen, noch einmal vorbeizukommen und sich etwas von den anderen Kuchen abzuholen. Wäre schade, wenn er das Event gänzlich verpassen würde. Vorsichtig sehe ich zu Hanna. Ob sie wohl bemerkt hat, wie er sie angesehen hat? Es ist traurig, wenn ich daran denke, dass sie keine Erinnerungen an ihn hat. Aber für Ukyo – „Also, folgender Schlachtplan“, schneidet Sawas Stimme in meine stillen Gedanken. Ich habe nicht bemerkt, wie sich die Gruppe aus ihr, Ikki und Toma wieder bei mir am Tresen versammelt hat. Mine ist irgendwo im hinteren Bereich und Hanna nimmt gerade eine Kundenbestellung entgegen. „Da wir mehr Kuchen haben, als erwartet, schlage ich eine kleine Planänderung vor: Statt der Stammkunden bekommt jeder Gast ein Stück spendiert. Wir teilen jeden Kuchen in mehrere Stücke, sodass jeder die gleiche Chance auf den Sieg hat.“ „Ich bezweifle, dass wir damit ein ganzes Blech aufwiegen können“, merke ich an. „Wir müssen ja nicht das gesamte Blech ins Rennen schicken. Nur so viel, dass es dieselbe Zahl zum Rest ergibt“, unterbreitet sie vorsichtig. „Das sollte zuvor mit Waka-san abgesprochen sein“, gibt Toma zu bedenken. „Ohne seine Absegnung läuft das nicht. Aber ich denke, ich kann das übernehmen.“ „Und wie bringen wir die Kuchen an die Kundschaft?“, richtet Ikki seine Frage an die Runde. „Jeder steht für seinen eigenen Part“, legt Sawa fest. Ihr breites Grinsen zeigt, dass sie von diesem Plan überzeugt ist. „In Ordnung. Und wie lösen wir die Auswertung?“ „Es war dein Vorschlag, dass die Kunden über den Gewinner entscheiden. Hat dir dazu nichts vorgeschwebt?“ „Nicht direkt“, gibt Ikki an Toma zurück. Anschließend richtet er sich wieder an die Gruppe. „Also? Hat jemand eine Idee?“ Ratlos senkt Sawa den Kopf, eine Hand in ihrem Nacken. „Tja, da muss ich passen, Jungs. Wir können sie kaum direkt fragen, nehme ich an?“ „Wenn ich etwas vorschlagen darf?“, melde ich mich zu Wort. Kurz prüfe ich, ob ich fortfahren kann. „Also ich mache zwar selbst nicht mit, aber wie wäre es damit, den Kunden Nachschlag anzubieten? Ich meine, Sawa hat recht. Ihr könnt die Kunden kaum nach ihrer Meinung fragen. Aber wir haben genug Kuchen, um ihnen zwei Stück anzubieten. Jeder, dem das erste Stück geschmeckt hat, wird zu einem zweiten nicht Nein sagen, solange es kostenlos ist.“ „Das ist genial!“ „Es klingt auf jeden Fall sinnvoll. Und genug dürften wir ohne Zweifel haben“, stimmt Toma zu. „Das erscheint mir fair. So kann keiner auf Sympathie allein punkten, richtig?“, lächelt Ikki zu mir herüber. Kleine Schmetterlinge werden in mir wach, welche ich still verfluche. Natürlich werde ich es nicht offen zugeben, aber genau das war auch meine Überlegung gewesen. Jeder, der nicht blind ist, wird mir zustimmen, dass es anders nicht fair verlaufen kann. Ein einziger Blick in Ikkis Augen hätte genügt, um jeder weiblichen Kundschaft ein Kompliment zu seiner Backkunst zu entlocken. Ganz gleich ob angemessen oder nicht. Und wer könnte am Ende schon beurteilen, was davon zutrifft? Ich nehme selbst nicht am Wettbewerb teil, dennoch möchte ich, dass die Jungs unter den gleichen Voraussetzungen antreten. Ganz selbstlos ist dieser Wunsch von mir nicht. Macht es nicht sehr viel mehr Spaß, ihre Bemühungen zu beobachten, wenn sie von keinem persönlichen Vorteil profitieren können? „Ich werde Ken von dieser Idee in Kenntnis setzen. Ich denke, er hat nichts dagegen, die Auswertung zu leiten. Ohne Listenführung dürfte es schwer werden, am Ende noch unterscheiden zu können, wer wie oft nachgereicht hat.“ „Bringt es dir nicht einen Vorteil, wenn dein bester Freund diese Aufgabe übernimmt?“, zweifelt Sawa an. Ihr prüfender Blick macht ihr Misstrauen deutlich. „Ken würde keinen Vorteil in einem Betrugsversuch sehen“, erklärt er gleichsam. „Du darfst dabei nicht vergessen, dass er genauso ein Teilnehmer an diesem Wettbewerb ist. Würde er das Ergebnis manipulieren, läge darin keine Bestätigung mehr für seine Arbeit.“ Für mich macht das Sinn. Sawa hingegen scheint weniger überzeugt. Ikki fährt indes fort: „Natürlich setzt das voraus, dass der Betrugsversuch ebenso wenig von unserer Seite herrührt. Ich schlage daher vor, dass wir in Paaren bedienen, wobei die Partner aus unterschiedlichen Teams stammen müssen. Wird ein Zweitstück vergeben, wird dieses zuvor durch den jeweiligen Partner an Ken bestätigt.“ Partner? Ich lasse meinen Blick zögerlich zu Sawa schweifen. In ihrem Gesicht lese ich dieselbe Perplexität, die ich unter Verschluss zu halten versuche. Auf ihren fragenden Blick antworte ich mit einem betonten Schulterzucken.   Kurz darauf stehen die Teams fest. Gespannt beobachte ich, wie Sawa und Ikki die nächsten Gäste in Empfang nehmen und an einen freien Tisch führen. Es war naheliegend, dass Nikolaus-Maid und Ruprecht-Butler je ein Team bilden. Ganz im Rahmen des Nikolausevents. Auf die Art würde keiner der Gäste von dem Wettbewerb Wind bekommen, der im Hintergrund unter den Bediensteten abgehalten wird. „Die beiden kommen schon klar.“ Ich drehe meinen Kopf. Toma, mein heutiger Partner, steht dicht bei mir und lässt es sich ebenfalls nicht nehmen, das gegnerische Team aufmerksam bei ihrem Tun zu beobachten. Seine Gesichtszüge wie Haltung sind entspannt. „Meinst du?“ „Ich denke schon.“ „Du denkst?“ Seine Worte lassen mich schmunzeln. Ein wenig plagt mich schon das schlechte Gewissen. Wäre es nach Sawa gegangen, stünde nicht ich, sondern sie hier an Tomas Seite. Sie hatte sich vehement dagegen gesträubt, mit Ikki ein Team zu bilden. Ich musste sie erst davon überzeugen, dass es ihr mehr Vorteil bringt, den Erzrivalen direkt neben sich zu haben, als ihn nur zu beobachten. Zum Glück hat Toma diese Meinung unterstützt, indem er sie an ihre eigene Aussage erinnert hat. Das bewahrt mich davor, klein und hilflos neben Ikki zu stehen und vor lauter Nervosität gar nichts hinzukriegen. „Ich schlage vor, wir handhaben das fair“, sagt er zu mir. „Wir wechseln uns mit dem Kuchen ab. So ist es stressfreier. In Ordnung?“ „Meinetwegen. Aber denkt daran, mich aus der Bewertung rauszulassen.“ „Schon klar.“ Er zeigt ein Lächeln. „Wir sind dann draußen“, verkündet Shin hinter uns, als er ebenfalls im Kostüm aus dem Personalbereich nach vorn tritt. Toma nickt in seine Richtung. „Verstanden. Viel Erfolg euch beiden.“ „Moah, wieso werde ausgerechnet ich zum Flyer verteilen abgestellt?“, mosert Mine neben Shin. Ihr vorwurfsvoller Blick trifft direkt auf mich. „Wieso macht sie das nicht? Sie macht nicht einmal mit bei dem Wettbewerb.“ Durch meinen Körper geht ein Ruck. Unrecht hat sie nicht, aber wieso richtet sie ihren Vorwurf gegen mich? Es war doch nicht meine Entscheidung, wer mit wem ins Rennen geht. „Mit ihr sind die Teams ausgeglichen“, argumentiert Toma an meiner Stelle. Wie immer wird er dadurch zu meinem persönlichen Retter in der Not. „Aus eurem Team ist bereits Sawa aufgestellt. Denkst du nicht, dass es ein wenig unfair für uns Jungs gewesen wäre, wenn Hanna oder du den zweiten Platz besetzt hätten?“ „Aber …“, erhebt sie leisen Widerspruch. Indem sie eine Hand schüchtern vor den Mund hebt und aus großen Unschuldsaugen aufsieht, greift sie zu den Waffen. „… ich bin in der Bedienung besser als sie. Die Kunden mögen mich lieber. Und sieht das Kostüm an mir nicht am besten aus?“ Autsch. „Wen interessiert das? Komm jetzt, Mine.“ „Aber, Shin-kun!“ Starr sehe ich den beiden nach. Ich bin froh, dass die Kimonoärmel so lang nach unten reichen. Niemand sieht, wie ich die Hände zu Fäusten geballt habe. Meine Fingernägel drücken unangenehm gegen die Handinnenflächen. „Lass dir das von Mine nicht so nahe gehen“, spricht Toma aufbauend neben mir. „Du weißt ja, wie sie ist.“ „Ich bezweifle ihre Worte nicht“, gestehe ich leise, ohne ihn anzusehen. „Es kratzt nur ein wenig an meinem Stolz, das ist alles.“ „Das muss es nicht. Ich wette, Mine hat es selbst nicht so gemeint, wie es klang.“ Da bin ich mir nicht so sicher. „Hm. Ich überlege schon die ganze Zeit, ob ich mir besser ein Stück von jedem Kuchen zurücklegen sollte. Nur für den Fall der Fälle.“ Fragend sehe ich zu ihm auf. „Hast du wirklich Zweifel, dass etwas übrigbleiben wird?“ „Naja, von den Mädchen bestimmt. Ich habe allerdings vor, den von Shin und mir komplett unter die Leute zu bringen. Ikki-san sieht das bestimmt genauso. Und ich würde mich gern selbst von der Konkurrenz überzeugen“, erklärt er zwinkernd. „Das kann ich nachvollziehen. Aber ich denke, da brauchst du dir so schnell keine Gedanken zu machen.“ „Dein Kuchen sah auch sehr gut aus. Ich glaube, davon reserviere ich mir auf jeden Fall ein Stück.“ „Es ist nur IsyBake“, spiele ich herunter. „Kommt immer darauf an, wie man’s macht. Ich werde ihn auf jeden Fall probieren, wenn ich darf?“ „Ja klar, wenn du willst?“ Ich zeige nicht, wie sehr mich seine Worte wirklich freuen. Und das Grinsen, das ihn ein wenig jungenhaft wirken lässt. „Da fällt mir ein … Hast du mir zufällig neulich eine SMS geschickt?“, möchte ich wissen. Mir kam plötzlich wieder diese seltsame Nachricht in den Sinn, die ich im Supermarkt von irgendwem erhalten habe. Er wirkt überrumpelt von meiner Frage. Zumindest macht es den Anschein, als sich unsere Blicke begegnen. „Eine SMS? Nein, wieso?“ „Hm, nur so.“ Möglichst gleichgültig sehe ich wieder nach vorn. Wirklich überrascht bin ich nicht. Ich hatte Toma nicht direkt im Verdacht, aber es konnte nicht schaden, ihn wenigstens zu fragen. Was es leider nicht besser macht. Befindet sich jener Unbekannte unter uns oder muss ich im Laufe des Tages noch mit einem aufdringlichen Stalker rechnen?   Mit der Zeit füllt sich das Café. Einige Gäste halten einen der Flyer in der Hand, die draußen von Mine und Shin verteilt werden. Ich kann also schnell davon ausgehen, dass sich die Spontanaktion doch noch lohnen wird. Unsere beiden Teams geben sich die größte Mühe, jeden Kunden in Empfang zu nehmen. Die wenigen, die wir nicht schaffen, übernimmt Hanna im Alleingang. Laut ihrer Aussage sei das für sie in Ordnung. Sie genießt es, uns bei der Arbeit zu beobachten, was mir nicht wirklich behagt. Aber gut, solange sie Spaß hat und sich nicht ausgeschlossen fühlt. Wie schon beim ersten Mal gestaltet sich auch heute das Arbeiten mit Toma als angenehm. Er strahlt eine wohltuende Ruhe an meiner Seite aus, wann immer ich mit dem Kunden in Kontakt trete. Seine souveräne Art ist es wohl auch, die positiv auf unsere Gäste wirkt. Trotz des düster wirkenden Ruprechtkostüms bleibt jeder entspannt und ungezwungen, sobald er mit den Leuten spricht. Ich kann jedem lächelnden Gesicht und jedem leisen Kichern entnehmen, dass die Gäste Spaß an unserer kleinen Nikolausaktion haben. Sie scheinen das kleine Schauspiel zu genießen. Doch auch das gegnerische Team bleibt nicht unbemüht. Sawa greift in wirklich jede Trickkiste, um die Kundschaft von sich und ihrem Kuchen zu überzeugen. Ihr stetiges Lächeln wirkt angestrengt auf mich, weiß jedoch zu überzeugen. Zumindest solange, bis ihr Partner am Zug ist. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, hätte ich mit ihm das Team gebildet. Es erscheint mir nicht fair, wann immer die beiden einer Kundin gegenüberstehen und alle Aufmerksamkeit auf Ikki ruht. Ich habe Mitleid mit Sawa, die mit jedem überreichten Kuchen von ihm immer frustrierter wirkt. Ich frage mich, wie viele er wohl schon verteilt hat. Zu jeder kleinen Gelegenheit tauschen die Jungs ihre Ergebnisse aus. Ich bin nicht durchgängig auf dem neusten Stand, merke aber anhand von Tomas anschließendem Verhalten, wer gerade in Führung liegt. Ist er es, strahlt er mit jedem neuen Kundengespräch über das ganze Gesicht. Ist es Ikki, geht er aggressiver in die Offensive. Dann macht er mich ganz nervös mit seinem aufgesetzten Lächeln, mit dem er versucht, die nächste Runde allein für sich zu entscheiden. Irgendwann haben sich die Plätze gut gefüllt. Kento benötigt Unterstützung in der Küche, weswegen Sawa und Hanna die Verteilung der Flyer übernehmen. Shin verschwindet wortlos nach hinten, während Mine ganz aus dem Häuschen ist, neben Ikki die Bedienung zu übernehmen. Ich bin nicht sicher, ob sie mehr die Kunden oder ihren Partner bezirzt. Auf jeden Fall scheinen beide Spaß an ihrem kleinen Wettkampf zu haben. Sie zu beobachten, versetzt mir einen kleinen Neidstich. Mine ist so mädchenhaft und hübsch in ihrer abgewandelten Uniform, dass sie das Bild zu Ikki perfekt ergänzt. Mir wird bewusst, wie chancenlos ich gegen sie bin. Gegen so viel Charme und Charisma komme ich nicht an. Mit mir an seiner Seite kann Toma nur verlieren. Ich bin erleichtert, als Ukyo gegen halb vier erneut das Café betritt. Erst da wird mir bewusst, wie die letzten Stunden an mir vorübergezogen sind. Dass seit seinem Aufbruch mehr als sechs Stunden vergangen sein sollen, hätte ich nicht vermutet. Nicht mehr lange bis zum Feierabend. In unserem scheinbaren Kundengespräch erfahre ich, dass Ukyo draußen auf Hanna und Sawa getroffen ist. Sie haben kurz geplaudert, erzählt er mir, und er sei von Sawa dazu angehalten worden, ihren Kuchen zu probieren. Ich erkläre, dass die Mädchen ihn zusammen gebacken haben, worüber er bereits im Bilde ist. Er wirkt unschlüssig, wie er sich bei dem Thema »Kuchen« verhalten soll. Ich glaube zu wissen, wieso. „Ich denke, es ist besser, wenn ich dir ein Stück von den Mädchen bringe“, nehme ich ihm die Entscheidung ab. Überzeugt grinse ich. „Sawa hat schließlich darauf bestanden, richtig? Ich kläre das schon ab, nur keine Sorge.“ Im Flüstern erinnere ich Ukyo daran, dass wir zu Hause noch einen ganzen Erdbeerkuchen für uns haben. Mir ist klar, dass er gern etwas von dem probieren möchte, was Hanna zubereitet hat. Er muss sich nicht entscheiden. Schon gar nicht meinetwegen. So vergehen die letzten Stunden.   Es ist zehn nach fünf, als wir den letzten Gast verabschiedet haben. Damit ist der Tag geschafft, das Chaos überstanden. Keine weiteren Zwischenfälle Und kein Stalker weit und breit. Nicht, dass ich es mitbekommen hätte. „Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wer denn nun gewonnen hat!“, entfährt es Sawa, kaum dass die Tür verschlossen ist. „Je schneller wir mit Aufräumen fertig sind, desto eher erfahren wir es.“ Toma scheint mir bester Dinge zu sein, als er sich an Ikki wendet. „Wie steht es um die Auswertung? Weißt du schon etwas?“ „Ken kümmert sich bereits darum“, erklärt er. Sein Grinsen ist nicht weniger zuversichtlich als bei Toma. „Verlieren wir besser keine weitere Zeit. Wie du schon sagtest: Je eher wir fertig sind, desto schneller steht der Gewinner fest.“ Mehr Ansage bedarf es nicht. Ich wünschte, die anschließenden Aufräumarbeiten würden immer so flott vonstattengehen wie heute. Die Aufgaben sind rasch verteilt und noch schneller erfüllt. Es ist unglaublich, mit welcher Spannung das Café verhangen ist. Sie ist regelrecht greifbar und steckt selbst mich, die eigentlich nichts mit dem Ganzen zu tun hat, unweigerlich an.  „Ich komme präzise zum Endergebnis, sofern keine Einwände bestehen.“ Alle Augen sind auf Kento gerichtet, als er die Auswertung schlussendlich eröffnet. Wir anderen haben uns um den ersten Tisch nahe der Theke versammelt. Auf Bank und Stuhl sitzt jeder außer mir wie angespannt. Selbst Ukyo, der aus irgendeinem Grund nicht aus dem Café verbannt wurde, ist neben mir das reinste Nervenbündel. Lustig, dabei hat er mit der ganzen Sache am allerwenigsten zu tun. „Gut. Also, der Verlierer ist …“ Alle Augen haften an dem Blatt Papier in Kentos Händen. Er selbst scheint wenig von unnötigem Spannungsaufbau zu halten. Sein Blick löst sich von dem Wahrheitsträger und zielt direkt auf das Verliererteam. „… das Mädchenteam: Sawa, Hanna und Mine.“ „Was?! Aber wieso?“, springt Sawa von ihrem Platz auf. Es wird begleitet von Mines leisem „Unmöglich“. „Das Team hat insgesamt vierundzwanzig Kuchenstücke ausgegeben. Darunter sind fünf Zweitportionen zu verzeichnen.“ „Was? Aber ich allein habe doch schon fünfmal Nachschlag gegeben.“ „Tut mir leid, Sawa-senpai“, meldet sich Mine zögerlich zu Wort. „Ich war so im Fluss und da habe ich wohl vergessen …“ „Mine … ernsthaft?“ Sawa stößt ein zentnerschweres Seufzen aus. Wie ein nasser Reissack lässt sie sich zurück auf ihren Stuhl fallen und legt die Arme auf den Tisch, nur um den Kopf darauf zu versenken. Ihr gestöhntes „Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben“ ist nur erstickt zu vernehmen. „Vielleicht hättest du weniger Eindruck schinden sollen“, belehrt Toma in Mines Richtung. Sein Gesicht trägt ein mitfühlendes Lächeln, doch dahinter ist ein leiser Anflug von Genugtuung zu erkennen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass ich es mir nur einbilde. „Aber ihr habt euch sehr gut geschlagen“, richtet sich Ikki anerkennend an die Mädchen. „Sawa hat wacker gekämpft und Mine wohl übernommen. Für einen Moment habe ich schon befürchtet, von weiblicher Überzeugungskunst ausgespielt zu werden. Das hätte ich niemals aufwiegen können.“ Ein kleinwenig nervt es mich, wie scheincharmant Ikki in die Mädchenrunde lächelt. Vielleicht ist es auch Mines kindische Reaktion, wie sie irgendwelches verlegenes Zeug stammelt und dabei eine verdammt-niedliche Röte auf ihre Wangen zaubert. Sawa brummelt irgendetwas gegen die Tischplatte, das vermutlich nicht einmal sie selbst versteht. Nur Hanna hält sich heraus und bewahrt sich ihr unsicheres Lächeln. „Wenn ich dann fortfahren dürfte?“, erhebt Kento ruhig, aber betont die Stimme. Keiner wagt mehr etwas zu sagen, was ihm Antwort genug ist. „Gut. Da wir das geklärt haben, nun zum Gewinner. … Es gibt keinen.“ „Huh?“ „Wie meinst du das, Ken?“ Selbst an Shin bemerke ich, wie er überrascht die Augenbrauen hebt. Sein Kinn liftet sich minimal, was wohl bedeutet, dass er endlich interessiert ist. Vermute ich zumindest. „In der Gesamtverteilung von Kuchenstücken liegt Das Team Ikkyu und Kento weit vorn“, erklärt Kento, wobei er sich wieder auf das Blatt in seinen Händen konzentriert. „Insgesamt hat Ikkyu siebenundzwanzig Kuchenstücke ausgegeben. Darunter befinden sich sieben Zweitportionen. Das Team Toma und Shin hingegen hat einundzwanzig Kuchenstücke vergeben, worunter sich ebenfalls sieben  Zweitportionen befinden.“ „Das heißt, wir haben am wenigsten Kuchen verteilt … Aber dafür auf die Gesamtstückzahl den meisten positiven Zuspruch erhalten“, überlegt Toma laut. In seinem Kopf arbeitet es, das kann ich sehen. Seine Erkenntnis lässt ihn schließlich aufblicken. „Würde das nicht eigentlich bedeuten, dass unser Team gewonnen hat?“ „Auch wenn ich dir offen zugestehe, dass dein Gedanke auf prozentualer Basis korrekt ist … In Anbetracht der aufgestellten Regeln, denen dieser Wettstreit unterliegt und denen beide Seiten zugestimmt haben, gewinnt die Summe in der Nachfrage. Die Gesamtzahl in der Quantität hat darauf keinerlei Einfluss.“ „Was? Aber –“ „Toma“, fährt Shin ihm dazwischen. Alle Augen richten sich auf ihn bei dem ernsten Klang seiner Stimme. „Was Kento-san sagt, ist richtig. Genauso hast du in diesem bestimmten Punkt recht, aber es tut hier nichts zur Sache. Ihr habt dem Vorschlag zugestimmt, das Ergebnis an der Nachfrage der Kunden zu messen. Wer im Gegenvergleich die bessere Qualität vorzuweisen hat, spielt dabei keine Rolle.“ Sein Blick richtet sich auf mich, als wolle er sagen, dass ich der Grund für dieses Resultat bin. Unwillkürlich straffe ich die Schultern. Wieso gibt er mir die Schuld daran? Konnte ich denn wissen, wie sich das Ganze entwickelt? Seine nächsten Worte klingen wie ein unterschwelliger Vorwurf, der an mich geht: „Demzufolge, es gibt keinen Gewinner.“ „Zumindest im Rahmen der gegebenen Bedingungen.“ Die verborgene Wendung in Kentos Einwurf bleibt nicht unbemerkt. Jeder, mich inbegriffen, sieht zu ihm auf. „Wie ist das gemeint? Gibt es doch einen Gewinner?“, stellt Ukyo jene Frage stellvertretend für uns alle, die langsamer sind als er. „Nun ja … Gemessen an den Ergebnissen aller Beteiligten, gäbe es den in der Tat.“ „Sag mir nicht …“ Sawa ist die Erste, die die Botschaft entschlüsselt hat. Ihrem Blick folgen alle anderen … und ich muss feststellen, dass ich es bin, die sie ansehen. „Shizana hat gleichziehend mit Team Toma und Shin einundzwanzig Kuchenstücke ausgeteilt. Davon allerdings handelt es sich bei acht Stücken um Zweitportionen.“ Daraufhin wird es still im Café. Zumindest so lange, bis Mines geflüstertes „Aber sie hat doch gar nicht mitgemacht“ die Stille bricht. „Wow. Meinen Glückwunsch, Kleines.“ „Das ist in der Tat eine unerwartete Wendung. Ich gratuliere.“ „Shizana … was? Ich kapiere gar nichts mehr.“ „Glückwunsch, Shizana-san.“ „Aber … ich habe doch gar nicht mitgemacht?“ „Wir haben gewonnen.“ „Das ist nicht fair. Sie hat doch gar nicht mitgemacht!“ „Also gehe ich davon aus, dass wir jetzt einen Gewinner haben?“ „Nein!“, protestiere ich gegen das Missverständnis an. Schnell erhebe ich mich und stemme die Hände auf die Tischplatte, um meinen Standpunkt deutlich zu machen. „Ich habe doch gesagt, ihr sollt mich aus der Bewertung ausschließen. Toma, sag es ihnen!“ „Tja weißt du“, lächelt er vorsichtig und zuckt mit den Schultern, „selbst auf prozentualer Basis stehst du an der Spitze. Und mir ist es eigentlich lieber, gegen Qualität als Quantität zu verlieren.“ Mir klappt nahezu die Kinnlade herunter. Niemals hätte ich erwartet, dass Toma mir in den Rücken fällt. Nicht ausgerechnet Toma! Hilfesuchend wende ich meinen Blick an Ukyo, doch der sitzt nur stocksteif auf seinem Platz und übt sich im Großstaunen. Von ihm kann ich keinen rettenden Spruch erwarten. Super, mein letzter Rettungsanker ist von Bord gegangen. Es ist mehr ein Versehen, dass ich Shins Blick begegne. Er mustert mich so eingehend, als lernte er meine dämlich dreinguckende Visage auswendig. Die Erleichterung kommt kaum bei mir an, als er endlich von mir ablässt, denn als Nächstes ist Ukyo dran. Ich will etwas sagen, um ihn von ihm abzulenken, als Kento mir zuvorkommt: „Schön, dann haben wir also einen Gewinner. Nun ist die Frage, wie lösen wir den Gewinn ein?“ „Jeder, der nächste Woche mit Shizana Schicht hat, übernimmt ihre Putzarbeit?“, gibt Sawa ihre Schlussfolgerung an die Runde. „Halt mal …“ „Und die Aufwandskosten?“ „Wie viel hast du ausgegeben?“, will Toma von mir wissen. Stöhnend massiere ich mir die die Stirn. „Ich will kein Geld von euch …“ Ich bin einfach nur überfordert. Kapitel 15: Überraschungsparty ------------------------------ Tja, und das ist es nun. Das Event ist vorbei, ebenso der Wettbewerb und ausgerechnet ich wurde zum Tagessieger erklärt. Dabei ist das total ungerechtfertigt, das finde ich immer noch. Wie kann man nur mit lieblos gebackenem Fertigkuchen gewinnen? IsyBake muss wirklich beliebt bei den Leuten sein, anders kann ich es mir nicht erklären. Wie wäre der Wettbewerb wohl ausgegangen, wenn jeder die Backmischungen verwendet hätte? Vor der Küche werfe ich einen verstohlenen Blick auf die Reste unserer Bemühungen. Es ist weniger Kuchen übriggeblieben, als ich gedacht hätte. Die Tortenstückchen von Ikki und Kento sehen wirklich verlockend aus. Aber ich frage mich, wie wohl die Kreationen von Shin und Toma schmecken. Kentos Auswertung hat gezeigt, dass die Kunden von ihren Qualitäten überzeugt waren. Dabei sehen die schokobraunen Stückchen so schlicht aus, kaum verziert. Mich überkommt ein Schmunzeln, als ich mir auszumalen versuche, wie die Jungs zum Backen in der Küche gestanden haben müssen. Ob Toma und Shin viel diskutiert haben? Wie viel Rechnerei hat Kento wohl betrieben und welche Figur hat Ikki dabei gemacht? Ich wünschte, es gäbe ein Anime-Special dazu, dann wüsste ich es und könnte mich darüber amüsieren. „Shizana? Was machst du denn da?“ Hach ja, schön wär’s. „Sorry, ich war in Gedanken“, erkläre ich und drehe mich zu Sawa herum. „Wolltest du etwas Bestimmtes von mir?“ „Das fragst du noch?“, entgegnet sie mir vorwurfsvoll. Neugierig scheint sie dennoch zu sein, als sie neben mich tritt und ihren Blick ebenfalls durch die Küche schweifen lässt. Nur kurz, da sich nichts Interessantes darin finden lässt. „Hanna ist soeben mit Shin weg. Wir wissen nicht, wie lange sie ihn ablenken kann. Besser, wir beeilen uns.“ „Womit denn?“ „Hallo? Bist du unausgeschlafen oder so?“, scheltet sie mich. Ihre Hand greift nach meinem Handgelenk, an welchem sie mich bestimmt mit sich zieht. „Wir haben doch alles besprochen. Komm schon! Wenn Shin früher wieder da ist, als wir mit allem fertig sind, war’s das mit der Überraschungsparty.“ Ach ja, richtig. Die Party. Zu Shins Geburtstag. Da war ja was. Anstandslos lasse ich mich von Sawa voranführen. Im Café hat sich bereits einiges getan. Kisten stehen auf den Tischen. Eine Leiter lehnt gegen die Theke, die im Moment mehr an eine Naschbar erinnert. Toma bespricht irgendetwas mit Waka, Ikki und Kento sind über irgendwelche Listen gebeugt und Mine findet Beschäftigung am Inhalt eines Kartons. „Okay, sind wir vollzählig?“, fragt Sawa in die Runde, wobei sie meine Hand loslässt. Etwas bedröppelt stehe ich neben ihr und versuche einen ersten Eindruck von dem zu gewinnen, was mich als Nächstes erwartet. „Ich denke, damit haben wir alles“, verkündet Ikki von der Theke aus. Indem er sich aufrichtet, schweift sein Blick durch den Raum und wägt die nächsten Schritte ab. „Ich schlage vor, zwei Tische kommen in die Mitte. Voreinander gestellt. Darauf platzieren wir Kuchen, Geschenke und ein wenig Dekoratives. Nascherei und Getränke bleiben auf der Theke, wie besprochen. Mit der Raumschmückung bleiben wir sparsam aufgrund der Zeit. Shin wird sich bestimmt nicht lange aufhalten lassen.“ „Ich hoffe, sie schafft das allein“, zeigt Toma deutlich seine Zweifel. Seine Hand fährt nachdenklich in den Nacken, was die Sorge in seinen Worten unterstreicht. „Vielleicht hätte ich mitgehen sollen. Zu zweit hätte es mehr wie immer gewirkt.“ „Aber wir brauchen dich hier“, erinnert ihn Sawa. Ihrerseits sorgenvoll stemmt sie die Hände in die Hüften. „Wir brauchen alle Hände, die uns zur Verfügung stehen, um alles in so kurzer Zeit zu schaffen. Und wegen Hanna-chan brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sie hat mir erzählt, was sie vorhat. Ich bin sicher, sie packt das. Solange Shin mitspielt, bleiben uns für alles dreißig Minuten.“  „Hoffen wir’s. Shin kann man nicht so leicht täuschen.“ Er stößt ein schweres Seufzen aus. Mich durchfährt ein Ruck. Obwohl ich nicht gemeint bin, treffen mich Tomas Worte auf voller Breitseite. „Also schön, verschwenden wir keine weitere Zeit. Wie steht es um die Aufgabenverteilung?“   Die Rollen sind schnell verteilt. Mine bläst mechanisch Luftballons auf, Toma knotet sie und Kento bringt sie auf Geheiß an. Waka und ich verteilen Luftschlangen und sonstige Deko, die er von früheren Events aufgehoben hat. So sagt er jedenfalls. Ikki steht wohl in der Küche und richtet den übrigen Kuchen her, während Sawa restliche Naschereien auf verschiedene Glasschüsseln verteilt. Wo Ukyo ist, weiß ich nicht genau. Ich vermute ihn hinten bei Ikki. Zumindest anfangs, bis er im Cafébereich zwischen den einzelnen Gruppen aushilft, wo gerade eine Hand benötigt wird. Wie lange wir für alles gebraucht haben, weiß ich am Ende nicht genau zu sagen. Aber wir sind mit dem Gröbsten fertig, bevor Hanna und Shin ins Café zurückgekehrt sind. Die letzten Diskussionen kreisen ums Detail, wie der Geschenketisch hergerichtet werden soll. Über den bunten Servietten liegen vereinzelt Luftschlangen verteilt, verschiedenes Kleinnaschzeug dazwischen. Das Zentrum bildet die große Kuchenplatte, die unsere verschiedenen Backkreationen ansehnlich präsentiert. Drumherum sind größere und kleinere Päckchen ausgelegt, schön verpackt in verschiedenfarbigem Geschenkpapier. Ich bin wohl die Einzige, die ihr Geschenk nicht an Waka übergeben hat. Alle anderen muss er irgendwo sicher verwahrt haben bis zum entscheidenden Tag. Auch jetzt zögere ich, den kleinen Plüschanhänger hinzuzulegen. So winzig wie er ist, zudem unverpackt, erscheint er mir zwischen all den hübschen Präsenten fehl am Platz. „Ich bin kurz hinten“, verkünde ich in Sawas Richtung. Ob sie es mitbekommt, weiß ich nicht, da sie mitten in der Planung steckt. Zu der Beredung, ob nicht hier und da noch etwas verändert werden sollte, kann ich nichts beisteuern. Es interessiert mich auch wenig, da ich nicht denke, dass Shin weiteren Aufwand zu schätzen wissen wird. Wozu also die Mühe? Leider werde ich es nicht mehr schaffen, noch eine zu rauchen, bevor Hanna und Shin zurück sind. Zumindest befürchte ich das. Mir verlangt es wirklich nach einer Feierabendzigarette, aber ich möchte nicht verpassen, wie Shin auf die Überraschungsparty reagieren wird. Blöde Zwickmühle. Im Spind krame ich dennoch nach meiner Tasche, um mir Schachtel und Feuerzeug schon einmal zurechtzulegen. Für später. Aus Gewohnheit hole ich auch mein Handy hervor, um neue Aktivitäten seit meiner Abwesenheit zu überprüfen. Ich bin erstaunt, als ich tatsächlich zwei ungelesene Nachrichten entdecke. Sehr ungewöhnlich. Wer könnte mir schreiben? Es waren doch alle heute mit mir auf Arbeit gewesen. Bei den neuen Mitteilungen stoße ich auf eine Nachricht von einer mir unbekannten Nummer. Sie ist unter keinem Namen gespeichert. Ihr Inhalt: »Dein Kuchen war der beste.« Zweifelnd starre ich auf die Zeichen. Also langsam wird mir das wirklich zu bunt. Versucht da jemand Verstecken mit mir zu spielen? Findet derjenige das witzig? Tja, sorry, aber dafür bin ich leider der falsche Typ. Empfangen wurde die Mitteilung laut Anzeige um 17:22 Uhr. Das dürfte die Zeit zwischen Aufräumarbeiten und Wettbewerbsauswertung gewesen sein. Super, damit hätte quasi jeder die Möglichkeit, sie schnell zu versenden. Ist das Absicht? Dennoch, einen entscheidenden Fehler hat derjenige gemacht: die Nummer ist unbekannt, aber nicht unterdrückt. Ist es mangelnde Vorsicht oder fordert mich derjenige heraus? Hält er mich für bescheuert? Postwendend tippe ich meine Antwort: »Wer schreibt da?« Und weg damit. Mir egal, ob derjenige noch einmal darauf antwortet. Sollte es ihn einschüchtern, soll es mir nur recht sein. Was für ein Kindergarten. Genervt schließe ich die Konversation und kehre zur Mitteilungsübersicht zurück. Der Verlauf mit »Picas« zeigt mir eine neue Nachricht. Ich sollte den Namen wirklich mal umändern. »Hallo, meine Schöne. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke. Mich sehnt es nach deinen Anblick. Vielleicht kann ich dich morgen wiedersehen?« Ich seufze leise. Ach, Luka … Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, sagte ich zu ihm, dass ich mich bei ihm melden werde. Das ist jetzt wie lange her? Erst drei Tage, oder irre ich mich? Empfindet er das als so lang? Bei einer Woche würde ich es ja verstehen … Ich hatte nicht einmal Zeit, an ihn zu denken bei all dem Chaos der letzten Tage. Kurzerhand wähle ich die Rückrufoption. Ich lasse es ein paarmal tuten, bis ich höre, dass auf der anderen Seite angenommen wird. „Ja, bitte? Hier spricht Luka.“ „Hey, ich bin’s.“ „Oh, du?“ Ich frage mich, wieso er so überrascht ist. „Wie kommt es … Ich meine, ist das wirklich?“ „Soll ich vielleicht wieder auflegen?“ „Nein, ich freue mich!“, erklärt er eilig. „Ich bin nur so überrascht. Bitte leg nicht auf.“ Nachdenklich lege ich den Kopf schief. Luka verhält sich geradeso, als hätte ich ihn noch nie zuvor angerufen. Ob das wohl stimmt? „Hm, na wenn du meinst. Hör mal, ich rufe eigentlich wegen deiner SMS an“, lenke ich das Gespräch auf den Grund meines Anrufs. „Meiner Nachricht? Oh, du hast sie gelesen? Und, was sagst du?“ „Naja … also Zeit dürfte ich haben, denke ich. Bisher zumindest. Aber ich frage mich, wieso du nicht gewartet hast, bis ich mich bei dir melde?“ Schweigen auf der anderen Seite. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich melden werde, sobald ich etwas Ruhe habe. Die letzten Tage waren recht stressig gewesen, weißt du? Jetzt stehe ich schon ziemlich blöd da, weil ich mein Versprechen dir gegenüber nicht einlösen konnte.“ „Da war ich wohl ein wenig voreilig. Das tut mir leid“, spricht er leise. Ich vermute ehrliche Reue in seiner ruhigen Tonlage. „Ich gebe dir eine neue Gelegenheit auf ein Versprechen an mich, in Ordnung? Und dieses Mal verspreche ich, dass ich es dich einlösen lasse, wann immer es dir beliebt.“ Also irgendwie … ist das ein echt seltsamer Kompromiss. Aber er meint es wohl ernst. „Passt schon. Ich bin dir jetzt auch nicht unbedingt böse, dass du dich zuerst gemeldet hast. Es war nur nicht nach Plan“, erkläre ich. „Da bin ich erleichtert.“ Sein leises Seufzen sendet einen kleinen Schauer meinen Nacken hinab. „Also sehe ich dich morgen?“ „Mhm, okay. Wann und wo?“ „Tja, um ehrlich zu sein, weiß ich das selbst noch nicht genau. Ich habe erst noch etwas zu erledigen. Musst du morgen arbeiten?“ „Mh, nein. Theoretisch habe ich morgen frei.“ Das sagt zumindest mein Schichtplan, wenn ich mich nicht irre. „Aber ich wäre dir dankbar, wenn wir’s nicht allzu früh machen könnten. Ich weiß nicht, wie lange das heute noch geht.“ „Bist du unterwegs?“ „Nein, aber wir halten noch eine nachträgliche Geburtstagsfeier für Shin ab.“ „Ah, richtig. Rika hatte das erwähnt.“ Klar, wieso sollte er’s auch nicht von ihr wissen? „Ich verstehe. In diesem Fall schlage ich vor, dass ich mich noch einmal bei dir melde, sobald ich Genaueres weiß.“ „Solange du mir genug Zeit einräumst, dass ich mich in Ruhe fertig machen kann?“ „Haha, in Ordnung. Dann freue ich mich auf morgen. Sehr.“ „Mhm, ich mich auch. Also dann, bis morgen.“ „Bis morgen. Viel Spaß bei der Party.“ „Danke. Bis dann.“ „Bis dann.“ Ich beende das Gespräch. Wiederholt lege ich den Kopf schief. Der Bildschirm meines Handys ist schwarz, dennoch ruht mein Blick darauf. Ich suche nach Antworten. Ich habe Luka soeben zu einem zweiten Date zugesagt. Wieso? Und warum habe ich ihn extra dafür anrufen müssen? Eine SMS hätte es auch getan. Das ist doch dumm! Wieso habe ich dann trotzdem solch nervöses Herzklopfen, wenn ich daran denke? Frustriert stecke ich mein Handy weg. Ich will nicht wahrhaben, dass ich es als angenehm empfunden habe, mit ihm zu telefonieren. Es hat gut getan, seine Stimme zu hören. Aber es ist Luka, verdammt nochmal! Ich sollte nicht so denken. Nicht bei allem, was ich weiß. Das ist doch ein Witz und so dumm noch dazu! „Ah, hier bist du.“ Mir bleibt das Herz stehen. Wah, nicht doch! Nicht jetzt! Ich zwinge mich zu einem überspielenden Lächeln, als ich mich zu Ikki herumdrehe. „Ich wollte nur schnell etwas holen. Sind die beiden etwa schon da?“ „Noch nicht, aber sie werden sicher bald hier sein“, antwortet er mit seinem typisch-charmanten Lächeln. Argh, wieso? „Dann beeile ich mich besser“, sage ich, um mein Unbehagen zu vertuschen. Schnell stopfe ich mir Schachtel und Feuerzeug in die Hosentasche. Alles andere räume ich in meinen Spind zurück. Ich bemühe mich zu ruhigen Bewegungen, dabei habe ich es extrem eilig, hier wegzukommen. „Ich bin gespannt, wie er reagieren wird.“ „Shin?“ Ich werfe nur einen kurzen, prüfenden Blick zu ihm hin. „Ja, ich auch.“ „Er wird bestimmt überschwänglich begeistert sein“, scherzt Ikki. Sein leises Kichern verleiht meinem Herz Flügel. „Vielleicht sollten wir Ukyo-san bitten, heimlich Fotos zu machen. Ich bin mir sicher, das wäre eine sehr wertvolle Erinnerung.“ „Willst du es ihm dann immer vor die Nase halten?“ Ich gebe zu, der Gedanke lässt mich schmunzeln. „Ich glaube, das fände er nicht so lustig.“ „Vermutlich nicht, aber für uns anderen wäre es das.“ „Wohl wahr“, gestatte ich mir ein Kichern. „Und? Hattest du heute Spaß?“ Irritiert sehe ich auf. Seine Frage bringt mich ganz aus dem Konzept. „Inwiefern?“ „War es das, was du dir vorgestellt hast?“ Was meint er genau? „Naja, das Event war nicht ganz nach meinen Vorstellungen. Trotzdem lustig. Es hat Spaß gemacht.“ „Das freut mich.“ Ich verfluche sein Lächeln. „Nur schade, dass sich Sawa in den Wettbewerb hineinhängen musste. Ich hätte gern gesehen, wie ihr Jungs das unter euch ausfechtet.“ Seine Augen weiten sich überrascht. Erst da bemerke ich, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen habe. Mist! „So?“, entgegnet er amüsiert, bevor ich meine Aussage revidieren kann. Sein breites Grinsen spricht für sich. „Ich muss gestehen, ich fand es eigentlich sehr erheiternd. Sawa und Mine haben sich sehr viel Mühe gegeben, mit uns mitzuhalten. Umso überraschender ist die spannende Wendung, mit der niemand gerechnet hat. Findest du nicht?“ „Erinnere mich nicht daran“, seufze ich zentnerschwer. In dem Moment, als Ikki erneut zum Sprechen ansetzt, kommt ihm jemand aus dem Flur zuvor: „Ikki-san, bist du da drin?“ Es folgt ein knappes Klopfen, schon steht Mine in der Tür. Ihr aufmerksamer Blick huscht flüchtig durch den Raum, bis er auf Ikki trifft. In wenigen Schritten eilt sie an seine Seite. „Shin hat gerade angerufen. Er und Hanna-senpai sind auf dem Rückweg. Wir versammeln uns alle vorne und warten auf sie.“ „Ah, gut zu wissen. Danke, Mine.“ Sie erwidert seine freundliche Geste mit einem strahlenden Lächeln. Es verlischt, als ihre Aufmerksamkeit auf mich trifft. Ich weiß nicht, was sie hat, aber ich lese alles andere als Freundlichkeit aus ihrem Blick. „Gehen wir. Ich will nicht verpassen, wie Shin-kun vor Freude ganz rührselig wird.“ Ikkis Scherz geht nicht an mir vorbei, doch in Mines Gegenwart vergeht mir das Lachen. Ich lasse ihm mit Freuden den Vortritt, worauf Mine ihm folgt. Die Verärgerung steht mir bis zum Hals. Erst dieses schlechte Gewissen, das ich warum-auch-immer kurz gegenüber Ikki empfunden habe. Dann noch Mine, die mich mit ihrem Verhalten allmählich zur Weißglut treibt. Wer von uns verhält sich hier albern?   Es sind vielleicht fünf Minuten, die wir noch auf unseren Ehrengast warten. Shin ist sofort zu hören, kaum dass sie draußen vor der Tür stehen. Ihr Eintreten wird begleitet von dem unverhohlenen Vorwurf, den Shin Hanna für das Vergessen ihres Schlüssels macht. Ich kann mir ihre Erleichterung vorstellen, als sie sich nicht länger in Ausflüchten winden muss. „Überraschung!“ Shin steht wie erschlagen im Café, als ihn die Gruppe im Chor empfängt. Hanna hat ihre Mission erfüllt und flüchtet sich schnell in unsere schützende Mitte. Ihr Lächeln ist schuldbewusst, als sie unseren Ausruf leise wiederholt. „Was –“ „Nachträglich zum Geburtstag alles Gute von uns allen“, übernimmt Toma das Wort und tritt mutig an den Gefeierten heran. Shin wirkt nicht wirklich begeistert, als die Botschaft Stück um Stück zu ihm durchdringt. „Toma, was soll das? Ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Party will“, macht er ihm direkt zum Vorwurf. Abweisend streicht er die Hand zur Seite, die Toma ihm beglückwünschend auf die Schulter gelegt hat. „Davon abgesehen war mein Geburtstag vor knapp einer Woche“, betont er zudem. „Ich weiß. Aber so leid es mir tut, Shin, das war dieses Mal nicht meine Idee.“ Auf Shins fragenden Blick verweist Toma mit einem Nicken auf Hanna. Ihr Lächeln ist entschuldigend, als sie erklärt: „Du wolltest aus deinem Geburtstag keine große Sache machen, aber jeder wollte dir gratulieren, also …“ Ihre Worte lassen mich schmunzeln. So also sieht für sie die Lösung zu diesem Konflikt aus? Hach, Hanna … du bist schon goldig, irgendwie. „So sieht’s aus“, pflichtet ihr Sawa bei. Sie zeigt ein breites Grinsen, als sie an Hannas Seite tritt und betont die Hände in die Hüften stemmt. „Und jetzt zieh nicht so ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Freu dich doch mal, dass wir so rücksichtsvoll zu dir sind“, gibt sie den Vorwurf an ihn zurück. Sein Seufzen ist laut und deutlich zu hören. „Das nennst du rücksichtsvoll?“ „Wäre es dir lieber gewesen, wenn wir dir alle einzeln gratuliert hätten? In dem Fall hätten sich die Glückwünsche auf mehrere Stunden bis Tage erstreckt. Gemessen an dem, welche Kontaktmöglichkeiten bei jedem Einzelnen zu dir bestehen“, stellt Kento zur Überlegung. Das scheint Shin tatsächlich zu Denken zu geben. Seine abweisende Haltung lockert sich, wobei er sich offen an Kento wendet. „In der Hinsicht magst du vielleicht recht haben.“ Ich beobachte amüsiert, wie sich Kento die Brille in einer überlegenen Geste hochschiebt. „Dennoch, das hier ist übertrieben. Ihr hättet euch nicht die Mühe machen brauchen. Wollt ihr nach einem langen Arbeitstag nicht lieber nach Hause?“ „Und uns dafür eine Party entgehen lassen?“, kontert Toma verschmitzt. „Wer würde das schon wollen?“ „Ich finde, es ist an der Zeit für die Geschenke.“ „Öffne meins zuerst, ja, Shin-kun?“ Alle Gegenwehr nützt nichts. Bestimmt tritt Ikki an Shin heran und schiebt ihn zu dem Tisch. Mine folgt ihnen auf dem Fuße. Es amüsiert mich, wie Shin sich weiterhin in Ablehnung probt, ohne die geringste Chance zu haben. Ob er bemerkt hat, wie Ukyo ihm mit der Kamera in der Hand dicht auf den Fersen ist? Während alle ihre Geschenke präsentieren, übe ich mich in Zurückhaltung. Von der Bank aus beobachte ich still, wie Shin der Übermacht seiner Freunde und Kollegen ausgeliefert ist. Nein, tauschen möchte ich wahrlich nicht mit ihm. Wobei, einmal im Zentrum aller Aufmerksamkeit dieser Leute zu stehen … Halt mal, das hatte ich doch schon. Nein, doch nicht so toll. Dafür bin ich wirklich nicht der Typ. Noch während der Bescherung wird das Buffet als eröffnet erklärt. Da es nun offiziell gestattet ist, reserviere ich mir sogleich je ein Stück Kuchen der Jungs. Nichts gegen das Mädchenteam, aber von ihnen ist noch so viel Kuchen übrig, dass ich mich später immer noch bedienen kann. Shin und Tomas Kuchen ist wirklich lecker. Weiche Krume, herrlich schokoladig, nicht zu süß und kein bisschen trocken. Ich bevorzuge ihn ohne Frage. Im Vergleich wirkt das Ergebnis von Ikki und Kento irgendwie … missglückt. So vielversprechend das Tortenstück auch optisch wirkt, so enttäuschend ist es im Geschmack. Der Boden schmeckt mehlig und ist zudem sehr kross. Die Krem ist mehr krümelig denn zart und irgendetwas sticht säuerlich daraus hervor. Es erinnert mich an Zitronenkonzentrat. Was haben die beiden um Himmels willen gemacht? Ich will dieses Desaster fast schon als Kunstwerk bezeichnen, so miserabel ist es. Ich richte meinen Blick nach vorn, als es lebhaft um mich herum wird. Irgendwie habe ich verpasst, um was es geht. Ein Großteil der Gruppe steht um Shin herum. Ich erkenne aufmunterndes Schulterklopfen und breites Grinsen auf den Gesichtern. Shin scheint irgendetwas unangenehm zu sein. Beinah hilflos steht er zwischen den anderen, wehrt so gut es geht die Hände ab und stolpert doch, als Toma ihn auffordernd nach vorn schiebt. Es ist zu niedlich anzusehen, wie er sich verlegen einige Strähnen hinter das Ohr zurückstreicht. Seine Hand ruht anschließend in seinem Nacken, doch seinem genervten Blick ist zu entnehmen, dass ihm die Lage missfällt. „Das ist so idiotisch. Also schön … Ich danke euch allen für die Glückwünsche. Und die Geschenke, die ihr euch hättet sparen können. Genau wie diese Party und den ganzen Aufwand, der zu nichts führt.“ „Shin, ist das dein Ernst?“ Toma stößt ein langes Seufzen aus. „Also wirklich, was ist das denn für eine Dankesrede?“, pflichtet ihm Ikki bei. Ich muss mir ein Lachen strengstens verkneifen. „Es ist doch wahr“, beharrt Shin auf seinem Standpunkt. Alles an ihm verdeutlicht sein Desinteresse. Bis auf der dezente Rotschimmer auf seinen Wangen. Er erscheint mir aufrichtiger als seine Worte. „Im Ernst. Wieso soll ich mich für etwas bedanken, das gegen mein Einverständnis ist? Worin liegt da der Sinn?“ „Wir haben uns so viel Mühe gegeben. Du könntest das ruhig ein wenig zu schätzen wissen“, empört sich Sawa gespielt. Gerade rechtzeitig, als er etwas entgegnen will, macht sie eine verdeutlichende Geste in Richtung Hanna. „Denk doch mal an sie? Denkst du, es ist ihr leicht gefallen, dich anzulügen? Wenn du nur nicht immer alles so kompliziert machen würdest …“ „Wer macht hier was kompliziert, Sawa?“ Mutig. Ich hätte es nicht gewagt, ihm so etwas an den Kopf zu werfen. Aber gut, ich kenne ihn auch nicht so gut wie Sawa. Sie wird schon wissen, wie weit sie bei ihm gehen kann. Hoffentlich.   Langsam aber sicher beruhigt sich die Situation. Die meisten sind zum gemeinsamen Plaudern und Kuchenessen übergegangen. Selbst Waka ist unter uns, verhält sich jedoch außergewöhnlich ruhig. Ich könnte mich täuschen, aber er wirkt ausgesprochen müde auf mich. Seine glanzlosen Augen lassen es jedenfalls vermuten. Mein Kuchenteller ist leer. Mir ist nicht nach einer zweiten Runde. Die Bescherung scheint vorbei zu sein, mein Geschenk trage ich jedoch immer noch bei mir. Ich frage mich, wann ich es Shin überreichen soll. Im Moment ist es wohl eher ungünstig. Shin hat zum ersten Mal ein wenig Ruhe und kommt endlich dazu, sich ebenfalls vom Kuchen zu nehmen. Für mich bleibt nichts zu tun. Zeit, die Gelegenheit für eine Raucherpause zu nutzen. Wortlos erhebe ich mich. Auf Hannas Frage hin erkläre ich knapp, kurz vor die Tür zu gehen. Ein Blick zu Ukyo versichert mir, dass er mir so bald nicht davonlaufen wird. Zu angeregt unterhält er sich mit Kento, worüber auch immer. Vielleicht war Waka auf dem Platz ihm gegenüber einst Teil der Unterhaltung. Inzwischen bezweifle ich, dass er ihnen überhaupt noch zuhört. So teilnahmslos habe ich ihn bisher nie erlebt. „Ist alles okay?“, frage ich, indem ich mich ein wenig zu ihm herabbeuge. Ich versuche ihn anzusehen, doch er hebt kaum das Gesicht. „Du wirkst ziemlich geschafft. Vielleicht hilft es, wenn du kurz mit rauskommst? Ein bisschen Bewegung und frische Luft könnten dir gut tun.“ „Mh“, macht er und nickt abwesend. Es folgt ein knappes Kopfschütteln, als er schwach zu mir hochlächelt. Es ist unheimlich. „Nein, mir geht es gut. Ich will euch jungen Leuten nicht den Sieg verderben.“ Armer Kerl. Ich frage mich, wie alt er sich wohl fühlen mag. So viele Jahre liegen nun auch nicht zwischen uns. „Sicher?“ Er nickt und ich wage nicht, ihm weiter zu widersprechen. Ich kann meinem Boss kaum vorschreiben, was das Beste für ihn ist. So sehr ich mich auch sorge, das überschreitet eine Grenze. Mir ist nicht wohl dabei, doch ich erhebe mich anstandslos und verlasse den Raum. „Hey.“ Im Flur erreicht mich Shins Stimme, gerade als ich die Tür nach draußen öffnen will. Überrascht bleibe ich stehen und drehe mich halb zu ihm herum. „Shin?“ Ich beobachte mit Verwunderung, wie er langsam auf mich zusteuert. „Was ist los? Verfolgst du mich neuerdings?“ „Dummkopf. Wieso sollte ich so etwas tun?“ „Keine Ahnung, aber du tust es doch?“ „Bilde dir nichts darauf ein“, weist er abfällig zurück. Auf einige Meter Abstand bleibt er stehen, den Blick von mir abgewandt. „Ich bezweifle, dass irgendjemand ein Interesse daran hätte, dich zu verfolgen. Davon abgesehen, warst du es doch, die mir aufdringliche Blicke zugeworfen hat.“ Ich stutze. „Wann soll das denn bitte gewesen sein?“ „Merkst du das schon gar nicht mehr?“, attackiert er mich. Indem er den Kopf zurück in meine Richtung dreht, treffen unsere Augen aufeinander. Es ist mir unangenehm, wie eindringlich er mich ansieht. „Die ganze Zeit schon. Mich wundert es nicht, wenn sich andere bereits ihr Urteil darüber gebildet haben.“ Bitte?! „Das bezweifle ich“, kontere ich. „Wie du meinst.“ Er zuckt kurz mit den Schultern. Es wirkt lässig, wie er die Hände zur Hälfte in die Hosentaschen schiebt. Mit gemächlichen Schritten überbrückt er die letzte Distanz, bis er direkt vor mir steht. „Und? Was ist es?“ Verständnislos sehe ich zu ihm hoch. „Was meinst du?“ „Du wolltest doch irgendetwas von mir. Es sah aus, als wolltest du mir etwas sagen.“ Argh, dem Typen kann man echt nichts vormachen. Toma hatte recht. „Hm, so kann man es wohl sagen … Ich wusste nur nicht recht, wie ich mich zwischen all die anderen drängen soll. Wartest du bitte kurz hier?“ Schon eile ich in den Aufenthaltsraum. Nach kürzester Zeit kehre ich zurück und trete an Shin heran, der nicht von seinem Fleck gewichen ist. „Hier“, sage ich und strecke die Hand nach ihm aus, „der ist für dich. Happy Birthday nachträglich, Shin.“ Er zollt dem kleinen Anhänger, der fröhlich von meinem Zeigefinger baumelt, nur einen kurzen Blick. Ich erwarte, dass er ihn entgegennimmt, stattdessen sieht er mich an. „Ist das dein Ernst?“ Ich ziehe den Arm zurück. Meine Finger verkrampfen um den weichen Plüsch. „Nicht gut?“, wispere ich. Im selben Moment hasse ich mich dafür, dass man mir die Kränkung aus der Stimme heraushört. Lieber hätte ich cool und gleichgültig reagiert, aber nein. Wer hätte gedacht, dass mich Shins Zurückweisung einmal so hart treffen könnte? Ich warte darauf, dass er etwas sagt. Soll er mir doch vorwerfen, dass er das Geschenk billig findet. Recht hätte er. Es hat mich am Ende mehr Zeit als Geld gekostet, also los. „Sag es richtig.“ „Hä?“ Nicht sehr geistreich, aber … hä? „Was soll diese Reaktion?“, wirft er mir vor. Sein Gesicht wird streng. „Erwartest du ernsthaft, dass ich dir das so abnehme? Idiot, gib dir gefälligst etwas mehr Mühe.“ Ich kapiere noch immer nichts. „Zum Geburtstag alles –“* „Nein“, fällt er mir harsch ins Wort. Er muss mich für beschränkt halten, so wie er seufzt und dabei betont die Schultern fallen lässt. „Nicht so. Sag es auf deine Art.“ Fragend lege ich den Kopf schief. Was soll denn das bitte bedeuten? „Alles Gute zum Geburtstag?“ Etwas tut sich. Shins Haltung entspannt sich und sein Blick wird aufmerksam. Er sieht mich einige Zeit an, ohne mich erkennen zu lassen, was gerade in ihm vorgeht. „Hm“, macht er schließlich. Mir scheint eine halbe Ewigkeit vergangen zu sein, in der ich dieser beklemmenden Stille ausgesetzt war. „Interessant. So sagt man das also bei euch. Ziemlich umständlich.“ Ich weiß nicht wirklich, was er meint. Ich komme auch nicht dazu, groß darüber nachzudenken, als ich seinen Mundwinkeln ein schwaches Lächeln zu entnehmen glaube. Nur für kurz, bis seine Mimik ins Gewohnte zurückkehrt. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. „Und? Was hast du da nun?“ Sein Blick ruht auf meiner Hand. Ich folge ihm unwillkürlich und bemerke, dass ich den Anhänger noch immer umklammert halte. Indem ich meine Finger langsam lockere, löse ich die Anspannung. „Ach, jetzt also doch?“, necke ich in Shins Richtung. „Es ist doch für mich, oder etwa nicht?“ „Schon.“ Widersprechen kann ich nicht, dafür ist es zu spät. Mit einem Seufzen gebe ich meinen Widerstand auf und wage einen zweiten Versuch. Wortlos strecke ich meine Hand aus und halte den Anhänger in die Höhe. Ich beobachte gespannt, wie er die Hände aus den Hosentaschen löst. Der kleine Metallring streift beinahe zärtlich über meine Haut, als Shin ihn von meinem Finger angelt. Ich warte, dass er etwas sagt. Dass er irgendeinen herabsetzenden Kommentar zu meinem Geschenk äußert. Doch nichts. Shin steht nur da, betrachtet den kleinen braun-weißen Plüschhund ohne die geringste Regung. „Er bellt übrigens auch, wenn du die Mitte zusammendrückst. Also besser nicht in der Schule damit herumspielen“, erkläre ich, als mir die Spannung zu viel wird. Mir wäre es wirklich lieber gewesen, hätte er irgendeinen dummen Spruch vom Stapel gelassen. Dieses Schweigen hingegen ist einfach nur ätzend. Zumindest scheint es Shin wachzurütteln. Er hebt seinen Blick, der mich mit Zweifeln trifft. „Im Ernst jetzt? Du schenkst mir also ein Kinderspielzeug?“, reagiert er vorwurfsvoll. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Ja, ist das nicht toll?“ Sein Blick verdüstert sich, als er die Augenbrauen tiefzieht. „Nur ein Scherz“, sage ich schnell und klopfe ihm auf die Schulter. „Das mit dem Bellen ist nur ein netter Bonus. In erster Linie dachte ich, das könnte am ehesten zu dir passen. Es ist klein, dezent und du kannst es immer bei dir tragen, wenn du das möchtest. Außerdem dachte ich, dass du vielleicht eher jemand bist, der Hunde mag.“ „Ach echt?“ Ich höre Verwunderung aus seiner Stimme. Alle Anspannung ist aus seinem Gesicht gewichen. Stattdessen erkenne ich Interesse in seinen wachen Augen. „Darf ich erfahren, wie du darauf kommst?“ „Hm … Vielleicht, weil ich eher ein Katzenmensch bin und wir so krass unterschiedlich zueinander sind?“ „Das ist alles?“ Ähm, nein. Eigentlich nicht. „Habe ich den Nagel etwa nicht auf den Kopf getroffen?“  Shin kehrt ins Schweigen zurück. Es ist das erste Mal, dass ich erlebe, wie er sich freiwillig aus einer unserer Diskussionen entzieht. Ohne zu einem letzten Gegenschlag auszuholen. Ob ihm bewusst ist, dass er mir damit unwillkürlich recht gibt? „Danke.“ Seine Stimme ist nur ein Flüstern. Es ist leichter, von seinen Lippen zu lesen, als das Gesagte zu verstehen. „Nichts zu danken“, erwidere ich. Es liegt etwas Zaghaftes in diesem kleinen Austausch, was mich schmunzeln lässt. „Im Übrigen“, lenkt er plötzlich im Thema um. Von dem Hauch an Verlegenheit, den ich eben noch auf seinen Wangen vermutet habe, keine Spur mehr. Shin lässt den Anhänger mit einer fließenden Bewegung in seiner Hosentasche verschwinden, bevor er mich offen besieht. „Wenn wir gerade dabei sind: Ich war so frei, die anderen Kuchen zu probieren.“ Oha. „Und?“, erwarte ich sein Urteil. „Ich weiß nicht, was Ikki-san und Kento-san da versucht haben, aber im Vergleich zu ihnen ist jeder Kuchen verträglicher.“ „Ah ja …“ Und was soll mir das jetzt sagen? „Naja, ich kann’s dir auch nicht sagen. Vielleicht fragst du sie einfach?“ „Nicht nötig. Da sie nicht gewonnen haben, besteht kein Anlass für mich, die Hintergründe zu erfahren.“ Sein Blick ruht auf mir, als warte er, dass ich etwas sage. Ich weiß allerdings wirklich nicht, was ich noch darauf erwidern soll. „Ich habe auch deinen Kuchen probiert“, verkündet er letztlich. „Du hast Bananenstücke unter den Teig gegeben?“ „Ähm, ja?“ „Warum?“ Was soll diese Frage? „Naja, es war ein Schoko-Bananenkuchen, sofern du den meinst. Ich finde den so leckerer“, erkläre ich. „Hm.“ Er besieht mich nachdenklich. „Ich bin überrascht, dass du auf diese Idee gekommen bist. Aber wenn du mich fragst, hätten es mehr sein können.“ Okay, jetzt bin ich verwirrt. „Ist das jetzt ein Lob oder eine Kritik?“ „Ich sage nur, dass ich weniger erwartet habe. Aber denk jetzt nicht, dass ich dein Schaffenswerk lobpreise. Mit so einem Halbfertigprodukt bist du Lichtjahre davon entfernt, irgendwelche Anerkennung zu verdienen.“ Ich weiß, dass er recht hat, trotzdem stimmt es mich wütend. Dabei ist es weniger das Gesagte als Shins abfällige Art, die mich nicht zum ersten Mal auf die Palme bringt. Mir liegen so viele Dinge auf der Zunge, die ich ihm am liebsten gegen den Latz schmettern würde. „Das wollte ich nur fairerweise gesagt haben. Wir sollten jetzt zu den anderen zurückkehren, bevor noch irgendwelche Gerüchte entstehen.“ „Danke, aber geh du mal vor“, sage ich. „Ich hatte eigentlich vor eine zu rauchen, bevor du mich davon abgehalten hast.“ „Du weißt, dass das schädlich ist?“, belehrt er mich unnötig. Das Missfallen klingt deutlich aus seinen Worten heraus. „Einmal davon abgesehen, dass es stinkt. Hast du keine anderen Wege, dir den Tod auf die Liste zu schreiben?“ „Der kommt ob so oder so“, entgegne ich trocken. „Aber ich entscheide, wenn es aus eigener Dummheit geschieht. Das ist mir immer noch lieber, als wenn ich in einen Unfall verwickelt oder in einer schmutzigen Ecke abgestochen werde. Und ein Laster muss ich ja haben.“ „Du hast wirklich eine beschissene Einstellung, weißt du das?“ Ich lächle bitter. „Ja, Realismus kann schon beschissen sein. Das Leben ist eben kein Zuckerschlecken. Aber boxen wir uns nicht trotzdem irgendwie alle auf unsere eigene Art und Weise durch?“   Es ist ewig her, dass ich so wenig Lust am Rauchen verspürt habe. Shins Kommentar hat es mir so richtig vermiest. Dass ich dennoch hier draußen stehe und den Rauch tief einziehe, kann man als eine Trotzreaktion abtun. Aber hey, ich hätte es auch getan, wenn Shin nicht gewesen wäre. Also was soll’s. Verstimmt drücke ich die Zigarette aus. Ich habe keine Lust, weiter darüber nachzudenken. Das drückt nur die Stimmung. Entschieden kehre ich ins Meido zurück. Im Aufenthaltsraum entledige ich mich meines Mantels, den ich mir für draußen übergezogen hatte. Das Klacken einer Tür lässt mich kurz auffahren, als hinter mir jemand aus dem Badezimmer tritt. Über die Schulter erkenne ich, dass es Mine ist. Unsere Blicke begegnen sich für einen Moment, bevor sie zur Seite sieht und sich schweigend in Bewegung setzt. Ich bin gewillt, sie einfach an mir vorüberziehen zu lassen. Als ich den kühlen Windzug neben mir spüre, entscheide ich mich anders. „Hey, Mine?“, rufe ich ihr hinterher. Gern hätte ich diesen Impuls unterdrückt, doch es geht nicht. Eine bessere Gelegenheit bekomme ich so schnell nicht wieder. „Hast du einen Moment Zeit?“ Bei der Tür bleibt sie stehen. Ich bin erleichtert, dass sie mich nicht ignoriert. Was auch immer das zu bedeuten hat. „Wofür?“, fragt sie zurück, ohne sich nach mir umzudrehen. Ihre Hand liegt auf dem Türknauf, bereit, jederzeit den Raum zu verlassen. „Ich möchte gern mit dir reden. Es gibt da etwas, das mich beschäftigt.“ „Ich habe eigentlich keine Lust, mit dir zu reden“, entgegnet sie knapp. Die Art, wie sie mir die kalte Schulter zeigt, versetzt mir einen Stich. „Bitte, es ist mir wichtig.“  Sie wirft mir einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. „Worum geht’s?“, will sie wissen und wendet das Gesicht wieder von mir ab. „Sag mal … kann es sein, dass du etwas gegen mich hast? Du gibst mir das Gefühl, als hätte ich dir irgendwas getan.“ Es herrscht einen Moment Stille zwischen uns. „Muss ich dir darauf antworten?“ Ich nicke, auch wenn sie es nicht sieht. „Bitte.“ Noch einmal sieht sie zu mir herüber. Am Ende lässt sie von der Tür ab und dreht sich gänzlich zu mir herum. Zum ersten Mal stehen wir einander so offen gegenüber. Fast möchte ich ihr ausweichen, aber ich reiße mich zusammen. Sie nimmt einen tiefen Atemzug. Ich erkenne es am Heben ihrer Brust. „Ich kann dich nicht leiden“, spricht sie unverblümt jene Worte, die meine Befürchtungen bewahrheiten. Vom Klang erinnern sie an den Trotz eines Kindes. Dass sie es dem entgegen ernst meint, stelle ich keinen Moment infrage. Die Ablehnung ist ihr sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben. „Wieso?“ „Warum dieses »Wieso«?“, schmettert sie meine Frage an mich zurück. „Ich muss das nicht begründen. Ich kann dich nicht leiden, weil ich dich eben nicht leiden kann!“ „Aber du musst doch einen Grund haben, wieso du mich nicht leiden kannst“, bleibe ich gefasst. Mehr, als es der Situation angemessen ist. „Ich sage ja nicht, dass ich es damit ändern werde –“ „Es muss dich ja nicht jeder leiden können!“ Ruhig sehe ich sie an. Mine wirkt ebenso konzentriert wie ich. Ihre Haltung ist angespannt, die Wangen dezent gerötet. Ihre Augen funkeln mir wütend entgegen. Sie nimmt einen tiefen Atemzug. Ihr Gesicht glättet sich und auch die Zornesfalte zwischen ihren Brauen verschwindet. „Aber wenn wir schon einmal dabei sind“, kehrt sie ins Liebliche zurück. Nur zum Schein, wie bald klar wird, als ihr strenger Blick mich trifft. „Halte dich besser von Ikki-san fern.“ Ich runzle die Stirn. „Wieso?“ „Weil ich es sage!“ „Mine, das ist keine Begründung.“ Sie zieht scharf die Luft ein. Ihre Wangen füllen sich, plustern sich auf, wobei ihre Augen immer kleiner werden. „Ah, du machst mich so wütend!“, platzt sie schlussendlich. Sie macht einen großen Schritt auf mich zu, wobei sie kräftig auf den Boden stampft. „Und genau deswegen kann ich dich nicht leiden! Halte dich einfach von ihm fern, und von Hanna-senpai und Sawa-senpai auch!“ Ich atme kontrolliert durch. Nichts von dem, was hier gerade abgeht, macht einen Sinn für mich. Wieso ist Mine so wütend auf mich? Ich kann ihre Reaktion nirgendwohin einordnen. „Mine, bist du vielleicht –“ „Du bist ja noch nicht mal in seinem Fanclub!“ Ich blinzle irritiert. „Du doch auch nicht?“ Sie öffnet den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Irgendetwas an ihrer plötzlichen Zurückhaltung erscheint mir eigenartig. Es wirft die wildesten Fragen in mir auf. „Mine, Shizana? Seid ihr da drin?“ Dem Klopfen folgt ein brünetter Haarschopf, als Sawa ihren Kopf in den Raum hineinschiebt. Es dauert nicht lang, bis sie uns entdeckt hat. Mine wirft mir noch einen letzten warnenden Blick zu. Ohne weiteren Kommentar dreht sie sich herum und geht an Sawa vorbei, die ihr zögerlich nachruft. „Alles okay zwischen euch?“, wendet sie sich in meine Richtung, die Stimme voller Sorge. Bemüht lächle ich. „Ja, alles okay.“   Gemeinsam mit Sawa kehre ich ins Café zurück. Hier ist es weiterhin lebhaft. Überall haben sich kleine Grüppchen gebildet, die gemeinsam essen und lachen, wie es sich für eine Party gehört. Während mir Sawa vorauseilt, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Auf einer Seite haben sich Shin, Kento und Ikki zusammengetan. Mine ist bei ihnen. Auf der anderen Seite sitzen sich Hanna und Ukyo bei einem Gespräch gegenüber. Es freut mich zu sehen, wie ausgelassen sie sind. Jedes helle Lächeln von ihnen berührt mich. Zu gern hätte ich mich zu ihnen gesetzt, doch ich bringe es nicht fertig. Ich gönne den beiden ihre gemeinsame Zeit von ganzem Herzen. Vor allem Ukyo, der genug Hanna-Verzicht erdulden muss. Mein Blick geht zu Sawa, die sich an dem Tisch nebendran eingefunden hat. Ihr gegenüber sitzt Toma, was mich darauf aufmerksam macht, dass Waka nicht mehr hier ist. Vermutlich ist er schon länger weg. So schnell wie Sawa und Toma ins Gespräch gekommen sind, sitzen sie nicht erst seit eben zusammen. Unsicher stehe ich an meinem Platz und weiß nicht, wohin mit mir. Mich überkommt dasselbe einsame Gefühl, das mich gestern für kurz in seiner Gewalt hatte. Und auch jetzt ringe ich mit diesem einen finsteren Gedanken, den ich bisher so gut ich konnte verdrängt habe. „Shizana, komm doch her? Setz dich zu uns!“ Ich quäle mich zu einem Lächeln. Meine Schritte fühlen sich schwer an, als ich Sawas Einladung folge. Mines stechender Blick sitzt mir im Genick, doch das ist jetzt auch egal. Schweigend setze ich mich auf den freien Platz neben Toma. Die Gespräche um mich herum gehen weiter. Nur ich bleibe stumm. Mein Kopf ist ein Vakuum. In der Leere wird jenes böse Flüstern immer lauter: Ich gehöre hier nicht her.     *Im Original würde hier gesagt werden: „O-tanjōbi omede…“ Da ich jedoch vom Japanischgebrauch so gut ich kann absehen möchte, habe ich das Sprachproblem so gelöst. ^.^V (Oh, und ja. Ich stelle mir beim Schreiben die meiste Zeit über vor, wie die Charaktere ihre Aussagen im Japanischen formulieren würden. Wenn auch nicht alles 1:1 umsetzbar ist, aber ich bemühe mich.) Kapitel 16: Spuk und Chaos -------------------------- Es ist nach acht, als sich die Party langsam gen Ende neigt. Die Ersten von uns machen sich zum Aufbruch bereit und verabschieden sich von dem Rest. Das ist meine Chance, mich ihnen anzuschließen. Endlich. Seit meinem Absturz wünsche ich mir nichts sehnlicher als den Rückzug. Mein Blick wandert hinüber zu Ukyo. Ich warte nur auf die passende Gelegenheit, um ihn über meinen Heimkehrwunsch zu unterrichten. Wenn möglich, ohne dass es jemand mitbekommt. Ukyo hat sich gewiss nicht grundlos so bemüht, unsere Beziehung vor den anderen geheimzuhalten. „Hanna, kommst du nicht mit?“, richtet Toma seine Frage an sie. Ebenso wie Shin hat er sich die Jacke übergezogen, bereit, den Heimweg anzutreten. „Es ist schon spät. Shin und ich müssen morgen früh aus den Federn. Es wäre besser, wenn wir alle zusammen gehen, damit du ebenfalls ausreichend Schlaf bekommst.“ „Schon?“, entgegnet sie leise. Toma ermuntert sie mit einem Lächeln. „Es war ein langer Tag. Auch wenn du wieder genesen bist, solltest du nicht gleich wieder bis an deine Grenzen gehen. Du willst doch nicht rückfällig werden?“ „Und wieder bemutterst du sie.“ „Na hör mal“, wendet sich Toma nach Shin um. Sofern ihn der Vorwurf getroffen hat, so lässt er sich zumindest nichts anmerken. „Soll ich sie etwa ganz allein hier zurücklassen? Wir haben denselben Weg und –“ „Spar’s dir.“ Shin zollt ihm keine weitere Beachtung, stattdessen geht er auf Hanna zu. Vor ihrem Platz bleibt er stehen und taxiert sie mit strengem Blick. „Hör zu, ich habe morgen Unterricht und kann’s mir nicht leisten, unausgeruht dort aufzuschlagen. Wenn du beschließt, länger hier abzuhängen, gehst du allein nach Hause. Ich mache keine Ausnahme für jemanden, der der Meinung ist, er kann sich diese Fahrlässigkeit mit seinem mittelmäßigen Notendurchschnitt leisten.“ „Shin!“, entrüstet sich Toma an Hannas Stelle. „Diese Haltung mag für dich gelten, aber schließ mich da nicht mit ein. Ich werde sie garantiert nicht um diese Uhrzeit allein durch die Straßen gehen lassen.“ Shin stößt ein Seufzen aus. „Toma, ich verstehe nicht, wieso du ihren Dickkopf immer wieder unterstützen musst. Denkst du, damit ist ihr geholfen?“ „Ich unterstütze es nicht, wenn sie sich willkürlich in Gefahr begibt. Aber ich maße mir auch nicht an, ihr Vorschriften zu machen. Schon gar nicht, wie du es zu tun pflegst, Shin.“ Ich bin geneigt, dazwischenzugehen. Einzig mein klarer Menschenverstand mahnt mich, es zu unterlassen. Als eine Außenstehende habe ich mich hier nicht einzumischen. Ich weiß das und es frustriert mich ungemein „Wie auch immer, ich gehe jetzt jedenfalls. Was ihr macht, ist mir egal“, beendet Shin die Diskussion. Schon dreht er sich herum, um seine Worte in die Tat umzusetzen. Hanna wirft einen unsicheren Blick in Ukyos Richtung. Ich beobachte den Austausch mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Mir dämmert, woher ihr Zögern rührt. „Du solltest wirklich gehen“, redet Ukyo sanft auf sie ein. Sein Lächeln wirkt wenig überzeugend auf mich. „Die beiden haben recht. Es ist zu gefährlich, zu dieser Stunde allein durch die dunklen Straßen zu gehen. Toma und Shin-kun würden gut auf dich aufpassen und sicher nach Hause bringen.“ „Aber … ich würde gern noch ein wenig länger reden“, erklärt sie leise. Ihre Augen sind voller Bedauern, als sie den Blick zu Boden senkt. Ach, verflixt! „Ich werde auch so langsam aufbrechen“, verkünde ich und erhebe mich von meinem Platz. So gut ich kann, lächle ich in die Runde. „Wartet ihr noch kurz? Ich hole nur eben meinen Mantel, danach würde ich mich gern noch von euch allen verabschieden.“ Ich streife Ukyos fragenden Blick. Ohne Weiteres wende ich mich ab und entferne mich in Richtung Personalbereich. „Shizana?“ Es war abzusehen, dass Ukyo mir folgen würde. Sehr gut, genau darauf hatte ich gehofft. Wir sind allein im Pausenraum, abgeschieden und ungehört von den anderen. „Du möchtest nach Hause? Soll ich –“ „Jepp, ich werde nach Hause gehen“, falle ich ihm ins Wort. Ich schließe meinen Spind, meine Tasche in der Hand, und drehe mich zu ihm herum. „Das gilt für mich. Hanna scheint traurig zu sein, dass sie schon los muss. Vielleicht solltest du sie noch ein Stück begleiten.“ „Was? Aber …“ „Du bist mir nicht verpflichtet“, erkläre ich und lächle. „Ihr habt nicht oft die Gelegenheit für Gespräche, oder? Ich will euch da echt nicht im Wege stehen, und andere sollen es auch nicht.“ Ukyo schweigt. Den tiefsitzenden Falten auf seiner Stirn ist abzulesen, dass er mit Zweifeln ringt. Woher auch immer sie rühren mögen. „Das ist keine gute Idee.“ „Wieso denn nicht?“, frage ich vorsichtig. Der bedrückte Unterton in seiner Stimme ist mir nicht entgangen. „Hast du nicht bemerkt, wie fröhlich sie war? Sie hatte Spaß, das hat man gesehen. Ihr habt beide so entspannt ausgesehen.“ „Ich sollte nicht mit ihr allein sein. Es ist zu gefährlich … Sie ist in meiner Nähe nicht sicher.“ Mein Rücken versteift sich. Ich weiß leider, was er meint. Seine Sorge ist vielleicht begründet, aber ich weigere mich, daran festzuhalten. „Du weißt schon, wie du dich gerade darstellst? Wie ein Perverser, der im Dunkeln sofort über sie herfällt.“ „Nein, so etwas würde ich nie tun!“, fährt er auf. Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Schon im nächsten Moment schwankt seine Entschlossenheit aufs Neue, als könnte er sich irren. „Du machst dir zu viele Gedanken“, sage ich sanft. Mit zwei Schritten überwinde ich die Distanz zwischen uns, bis ich vor ihm stehe. Tröstend lege ich meine Hand an seinen Arm und lächle zu ihm hoch. „Toma ist doch noch bei euch. Ich bezweifle, dass er Hanna allein nach Hause gehen lässt.“ Sein Blick begegnet meinem flüchtig, bis er mir zur Seite ausweicht. „Na, nun komm schon“, ermutige ich ihn weiter. „Ich an deiner Stelle würde diese Gelegenheit besser nicht verstreichen lassen. So selbstlos bin ich nicht alle Tage.“ Er stößt ein leises Seufzen aus. Gleichzeitig spüre ich, wie sich seine Haltung entspannt. „Und du?“ Endlich, ein erstes Lächeln. Wenn auch zögerlich und unsicher, aber immerhin. Ich ziehe meine Hand zurück. „Mach dir um mich keinen Kopf“, entgegne ich optimistisch. „Ich kenne die Strecke inzwischen, auch im Dunkeln. Mir ist bisher nie was passiert, das wird sich heute gewiss nicht ändern.“ „Bist du dir da sicher?“ „Klar! Ich kann dir ja ‘ne SMS schreiben, sobald ich zu Hause bin. Dann weißt du, dass alles okay ist.“ „Das würde mich sehr beruhigen.“ „Dann ist es abgemacht.“ Sein Lächeln wird sanfter. „Danke.“ „Nicht dafür.“   Hanna und Toma haben sich zum Aufbruch bereitgemacht, als ich ins Café zurückkehre. Shin ist dem Anschein nach gegangen. Zumindest entdecke ich ihn nirgends, was nur diesen Schluss zulässt. Mine und Sawa sind schon vor einiger Zeit losgezogen. Sawas Eltern haben die beiden Mädchen abgeholt, das habe ich am Rande mitbekommen. Bleiben nur noch wir vier, Ikki und Kento. Was mit Waka ist, weiß ich nicht. Von ihm fehlt schon seit einiger Zeit jegliche Spur, was niemanden außer mir zu kümmern scheint. Wenn die anderen nicht in Sorge ausbrechen, so sage ich mir, brauche ich das wohl auch nicht. Hoffentlich liegt er bereits im Bett und ruht sich aus. Wie unter uns abgemacht, bietet Ukyo Hanna und Toma seine Begleitung an. Ich gebe zu, nicht erwartet zu haben, wie unkompliziert sich das Ganze entwickelt. Im ersten Moment ist Toma zwar überrascht, aber er hinterfragt es nicht und zeigt sich locker. Für Hanna scheint die Überraschung geglückt zu sein. Ihr erfreutes Lächeln bestärkt mich, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Allein dieser Anblick ist es mir wert, in meinem Beschluss mit dem Gefühl der Einsamkeit gerungen zu haben.  „Also dann, kommt gut nach Hause.“ Draußen vor dem Meido steht unsere Gruppe versammelt. Mit Tomas Zeichen zum Aufbruch reichen sich die Jungs untereinander die Hand, schlagen ein oder verabschieden sich mit Worten. Man gratuliert sich gegenseitig zur guten Arbeit und wünscht einander einen sicheren Heimweg. Ebenso hält es Hanna, als sie lächelnd an mich herantritt. Ich umarme sie vorsichtig zum Abschied, ihr und den Jungs alles Gute wünschend. Ukyo begegnet mir lächelnd, was es mir schwer macht, von einer Umarmung abzusehen. Ich vermisse ihn jetzt schon, so dämlich das auch ist. Fast bereue ich, ihn Hanna überlassen zu haben. Aber es war richtig. Es ist gut so. Gott, wie zwiegespalten kann man sein? Unsere Gruppe teilt sich auf. Mein Weg liegt in der entgegengesetzten Richtung zu Hanna und den Jungs. Ich atme tief durch und seufze lang, wobei ich mich ermahne, nicht so verdammt niedergeschlagen zu sein. „Was ist los? Du seufzt so schwer.“ Ich schrecke auf bei der Stimme, die mir viel zu nah ist. Ich habe nicht erwartet, noch einmal Gesellschaft zu bekommen. Geschweige denn, dass mir jemand gefolgt sein könnte. „Gott, Ikki! Erschreck mich nicht so!“ „Oh, bitte entschuldige. Das lag nicht in meiner Absicht.“ „Schon gut.“ Fest presse ich mir die Hand an die Brust. Mein Herz hämmert wie wild. Ich kann das wilde Klopfen noch durch meinen Mantel spüren. Und ausnahmsweise liegt das nicht daran, wer hier gerade bei mir steht. „Was machst du hier? Und … wo ist Kento?“ Ich hätte erwartet, dass Ikki in Begleitung seines besten Freundes ist. Doch ein prüfender Blick über meine Schulter zeigt, dass von dem hochgewachsenen Genie weit und breit jede Spur fehlt. „Seid ihr nicht immer zusammen? Habt ihr nicht denselben Heimweg?“ „Stört dich meine Gesellschaft?“ Ich bin verwirrt. Versucht er mir auszuweichen oder verfolgt er eigene Absichten? „Nein, nicht direkt.“ „Das klingt nicht sehr überzeugt, hm?“, bemerkt er sanft. Argh, dieses Lächeln! Und dann auch noch den Kopf schief legen. Ja nee, ist klar. Nicht fair! Ich richte meinen Blick starr nach vorn. Mittlerweile ist es nicht mehr der Schrecken, warum es in meiner Brust so poltert. „Doch, es ist okay. Ich bin nur überrascht, das ist alles.“ „Hätte ich vorher gewusst, dass du heute ohne Geleitschutz bist, hätte ich mich dir früher angeboten.“ Mmh, mir »angeboten« … Nein, Shizana, aus! Verkneif’s dir! „Es ist lange her, dass wir den Weg zusammen gelaufen sind.“ Huh? Fragend sehe ich zu ihm auf. Es ist nicht das erste Mal, dass er mich begleitet? Mist, hätte ich das nur eher gewusst! Habe ich mich jetzt verraten? Ich richte meinen Blick nach vorn. In meinem Kopf gehe ich verschiedene Möglichkeiten durch, wie ich auf seine Bemerkung bestmöglich reagieren soll. Aber was mir auch einfällt, nichts davon erscheint mir unverfänglich genug. „Bedauerst du es?“ Ikkis Frage erobert meine Aufmerksamkeit zurück. „Hm, was? Ach so. Ja, es ist schon ein wenig schade. Manchmal ist es schön, nach der Arbeit noch ein wenig reden zu können“, sage ich und hoffe, dass ich nicht zu weit danebengetroffen habe. Meine Antwort lässt ihn lächeln. „Ja, das ist wahr. Sollen wir dann ein wenig reden? Was hast du Shin-kun denn Schönes geschenkt?“   Mit dem Verlauf unseres Gesprächs fällt es mir leichter, mich in Ikkis Gegenwart zu entspannen. Er gibt mir keine Gelegenheit, über irgendwelche unangenehmen Dinge nachzudenken. Es kommt vor, dass er mich zum Lachen bringt. Für diese Zeit, die wir unseren Weg gemeinsam fortsetzen, gibt es nichts, was mich bekümmert. Alles ist gut so, wie es ist. An der letzten Straßenkreuzung meiner Strecke bleiben wir stehen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir einen so großen Teil des Weges gemeinsam haben. Von hier aus sind es keine zehn Minuten mehr bis zu meinem Apartment. „Ich nehme an, du möchtest nicht, dass ich dich bis zu deinem Haus begleite?“, mutmaßt Ikki an mich gewandt. Ich bin nicht sicher, ob er mit dieser Frage auf eine Bestätigung oder Erlaubnis hinaus möchte.  „Ich nehme an, die Antwort kennst du“, gebe ich spielend zurück. Er entlässt darauf ein leises Seufzen. „Naja, ich hege noch immer die Hoffnung, dass sie sich eines Tages ändern wird.“ Wir sehen einander an. Die dunkle Sonnenbrille vor seinen Augen macht es mir möglich, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann, ohne den Blickkontakt fürchten zu müssen. „Vielleicht“, sage ich leise. Ginge es nach mir, hätte ich nichts gegen sein Angebot einzuwenden. Allerdings wird es einen Grund gehabt haben, warum mein vorheriges Ich bisher abgelehnt hat. Es ist besser, nichts zu überstürzen, solange ich nicht ausreichend Informationen gesammen habe. „Das Vielleicht einer Frau gehört zu den gefürchtetsten Feinden eines Mannes.“ Seine Worte lassen mich schmunzeln. „Ach ja? Und wieso?“ Er lächelt. „Weil es für ihn nie von Gewissheit ist, ob es am Ende Sieg oder Niederlage bedeutet.“ „Hm, das ist schlimm. Schon fies, oder?“ „Du solltest nach Hause gehen“, spricht er sanft. „Bevor ich auf die Idee komme, unsere Unterhaltung im Spiel fortzusetzen.“ Diese Aussage lässt mein Herz schneller schlagen. Keine Ahnung, was sie zu bedeuten hat. Aber in meinem Kopf schließen sich so viele Möglichkeiten, worauf das Ganze hinauslaufen könnte. „Na schön. Dann danke ich dir für deine Begleitung und das nette Gespräch. Es tat gut, noch einmal den Kopf freizubekommen.“ „Keine Ursache, das gebe ich gern zurück. Du findest dich ab hier zurecht?“ „Klar. Ich weiß, wo ich bin und es ist auch nicht mehr weit.“ „In Ordnung. Dann komm sicher nach Hause. Gute Nacht.“ „Danke, du auch. Gute Nacht.“ Er hebt die Hand zum Abschied, bevor er sich abdreht und der Straße geradeaus folgt. Mein Weg führt mich weiter nach rechts. Noch zwei Straßen, dann habe ich es geschafft. Während ich die letzte Strecke zurücklege, denke ich über mein Gespräch mit Ikki nach. Im Nachhinein frage ich mich, ob es möglich ist, dass er gerade mit mir geflirtet hat. Überhaupt fällt mir auf, dass es das zweite Mal heute war, dass er die Initiative ergriffen hat. Erst unsere Unterhaltung im Pausenraum, dann der Heimweg … Und was war das vor einigen Tagen mit diesem seltsamen Anruf? Hat das irgendetwas zu bedeuten? Besteht Grund, dass ich mir darüber ernsthafte Gedanken machen sollte? Je mehr ich über diese Dinge nachdenke, desto mehr zieht es mich hin und her. Auf der einen Seite bin ich so freudig nervös, dass ich die ganze Zeit breit grinsen und laut quieken möchte. Auf der anderen Seite gibt es mir zu bedenken. So sehr, dass alles in mir auf Abwehrhaltung geht. Wenn das doch alles nur fiktiv wäre … Ich bin froh, als ich das Haus endlich erreiche. Ich lasse all meine letzten Gedanken vor der Tür, als diese hinter mir ins Schloss zurückfällt. Im Flur meines Apartments schalte ich das Licht ein. Ich entledige mich meines Mantels und der Schuhe, bevor ich das Wohnzimmer betrete. Nach wenigen Schritten bleibe ich stehen, um den Moment kurz auf mich wirken zu lassen. Stille empfängt mich. Der helle Raum wirkt groß und leer. Hier ist so verdammt viel Platz. Viel zu viel für eine einzelne Person. Ich wünschte, Ukyo wäre jetzt hier. Ich seufze und drehe mich der Küche zu. Eigentlich sollte ich es inzwischen gewohnt sein. Ich hegte den Glauben, ich sei es bereits. Wie ich feststelle, war das ein Trugschluss. Mechanisch bereite ich alles für eine Tasse warmen Cappuccino vor. Das gleichmäßige Rauschen des Wasserkochers lädt meine Gedanken ein, sich ein wenig im Raum zu bewegen. Wie lange ist es jetzt her? Sonntag, heute ist der sechste Tag. Nach morgen wird es eine Woche sein, die ich jetzt schon in dieser Welt bin. Und was habe ich seither erreicht? Was habe ich bis jetzt erfahren? – Nichts, was mir Aufschluss darüber geben könnte, wie ich wieder nach Hause komme. Oder warum ich hier bin, um den Anfang nicht zu überspringen. Wie geht es ihnen wohl? All meinen Liebsten zu Hause, die mir am Herzen liegen. Geht es ihnen gut? Wurde mein Verschwinden inzwischen bemerkt? Werde ich vermisst? Hat schon jemand die Polizei verständigt? Werde ich meinen Job noch haben, wenn ich jemals nach Hause zurückgekehrt bin? Die aufgehitzte Keramik wärmt meine kühlen Hände. Auf dem Weg in Wohnzimmermitte nähre ich von dem süßen Duft, der mir in die Nase steigt. So vertraut, fast tröstlich. Wenigstens ein bisschen. Vorsichtig lasse ich mich auf das weiche Couchpolster sinken. Mit einer Hand angle ich nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Egal was, solange jemand der Stille den Kampf ansagt. Neben mir lasse ich die Tasche sinken, die ich bis eben über der Schulter getragen habe. Ich hole mein Handy heraus und wähle mich in die SMS-Option. Keine neuen Nachrichten. Na, soll mir recht sein. Vielleicht hat es Mister oder Misses Wonder endlich aufgegeben, den Mysteriösen zu spielen. Ich verfasse eine kurze Nachricht an Ukyo: »Bin heil zu Hause angekommen. Falls wir uns nicht mehr sehen, wünsche ich dir eine gute Nacht.« Den letzten Part lösche ich anschließend, ehe ich die SMS versende. Vielleicht ist er noch bei Hanna. Nicht auszudenken, was wäre, wenn sie einen solchen Satz zu sehen bekäme. Sicher ist sicher. Im Fernsehen läuft ein Adventure-Film, den ich ohne jegliches Interesse verfolge. Abwesend nippe ich an dem süßen Warmgetränk, nicht fähig, mit meinen Gedanken im Raum zu bleiben. Oh, was gäbe ich jetzt für ein warmes, weiches Bündel auf meinem Schoß. Für das sanfte Vibrieren unter meiner Hand. Dem leisen Schnurren in meinen Ohren. – Ich vermisse sie, meine Katze. Mein Baby. Ich vermisse sie so sehr. Ein schweres Gefühl breitet sich in mir aus. Schleicht meine Kehle hinauf und hinterlässt dort einen dicken, anschwellenden Knoten. Meine Augen fühlen sich heiß an. Mein unklarer Blick verschwimmt. Was mache ich hier nur? Das ist doch alles nicht real. Hier ist nicht der Ort, wo ich hingehöre. Ich will nach Hause. Aber wie? Ich will einfach nur nach Hause …   Ich bewege mich durch die Fußgängerzone der Innenstadt. Wenige Menschen sind hier unterwegs, wie immer. Jedes Geschäft, jedes Schaufenster ist mir vertraut. Der Marktplatz ist leer, der Springbrunnen zu dieser Jahreszeit nicht im Betrieb. Ich ziehe an allem vorbei, desinteressiert und in meiner Musik versunken. Mitten auf dem Rathausplatz bleibe ich stehen. Mit einer Hand krame ich in meiner Manteltasche, um den MP3-Player auszuschalten. Da spüre ich, wie mir jemand von hinten gegen die Schulter tippt. „Entschuldigen Sie?“, höre ich die mir unbekannte Frau sagen, gerade als ich die Stöpsel aus meinen Ohren löse. „Sagen Sie, ist das Ihre Katze?“ Ich folge ihrem Fingerzeig. Hinter mir erkenne ich das zierliche Tier, das auf tapsigen Pfoten und mit freudig aufgestelltem Schweif auf mich zueilt. „Mausi, was machst du denn hier?“ Ich drehe mich herum und gehe in die Hocke. Wie immer begrüßen wir uns, indem sie auf die Hinterbeine geht und ihren Kopf gegen meine Handfläche stößt. Mit ihrem hohen Maunzen entlockt sie mir ein Lächeln, wie jedes Mal. „Du bist mir ‘ne irre Katze, weißt du das? Bist du mir von zu Hause bis hierher gefolgt?“ Ich hatte das immer befürchtet, doch zum Glück war es nie passiert. Bis jetzt. „Oh Mann, Kira, ich fass‘ es nicht. Du bist wirklich mehr Hund als Katze, hm? Was mache ich denn jetzt mit dir?“ Ich richte mich zurück in eine aufrechthalte Haltung. Kira streift um mein Bein herum, ihr Schnurren laut verkündend. Unschlüssig sehe ich die Einkaufsstraße hinunter, dann wieder nach vorn. So kann ich nicht ins Einkaufcenter gehen. Aber gehe ich mit Kira nach Hause, habe ich keine Lust, im Anschluss wieder herzukommen. Irgendwo hinter mir höre ich Kinderlachen. Irgendwelche Kids rennen an mir vorbei und veranstalten dabei solchen Lärm, dass Kira die Flucht ergreift. „Passt doch auf!“, rufe ich den Rotzlöffeln nach. Müssen die auch ausgerechnet jetzt am Taubenjagen ihren Spaß finden? Na, herzlichen Dank auch. Jetzt habe ich Kira ganz aus den Augen verloren. Von irgendwoher höre ich einen hohen Aufschrei. Dann das schwerfällige Bremsen eines Busses. Sofort trifft mich die eisige Vorahnung, bevor ich irgendetwas realisiere. „NEIN!!“ Ich stürze zur Unfallstelle. Bis auf die andere Seite der grauen Steinpflasterstraße ist ihre kleine Gestalt geschleudert worden. Ich falle auf die Knie, strecke meine Hände nach dem zierlichen Körper aus. Behutsam hebe ich ihn auf meinen Schoß. Nichts regt sich. „Nein … Nein, nein, nein! Kira!!“ Mir strömen die Tränen über die Wangen. Meine Finger liegen in dem weichen, schwarzen Fell. Darunter tut sich nichts. Keine Vibration, kein Zusammenziehen, keine Bewegung. Kein Miauen, dabei müsste sie unsagbare Schmerzen haben. Ich erhasche einen Blick auf den weißen Bus. Im langsamen Tempo fährt er an mir vorbei. Dieses verfluchte Monsterteil! Dieser dämliche Fahrer! … Kento? „Kira! Kira! Verdammt, wieso hilft mir denn keiner?!“ Ich schreie in die Menge. Wütend, verzweifelt. Mein Körper bebt. Meine Augen sind chancenlos gegen die Fluten. „Verdammt …!“ Ich kann nichts tun, als diesen schmächtigen Körper an mich zu drücken. Der metallische Geruch sticht mir unangenehm in die Nase, trotzdem vergrabe ich mein Gesicht tief in dem weichen Fell. Ich zücke mein Handy. Hilfe, ich brauche Hilfe! Sofort! „Hey Kleines, was gibt’s?“ „An… Kira!“, schluchze ich meinem besten Freund ins Telefon. „Kira … sie wurde überfahren. Gerade eben, vor meinen Augen. Bitte, hilf mir!“ „Was zum …? Bleib wo du bist, ja? Ich komme zu dir, so schnell ich kann!“ Ich nicke und lege auf. Die Tränen wollen nicht versiegen. Wieso? Wieso ist das passiert? Wieso bist du nicht zu Hause geblieben, du dumme Nuss?! Mit aller Kraft rapple ich mich auf die Beine, in meinen Armen der leblose Körper meines Mädchens. Ich kann nicht warten, sie braucht sofort Hilfe! Ich durchsuche die Gegend, bis mir ein blonder Haarschopf in die Sicht gerät. Dieser prollige Mantel, diese Statur dazu … Ich habe keinen Zweifel. „Luka!“ Stolpernd eile ich zu ihm hinüber. „Luka, bitte …! Ich brauche Hilfe! Meine Katze, sie ist …!“ Zu meinem Glück bleibt er stehen. Wie in Zeitlupe dreht er sich zu mir herum und ich blicke in ein Paar stechendgrüne Augen. Eiskalt und zurückweisend. Wieso? „Luka, bitte …“, flehe ich ihn an. Wortlos dreht er sich ab und verschwindet unter den Passanten. Von irgendwo dringt ein weiterer Aufschrei. Dann noch einer, und noch einer. Es wird plötzlich hektisch um mich herum. Menschen rennen in Panik an mir vorbei. Verunsichert sehe ich in alle Richtungen auf der Suche nach der Ursache. Es läuft mir frostig den Rücken hinunter, als ich das brummende Geräusch einer Kettensäge vernehme. Erst entfernt, dann schnell näher kommend. Ich höre das kichernde Lachen von Ukyos anderem Ich, so nah, und doch nicht zu sehen. „Komm mit!“ Jemand greift brutal nach meinem Handgelenk und zieht mich mit sich. Ich erkenne versetzt, dass es Toma ist, der gehetzt zu mir zurücksieht. „Nun komm schon! Weg hier!“ Ich folge ihm wie in Trance. Die Straße entlang, um eine Ecke, bis wir glockenläutend durch eine Tür treten. Mich empfängt der Duft frisch gebackener Brötchen und aufgebrühten Kaffees. „Ich hätte gern zwei Abendbrötchen, ein Mohnbrötchen und zwei Stück Altdeutschen Kirschkuchen.“ Ein Mann um die Enddreißiger äußert seine Wünsche, kaum dass ich hinter dem Verkaufstresen zum Stehen gekommen bin. Hektisch sehe ich mich um, prüfe die Brötchenkörbe hinter und die Kuchenplatten vor mir. Gewohnt mache ich mich an die Arbeit, das Gewünschte zusammenzupacken. „Kann ich auch mit PayPal zahlen?“ Ich blinzle ihm irritiert entgegen, als ich die Ware auf die Überreiche lege. „Wir nehmen nur Barzahlung“, erkläre ich. „Sagen Sie mal, wollen Sie mich verarschen?! Beim letzten Mal sagten Sie mir noch, dass ich wieder mit PayPal zahlen kann, wenn ich mein Konto einmal aufgeladen habe!“ „Ähm, ja … Aber das allein reicht nicht. Sie müssen auch Einkäufe aus dem Guthaben heraus tätigen.“ „Was ist denn das für ein Saftladen?! Wo steht das in Ihren AGBs? Ich will sofort Ihren Vorgesetzten sprechen!“ „Wozu wollen Sie denn jetzt meinen Vorgesetzten sprechen?“ „Ihr arbeitet doch mit meinem Geld!“ Ich seufze entnervt. Das schon wieder … „Nein, wir sind keine Bank.“ „Das wird mir jetzt echt zu bunt. Sie hören von meinem Rechtsanwalt!“ Er reißt die Tüte von der Ablage, schon stürzt er aus dem Laden. Kaum ist er weg, klingelt neben mir das Telefon. Mit einem weiteren Seufzen hebe ich das Headset vom Tresen und setze es mir auf den Kopf. Ich entspanne meine Schultern, bevor ich die Stummschaltung am Telefon deaktiviere. „Herzlich willkommen bei Ihrem –“ „Mitsu-ke-ta~¹“, surrt es düster-verheißungsvoll durch die Kopfhörer. Ich schaudere. Wie hat er mich so schnell gefunden? Panisch lege ich auf und reiße mir das Headset vom Kopf. Ein Blick zum Fenster lässt mich gefrieren. Dort steht er, Ukyo. Das Handy an seinem Ohr, ein finsteres Grinsen auf seinem Gesicht, mich fest im Visier. Ohne weiter nachzudenken flüchte ich in den hinteren Vorbereitungsraum. Wie erwartet finde ich dort eine Hintertür, durch welche ich nach draußen auf die Straße breche. Flüchtig sehe ich mich um, bis ich eine Person entdecke, die einige Meter weiter gegen die Wand lehnt. Sein Gesicht wird von dem Schirm eines schwarzen Cappys verdeckt, dessen Aufdruck einen großen, gelben Stern zeigt. Ich erkenne den Mann. Es ist der Fremde, der einst mit Ukyo im Café aufgetaucht ist. Er sieht direkt in meine Richtung. „Hey!“, rufe ich und eile in seine Richtung. In dem Moment stützt er sich von der Wand ab und entfernt sich. „Hey, warte!“, rufe ich erneut und folge ihm. Mit der nächsten Ecke, um die ich biege, habe ich ihn aus dem Blick verloren. Dafür entdecke ich weiter vorne eine Gestalt, die mir äußerst vertraut ist. Ich habe das Gefühl, endlich gerettet zu sein. „Force!²“, rufe ich so laut ich kann. Ich quetsche mich durch die Menschenmenge, bis ich seine Lederjacke zu fassen bekomme. „Force, warte!“ „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“ Fragend sehe ich zu ihm auf. Sehe in das schmale Gesicht, die braunen Augen, die mir so vertraut sind. „Was?“ Er antwortet nicht, schiebt nur meine Hand von seinem Arm. Dann dreht er sich um und geht, ohne ein weiteres Wort. „Nein, warte!“ Jemand rempelt mich an und ich stolpere rücklings gegen eine Wand. Ehe ich mich versehe, liegen zwei Arme neben meinem Gesicht und kesseln mich ein. Die Person vor mir ist so nah, dass ich nicht zu atmen wage. „Glaubst du mir nicht?“, wispert seine Stimme samten. Seine blauen Augen halten meinen Blick gefangen. Sie sind so schön, wie sie von den silbernen Haarsträhnen umrahmt werden. Sein warmer Atem trifft auf meine Lippen wie ein federleichter Kuss. „Ich liebe dich. Das ist mein Ernst.“ Ikki, was …? Er nähert sich meinem Gesicht langsam. Mit jedem Zentimeter versinke ich tiefer und tiefer in ihm. Die Angst vorm Fall wird größer. Ich kneife die Augen zusammen. „Ich habe dir doch gesagt, halte dich von ihm fern.“ – Mine! Augenblicklich reiße ich die Augen auf. Nichts hat sich verändert. Ikki steht weiterhin vor mir, sein Gesicht so nah vor meinem. Ich kann ihm nicht ausweichen, doch obwohl ich in seine Augen sehe, spielen sich in meinem Kopf ganz andere Bilder ab. Ich sehe mich selbst, vor mir Mine. Ihr Gesicht ist gesenkt, in ihrer Hand erkenne ich ein großes Küchenmesser. Ich weiche zwei Schritte zurück, sie folgt direkt. Die Panik schnürt mir die Kehle zu, macht meine Knie weich. Ich suche nach einem Ausweg, da beginnt sie zu kichern.  Sie hebt die Hand, liftet das Kinn. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Gesicht zu einem irren Grinsen verzerrt. „Mine, nicht …“, flüstere ich brüchig. Sie lacht. Ihr Arm holt weit nach oben aus, während sie auf mich zukommt. Ich will es nicht sehen. Ich will es nicht hören. Nicht ihr Lachen, nicht mein Schreien. So fest ich kann, presse ich die Hände auf meine Ohren. Schließe die Augen. „Sag, kannst du dich erinnern?“ Schwärze, nichts als Schwärze. Orions Stimme, wo kommt sie her? „Kannst du es nicht? Hast du Angst, dich zu erinnern? … Oder willst du es nicht?“ Er meint nicht mich. Hanna, ich bin nicht wie sie. Ich kann mich erinnern. Oder kann ich es nicht? „Hey, gib nicht auf!“ Aus Orions aufbauenden Worten klingt ein ermutigendes Lächeln. „Zusammen schaffen wir das. Ein Rocket gibt niemals auf, da yo!“ Ah, richtig … Ein Rocket … Tränen steigen in mir hoch. „Hört auf …“ Meine Stimme ein leises Wimmern. „Zu schade …“ Schon wieder. Ukyos Stimme, zugleich nicht seine. „Wirklich traurig, aber du wirst sterben.“ „Hört auf …“ Sein Lachen wird lauter in meinem Kopf. Höhnend mischt sich Mine dazu. Zu viel, ich ertrage das nicht länger! „Hört auf …“ „Shizana.“ – Ikkis Stimme, sein bannender Blick. „Toma!“ – Shins Rufen, panisch und entsetzt. Ich ertrage das nicht länger. „HÖRT AUF!“ In all der Dunkelheit tut sich ein gleißendes Licht auf. So hell, dass es schmerzt. „Es tut mir leid“, höre ich eine Mädchenstimme in meinem Kopf. So jung und hilflos, gleichzeitig so hell und zart, dass ich Trost in ihr verspüre. Vorsichtig öffne ich die Augen. Ich blinzle gegen die Helligkeit an. Inmitten des Lichts erkenne ich eine Silhouette. Ein kleines Mädchen. Es kommt mir bekannt vor mit dem weißen Haar in den zwei Seitenzöpfen. Diese klaren, eisblauen Augen. Wo ist sie dieses Mal nur wieder hergekommen? „Es tut mir wirklich leid. Ich habe ihren Wunsch schon wieder falsch verstanden … Aber ich bringe das in Ordnung.“ Ich finde keine Worte. Das Licht wird greller, die Silhouette schwächer. Bald ist sie ganz verschwunden. Ich versinke im Weiß …   Ich schrecke aus meinem Schlaf hoch. Das Erste, was ich bemerke, ist die Stille in meinem Zimmer. Dann, dass ich weine. Ich taste mein Kopfkissen ab und stelle fest, dass es an einer Stelle feucht ist. Kein Wunder. Ich ziehe im Sitzen die Beine an, umschlinge meine Knie und vergrabe das Gesicht darauf. Es will einfach nicht aufhören. Ich schluchze und schaffe es nicht, Herr über meine Tränen zu werden. Es dauert einige Zeit, bis ich mich einigermaßen beruhigt habe. Wieder und wieder sage ich mir, dass es nur ein Traum war. Es ist nichts passiert. Kira geht es gut, es besteht kein Grund zur Trauer. … Ich wünschte, ich könnte mich davon überzeugen. Wäre sie doch nur hier. Je ruhiger ich werde, umso mehr Erinnerungen gewinne ich von diesem seltsamen Traum. Was hat er nur zu bedeuten? Meine Realität und das Amnesia-Universum, sie waren eins. Untrennbar vermischt zu einem wüsten Horrorsalat, der mir nicht bekommen will. So schlimm war es bisher nie gewesen. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Mine, im Traum hat sie versucht mich umzubringen. Vielleicht ist es ihr sogar gelungen, ich weiß es nicht. Und Ukyo … wieso hat er mich gejagt? Ich fühle mich schlecht, so von ihm geträumt zu haben. Gut, ich gebe ja zu, dass ich Angst vor seiner anderen Seite habe. Trotzdem fühlt es an wie Verrat. So etwas träumt man doch nicht von einem Freund? Und dann war da dieses Mädchen. Jetzt, da ich langsam zu Sinnen komme, fällt mir auf, dass etwas an diesem Teil des Traumes anders war. Während die Horrorbilder allmählich zu verblassen beginnen, trifft das auf sie nicht zu. Ich sehe ihre kleine Gestalt noch immer vor mir. Ihre Worte hallen in meinem Gedächtnis wider, ihre Stimme so klar und deutlich, als hätte sie vor mir gestanden. Es fühlt sich beinah greifbar an. Aber was könnte sie damit gemeint haben, als sie sagte, sie hätte ihren Wunsch falsch verstanden? Wer ist »sie«? Und von welchem Wunsch hat sie gesprochen? „Ich brauch‘ ‘ne Dusche“, spreche ich leise zu mir selbst. Ganz langsam schäle ich mich aus der Decke und richte mich vorsichtig aus dem Bett auf. Draußen wird es erst hell, wie ich bemerke, als ich die Rollläden am Fenster hochziehe. Eine kühle Windbrise trifft meine feuchten Wangen, als ich das Fenster aufklappe. Typisch Winter, wieso kann es nicht schon Frühling sein? Ich wische mir kurz Augen und Gesicht trocken, ehe ich mein Zimmer verlasse. Eine Dusche sollte ich mir wirklich gönnen. Ich fühle mich verschwitzt, die Haare kleben mir an Hals und Nacken. Meine Frisur dürfte ein einziges Chaos sein, was mir ein Griff in die langen Zotteln bestätigt. Ich stoße ein schweres Seufzen aus. Erst einmal brauche ich einen Cappuccino, und dann schön eines nach dem anderen. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Der Ton ist sehr leise eingestellt, sodass ich nichts verstehe. Seltsam. Ich bin mir sicher, dass ich gestern vorm Schlafengehen alles ausgeschaltet habe. „Ukyo?“, frage ich in den Raum hinein. Er ist nirgends sehen. Etwas verzögert höre ich ein leises „Nng“. Ich vermute es von der Couch, aber es kann unmöglich von meinem Mitbewohner stammen. Dafür klingt die Stimme viel zu jung. Zögerlich gehe ich weiter. Etwas regt sich auf dem hellen Polster. Ich will nicht wahrhaben, als ich in dem dämmrigen Licht tatsächlich die Gestalt eines kleinen Jungen erkenne, die sich soeben aufrichtet. „Oh, du bist wach?“ „Orion?“ Aber wie …? „Ah, du kannst mich hören!“, ruft er erfreut. „Kannst du mich auch sehen?“ „… Sofern du keine Erscheinung bist?“ „Haha, nein. Ich bin kein Spukgespenst oder so.“ Nein, das vielleicht nicht. Aber das macht es kaum besser. „Ah, so ein Glück. Das macht alles sehr viel einfacher.“ Ich beobachte, wie Orion sich von dem Polster schwingt. Erst jetzt fällt mir auf, dass er nicht in seiner üblichen Gestalt ist. Die Hörner fehlen und die Kleidung ist die eines gewöhnlichen Jungen: modern und alltäglich. Ist das nicht die Gestalt, die er in Laters angenommen hat, nachdem er und Niel ihre Bestrafung erhalten haben? Aber ich dachte, das hier sei nicht das Laters-Universum? Was hat das zu bedeuten? „Sag mal“, setze ich an. Tausend Fragen gehen mir durch den Kopf. Ich wäge die dringlichsten ab, ehe ich fortsetze: „Wie kommst du eigentlich hierher?“ „Ähm, also“, gerät er ins Stammeln. „Das … ist ein wenig schwer zu erklären.“ Ja, das glaube ich ihm. Ich lasse meinen Blick durch den Raum gehen. Die Fenster sind geschlossen, für die Wohnung hätte er einen Schlüssel gebraucht. Es gibt ja Gerüchte, dass Geister fliegen und durch Wände gehen können. Aber trifft das auch auf solche in Menschengestalt zu? Trifft die Bezeichnung »Geist« überhaupt auf ihn zu? „Du bist aber schon der, für den ich dich halte?“ Er senkt den Kopf. „Es tut mir leid“, sagt er nach einer Pause, „aber ich kann dir deine Fragen im Moment nicht beantworten. Noch nicht.“ Ach, das ist ja ganz große Klasse. „Okay, ich halte fest: Du bist hier in meiner Wohnung, aber sagst mir nicht, wie du hier reingekommen bist? Oder warum du hier bist?“ „Ich weiß, das ist alles nicht so leicht zu verstehen … und kommt für dich sehr plötzlich. Aber ich muss dich bitten, Vertrauen zu haben. Wenigstens fürs Erste. Ich verspreche dir, dass sich alles aufklären wird.“ „Ach, und wann?“ Ich bemerke selbst, wie meine Stimme einen schnippischen Ton angenommen hat. Eigentlich möchte ich ihm gar keine Vorwürfe machen. Ich glaube nicht, dass er etwas für die Umstände kann. Aber kann man mir vorwerfen, verärgert zu sein? „Ich brauche einen Cappuccino …“ Ich wende mich ab und steuere auf die Küche zu. Bevor wir hier weitermachen, muss ich einen klaren Kopf kriegen. Und mit den Nerven runterkommen. Ich habe das Gefühl, wiederholt in Tränen auszubrechen, wenn ich nichts unternehme. „Hör mal, es tut mir leid.“ „Schon gut“, antworte ich ruhig. Orion ist mir in die Küche gefolgt, doch ich sehe ihn nicht an. „Gib mir einfach einen Moment. Das ist grad alles ein wenig zu viel.“ Wir schweigen beide, während ich das Wasser aufsetze. Mir fällt auf, dass mir das Cappuccinopulver ausgeht. Auch Ukyos Kaffee könnte eine Auffüllung vertragen. In den Schränken finde ich keine Reserven. Vielleicht sollte ich nachher einmal beim Konsum vorbeischauen. „Ich gebe eben duschen“, verkünde ich an Orion adressiert. Ich bin noch nicht bereit, ihm wieder ins Gesicht zu sehen, weswegen ich an ihm vorbeigehe. „Sorry, wenn ich unhöflich bin, aber ich hatte eine beschissene Nacht. Ich hoffe, dass du gleich noch da bist, wenn ich zurückkomme. Wenn nicht, werde ich richtig böse auf dich sein.“   Etwa zwanzig Minuten später habe ich meine Hygiene beendet. Das Haareföhnen dauert mir zu lange, weswegen ich es sein lasse. Orion ist mir schon zweimal durch die Lappen gegangen, das will ich nicht erneut riskieren. Zu meiner Erleichterung finde ich den Jungen in der Küche. Er hat sich auf die Theke gehievt und sitzt dort, als habe er auf meine Rückkehr gewartet. Fast könnte man meinen, er sei ein ganz gewöhnlicher Junge. Die Art, wie er mit den Beinen baumelt und dabei gedankenverloren zu Boden sieht, lässt mich einen Moment schmunzeln. „‘tschuldige fürs Warten“, kündige ich mich an, bevor ich mich zu ihm an die Küchenzeile geselle. „Schon gut. Ich weiß, wie du dich fühlst.“ „Ach ja?“ „Naja … nicht wirklich“, gesteht er leise. „Aber ich kann es mir vorstellen, denke ich.“ Ich schmunzle über seine ehrlichen Worte. „Magst du auch etwas trinken?“ „Nein. Danke, aber ich habe keinen Durst.“ „Ist in Ordnung.“ Nachdem ich meinen Cappuccino aufgebrüht habe, gehe ich mit der Tasse hinüber zu dem kleinen Esstisch. Ich nehme einen kurzen Schluck, ehe ich die Tasse auf der Platte abstelle. „Magst du dich setzen? Ich muss nur kurz etwas holen und dann würde ich einen Moment auf dem Balkon verschwinden.“ Er nickt zur Antwort und lässt sich von der Theke gleiten. Obwohl es etwas Beklemmendes hat, lächle ich, als er meiner Bitte wirklich nachkommt. Ich beeile mich, ihn nicht zu lange warten zu lassen.   Nach der Dusche und einer Zigarette an der frischen Morgenluft fühle ich mich einigermaßen klarer. Meine Gedanken sind geordnet und meine Nerven entspannt. Es ist nach wie vor eine seltsame Situation, plötzlich Orion gegenüberzusitzen. Auf der anderen Seite, was ist schon normal mit mir in dieser Welt? „Tut mir leid wegen vorhin.“ „Mhm, mir auch.“ „Ich nehme an, du wirst mir keine meiner Fragen beantworten?“ Er schweigt und mustert das Blumengesteck. Ich seufze leise. „Kannst du sie nicht beantworten oder darfst du es nicht?“ „Ich darf es nicht“, antwortet er zögerlich. „Deswegen bin ich nicht hergeschickt worden.“ Hergeschickt? Von wem? Etwa von Niel? Ich weiß nicht, ob es klug wäre, ihn das zu fragen. „Und weswegen dann?“, frage ich stattdessen. „Na, um dich –“ Ich warte, dass er seinen Satz beendet. Vergebens. Ich erhasche lediglich einen kurzen Blick von ihm, bevor er wieder zur Seite wegsieht. „Okay, ich merke schon“, seufze ich abermals. „Es ist dir unangenehm, wenn ich dir diese Fragen stelle. Oder zumindest bringt es dich in Komplikationen. Ich höre auf damit, in Ordnung?“ „Ich würde ja gern …“ „Ich weiß. Ist schon okay.“ Hach, immer diese Lügen. Nichts ist okay, gar nichts. Ich habe Fragen, so unglaublich viele, und kann sie nicht stellen. Das ist so unglaublich frustrierend! Dabei fühle ich mich den Antworten mit Orion so nah. Ich blinzle zu ihm herüber. Es steht außer Frage, dass es einen Grund haben muss, warum er hier ist. Orion würde nicht grundlos in meiner Wohnung auftauchen. Das Wieso beschäftigt mich. Noch mehr als das frage ich mich jedoch, wie es kommt, dass ich ihn sehen kann? Und wieso hat er diese Gestalt? „Darf ich dir noch eine Frage stellen?“, spreche ich zögerlich. Abwartend sieht er zu mir auf. „Ja, klar. … Auch wenn ich dir vermutlich nicht darauf antworten kann.“ Ich wäge gut ab, ehe ich meine Frage formuliere. „Ich bin dir schon einmal begegnet, richtig?“ Sein Nicken ist vorsichtig. „Mh. Ich schätze, das kann man so sagen.“ „Wieso bist du vor mir weggelaufen?“ Wieder schweigt er und weicht mir zur Seite aus. „Es war mir verboten, mit dir in Kontakt zu treten. Es hätte so eigentlich nicht passieren dürfen.“ „Was meinst du damit?“ „Du hättest mich nicht sehen dürfen.“ Mit dürfen meint er »dürfen« oder »können«? Ich werde nicht schlau aus seinen Antworten. „Aber du mich schon?“, will ich wissen. Weiteres Schweigen. Orion lässt die Schultern nach vorn fallen, was ihn noch kleiner auf seinem Stuhl erscheinen lässt. „Was ist mit Hanna?“ „Hanna?“ Jetzt ist er es, dessen Augen mit Fragen erfüllt sind. „Wie kommst du jetzt auf Hanna? Was hat sie damit zu tun?“ Ich weiche ihm aus. Ja, wie komme ich eigentlich darauf? Hanna hat mit dieser ganzen Sache nichts zu tun. Ich dachte nur, da Orion normalerweise an ihrer Seite ist … Ach, egal. Es hat ja doch keinen Zweck. „Darf ich dich vielleicht auch etwas fragen?“ Offen sehe ich ihn an. „Klar, nur zu.“ „Wie geht es dir?“ Ich blinzle fragend. „Ich stelle mir das schlimm vor“, setzt er leise fort. Er wirkt bekümmert, warum auch immer. „Du hast es bestimmt schwer gehabt. Für sie war es damals auch nicht leicht gewesen, als das passiert ist. Du musst ganz verwirrt sein.“ „Also im Augenblick machst du es nicht gerade besser“, merke ich an. „Erst recht, wenn ich dir keine Fragen stellen darf.“ „Tut mir leid“, flüstert er, dann wird er still. „Aber geht es dir gut? Dir ist doch nichts passiert, oder?“ „Mh, nicht direkt.“ Ich denke kurz über das bisher Erlebte nach. „Es ist vielleicht nicht alles toll, aber sonst … Sieht man von den Albträumen ab, die ich habe, geht’s eigentlich.“ „Was ist mit deinem Hals passiert?!“ Orions aufgeregte Stimme lässt mich in meinen Gedanken auffahren. „Meinem Hals?“ Ich taste danach. Oh, ja, richtig. Das muss er meinen. Er muss darauf aufmerksam geworden sein, als ich mir gedankenverloren über den Nacken gestrichen habe. Mist, ich hätte besser aufpassen müssen. „Ach, das …“ Ich bemühe mich um ein zwangloses Lächeln, während ich die Blessuren mit meiner Hand zu verdecken versuche. „Das ist ein wenig schwer zu erklären. Aber mir ist nichts passiert, alles in Ordnung.“ „Hat dir das jemand angetan?“, drängt er mit weiteren Fragen. „Das warst du nicht selber, oder? Jemand hat versucht dir wehzutun!“ „Nein, so ist das nicht.“ „War es Ukyo? Oder ein Fremder? Wenn es jemand auf dich abgesehen hat –“ „Orion“, bremse ich ihn in seiner Aufregung. „Es ist alles in Ordnung. Okay? Keine weiteren Fragen bitte dazu.“ „Aber …“ „Und kein Wort darüber zu irgendjemanden, ja?“ Ich lese aus seinem Gesicht, dass ihm ein Beilegen dieses Themas widerstrebt. Vermutlich setzt meine Bitte dem Ganzen den Hut auf. „Okay.“ „Danke.“ Ich lächle, obgleich ich bedauere, ihn zurückgewiesen zu haben. Orion sorgt sich um mich, das ist mir bewusst. Ich weiß das zu schätzen. Doch so leid es mir tut, ich kann und werde Ukyo nicht verraten.   Später habe ich mir eine Einkaufliste zusammengestellt. Es ist nicht viel, das geholt werden muss. Zum Glück haben Ukyo und ich das Wichtigste schon eingekauft, als wir für das Meido-Event die Kuchen beschafft haben. Aber auf Kaffee und Cappuccino ist nicht zu verzichten. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft kommt mir zudem gerade recht. „Kommst du etwa mit?“, frage ich an Orion gewandt, der hinter mir im Flur steht. „Ich soll auf dich aufpassen“, entgegnet er entschieden. Ich beobachte ihn, wie er sich die Kapuze seines grau-schwarzen Pullovers auf den Kopf zieht. Niedlich, die schwarzen Zipfel sehen aus wie die Hörner, die er normalerweise hat. Man kann sie aber auch für lange Tierohren halten, wenn man die grauen Kreuzknöpfe als Augen interpretieren mag. „Kannst du mich denn im Zweifelsfall beschützen?“, frage ich mit einem Schmunzeln und lasse es mir nicht nehmen, ihm die Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen. Ich ernte ein „Hey!“ und protestierendes Zappeln. Ah, so niedlich! „Ich werde es zumindest versuchen.“ „Haha, sehr tröstlich.“ Widerwillig lasse ich von ihm ab, nicht ohne ihm noch einmal über den Kopf zu strubbeln. „Na dann mal los, mein Held.“ Ich schnappe mir den Schlüssel vom Haken und somit brechen wir auf. Auf dem Weg zum Geschäft sind unsere Gespräche zwangloser. Ich erzähle Orion, dass ich eigentlich aus Deutschland komme, zu Hause zwei Katzen habe und zuletzt in der Kundenbetreuung tätig war. Er stellt mir viele Fragen zu meinem ursprünglichen Leben und zu den Unterschieden, die zu Japan bestehen. Viel kann ich ihm dazu nicht berichten, erkläre ihm aber, dass sich die Lebensweisen mehr im Detail unterscheiden. Wir reden über das Wetter und hoffen am Ende beide, dass wir dieses Jahr noch Schnee zu Gesicht bekommen werden. Irgendwann klingelt mein Handy, dass ich eine neue Nachricht empfangen habe. Ich hole es hervor, um der Sache nachzugehen. „Hat dir jemand geschrieben?“ „Mh, Luka“, antworte ich geistesabwesend, wobei ich das Telefon bediene. „Luka?“ „Mein Freund.“ Es kommt mir wie selbstverständlich über die Lippen. Schon seltsam, dabei fühlt es sich falsch an, es so zu benennen. Orion sagt nichts. Derweil nutze ich die Stille, um Lukas Nachricht zu lesen. „Triffst du dich mit ihm?“ „Hm? Natürlich. Gehört das nicht zu einer Beziehung dazu?“ „Aber ist das denn richtig?“ Ich löse meinen Blick vom Display und sehe zu Orion hinunter. „Wie meinst du das?“ „Na ich meine, liebst du ihn denn?“ Seine Frage haut mich fast aus den Socken. Und das von einem kleinen Jungen? „Verstehst du es denn, wenn ich es dir erklären würde?“ „Ich weiß nicht“, sagt er leise. Sein anschließendes Schweigen macht mich skeptisch. „Wieso fragst du es dann?“ Ich erhalte im ersten Moment keine Antwort. „Vielleicht, weil es sich nicht richtig anfühlt.“ „Kennst du ihn denn?“ „Nicht direkt.“ „Wie kannst du dann so etwas sagen?“, will ich wissen. „Wie kann es sich für dich nicht richtig anfühlen, wenn du weder die Person noch die Umstände kennst?“ „Ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht sagen.“ Na wunderbar. Weiß er es nicht oder kann er es mir nicht sagen? „Dann frag so etwas nicht.“ „Aber fühlt es sich denn für dich richtig an?“ Ich stoße ein Seufzen aus. „Ich denke nicht, dass ich mit dir über so etwas reden kann.“ „Ich will dir doch nur helfen.“ „Und inwiefern soll mir das helfen?“ Erneut Schweigen. Wie es aussieht, habe ich den Kleinen damit ins Schachmatt gesetzt. „Ich verstehe … Du kannst dich an den Vorfall nicht mehr erinnern.“ Ich bleibe stehen und sehe ihn verdutzt an. „Welchen Vorfall? Wovon sprichst du?“ Orion tut es mir gleich und stoppt neben mir. Ich lese tiefe Sorge und Betroffenheit, als er zu mir hochsieht. „Hast du es wirklich vergessen?“ Ich fühle mich wie in einem schlechten Film. Ich habe doch keine Amnesie oder so. Er muss von meinem anderen Ich sprechen, das vor mir in dieser Welt gewesen ist. Das, das alle hier kennen. Und von dem ich nicht weiß, wie viel es mit mir gemein hat und was davon es bereits preisgegeben hat. „Vergiss es“, weiche ich aus und setze unseren Weg fort. Das wird mir zu bunt. Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Allmählich bin ich es leid, dass mir von allen Seiten Bröckchen zugeworfen werden, die unmöglich zu verdauen sind. Wie wäre es ausnahmsweise, wenn ich einmal am Zug bin? Wir nähern uns der nächsten kleinen Straße des Wohnviertels. Auf der gegenüberliegenden Seite erkenne ich unweit eine Baustelle. Sperrschilder weisen darauf hin, dass Gefahr auf herabstürzende Gegenstände besteht. Das Gerüst an der Hauswand führt bis zum Dach hinauf. Vermutlich wird dort irgendetwas geflickt oder abgebaut, das kann ich von hier nicht erkennen. „Lass uns auf die andere Seite gehen“, schlage ich vor und drehe mich ab, um die Straße neben uns nach vorbeifahrenden Autos abzuprüfen. „Dahin? Ich halte das für keine gute Idee.“ „Wieso nicht? Siehst du die Schilder da vorne nicht?“ „Doch, schon …“ „Also ich möchte dort nicht langgehen“, entgegne ich und schaudere bei dem bloßen Gedanken. Von einem harten oder spitzen Gegenstand erschlagen zu werden, erscheint mir nicht sehr prickelnd. Ich habe die Nacht schon genug vom Tod erlebt. Auf ein weiteres Horrorszenario kann ich gut verzichten. „Warte, das ist nicht richtig!“, ruft mir Orion nach. Zu spät. Ich bin längst dabei, die Straße zu überqueren. „Komm bitte zurück, ich habe ein schlechtes Gefühl dabei!“ „Und ich habe ein schlechtes Gefühl –“ Weiter komme ich nicht. Das Nächste geschieht so rasend schnell, dass ich es kaum mitbekomme. Ich höre ein Auto schnell näherkommen. Etwas packt mich gewaltsam am Arm und zieht mich zurück. Der Ruck bringt mich ins Stolpern. Direkt vor mir knallt es, gerade als ich zu Fall gehe. Im ersten Moment kapiere ich nicht, was hier soeben passiert ist. „Wa…?“ Ich bekomme kein Wort heraus. Fassungslos nehme ich das Bild in mir auf. Ein weißer PKW ist vor mir in die Mauer gefahren. Genau dort hätte ich jetzt wohl gestanden. Hätte mich nicht jemand im richtigen Moment zurückgehalten, wäre ich Teil eines tragischen Unfalls geworden. Ich könnte jetzt tot sein. Oder zumindest schwer verletzt. Diese Erkenntnis lässt mich schwindeln. Mir wird auf einmal so übel, dass ich glaube, mich übergeben zu müssen. Jeder Muskel in meinem Körper fühlt sich weich an. Ich bin wie gelähmt. „Hey, alles in Ordnung?“ Ich nehme die Stimme kaum wahr. Erst als Orion an meine Seite eilt und hektisch auf mich einredet, komme ich allmählich zu Sinnen. Ich finde auf seine vielen Fragen keine Antwort. Ich weiß nicht, ob mit mir alles okay ist. Ich weiß nicht, ob ich verletzt bin. Spielt das denn überhaupt eine Rolle? Kümmert sich denn niemand um den Fahrer? Mein Fokus ist noch nicht gänzlich zu mir zurückgekehrt. Ich erkenne, dass jemand an mir vorbei in Richtung Wagen eilt. Ein junger Mann, vermutlich. Recht hochgewachsen und schlank. Er trägt ein schwarzes Cappy auf dem Kopf, seine übrige Kleidung ist schlicht. Ich beobachte ihn, wie er die Fahrertür öffnet. Der Logik nach wird er wohl irgendetwas zu dem Fahrer sagen, sich vielleicht nach seinem Zustand erkundigen. Er zieht sich kurz darauf zurück und betätigt ein Handy, das in seiner Hand liegt. Erst als er zu mir herübersieht, dämmert mir, dass mir der Mann bekannt vorkommt. Das Basecap ziert ein großes, gelbes Sternsymbol. Ich habe es schon einmal gesehen. Damals, im Meido … Ukyos Freund, oder nicht?     ¹ = jp. "gefunden"; ausnahmsweise Japanisch, da es exakt so geträumt wird ² = Alias, da mein Freund eine Namensnennung ablehnt Kapitel 17: Enttarnung ---------------------- Wie es scheint, hat mein mysteriöser Retter die Polizei verständigt. Nach nur zehn Minuten treffen ein Streifen- und ein Rettungswagen am Unfallort ein. Während sich die Ärzte um den Fahrer des PKW bemühen, tritt einer der Polizisten an mich heran und befragt mich zum Geschehen. Viel kann ich ihm nicht sagen. Wahrheitsgemäß schildere ich, dass ich das meiste gar nicht mitbekommen habe. Der Wagen kam von hinten angerauscht und ist vor mir in die Mauer geprallt. Der Polizist murmelt daraufhin etwas von Fahrlässigkeit und erhöhter Geschwindigkeit. Nachdem ich ihm auch meine Personaldaten gegeben und einer weiteren Zeugenaussage im Verlauf der Woche zugesagt habe, entlässt er mich. Einer der Ärzte untersucht mich auf äußerliche Verletzungen. Nachdem er seine Arbeit getan hat, rät er mir an, vorsichtshalber ein Krankenhaus aufzusuchen. Es könnte sein, dass ich unter Schock stehe und daher nicht voll zurechnungsfähig sei. Er empfiehlt mir, den restlichen Tag ruhig zu gestalten und von unnötigen Anstrengungen abzusehen. Falls notwendig, solle ich mir den restlichen Tag von der Arbeit freinehmen, um kein Risiko einzugehen. Mein Retter erklärt sich vor den Helfern bereit, mich nach Hause zu begleiten. Er gibt vor, ein guter Bekannter von mir zu sein, weswegen er die volle Verantwortung für mich übernimmt. Keine Ahnung, warum er zu dieser Behauptung greift. Es ist eine offensichtliche Lüge. Ich kenne diesen Typen nicht. Der einzige Grund, warum ich nichts sage, ist Orions ruhige Haltung zu der ganzen Sache. Er ist die ganze Zeit an meiner Seite, redet beruhigend auf mich ein und verspricht, dass alles in Ordnung ist. Ich vertraue ihm. Es ist das Einzige, was ich im Moment tun kann. Der Horror dauert eine ganze halbe Stunde, bis wir gehen dürfen. Ich stehe noch immer neben mir, versichere jedoch, dass es mir gut geht. Physisch stimmt das immerhin, psychisch hingegen ist es so eine Sache. Mir will nicht in den Kopf, dass ich soeben knapp dem Tod entgangen bin. Zum zweiten Mal binnen weniger einer Woche. Ich brauche keinen weiteren Beweis, dass dies hier kein bittersüßer Traum ist. Es ist die knallharte Realität. „Was machen wir jetzt?“, höre ich Orion neben mir fragen. Es ist sicher nicht an mich gerichtet, sondern an den Unbekannten, der an meiner anderen Seite geht. „Sie hat gesagt, sie sei okay, nicht?“ „Aber der Arzt hat gesagt, dass sie in ein Krankenhaus soll.“ „Möchtest du da hingehen?“ Ich schüttle müde den Kopf. „Dann gehen wir da auch nicht hin.“ „Aber …!“ „Was machen Menschen für gewöhnlich in so einer Situation?“ Mein Retter übergeht Orions Protest, ohne jegliches Zögern. „Hm … Richtig! Sie setzen sich in ein Geschäft und trinken etwas.“ „Du meinst, ein Café?“ „Ja, genau. So etwas.“ „Sollten wir nicht lieber –“ Ich spüre einen Druck um mein Handgelenk. Nicht sehr fest, aber es genügt, dass ich stehenbleibe und meinen Blick zu dem oder der Unbekannten hebe. „Möchtest du etwas trinken? Ich finde, wir sollten reden“, fragt er mich sanft und lächelt einladend. Eigentlich möchte ich gerade nur nach Hause. Mir steht nicht der Sinn nach Zivilisation und Aktivität. Aber letztendlich ist es mir egal. Ob ich nun mit einem femininen Ex-Stalker, der sein Gesicht selbst jetzt noch vor mir verbirgt, friedlich bei Kaffee und Kuchen sitze oder allein auf der Notstation. Solange Orion bei mir ist und mir ein geringfügiges Gefühl von Sicherheit vermittelt, ist mir selbst das egal.   Nach kurzer Strecke erreichen wir ein Lokal. Es ist das Erstbeste, das uns auf unserem Weg begegnet. Mir ist nicht ganz klar, ob es tatsächlich ein Café oder vielmehr ein Bistro ist. Ich bin hier nie zuvor gewesen, bis vor wenigen Minuten wusste ich nicht einmal von seiner Existenz. Die Räumlichkeit ist eher klein, um die fünf oder sechs Tische dürften hier auf zwei Seiten verteilt stehen. Um die Gestaltung steht es schlicht. Nichts erregt wirklich meine Aufmerksamkeit. Ihre Einfachheit lädt zum Verschnaufen ein, was ausreichend ist, denn ich plane keinen langen Aufenthalt. Kaum dass wir Platz gefunden haben, tritt die einzige Bedienung an uns heran. Keiner von uns studiert zuvor die Karte, um seinen Wunsch zu äußern. Sowohl mein Retter als auch Orion lassen sich Schwarzen Tee kommen. Ich begnüge mich mit Kaffee und erbitte Milch dazu. Das dürfte sein Nötiges tun, um mich in die Spur zurückzuholen. Hoffe ich. „Geht es dir besser?“, höre ich Orion besorgt fragen. „Du siehst noch blass aus.“ „Gib ihr Zeit“, spricht der Unbekannte ruhig auf ihn ein. Derweil werden uns die warmen Getränke serviert. „Es kam unerwartet. Sie muss es erst verarbeiten.“ Der Duft von frischem Kaffee steigt mir in die Nase und weckt einige Lebensgeister in mir. Noch etwas träge gebe ich Milch hinzu, bis die Schwärze einem hellen Braunton weicht. Anschließend reiche ich das Kännchen an Orion weiter. Aufmerksam beobachte ich, wie er es mir gleichtut. Dann folgt Zucker in den aufgehellten Schwarztee. Viel Zucker. Der Fremde hält es ebenso. Ganz vorsichtig nehme ich einen ersten Schluck von meinem Kaffee. Sein herbes Aroma ist durch die Milch weich abgemildert. Er wärmt mich von innen, was ausgesprochen gut tut. Während ich den stillen Moment genieße, lasse ich mir die Worte des Fremden erneut durch den Kopf gehen. Es stimmt schon, so ganz verstehe ich noch nicht, was passiert ist. Aber eines wird mir allmählich klar: Ich bin offenbar die Einzige, die es nicht hat kommen sehen. Nicht im Ansatz. „Woher wusstet ihr das?“, frage ich freiheraus. Meine Hände klammern an der Tasse, deren aufgewärmte Keramik mir Halt verschafft. „Das war kein Zufall, richtig? Ihr wusstet, dass es passieren würde.“ Die beiden tauschen einen Blick untereinander aus. „Wir wussten es nicht.“ „Orion hat mich gewarnt, nicht auf die andere Straßenseite zu gehen“, widerspreche ich dem Unbekannten. „Und du warst zur rechten Zeit am rechten Ort, um mich zu retten. Ganz zufällig. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass das nur ein Zufall war.“ „Wir hatten eine Ahnung, aber wir wussten nicht, wann und wo es passieren würde.“ „Aber ihr wusstet, dass etwas passieren würde.“ Ich beobachte meinen mysteriösen Retter aufmerksam. Mich stört, dass ich ihm nicht ins Gesicht sehen kann. Ist er überhaupt männlich? Sein Äußeres lässt es vermuten, aber die Stimme klingt mir deutlich zu weiblich. „Wer bist du überhaupt? Und wieso hast du dich als einen Bekannten von mir ausgegeben? Ich kenne dich überhaupt nicht.“ „Shizana, das ist doch nicht wichtig. Er –“ „Doch, ist es“, falle ich Orion ins Wort. „Du hast mich damals im Café die ganze Zeit angesehen. Warum? Und was hast du mit Ukyo über mich gesprochen?“ „Er will dir wirklich nichts Böses. Er –“ „Ist schon gut, Orion.“ Die Ruhe des Unbekannten ist unverändert. Meine steigende Aufregung scheint ihn nicht zu bekümmern. „Ich weiß, du hast Fragen und das ist berechtigt. Aber ich habe auch Fragen an dich.“ Ich richte mich auf meinen Stuhl gerade und straffe die Schultern. „Ach ja?“ „Ich weiß, du vertraust mir nicht. Aber beantworte mir bitte trotzdem meine Fragen.“ Ich atme lang durch die Nase durch. Alles in mir widerstrebt, dieser Bitte nachzukommen. Aber ich will abwarten, worum es überhaupt geht. „Bist du Mari schon begegnet?“ „Mari?“, wiederhole ich langsam. „Der Name sagt mir nichts. Wer soll das sein?“ „Dann hat sie dir vielleicht nicht gesagt, wer sie ist?“ Ich überlege einen Moment. „Mir ist den einen Tag ein kleines Mädchen begegnet. Draußen, vorm »Meido no Hitsuji«. Sie hat irgendwelches wirres Zeug vor sich hin geredet … Könntest du sie meinen?“ „Was hat sie zu dir gesagt?“ „Es war wirklich sehr wirr. Vermutlich hat sie mich verwechselt.“ „Bitte“, wirkt Orion auf mich ein. Sein Flehen ist von einer Dringlichkeit begleitet. „Sag uns, was sie zu dir gesagt hat.“ „Naja“, beginne ich unsicher. „Irgendetwas, dass es ihre Schuld war. Und sie hat sich sehr oft entschuldigt. Sie hatte wohl Streit mit ihrem Bruder oder so, glaube ich.“ Kurz überlege ich, was mir noch zu dieser seltsamen Begegnung in Erinnerung geblieben ist. „Und dass ich warten soll. Das ist eigentlich alles.“ „Also hat sie dich gefunden.“ Ich blinzle zu dem Unbekannten. Möchte er mir weismachen, dass es keine Verwechslung war? Dass dieses wirre Mädchen auf der Suche nach mir war, und zwar gezielt? „Scheint so …“ „Ist dir in der letzten Zeit irgendetwas Seltsames passiert? Von dem Vorfall vorhin abgesehen“, möchte er weiter von mir wissen. „Also eigentlich war in letzter Zeit alles seltsam.“ Ich sage es nur leise. Er möchte bestimmt eine ernsthafte Antwort von mir, also überlege ich. „Wenn man es allgemein betrachtet, wohl eher nicht. Nein, eigentlich ist nichts Außergewöhnliches passiert.“ „Bist du dir sicher?“ „Mir sind zumindest keine Steine auf den Kopf gefallen und ein Alien ist mir auch nicht begegnet.“ Dafür jedoch ein Geisterjunge, wie ich mir stillschweigend ergänze. „Also nichts Außergewöhnliches.“ „Nein.“ „Wie fühlst du dich? Fühlt sich dein Körper irgendwie seltsam an?“ „Inwiefern seltsam?“, möchte ich wissen. Ich weiß nicht, was er meint. „Eigentlich fühlt sich alles normal an, wenn ich nicht gerade unter Schock stehe.“ „Woran kannst du dich erinnern?“ „Ähm …“ Ich ziehe anzweifelnd die Augenbrauen nach oben. „Das ist eine ziemlich allgemeine Frage.“ „Was ist deine erste Erinnerung, die du von dieser Welt hast?“ Seine Wortwahl alarmiert mich. „Okay, was wird das hier?“, frage ich scharf zurück. „Ihr fragt mich hier die ganze Zeit aus, und ich selbst erhalte keine Antworten?“ „Bitte, du musst uns vertrauen“, redet Orion auf mich ein. Doch ich bin taub für seine zügelnden Worte. „Wie könnte ich?“ Meine Stimme wird lauter, hektischer. „Wie soll ich euch vertrauen? Könntet ihr es denn umgekehrt? Er da sagt mir ja nicht mal, wer er ist und verbirgt die ganze Zeit sein Gesicht vor mir!“ Anklagend nicke ich zu dem Fremden hinüber. „Und du?“, klingt seine Stimme sanft und beruhigend. Diese Gegenüberstellung schürt meine Erregung umso mehr. „Wer bist du?“ „Ich denke nicht, dass ich dir eine Rechenschaft schuldig bin.“ „Dein Name ist Shizana. Richtig?“ Ich ziehe die Luft ein und halte sie an. Einen Moment zögere ich, bevor ich antworte: „Ja, richtig. Und?“ „Hm.“ Ich frage mich, was es da zu »hm«en gibt. „Das ist nicht richtig.“ „Was soll daran denn bitte nicht richtig sein?“, bausche ich auf. So langsam reicht es mir mit diesem Kerl. „Du bist es nicht.“ Eine Pause folgt. „Du bist Shizana, und gleichzeitig bist du es nicht. Du bist anders.“ Jetzt reicht’s! Abrupt stehe ich auf. Mir ist egal, dass der Stuhl dabei unschön über den Parkettboden schrammt. Ohne Vorwarnung beuge ich mich vor und reiße dem Unbekannten das Basecap vom Kopf. Was ich zu sehen bekomme, lässt mich kurzerhand gefrieren. Grauviolettes Haar löst sich unter der Verdeckung heraus. Strähnen bis zum Kinn, die nach hinten kürzer werden, fallen in eine gescheitelte Frisur. Blaue Augen blicken mir aus einem weichgemeißelten Männergesicht entgegen. Er gleicht Orion wie ein Abbild. Nur älter. Erwachsener, und ausgesprochen attraktiv. Seine Züge sind entspannt. Ich erkenne keine Regung auf seinem Gesicht. Keinen Vorwurf, keine Irritation. Nur Neugierde, wie er mir mit wachem Blick begegnet. „Niel …?“ Mein Kopf ist leergefegt. Tausend Dinge stürzen auf mich ein, gleichzeitig kriege ich nichts davon zu fassen. „Wieso …?“ „Ups.“ Seine Mundwinkel ziehen sich zu einem vorsichtigen Lächeln. „Schätze, ich habe nicht richtig aufgepasst.“ Es klatscht einmal laut in meinen Ohren. Bevor ich es richtig realisiere, habe ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Meine rechte Handfläche schmerzt. Es zwiebelt unangenehm. Erst da begreife ich, was ich soeben getan habe. ‚Ich hasse dich!‘ Postwendend drehe ich mich um und verlasse das Lokal. In meinem Hals klebt ein dicker Kloß. Ihm ist es zu verdanken, dass ich meine Gefühle nicht laut in Worte gefasst habe. Doch es schmerzt. Ich spüre bereits, wie mir die Tränen die Wangen hinunterlaufen. Ich will sie nicht zeigen. Er hat kein Recht, an meinen Gefühlen Anteil zu nehmen.   Irgendwo sitze ich in einer kleinen Gasse zwischen zwei Gebäuden und lasse meiner Verzweiflung freien Lauf. Ich bin nicht weit weggelaufen, nur einige Häuser weiter, um etwas Abstand zu gewinnen. Normalerweise bin ich nicht der typische Bodenhocker, doch im Moment ist es mir egal. Ich will allein sein. Ich will mich schrecklich fühlen. Erbärmlich, weil ich soeben alles falsch gemacht habe. Ich will mich selbst bemitleiden und mir all die Vorwürfe machen, die ich sonst von niemandem hören will. Niel … Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es die ganze Zeit über wissen müssen. Seit dem Moment, als ich Orion gesehen habe. Seit Ukyo mit seinem ominösen Freund im Café aufgetaucht ist. Seit ich verstanden habe, dass das Unmögliche passiert ist. Die ganze Zeit, die ganze Zeit … Und nun habe ich alles verbockt. Ich habe den Geisterkönig geschlagen. Den Einzigen, der vermutlich alle Antworten kennt. Den Einzigen, der mir vermutlich helfen kann. Aber das kann ich mir jetzt abschminken. Wie kann ich ihn jetzt noch um Hilfe bitten, nachdem ich so undankbar zu ihm war? Immerhin hat er mir das Leben gerettet. Ich bin so eine dämliche Kuh! Die Wut ist noch nicht in mir verraucht. Ich verstehe nicht, wie er mir all diese unwichtigen Fragen stellen kann. Gibt es denn nichts Dringlicheres zu klären? Weiß er denn nicht, was hier eigentlich los ist? Ist es ihm egal? Ist ihm das Schicksal eines einzelnen Menschen gleichgültig, nur weil er nicht Teil dieser Welt ist? Ich werde keine Antworten bekommen. Niemand ist wirklich bereit, mir zu helfen. Aber ohne die Hilfe von irgendjemandem komme ich nicht weiter. Ich werde nie aus diesem Schlamassel herauskommen. Ich werde nie erfahren, was hier eigentlich los ist. Und ich werde niemals nach Hause zurückkehren. Eher sterbe ich in dieser Welt. Ungekannt und als irgendjemand, der nie eine wichtige Rolle zu besetzen hatte. Was passiert mit einer Figur, die für ein Skript nie vorgesehen war, wenn sie stirbt? Die vielen Gedanken und Fragen erdrücken mich. Ich will nicht mehr. Ich will nur noch nach Hause. Ich will nach Hause und meine geliebte Katze in die Arme schließen. Ich will meinen Freund anrufen und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe. Ich will meiner Mutter gegenübertreten und ihr sagen, dass ich froh bin, sie zu haben. Ich will zur Arbeit gehen und mich an den alltäglichen Sorgen aufziehen. Ich will einfach nur glücklich sein, ein normales Leben zu führen. Ein normales Leben, das gar nicht so schlecht war. Selbst wenn nicht immer alles nach Plan verlaufen ist. „Hier bist du!“ Ich höre Orions Stimme, doch ich sehe nicht auf. Ich kann es nicht. Wie könnte ich ihm jetzt auch offen unter die Augen treten? „Zum Glück. Ich hatte schon Angst, ich finde dich gar nicht mehr wieder.“ Vielleicht wäre das besser gewesen. Vielleicht wäre es besser, würde ich einfach aus diesem Traum erwachen. Dann hätte das alles ein Ende. „Bist du okay?“ Ob ich okay bin? Wen juckt das schon? „Niel-sama hat sich Sorgen um dich gemacht. Ich soll dir ausrichten, dass es ihm leid tut.“ „… Orion?“ „Hm?“ Ich spüre, wie er sich an meine Seite hockt. „Ja? Was ist denn?“ „… Ich bin so eine dämliche Kuh.“ „Nein, das bist du nicht.“ „Ich habe Niel geschlagen.“ „Ja, er war ganz überrascht.“ Da liegt kein Vorwurf in seiner Stimme. Nur Offenheit, als plauderten wir über das Wetter. „Du hast ihn echt erwischt. Für Niel-sama war es das erste Mal, dass er Schmerzen verspürt hat. Das ist ihm noch nie zuvor passiert.“ „Du meinst, weil er normalerweise nicht geschlagen werden kann?“ „Es ist normalerweise generell unmöglich, dass man uns verletzten kann. Oder dass wir uns verletzen können. Das ist vollkommen neu für uns.“ Das macht es irgendwie nur umso schlimmer. „… Orion, es tut mir leid.“ „Schon gut.“ Etwas streift an meinem Arm. Orion hat vermutlich die Position verändert. „Ich denke, er wird es dir verzeihen.“ „Glaubst du das wirklich?“ „Klar! Niel-sama ist nicht nachtragend. Er versteht vielleicht nicht alles, gerade was menschliche Gefühle betrifft, aber er versucht es. Ich glaube, er hat dir schon verziehen.“ „Ich fühle mich nur schrecklich, wenn dem so ist.“ „Warum? Du kannst doch nichts dafür. Es ist einfach … passiert.“ „Aber das hätte es nicht dürfen.“ Orion erwidert nichts. Stille kehrt zwischen uns ein. „Wie geht es denn nun weiter?“, frage ich leise. Ich habe Angst vor der Antwort. „Niel-sama wird weitersuchen“, antwortet er ruhig. „Und solange bleibe ich bei dir und passe auf dich auf. Vorerst.“ Vorsichtig hebe ich den Kopf. Das Tageslicht ist mir unangenehm. Meine Augen brennen von den vielen Tränen, die ich vergossen habe. Trotzdem bemühe ich mich, Orion anzusehen und ihn wahrzunehmen. „Wirst du? Und für wie lange?“ „Das weiß ich noch nicht … Solange, bis Niel-sama mich wieder zu sich ruft, nehme ich an.“ „Wo wird er sein?“ „Irgendwo, das weiß ich nicht.“ „Ist er noch da?“ Er schüttelt den Kopf. „Nein. Er ist vorhin gegangen, kurz nachdem du weggelaufen bist.“ Niedergeschlagenheit überkommt mich. Ich wende den Blick ab. „Das heißt, ich kann mich nicht mehr bei ihm entschuldigen. Ich habe es so richtig verbockt.“ „Nein, so etwas darfst du nicht denken.“ „Denkst du, dass ich ihn wiedersehen werde?“, frage ich nach kurzem Zögern. „Bestimmt“, verspricht mir Orions fröhliche Stimme. „Und dann kannst du dich auch bei ihm entschuldigen. Er wird dir bestimmt nicht böse sein.“ Ich spüre, wie sich ein zaghaftes Lächeln auf meine Lippen zaubert. „Danke.“ „Wollen wir gehen?“ Orion erhebt sich und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Niedlich ist das schon. Ich wage zu bezweifeln, dass er in der Lage wäre, mich zu sich hinaufzuziehen. Mein Lächeln wird sicherer, als ich dennoch seine Hand ergreife. Sie wirkt so klein und zierlich, wie sie meine umschließt. Aber sie ist warm, ganz angenehm warm. Sie gibt mir durch ihren Halt das Gefühl, dass ich weitermachen kann. Dass ich jetzt aufstehen und weitergehen kann, ohne befürchten zu müssen, mit dem ersten Schritt erneut zu fallen. „Danke, Orion.“ Ich lasse seine Hand nicht los. Mit der anderen klopfe ich mir kurz den Dreck von der Kleidung, bevor ich mit Orion aus den Schatten der Häuser hinaustrete. „Geht es dir jetzt besser?“ „Mh.“ Ich nicke zur Antwort. „Sehr viel besser. Dank dir.“ „Das freut mich.“ Sein breites Lächeln erhellt sein ganzes Gesicht. Es ist unweigerlich ansteckend. „Wenn es dir in Zukunft schlecht geht, komm ruhig immer zu mir. Ich werde immer da sein und dich trösten.“ „Kannst du dieses Versprechen denn auch halten?“, frage ich im Scherz. Sein Lächeln wandelt sich in Unbeholfenheit. „Uhm … ich werde es zumindest versuchen.“ Ich kann nicht anders, als es mit einem Lachen zu quittieren. „Na schön, das soll mir fürs Erste genug sein. Also, versprichst du mir, dass du fortan immer für mich da sein und mich trösten wirst, wenn es mir schlecht geht?“ Ich halte ihm meinen kleinen Finger hin. Eifrig nickt er und hakt seinen kleinen Finger in meinen. „Ja, das verspreche ich!“ „Okay. Und ich verspreche dir im Gegenzug, dass ich dir nicht mehr so viel Kummer bereiten werde. Ich werde es zumindest versuchen.“ Wir schütteln einmal die Hände, ehe wir unsere Finger lösen. Damit ist unser Schwur besiegelt und wir schenken uns ein gegenseitiges Lächeln.   Wir haben uns schließlich doch noch entschieden, unseren ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen. Um einen weiteren Vorfall zu vermeiden, haben wir einen Umweg eingeschlagen, über den wir zur Kaufhalle gelangen. Auf dem Weg dorthin unterhalten Orion und ich uns ungezwungen. Ich habe ihm gestattet, mir weitere Fragen zu meiner Person zu stellen, solange ich ihm nichts zu meiner Situation erklären muss. Da weiterhin das Verbot gilt, ihn mit gleichsamen Fragen zu löchern, zeigt er sich einverstanden. Es ist nicht immer leicht, die Grenze zu wahren, aber wir bemühen uns, so gut es geht. Das Einkaufen selbst geht schnell. Meine Liste umfasst gerade fünf Dinge, die ich beschaffen muss. Nach nicht einmal zehn Minuten befinden wir uns bereits wieder auf dem Heimweg. „Du magst Cappuccino wirklich gern, was?“ Die ganze Zeit schon ist Orion bester Stimmung. Vielleicht liegt das an dem Puffreis, den ich ihm mitgenommen habe. Er wollte ihn unbedingt probieren, als er ihn im Süßwarenregal gesehen hat. „Und immer dieselbe Sorte. Ukyo mag ja lieber Kaffee. Und Hanna wiederum mag gern Schwarzen Tee. Es gibt so viel Auswahl, was man mögen kann.“ „Ich trinke auch Kaffee oder Tee, so ist es nicht“, erkläre ich lächelnd. „Aber privat mag ich Karamellcappuccino noch am liebsten, das ist richtig. Wenn du magst, kannst du ihn nachher gern probieren. Er schmeckt angenehm süß. Du magst doch süße Dinge, nicht, Orion?“ „Oh, darf ich?“ Seine Augen leuchten vor Begeisterung. „Das wäre toll! Ich wollte ihn schon immer mal probieren!“ „Ach ja?“ Er nickt eifrig. „Du hast mir immer erzählt, wie süß er schmeckt. Besonders, wenn er noch warm ist. Ich wollte immer wissen, wie das ist, aber als Geist geht das ja nicht.“ „Hm … Du, sag mal, Orion?“ Ich warte, bis er mich ansieht, ehe ich fortfahre. „Ich frage mich das eigentlich schon den ganzen Tag. Wie kommt es, dass du und Niel …“ Ich beende die Frage nicht, doch Orion versteht. Er muss wissen, dass seine wahre Natur kein Geheimnis für mich ist. Dessen kann ich mir gewiss sein, seit er offen bekannt hat, in Wahrheit ein spirituelles Wesen zu sein. Zudem erschien mir Niel in unserem Gespräch wenig bemüht, die Unterschiede zwischen uns zu vertuschen. Das wurde mir klar, als ich an seine Wortwahl zurückdachte, welche er gebraucht hat. Die einzige Antwort, die ich erhalte, ist Orions betroffener Blick. Sonst nichts. Natürlich nicht. Was habe ich auch anderes erwartet? „Schon gut, du brauchst es nicht zu sagen.“ Ich bin enttäuscht, bemühe mich aber, es mir nicht anhören zu lassen. „Es ist okay. Ich nehm’s erst mal so hin, ja?“ „Es tut mir leid“, spricht er leise. Wir schweigen beide, bis er das Wort erneut ergreift. „Aber weißt du, eigentlich finde ich das gar nicht so schlimm. Dadurch kann ich Dinge tun, wie dich zu berühren. Oder deinen Cappuccino zu probieren.“ Ich erwidere sein Lächeln. Verdeutlichend strecke ich die Hand nach ihm aus, worauf er sie ergreift. Ich umfasse sie mit sanftem Druck. Ja, es stimmt. Es tut gut, ihn zu spüren. Allein seine Hand halten zu können, spendet mir Trost. Was immer dafür verantwortlich ist, ich ahne, dass es nichts Gutes ist. Vielleicht ist es eine Art Strafe, das weiß ich nicht. Aber solange Orion es positiv sieht, werde ich es ebenfalls versuchen. „Vielleicht sollten wir irgendwann Hanna besuchen“, schlage ich vor. „Meinst du nicht, dass es sie freuen würde, dich wiederzusehen?“ Orions Griff um meine Hand wird fester. „Nein“, spricht er leise. In seiner Stimme wiegt so viel Traurigkeit. „Ich denke, ich sollte sie nicht wiedersehen. Was, wenn sie sich plötzlich an mich erinnert? Niel-sama sagt, das könnte verheerend sein. Ich möchte sie nicht in Gefahr bringen.“ Mein Herz zieht sich zusammen. So sehr es mich trifft, aber er hat recht. Ich weiß zu gut, was in diesem Fall passieren würde. Die Folgen dazu kann ich mir grob ausmalen. In Laters hat es tatsächlich eine Route gegeben, in der das passiert ist. Einige Monate nach den Ereignissen mit Ukyo traf die Heroine auf Orion in Jungengestalt. Nach etwas Anlauf erinnerte sie sich schließlich an ihn, und mit ihm an alles Vorgefallene. Für das Spiel war es natürlich etwas Gutes. Ob das für außerhalb gilt, wage ich zu bezweifeln. Das hier ist immerhin das Spadeverse. Hannas Realität in dieser Welt ist eine gänzlich andere. Ein Erinnern an nie geschehene Ereignisse hätte Chaos zur Folge. Es würde zu viel an der Welt und ihrer Ordnung verändern. Davon ist auszugehen. „Mhm, du hast recht“, sage ich leise und drücke seine Hand fester. „Es ist zwar traurig, aber machen wir besser keine Dummheiten.“ „Weißt du, es ist manchmal ein bisschen einsam, seit sie nicht mehr bei mir ist“, beginnt er zu erzählen. „Als ich noch bei ihr war, haben wir so viel gesprochen. Wir haben so viel erlebt und ich habe sehr viel gelernt. Aber seit wir getrennt sind … Es gab keinen, mit dem ich reden konnte. Keiner konnte mich hören und keiner konnte mich sehen. Auch Hanna nicht. Und dann … habe ich dich getroffen.“ Ich höre ihm zu. Es erleichtert mich, als ich ein Lächeln auf seinem Gesicht erkenne. „Keine Ahnung, wieso, aber du konntest mich sehen. Wir haben sehr oft gesprochen, weißt du? Sie hat mich oft getröstet, wenn ich traurig war. Und sie hat mir viel von eurer Welt erklärt, genau wie du. Wir haben uns oft getroffen, manchmal habe ich sie nur beobachtet und …“ Orion hört mitten in seiner Erzählung auf. Vielleicht hat er bemerkt, dass ich ruhiger geworden bin. Dass mein Griff um seine Hand lockerer geworden ist. Mir selbst werden diese Dinge erst bewusst, als die Stille zu mir durchdringt. „Ah, tut mir leid! Du weißt vermutlich gar nicht, wovon ich hier rede. Ah, jetzt habe ich es wieder schlimmer gemacht …“ „Orion …“ Mein Blick ruht aufmerksam auf ihm. Mir drängt sich eine Frage auf, aber ich weiß nicht, ob ich sie ihm wirklich stellen will. „»Sie«, das ist …?“ „Nicht.“ Bevor ich dagegensteuern kann, entzieht er mir seine Hand. Ich habe das unweigerliche Gefühl, dass er meinem Blick ausweicht. „Bitte, wir … Können wir bitte so tun, als hätte ich nichts gesagt?“ So stellt er sich das vor? Ich soll es ignorieren? Mir einbilden, ich hätte nichts gehört? „In Ordnung. Vergessen wir das einfach.“ Vielleicht ist es wirklich das Beste. Es ist so am einfachsten. „Sag Niel-sama bitte nichts …“ „In Ordnung.“ Wozu auch? „Ach, da fällt mir ein!“ Keine Ahnung, woher Orion so schnell die gute Laune auftreiben kann. Meine Stimmung ist gedrückt, ich kann mich ihr nicht annehmen. „Du hast noch Kuchen zu Hause, richtig? Ist das der von Nikolaus?“ „Ja?“ Fragend wende ich mich nach ihm um. „Herzlichen Glückwunsch! Ist es nicht toll, dass du bei eurem Wettbewerb gewonnen hast? Darf ich den auch probieren? Niel-sama hat gesagt, dass er lecker ist. Er hat ihn aber nicht selbst gegessen.“ „Es ist ein vorgefertigter Erdbeerkuchen. Ich wollte ihn eigentlich zusammen mit Ukyo essen“, antworte ich geistesabwesend. Seine Aussage irritiert mich. „Wie meinst du das, Niel hat ihn nicht selbst gegessen? Woher will er dann wissen, wie er schmeckt?“ „Na, er … Hm, ich weiß es wirklich nicht.“ Wie gern hätte ich mir jetzt die Hand gegen den Kopf geschlagen. Glücklicherweise halte ich die Einkaufstüte, was mich daran hindert. „Also echt …“ Das ist so unlogisch, dass ich lachen muss. „Weißt du, vielleicht hätte er nicht so schnell wieder aufbrechen sollen. Ich glaube, er hätte ein richtiges Stück nötig, um sich ein wahres Urteil bilden zu können.“ Dahin ist jeglicher Trübsinn. Ich gebe zu, dass es ein wildes Auf und Ab an Emotionen ist. Und es ist anstrengend, wirklich anstrengend. Aber ich nehme es gern in Kauf, solange es mich daran erinnert, dass auch ein finster begonnener Tag in hellem Sonnenschein münden kann.   Zuhause verstauen Orion und ich die Einkäufe. Direkt im Anschluss brühe ich uns einen Cappuccino auf, wie ich es versprochen habe. Während das Wasser kocht, höre ich den Benachrichtigungston meines Handys. Ich gehe zu meiner Tasche hinüber, um die Nachricht zu lesen. „Hat dir jemand geschrieben?“ „Mhm. Irgendein Spinner, der zu viel Langeweile schiebt.“ »Herzlichen Glückwunsch zu deinem Sieg beim Nikolaus-Event. Entschuldige, dass ich dir bisher nicht persönlich gratuliert habe. Hattest du Spaß auf der Party?« Ich schnaube genervt. Dieser Typ hat Nerven erneut zu schreiben, ohne meine Frage zu beantworten. Noch eine Chance bekommt er oder sie nicht. Die Nachricht wird kurzerhand gelöscht. „Ist auch egal. Hast du Hunger? Ich könnte uns ein paar Brote machen.“ „Mh. Soll ich dir dabei helfen?“ „Nein, das brauchst du nicht“, lächle ich. „Du kannst dich schon mal setzen. Es dauert nicht lang, versprochen.“ „Okay.“ Er begibt sich hinüber zum Esstisch, wo er denselben Platz von heute Morgen einnimmt. Derweil durchforste ich den Kühlschrank nach Dingen, womit ich die Brote belegen will. „Du weißt nicht, wer dir schreibt?“ „Hm? Nein. Zumindest nicht bei dieser einen Person. Das geht schon eine ganze Weile so.“ „Was schreibt derjenige denn?“ „Nur belangloses Zeug, wenn du mich fragst. Meist erkundigt er sich oder schreibt von Dingen, die nur ein enger Kreis wissen kann.“ „Das ist ja unheimlich.“ „Ja, ich weiß.“ „Und antwortest du?“ „Nur einmal bisher. Aber das hätte ich mir auch sparen können.“ „Hm. Und du hast keinen Verdacht, wer es sein könnte?“ „Nicht wirklich.“ Wiederholt gehe ich die Möglichkeiten in meinem Kopf durch. „Es kommen an sich nur wenige Personen infrage. Aber von denen kann es eigentlich keiner sein. Bei keinem würde es wirklich Sinn machen.“ „Hast du schon jemanden gefragt?“ „Nur einen bisher. Aber ich glaube, selbst wenn ich die richtige Person darauf ansprechen würde, würde sie nicht zugeben, dass sie es war. Anderenfalls wäre es witzlos, mir mit unterdrückter Nummer zu schreiben, meinst du nicht?“ „Hm.“ „So, fertig.“ Geübt schneide ich die Brote und verteile die halbierten Scheiben auf zwei Teller. Noch zwei Servietten dazu, schon balanciere ich sie zum Tisch. „Ich wusste nicht, was dir schmecken könnte, deswegen habe ich verschiedene Dinge ausgesucht. Probier ruhig, wovon du magst.“ „Danke.“ In einem zweiten Gang hole ich unsere beiden Tassen, die ich zuvor aufgieße. Anschließend setze ich mich auf meinen üblichen Platz. Meine erste Wahl fällt auf eine Scheibe mit Nougatcreme. Orion tut es mir gleich und greift zu der anderen Hälfte. Ich warte gespannt, wie er reagiert. Wie nicht anders zu erwarten, weiten sich seine Augen, nachdem er den ersten Bissen probiert hat. „Das schmeckt lecker!“ „Das ist Nougatcreme“, erkläre ich mit einem Schmunzeln. „Ich habe mir gedacht, dass Süßes eher etwas für dich ist. Du kannst die anderen Scheiben ruhig haben.“ „Wirklich?“ „Sonst würde ich’s nicht sagen.“ Schon niedlich. Ich gebe zu, irgendwie hat das was. Es ist noch ungewohnt, Orion hier zu haben, aber seine Anwesenheit gibt mir schon jetzt ein Gefühl von Entspannung.  „Das sind sehr schöne Fotos“, bemerkt Orion während des Essens. „Sind die von Ukyo?“ „Mhm.“ Kurz nicke ich, bevor ich seinem Blick zu der hellen Wand folge. „Ja, allesamt. Sie sind wirklich schön, nicht?“ „Ja. So sieht also die Arbeit eines echten Fotografen aus.“ „Hast du die Bilder etwa noch nie gesehen?“ „Nicht so richtig.“ Besser, ich hinterfrage es nicht weiter. Stattdessen sehe ich zurück auf die Fotos und lasse meine Gedanken still schweifen. „Weiß Ukyo eigentlich davon?“, schleicht es mir über die Lippen. Diese Frage drängt sich mir unwillkürlich auf. „Das von mir?“ Ich erhalte im ersten Moment keine Antwort. „Ist dir das wichtig?“ „Ja, eigentlich schon.“ „Wieso fragst du ihn dann nicht selbst?“ Ich seufze schwer. Witzig. Wie stellt sich Orion das vor? Ich kann doch nicht einfach hingehen und etwas in den Raum stellen, wovon ich selbst keine Ahnung habe. Habe ich Amnesie? Gibt es mich zweimal? Bevor das nicht geklärt ist, brauche ich nicht weiterzumachen. Es ist zu früh, um andere mit meinen voreiligen Schlüssen zu konfrontieren. Das würde nur Chaos stiften. Mehr davon brauche ich wirklich nicht. In dem Moment klingelt mein Handy. Zum Glück. Die Störung kommt mir sehr gelegen. „Entschuldige mich kurz.“ Ich erhebe mich von meinem Platz, um das Handy zu holen. Nachdem ich die Bildschirmsperre aufgehoben habe, erkenne ich, dass es eine Nachricht von Luka ist. »Es steht fest. Triff mich 18 Uhr am üblichen Ort. Ich freue mich, dich zu sehen.« Einen Moment überlege ich, bevor ich meine Antwort verfasse. Ich will sichergehen, ob der Nikuni-Stadtbrunnen gemeint ist. Ich prüfe die Handyuhr. Aktuell haben wir es kurz vor zwei. Das letzte Mal habe ich keine Stunde von hier nach Nikuni gebraucht. Es reicht also, wenn ich die U-Bahn gegen viertel sechs nehme. Vor um fünf brauche ich nicht loszugehen. Das bedeutet, ich habe noch etwa zwei Stunden, bis ich mich fertigmachen muss. Luka hat meine Bitte berücksichtigt. Kurz darauf erhalte ich eine Antwort. In dieser bestätigt er mir den Ort unseres Treffens. Sehr gut, damit kann ich etwas anfangen. „Ich werde heute Abend weg sein“, sage ich an Orion gewandt. Derweil ändere ich den Eintrag in meinem Telefonbuch und mache aus »Picas« einen »Luka«. „Was wirst du in der Zeit machen?“ „Du gehst noch weg?“ „Mh. Ich treffe mich mit Luka.“ „Was?“, ruft er überrascht aus. „Du triffst dich mit ihm? Heute noch?“ Ich verstehe seine Aufregung nicht. „Ja. Ich sagte doch, dass er mein Freund ist. Was ist daran so besonders?“ „Aber …“ Orions Stimme wird leise. „Das ist nicht gut. Wieso ausgerechnet heute?“ „Das steht schon seit gestern fest. Nur die Zeit wussten wir noch nicht“, erkläre ich. Mit wenigen Schritten kehre ich an den Tisch zurück und greife nach meiner Tasse. „Ich finde, du solltest nicht hingehen“, spricht Orion gedämpft. „Es ist viel zu gefährlich. Es wäre besser, wenn du zu Hause bleibst und auf Ukyo wartest.“ Wie lange soll das sein? Bei Ukyo weiß man nie, wann er auftaucht und wieder verschwindet. So viel habe ich in der Zwischenzeit gelernt, zu meinem Bedauern. „Keiner weiß, ob er heute überhaupt nach Hause kommt. Und wieso soll ich hier alleine herumsitzen und auf eine bessere Fügung warten?“ In einem Ansatz leere ich den Rest meines Cappuccinos. Direkt im Anschluss gehe ich in die Küche, um die leere Tasse in die Spüle zu stellen. „Ich werde hingehen. Ich erreiche nichts, wenn ich nur zu Hause sitze.“ „Aber wenn dir etwas passiert? Wir haben uns etwas versprochen, erinnerst du dich?“ Ich seufze schwer. „Ja, ich weiß. Aber ich habe Luka auch etwas versprochen. Und er war leider vor dir da.“ Ich ernte Sekunden des Schweigens. „Kannst du dir nicht eine Ausrede einfallen lassen?“ Eine Schachtel Zigaretten liegt auf der Theke neben dem Wasserkocher. Ich nehme sie samt beiliegendem Feuerzeug und bewege mich in Richtung Balkon. „Sorry, Orion, aber ich möchte hingehen“, erkläre ich langsam. „Ich brauche Ablenkung und muss ein wenig raus. Außerdem möchte ich Luka ein wenig besser kennenlernen. Und … es gibt so vieles, was ich herausfinden muss. Wie sollte ich das, wenn ich mich nur zu Hause verstecke? Ich kann nicht ewig davonlaufen.“ Damit habe ich den Nagel gesetzt. Orion widerspricht nicht und ich sehe keinen Bedarf für weitere Worte. Nach einem kurzen Bescheid verschwinde ich auf den Balkon, um meine Nerven zu versorgen.   Die nächsten Stunden vergehen ruhig. Orion hat sich für einen kleinen Spaziergang abgemeldet und ich mich vor den Laptop gesetzt. Versucht lese ich über die Zeilen, doch es mangelt mir an Konzentration. Zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Es ist zu viel passiert und die Fragen werden nicht weniger. Was wird mich bei meinem Treffen mit Luka erwarten? War der Unfall nur ein dummer Zufall? Werde ich Niel wiedersehen und Antworten von ihm bekommen? Wie soll ich Ukyo nur wieder unter die Augen treten? Ergeben schließe ich das Dokument. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mich mit »Rain Beat« zu befassen. Ich erinnere mich an Kentos E-Mail. Bestimmt wartet er auf meine Antwort. Zu gern würde ich sie ihm geben, doch im Moment gibt es wichtigere Dinge zu tun. Ich werde ihn wohl ein wenig länger vertrösten müssen. Nur wie ich das begründen will, ist mir im Moment noch schleierhaft. Bald ist es um vier. Orion ist noch immer nicht von seinem Ausgang zurück. Allmählich befallen mich Zweifel, ob er überhaupt zurückkommen wird. Es wäre bedauerlich, wenn nicht. Verübeln könnte ich es ihm allerdings nicht. In meinem Zimmer durchwühle ich den Kleiderschrank nach angemessener Kleidung. Ich entdecke einen schwarzen Rollkragenpullover, der mir angezogen bis über den Hintern reicht. Er ist sehr bequem, weswegen er zu meiner ersten Wahl wird. Eine schwarz-weiß geringelte Leggins erregt meine Aufmerksamkeit. Diese Art von Mode fällt normalerweise nicht in mein Jagdgebiet. Trotzdem besitze ich sie. Ich zögere einen Moment, bis ich mich entschließe, es zu versuchen. Das hier ist ein anderes Leben. Wieso nicht etwas Neues wagen? In einem Kästchen finde ich eine kleine Auswahl an Schmuck. Kurz frage ich mich, woher ich ihn habe. Ich liebe Schmuck, ich kam zu Hause nur selten dazu, welchen zu tragen. Von meinen beiden Leder- und der einen Silberkette mit violettem Steinanhänger einmal abgesehen. Doch hier besitze ich einige silberne Armkettchen, verschiedene Armreifen und zwei Paar Ohrringe, die mir nicht vertraut sind. Habe ich sie gekauft? Sie treffen auf jeden Fall meinen Geschmack. Ich entscheide mich zu zwei Armreifen, eines weiß und eines schwarz. Beide sitzen locker um mein Handgelenk und klimpern leise, wenn ich es bewege. Unschlüssig mustere ich die beiden Ohrringe. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich für die silbernen und lege sie an. Sie bestehen aus je zwei schlichten Kettensträngen, eine länger und die andere um ein Viertel kürzer. Mir gefällt, wie leicht sie mit jeder Kopfbewegung schwingen. Sie tragen zudem kaum Gewicht, was sehr angenehm ist. Im Badezimmer wird die Brille durch Kontaktlinsen ersetzt. Ich beschließe, die Haare offen zu lassen und lediglich aufzupeppen. Mit Föhn, Rundbürste und Tapierkamm geht es an die Arbeit. Bevor ich zum Haarspray greife, kümmere ich mich um mein Gesicht. Mit ein bisschen Farbe und Betonung der Augen sehe ich gleich sehr viel frischer aus. Dass ich wenige Stunden zuvor dem Tod knapp von der Schippe gesprungen bin, lässt sich nicht länger vermuten. Ich bin zufrieden und beende mein Selbstwerk, indem ich das Badezimmer einmal ordentlich verneble. Wenig später stehe ich fertig im Wohnzimmer. Das Outfit passt, die Frisur sitzt und ich dufte gut. Meine Tasche ist gepackt, Schuhe trage ich bereits. Zu gern hätte ich jene getragen, die ich mit Luka bei unserem letzten Treffen erworben habe. Leider passt Weiß nicht zum Rest meiner Farbwahl. So ist es bei meinen üblichen schwarzen Absatzstiefeln geblieben. Luka wird damit leben müssen.  Es ist zehn vor fünf. So langsam kann ich mich auf den Weg machen. Orion ist noch immer nicht da, was mich bekümmert. Leider werde ich nicht länger auf ihn warten können. Im Flur hapere ich, welchen Mantel ich anziehen soll. Der Neue, den Luka für mich gekauft hat, ist wirklich sehr schön. Er würde auch gut zum Outfit passen. Aber will ich so auffällig durch die Stadt gehen? … Naja, es ist immerhin Japan. Viele Leute laufen hier mutig herum. Und neben Luka, wie sehr kann ich da schon auffallen? Ich schiebe allen Unmut beiseite und hebe ihn vom Haken. Noch schnell ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann fasse ich mir ein Herz. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sorgfältig verschließe ich die Wohnung. Anschließend folge ich der Treppe nach unten, hinaus in eine neue Schlacht um das Ungewisse. Kapitel 18: Zweites Date ------------------------ Was gäbe ich jetzt für meinen MP3-Player. Ich sitze in der U-Bahn nach Nikuni und kann nichts anderes tun, als starr aus dem Fenster zu schauen. Zu Hause, in meiner Welt, wäre ich nie ohne meinen MP3-Player losgegangen. Fast nie. Es ist ungewohnt, ohne Musik Zug zu fahren. Selbst auf meinem Smartphone befindet sich keine Musik. Lediglich die beiden Tracks, die ich als Klingeltöne verwende in abgeschnittener Länge. Nicht einmal die kann ich hören, dabei sehnt es mich nach der Vollversion zu Kindan Secret Zone. Ich habe das Lied so gern gehört, deswegen wurde ein Teil des Refrains zu meinem SMS-Ton. Ich ärgere mich über den Verlust. Zu Hause wäre es undenkbar für mich gewesen, nur einen Tag ohne meine Musik auszukommen. Jede Minute, die ich sie nicht hören konnte, war nervig gewesen. Ich habe es aus diesem Grund gehasst, wenn ich zu lange ohne MP3-Player unterwegs war. Oder wenn ich woanders übernachten musste. Schrecklich. Aber seit ich hier bin, habe ich so richtig die Arschkarte gezogen. Eine Woche bin ich jetzt schon auf Entzug. So langsam wird der Verzicht spürbar. Ich hätte es ja verstanden, wenn nur ein Teil meiner Musik weg wäre. Granrodeo zum Beispiel oder die UtaPuri-Tracks. Jener Anteil eben, den diese Welt offenbar nicht duldet. Aber gleich alles? Selbst Gruppen wie Agonoize und Eisenfunk? Sänger wie Adam Lambert und IAMX? Das ist doch zum Heulen. Mir sind nur meine Erinnerungen geblieben. Melodien und Texte, die sich in meinen Kopf eingeprägt haben. Die in meinem Herzen wohnen, wo sie zeitlos und unantastbar sind. Ich versuche mich damit zu trösten, dass ich mich wenigstens derer noch bedienen kann. ‚Please don’t go, I want you to stay. I’m begging you please, please don’t leave here. I don‘t want you to hate for all the hurt that you feel. The world is just illusion, trying to change you.‘ Ich schließe die Augen. In meinem Kopf klingt die sanft-melancholische Melodie des Liedes, das mich schon so oft getröstet hat. Es erfüllt mich mit Emotionen, schwer und bedrückend. Zugleich ist es, als würde mir jemand über den Kopf streicheln und flüstern, dass es okay ist, wenn ich weine. Und ich habe geweint. Oft, sehr oft. Über Jahre hinweg. Danach ging es mir besser, jedes Mal. Die Erinnerung lässt mich seufzen. Illusion ist ein wirklich sehr schönes Lied. VNV Nation sind großartig, mein Ex-Freund hatte recht.   Es ist viel Bewegung am Bahnhof von Nikuni. Auf dem Weg hierher war die U-Bahn voller gewesen als beim letzten Mal. Es blieb kaum ein freier Sitzplatz. Doch hier scheint es besonders schlimm zu sein. Eine Masse an Menschen kommt mir entgegen, als ich die Bahn verlassen will. Von drinnen werde ich mehr hinausgeschoben, als dass ich gehe. Ich bin froh, als ich dem Bahnhof endlich entflohen bin. Unfallfrei. Draußen ist es wesentlich ruhiger, wenn auch hier und da ein Einzelner flitzt, um seine Bahn pünktlich zu kriegen. Ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt bleibe ich stehen und drehe mich um. Seit ich losgegangen bin, habe ich das dubiose Gefühl, dass mir jemand folgt. Doch jedes Mal, wenn ich mich umsehe, ist niemand da. Seltsam. Vermutlich ist es mein Unterbewusstsein, das mir Streiche spielt. Die ganze Zeit schon kreist meine Sorge um Orion. Was, wenn er zurückkommt und vor verschlossener Tür steht? Ich habe ihm zwar angekündigt, den Abend weg zu sein … Hoffentlich kommt er klar. Ich tue es mit einem Schulterzucken ab. Selbst wenn, kann ich es jetzt nicht mehr ändern. Es sind ja nur ein paar Stunden. Orion ist ein pfiffiges Kerlchen und nicht das, wofür man ihn hält. Er wird das schon packen, da bin ich mir sicher. Wie beim letzten Mal steuere ich direkt auf den Brunnen zu und lasse mich dort nieder. Das Wasser rauscht stetig im Hintergrund, um mich herum bewegen sich verschiedene Personengruppen. Ein Blick auf mein Handy bestätigt mir, dass ich schon wieder zu früh bin. Naja, was soll‘s. Fünf Minuten sind nicht lang, die überstehe ich schon irgendwie. Aufmerksam sehe ich mich um. Nicht weit von hier erkenne ich einen Crêpe-Wagen, von wo es verlockend duftet. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Zu Hause gehörte es für mich zum Festprogramm, bei jedem ersten Weihnachtsmarktbesuch eine frische Crêpe zu genießen. Inzwischen wäre diese Zeit. Ich frage mich, ob sie wohl auch Nutella-Crêpes haben. Oder zumindest etwas in der Richtung. Kopfschüttelnd wende ich den Blick ab. Nicht daran denken. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Crêpe. Ich bin hier, um mich mit Luka zu treffen. Mädel, reiß dich zusammen! Ich lasse meinen Blick durch die Umgebung schweifen, und mit ihm meine Gedanken. Unweit vom Crêpe-Wagen sitzt ein altes Ehepaar auf einer Bank. Dicht beieinander und Händchen haltend, wie es scheint. Süß. Vor ihnen watscheln einige Tauben, die eifrig am Boden picken. Tröstend, dass es diese Ratten der Lüfte auch hier gibt. Irgendwie … löst dieses Bild etwas in mir aus. Ich habe das Gefühl, exakt diese Szene schon einmal gesehen zu haben. Das alles schon einmal erlebt zu haben. Aber wann? Und wo? Ich saß hier, exakt an dieser Stelle. Das Wasser rauschte in meinem Rücken. Crêpe wurden an Passanten verkauft und ich war bemüht, der Versuchung nicht nachzugeben. Ich war verabredet, aber derjenige ließ mich warten. Ich hatte einen Block auf meinem Schoß aufgeschlagen und schrieb darin, um die Zeit sinnvoll zu nutzen. Mein Blick ging immer wieder zur Uhr. Wo blieb er nur? Plötzlich hörte ich es rascheln. Ich hob den Kopf und sah auf einen breiten Blumenstrauß, der mir mit seiner vielfältigen Schönheit kurz den Atem raubte. Dahinter stand Luka, der mir ein versöhnliches Lächeln schenkte. „Bist du mir noch böse?“ „Da bist du ja!“ Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Was war das gerade? Ein Déjà-vu? Es hat sich nicht wie ein Tagtraum angefühlt. Indem ich den Kopf hebe, erkenne ich Luka, wie er in meine Richtung eilt. Mir bleibt keine Zeit für weiteres Grübeln. Ich schiebe alle Gedanken beiseite und erhebe mich. Um eine logische Analyse kann ich mich später immer noch kümmern. „Bitte entschuldige, der Verkehr war eine Zumutung. Musstest du lange warten?“ „Es ging.“ „Ein Glück.“ Vor mir bleibt er stehen. Kurz betrachtet er mich von oben bis unten, bis er mich mit einem Lächeln besieht. „Ich freue mich so, dich zu sehen. Du siehst einfach umwerfend aus heute.“ „Danke“, nuschle ich. Er übertreibt, da bin ich mir sicher. Dennoch, ich kann nicht leugnen, dass mich das Kompliment freut. „Du siehst auch sehr gut aus.“ Das hingegen erscheint mir untertrieben. Luka ist eine natürliche Schönheit, genau wie seine Schwester. Da ist »gut aussehen« gar keine Bezeichnung. Er sieht vermutlich immer gut aus. Ob er je das Problem hat, sich erst stundenlang vor dem Spiegel herrichten zu müssen? Eigentlich müsste ich stolz sein. Luka ist charmant, attraktiv und sicher kein Geringverdiener. Viele Frauen würden sich nach einem Date mit ihm die Finger lecken. Nun ja, was soll ich sagen? Wenn ich einmal von meinen Zweifeln hinsichtlich unserer Beziehung absehe … Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn er an seinem Modegeschmack feilen würde. Mit weniger auffälligen Prollmänteln wäre es wesentlich unbefangener, neben ihm zu stehen. „Danke. Du trägst den neuen Mantel, den wir gekauft haben? Das freut mich.“ Seine Worte veranlassen mich dazu, mich einmal nach links und nach rechts zu drehen. Über die Schultern versuche ich, mir selbst ein Bild zu meiner Darstellung zu machen. Abschließend drehe ich mich, mehr zum Spaß, um Luka das gute Stück von allen Seiten zu präsentieren. „Es wäre ja auch eine Verschwendung, wenn er nur zu Hause rumhängen würde“, sage ich, was wie eine Rechtfertigung klingt. „Das ist wahr. Dafür ist er viel zu schön. Und er steht dir wirklich ausgezeichnet. Ganz wie ich es mir vorgestellt hatte.“ „Ja, ja, ich weiß. Du bist eben ein Künstler.“ Er lacht auf hin meiner gescherzten Aussage. Zum Glück. Kurz hatte ich Zweifel, ob es beleidigend geklungen haben könnte. Scheint nicht so zu sein. „Ich freue mich, wirklich. Ich hatte Bedenken, dass ich ihn kein zweites Mal an dir zu Gesicht bekommen würde. Du machst mir damit eine große Freude.“ Ich muss meinen Blick abwenden. In meinen Wangen kribbelt es verräterisch. Weiß der Geier, warum ich jetzt verlegen werde. Oder nein, eigentlich weiß ich es. Aber ich weigere mich, es mir einzugestehen. Zugegeben, ich hatte gehofft, dass sich Luka über meine Kleiderwahl freuen würde. Aber dass es einen solchen Effekt haben würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Er freut sich wirklich aufrichtig, das kann ich seinem Gesicht ablesen. Dabei ist es gar keine so große Sache. „Und du hast dich hübsch gemacht. Für mich?“ „Nein, für den Weihnachtsmann“, gebe ich brummend zurück. Vorwurfsvoll sehe ich ihn an. „Natürlich für dich, was denkst du denn? Ich will nicht, dass du mir wieder Vorwürfe machen kannst. Das ist alles.“ „Ah, so ist das“, lächelt er amüsiert zurück. Argh, ich hasse es. Verflucht seist du, Luka! Mögest du dafür ewig in der Hölle schmoren! Natürlich freue ich mich, dass er es bemerkt hat. Das zeigt, dass meine Bemühungen nicht umsonst waren. Zugleich hasse ich es, einfach weil es mich verlegen stimmt. „Aber küssen werde ich dich heute nicht“, stelle ich klar. Abwehrend verschränke ich die Arme vor der Brust. „Nicht?“ Seine Augen nehmen einen überraschten Ausdruck an. Nur kurz, bevor es einem verschmitzten Grinsen weicht. „Hm, kein Problem. Dann …“ Er macht einen Schritt auf mich zu. Im nächsten Wimpernschlag spüre ich seine Hände an meinen Schultern. Mir wird bewusst, was hier passiert. – Zu spät. Bevor ich darauf reagieren kann, trifft mich ein warmes Gefühl auf die Wange. Es ist ein einziger, kurzer Moment. Schon ist es vorbei und ich sehe Lukas Gesicht von meinem zurückweichen. Mir schleicht ein Duft in die Nase, eindeutig ein Herrenparfum. Die Note ist frisch und dezent. Es riecht verdammt angenehm. Unwillkürlich hebe ich mir die Hand an die Stelle, auf die er mich geküsst hat. Meine Wange fühlt sich heiß unter meinen Fingern an. Zudem bemerke ich, wie es in meiner Brust poltert. Aber warum? Da ist doch nichts dabei. Ich bin solche Küsschen von Freunden und Kollegen gewohnt. Wieso drehe ich dennoch so auf? Ich sehe, wie Luka lächelt. In seinen grünen Augen liegt etwas, das ich als Genugtuung deute. Scheint, als sei er außerordentlich zufrieden mit dem, was er hier verzapft hat. Idiot. „Wir sind quitt.“ „Ja, schätze schon.“ „Also, hast du Hunger?“, fragt er unschuldig. „In der Gegend hat ein neues Restaurant geöffnet. Die Kritiken sind gut. Ich denke, es dürfte dir zusagen.“ „Hm, es geht.“ Ich horche in mich hinein. Wirklich hungrig bin ich nicht, aber was Gescheites gegessen habe ich auch nicht. Die Brote mit Orion liegen schon etwas zurück. Vielleicht kommt der Appetit, wenn wir erst einmal im Restaurant sind. „Ich lade dich ein“, erklärt er und hält mir den Arm hin. Kurz prüfe ich ihn, ehe ich mich unter ihm einhake. Etwas seltsam ist es. Luka scheint seine Rolle wirklich ernst zu nehmen. Und ich hingegen … Ich protestiere nicht. Luka fragt mich nach meinem Tag, worauf ich mit Nebensächlichkeiten antworte. Ich will ihm nichts von dem Unfall erzählen. Diesen Part würde ich noch hinbekommen, aber was ist mit Orion und Niel? Ein Fremder hat mich gerettet, soll ich ihm das sagen? Nein, eigentlich will ich gar nicht mehr daran denken, weswegen ich schweige. Dank meiner Zurückhaltung ist es an Luka, mir von seinem Tag zu berichten. Er erzählt, dass er seit der Früh unterwegs war für irgendeine Ausstellung, zu der er geladen war. Schnöselige Wichtigtuer hätten versucht, ihn zu beauftragen. Ich staune, als er sagt, dass er sie zurückgewiesen hat. Die Kunst, welche sie rühmten, würde nicht seinem Ideal entsprechen. Ich halte seine Einstellung für mutig. Wenn es auch dezent arrogant wirkt, wie Luka sich über die Herrschaften rümpft. Wir gehen durch die Einkaufsstraßen, welche mir vom letzten Mal noch einigermaßen in Erinnerung geblieben sind. Die »Sondermeile«, wie ich die Ladenstraße mit dem »Chic Beau« für mich selbst benannt habe, besuchen wir nicht. Im Zentrum ist es sehr belebt. Fast habe ich das Gefühl, es sei kurz vor Weihnachten, so wie die Leute in den geschmückten Geschäften ein- und ausgehen. Mich beschleicht der Gedanke, was wohl in drei Wochen sein wird. Werde ich Weihnachten hier feiern? Werde ich bis dahin wieder zu Hause sein? Was davon wäre mir lieber? „Da wären wir.“ Wir stoppen vor einem Lokal, das auf einer gegenüberliegenden Straße des bunten Treibens liegt. Neben Luka bleibe ich stehen und schaue auf. »Blue Diner« lese ich über der Tür. Ein ungewöhnlicher Name für ein japanisches Restaurant. Andererseits stimmt das nicht. Japaner schmeißen gern mal mit englischen Begriffen um sich, erinnere ich mich. „Vielleicht möchtest du zuvor einen Blick auf das Speisenangebot werfen?“, hält er mich an. In einer einladenden Geste weist er auf den bläulich beleuchteten Glaskasten, der neben der Tür befestigt ist. „Ich hoffe, dass etwas darunter ist, das dir zusagt. Laut Artikel vereint die Karte die traditionelle mit der europäischen Küche. Und sofern man den Kritiken Glauben schenken darf, soll die Umsetzung ganz passabel sein.“ „Wirklich?“, gebe ich erstaunt zurück. Ich bin wirklich überrascht, dass es so ein Restaurant gibt. Sicher hätte ich es in einer Stadt wie Tokyo erwartet, aber ich hätte mich wohl nie auf die Suche danach gemacht. Dass Luka es ist, der dies übernommen hat, rührt mich ein wenig. „Ich bedauere, dass ich die Empfehlung nicht aus erster Hand geben kann“, spricht er weiter, wobei er an meine Seite tritt. Ich bin derweil dabei, die ausgehangene Menükarte zu überfliegen. „Ich hatte im Sinn, mich zuvor selbst zu überzeugen. Bedauerlicherweise fehlte mir die Zeit. Doch dann dachte ich, dass es geeigneter wäre, gemeinsam die Qualitäten des Hauses zu testen. Wer könnte eine bessere Beurteilung abliefern als zwei Eingeweihte verschiedener Nationen?“ Ich wende mich zu Luka um. Seinen Worten war nicht ganz zu entnehmen gewesen, wie er den letzten Part gemeint hat. Erst sein Lächeln versichert mir, dass er auf keine versteckten Botschaften aus ist. Er meint es wohl gut, ohne mich in meiner ausländischen Herkunft zu schneiden. „Du übertreibst“, sage ich und wende mich erneut der Karte zu. Ich kann nicht vermeiden, dass ich verschmitzt grinse. Irgendwie ist die Vorstellung schon amüsant. Und irgendwo, so ganz tief verborgen, ist es auch süß. Ein ganz klein wenig. Ich gehe die verschiedenen Kategorien durch: japanische Küche, deutsche Küche, französische, italienische … Es sind wirklich viele Länder vertreten, die eine starke Prägnanz ausüben. Je Region steht eine Auswahl um die drei bis fünf Speisen zur Verfügung. Mit Schnitzel, Spaghetti Bolognese, Gyros und Soljanka dürften es die bekanntesten Vertreter ihrer jeweiligen Länder sein. … Schnitzel. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, dass ausgerechnet das auf der Speisekarte steht. Direkt darauf folgen Bratwurst mit Kartoffelbrei und Sauerkraut und Kohlroulade. Oh Mann. Ich bezweifle, dass ich wirklich Deutsche bin. „Ganz schön teuer“, murmle ich leise, als ich die Preise studiere. Ich habe keinen wirklichen Vergleich, was in japanischen Restaurants als teuer oder günstig gilt. Wenn ich aber sehe, dass hier ein simples Gericht um die 1500 Yen kostet, macht das umgerechnet an die 12 Euro. Bei einem Menü landen wir bei bis zu 3000 Yen. Und da sind noch keine Getränke inbegriffen, die wenigstens nicht ganz so überzogen scheinen. In den Supermärkten, wo ich bislang eingekauft habe, habe ich selten mehr als 1000 Yen für Fressalien gelassen. Krasser Unterschied. „Findest du? Eigentlich nicht.“ Luka verschränkt die Arme und legt den Kopf schief. Sein Blick wirkt verzweifelt, als er zu mir sieht. „Ich finde die Preise passabel. Sie sind bezahlbar, selbst für einen Ottonormalverdiener. Ich habe mich extra bemüht, dieses Mal etwas zu wählen, das dich nicht überfordert.“ Überfordert? Wie meint er das, bitte? „Luka, ich denke nicht, dass ich mir das leisten kann“, erkläre ich. Mir ist zum Heulen, wenn ich an die Überbleibsel in meinem Portemonnaie denke. Es dürften kaum mehr als 5000 Yen sein. Nach einem Essen hier bin ich so gut wie pleite. „Kein Problem“, beschwichtigt er mit einem Lächeln. „Schon vergessen? Du bist eingeladen.“ „Aber … ich möchte nicht –“ „Darf ich dich um etwas bitten?“ Ich verstumme. Nur widerwillig sehe ich ihn an. „Belaste dich nicht mit irgendwelchen Geldsorgen“, spricht er ruhig, aber entschieden. Ich entnehme seinem Blick, dass es ihm ernst ist. „Solange wir zusammen sind, möchte ich, dass es dir gut geht. Es ist mein Wunsch, dass du dich in meiner Gegenwart wohlfühlst und alle Sorgen vergisst. Geld spielt dabei keine Rolle. Versuch mir zu vertrauen, dass ich weiß, was ich tue. Und wie viel ich mir leisten kann.“ Alles in mir sträubt sich. Ich hasse dieses leidige Thema. Schon zu Hause habe ich es nie leiden können. Es ist etwas anderes, wenn ich weiß, dass ich mich revanchieren kann. Aber einfach so, ohne eine Gegenleistung bringen zu können, hasse ich es, andere für mich aufkommen zu lassen. Egal in welcher Hinsicht. Selbst bei meinen engsten Freunden habe ich das nie gemocht. „Es soll ein schöner Abend werden“, redet Luka weiterhin betüddelnd auf mich ein. Sein Lächeln ist einladend, wofür ich ihn hasse. „Schenk mir einfach diesen Moment. Ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut, ihn mit dir verbringen zu dürfen.“ Ich halte noch einen Moment stand, dann seufze ich schwer und ergeben. „Na schön“, kapituliere ich. Es hat ja doch keinen Zweck. Was soll ich schon groß dagegen anbringen? Luka strahlt über das ganze Gesicht. „Ich danke dir, Prinzessin.“ Auch das noch. Ich frage mich, ob ich meine Entscheidung noch bereuen werde. Der Beschluss ist gefallen. Ganz in getreuer Gentleman-Manier hält mir Luka die Tür auf, damit ich als Erste eintreten kann. Schon der Eingangsbereich sieht sehr schick aus. Er ist vom Licht her gedämmt, in einem angenehmen Maße. Die Augen werden geschont und doch ist alles gut zu erkennen. Blaue Beleuchtungen sorgen für Akzente, wo sie angemessen sind. So wirken zum Beispiel die Pflanzen, die leere Ecken füllen, in einem geheimnisvollen Smaragdton. Bei einer Kellnerin erkundigt sich Luka nach seiner Reservierung. Die junge Frau in ihrer schwarz-blauen Servicetracht führt uns daraufhin an einen Tisch, der bei den Fenstern ist. Beim Durchgehen fallen mir vereinzelte Fotografien an den Wänden ins Auge. Sie faszinieren mich deswegen, weil unter den dunklen Rahmen ein bläulicher Schein tritt. Neckisch. Ich gebe zu, das Ambiente gefällt mir. Es ist etwas anderes als das, was man sonst so gewohnt ist. Luka nimmt meinen Mantel entgegen und bringt ihn zu einer nahestehenden Garderobe. Während ich mich setze, frage ich mich, wozu eine Reservierung notwendig gewesen ist. Das Restaurant ist nicht sehr belebt. Ich zähle mindestens fünf Tische, die noch freistehen. Scheint, als sei das Lokal nicht allzu begehrt, trotz dass es optisch was hergibt. Uns werden die Karten gebracht und prompt fragt Luka nach einem Wein, dessen Namen ich nicht zu wiederholen versuche. Bedauernd schüttelt die Kellnerin den Kopf und erklärt, dass sie nur das führen, was in der Karte steht. Er versucht es mit einem anderen, worauf sie ihn höflich auf das Getränkemenü verweist. Charmant lächelnd entschuldigt er sich und bittet sie um einen Moment, in dem wir die Karte studieren können. Kaum jedoch, dass sie außer Reichweite ist, höre ich ihn leidend seufzen. „Alles okay?“ „Ich kann nicht glauben, dass sie ihn hier nicht führen.“ „So schlimm?“ „Oh ja.“ Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und überschlägt das Bein. Die Speisekarte liegt offen in seinen Händen, doch sein Blick ist auf mich gerichtet. „Es ist der etablierteste Rotwein der Saison. Gefeiert, bestens kritisiert, eine Krone der Schöpfung. Dass es ein Etablissement gibt, das ihn nicht pflegt, ist … ist …“ „Skandalös?“, biete ich an. Er seufzt zur Antwort. „Ich hätte mich besser informieren sollen. Ich hatte höhere Erwartungen gehabt. Mir war ja bewusst, dass es nicht die beste Wahl ist … Nein, das ist nicht zu entschuldigen.“ „Komm wieder runter“, versuche ich ihn zu besänftigen. „Ich weiß nicht, was du hast. Das Restaurant ist doch schön? Es hat ein sehr angenehmes Klima und wirkt sehr freundlich. Es ist nicht überfüllt und die Preise erschwinglich. Nur weil sie irgendeinen Wein nicht haben? Komm schon … Dafür hast du es doch auch nicht ausgesucht, oder?“ „Ich wollte dir etwas Besonderes bieten.“ „Das tust du doch?“ Anzweifelnd lege ich den Kopf schief. „Du hast dir doch Gedanken gemacht, oder etwa nicht? Für mich zählt nicht, wie viel du für mich ausgeben kannst. Heb dir das lieber für jemanden auf, der es eher zu würdigen weiß. Dass du dir Gedanken gemacht hast, wie du mir eine Freude machen kannst, das beeindruckt mich. Und nichts anderes“, erkläre ich. „Shizana …“ Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Speisekarte in meinen Händen. Mann, ist das peinlich. Wieso muss ich ihm so etwas auch noch auf die Nase binden? Ihm, ausgerechnet Luka. Na großartig. Spitzenklasse. „Danke.“ Ich sehe nur kurz zu Luka auf, bevor ich mich wieder den Getränken widme. Es ist nicht richtig, ihm irgendwelche Hoffnungen zu machen. Ich verdiene dieses rührselige Lächeln nicht. Das ist alles falsch, absolut falsch. Die Kellnerin kehrt nur wenig später an unseren Platz zurück. Ich bestelle mir eine Spezi und bitte um Aufschub, da ich mich für noch kein Gericht entscheiden konnte. Luka lässt sich ein Wasser kommen und bestellt dazu irgendeinen Wein, der seinen Ansprüchen zu genügen scheint. Mit zwei Gläsern, wie er betont. Daraus schließe ich, dass ich heute noch etwas Alkoholisches geboten bekomme. Meinetwegen, ich kann’s gebrauchen. Und abfüllen wird er mich nicht können, das weiß ich mit Gewissheit. In der Zeit, in der sich Luka noch mit der Kellnerin berät, lasse ich meinen Blick durch das Fenster nach draußen schweifen. Ich halte es nach wie vor nicht für richtig, hier mit Luka zu sein. Aber es ist notwendig. Ich brauche Informationen, und dazu benötige ich die Beziehung zu ihm. Opfer müssen nun einmal erbracht werden, wenn man vorankommen will. Doch wenn ich ehrlich bin … so schlimm ist es eigentlich nicht. Jedenfalls nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Kurz schließe ich die Augen, um diesen Gedanken auf mich wirken zu lassen. Genau in diesem Moment poltert es laut gegen die Fensterscheibe, was mich erschrocken auffahren lässt. Mein Herz rast wie verrückt, als ich in das aufgebrachte Jungengesicht blicke. Noch presse ich mir die Hand gegen die Brust, bis ich erkenne, wem es gehört. „Shizana!“ „Orion?“ „Was tust du denn da?“ Ich verstehe seine Worte nur schlecht durch das Glas. Perplex starre ich ihn an und weiß nicht, wie ich mich richtig verhalten soll. Erst, als Orion auf der anderen Seite zurücktritt, sich hektisch nach allen Seiten umsieht und sich anschließend entfernt, werde ich wach. „Entschuldige mich“, richte ich mich an Luka und erhebe mich gleichzeitig. Eilig durchquere ich den Raum, um das Lokal zu verlassen. Noch nicht ganz bei der Tür sehe ich, wie sie aufgestoßen wird und Orion hereinbricht. Ich fange ihn mit beiden Armen auf, bevor er an mir vorbei in den Speisesaal rennen kann. Bestimmt dränge ich ihn nach draußen und ziehe die Tür hinter uns zu, bevor irgendjemand auf diesen Tumult aufmerksam wird. „Orion, was machst du denn hier?“, überfalle ich ihn mit der offensichtlichsten Frage, kaum dass wir draußen allein sind. Streng sehe ich den Jungen an und halte ihn noch immer fest bei den Schultern. „Bist du verrückt? Du kannst doch nicht einfach so reinplatzen! Wie soll ich das bitte Luka erklären?“ „Komm bitte nach Hause!“ „Was? Wieso?“ „Du kannst nicht mit ihm zusammen sein! Das ist nicht richtig!“ Zögerlich lasse ich von Orion ab und trete einen Schritt zurück. Der verzweifelte Unterton in seiner Stimme trifft mich. Flehend sieht er mich an, als würde er mich am liebsten bei der Hand nehmen und von hier wegzerren. Aber er tut es nicht. Ich frage mich, warum. Ich seufze einmal schwer. Indem ich seine Hand nehme, gehe ich ein paar Schritte von der Tür weg, um ein- und ausgehenden Gästen nicht im Weg zu stehen. Um die Ecke bleibe ich stehen und drehe mich Orion zu. „Orion, du weißt, dass das nicht geht“, versuche ich auf ihn einzureden. Ich bemühe mich, ruhig dabei zu klingen. Dennoch ist es wichtig, dass er die Dringlichkeit versteht. „Ich erfahre nichts, wenn ich nichts in Kauf nehme. Und so schlimm ist Luka nicht.“ „Das weißt du doch gar nicht!“, hält er dagegen. Er klingt furchtbar aufgeregt dabei. „Du erinnerst dich nur nicht daran! Es ist gefährlich für dich, mit ihm allein zu sein!“ „Wieso?“, frage ich sanft. Mein Ausdruck bleibt ernst. „Wenn es so gefährlich ist, dann sag mir, warum.“ „Ich … kann nicht.“ „Orion, du wirst es mir nicht ewig verheimlichen können. Wie willst du mich so beschützen, wenn du mir die Wahrheit verschweigst?“ Er sieht von mir weg. Ich erkenne auf seinem Gesicht, dass er hin und her gerissen ist. Vermutlich will er es mir gern sagen, aber ich frage mich, was ihn daran hindert. Was kann wichtiger sein, als mich vor einer vermeintlichen Gefahr zu bewahren? Ich atme lang aus. „Ich unterschätze Luka nicht“, sage ich gefasst. Ich sehe Orion an in der Hoffnung, dass er mir auf die Art glauben wird. „Ich weiß, dass er gefährlich ist. Auf eine gewisse Art … Aber er ist mein Freund. Ich kann ihn nicht vor den Kopf stoßen. Es muss einen Grund geben.“ Vorsichtig sieht er zu mir auf. Noch immer scheint er einen stillen Kampf in sich auszufechten. Aber ich bin erleichtert, dass er mich zumindest anhört. „Ich glaube dir, dass du dir Sorgen machst. Und ich weiß, dass du mich nur schützen willst. Aber indem du hier hineinplatzt und Luka Grund zum Verdacht gibst … Meinst du nicht, dass das viel gefährlicher für mich ist?“ „… Ich will nicht, dass du mit ihm allein bist“, gesteht er kleinlaut. Ich lächle besänftigend. „Schon gut. Ich weiß.“ „Nein“, nuschelt er leise und dreht den Kopf von mir weg. Nein, weißt du nicht, will er vermutlich sagen. Das wäre naheliegend. Ich könnte nicht einmal bestreiten, dass er damit recht hat. „Geh bitte nach Hause“, sage ich ruhig. Ich bin mir des Risikos bewusst, wenn wir länger hier draußen reden. „Du kannst nicht hierbleiben. Luka würde Verdacht schöpfen. Mir passiert nichts, versprochen.“ Zweifelnd sieht er zu mir auf. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob ich ihm so ein Versprechen tatsächlich machen kann. Es ist keine zehn Stunden her, dass ich beinahe hopsgegangen wäre. Aber ich schätze Luka nicht so ein, dass er mir etwas antun würde. Wenn er es wollte, hätte er es längst getan. „Shizana? Hier steckst du.“ Ich erschrecke bei dem Klang von Lukas Stimme. Ein letztes Mal sehe ich Orion eindringlich an, bevor ich mich zu ihm herumdrehe. „Was ist los? Kann ich irgendwie behilflich sein?“ „Nein, schon gut“, weise ich ab und schüttle den Kopf. „Es hat sich bereits geklärt. Bitte entschuldige die Störung.“ „Wer ist das?“, möchte er wissen und nickt verdeutlichend in Orions Richtung. „Kennst du den Jungen?“ „Ja.“ Unsicher sehe ich zu Orion zurück. Mir muss jetzt ganz schnell etwas einfallen, wie ich die Situation erkläre, ohne ihn in Gefahr zu bringen. „Das ist der kleine Bruder ein…es Freundes von mir. Er war überrascht, mich hier zu sehen. Ich habe ihm erklärt, dass ich mit dir hier bin.“ Aufmerksam beobachte ich, wie Luka auf diese Erklärung reagiert. Sein Blick ruht auf Orion, doch auf seinem Gesicht spielt sich keinerlei Gefühlsregung ab. Ich kann nicht sagen, ob er mir glaubt oder die Lüge durchschaut hat. „Ah, so ist das.“ Seine Stimme klingt samten, als er spricht. Ein charmantes Lächeln erobert sein Gesicht, was mich still aufatmen lässt. „Ich hatte schon Sorge, dass er dich entführen wird. Konkurrenz übt sich früh.“ „Luka!“, mahne ich entrüstet. „Ich gehe dann jetzt“, verkündet Orion leise. Ich fange seinen Blick auf, bevor er sich an Luka richtet. „Bitte entschuldigt die Störung. Schönen Abend noch.“ Damit dreht er sich um und verschwindet auf der gegenüberliegenden Seite unter den Leuten. „Luka, also wirklich“, betone ich erneut, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Vorwurfsvoll sehe ich ihn an. „Mich entführen? Wirklich? Er ist viel zu jung für mich!“ „Man muss auf alles vorbereitet sein.“ Er dreht sich mir zu. Ich erkenne ein scherzhaftes Schmunzeln auf seinen Lippen. „Wirke ich auf dich, als hätte ich irgendwelche pädophilen Züge an mir?“ Er lacht erheitert auf. „Ich hoffe doch nicht.“   Der restliche Abend verläuft ohne weitere Vorkommnisse. Orion kommt kein weiteres Mal zur Sprache, während Luka und ich auf unser Essen warten. Am Ende habe ich mich für herkömmliches Curry entschieden und Luka die deutsche Bratwurst ans Herz gelegt. Lustigerweise müssen wir feststellen, dass beides nicht unserem Geschmack entspricht. Nach nur wenigen Bissen bekenne ich, dass ich Currygerichten weiterhin nicht viel abgewinnen kann. Ausgenommen denen, die ich bereits erprobt habe. Und Luka wiederum macht die Erfahrung, dass Sauerkraut keine seiner neusten Leibspeisen wird. So kommt es, dass wir am Ende die Teller tauschen und mit dem zufrieden sind, was wir bereits kennen. Es sorgt für ausgelassenen Gesprächsstoff, der sich positiv auf unsere Stimmung auswirkt. Nach einer Nachspeise vergeht noch einiges an Zeit, bis wir die Flasche Rotwein Tatsache geleert haben. Ich fühle mich ein wenig beschwipst, aber längst nicht so über den Berg, dass ich ins Taumeln gerate. Ich kann noch problemlos geradeaus gehen, als wir das Restaurant schlussendlich verlassen. Die kühle Winterluft macht mir bewusst, wie erhitzt meine Wangen durch den Alkohol sind. Meiner Zulänglichkeit tut es keinen Abbruch. Mein Kopf ist weiterhin klar bei der Sache. Es ist später geworden, als erwartet. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass wir nach dem Essen noch ein wenig durch die Stadt bummeln gehen. Wir belassen es bei einem ernüchternden Spaziergang durch den Nikuni-Park, der mir vom letzten Mal in Erinnerung geblieben ist. Im Park ist es angenehm ruhig im Vergleich zur Innenstadt. Einige weitere Passanten begegnen uns, was mich beruhigt. Ein paar der Besucher haben sich auf den Bänken niedergelassen und beim Brunnen spielt ein Saxophonist. Es ist ein entspannter Ausklang, wie ich ihn mir nicht anders wünschen könnte. Luka befragt mich zu den beiden Events, die wir im Meido zuletzt abgehalten haben. Ich bin froh, endlich ein Thema zu haben, über das ich offen mit ihm reden kann. Ausgelassen berichte ich ihm von dem Nikolausevent und was aus dem spontanen Kuchenwettbewerb geworden ist. Übergreifend erzähle ich von der Überraschungsparty, die wir für Shin abgehalten haben. Ich spare die Details aus, mit denen er ohnehin nichts anfangen kann. Durch sein interessiertes Zutun genügt es jedoch, nie für lange ohne Rede zu sein. „Ich bedauere, wie schnell die Zeit vergeht“, leitet Luka ein, als wir den Park längst verlassen haben. Unser Weg führt uns in Richtung Bahnhof, was den Abschied unmittelbar näher bringt. „Es gibt Momente, da wartet man vergebens, dass die Stunden verstreichen. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, wünschte ich, ich könnte die Zeit einfangen.“ „Mhm“, bestätige ich leise. Es stimmt, dass die letzten Stunden angenehm gewesen sind. Es hat Spaß gemacht, mit Luka zusammen zu sein. So irgendwie. „Ja, es ist schade. Aber es lässt sich nicht ändern.“ Luka neben mir bleibt still. Ich bin zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um es zu bemerken. Erst, als er wieder spricht, kehre ich aus ihnen zurück. „Du warst heute anders“, bemerkt er, was mich zu ihm hochsehen lässt. Luka registriert es, worauf er ebenfalls in meine Richtung sieht. „Du warst aufgeschlossener als sonst. Ich habe das Gefühl, es ist das erste Mal, dass du in meiner Gegenwart entspannen konntest. Kann es sein, dass du dich ein wenig an mich gewöhnt hast?“ Seine Frage bringt mich aus dem Konzept. Sicher, ich hatte Spaß, das will ich nicht leugnen. Aber war ich wirklich so unbefangen, wie er sagt? War ich so anders, als er mich kennt? „Ich weiß nicht“, sage ich und sehe von ihm weg. Meine Schritte verlangsamen sich, was ich daran merke, dass Luka für mich zurückfällt. „Ich hatte Spaß, ja. Und es war in allem ein schöner Abend. Aber … ich kann’s dir nicht sagen.“ Ich erhalte keine Antwort. Luka neben mir bleibt still, wie es vorhin schon der Fall war. Zu gern wüsste ich, was in ihm vorgeht, doch ich halte meinen Blick gesenkt. „Ich wünschte es mir.“ Sein leises Statement ist es, das mich dazu veranlasst, doch zu ihm hochzusehen. Sein Blick ist nach vorn gewandt, gen Boden gerichtet. Er sieht nachdenklich aus – das ist alles, was ich mit Sicherheit sagen kann. Schließlich, und ganz ohne Vorwarnung, bleibt er stehen. Ich bemerke es zu spät, stoppe nach zwei Schritten und drehe mich nach ihm um. Seine wachen Augen fangen meinen Blick auf. Ich weiß nicht zu deuten, was dort in ihnen liegt. „Gestattest du mir, ehrlich zu sein?“ Ich lege den Kopf schief. Ist die Frage rhetorisch? „Klar.“ Darauf setzt er sich in Bewegung und schließt zu mir auf. Vor mir bleibt er stehen und ich beobachte, wie seine Hand nach meiner sucht. Die Geste ist mir unangenehm, doch ich gestattete sie. Ihr Druck ist sanft. Das glatte Leder seiner Handschuhe fühlt sich kühl auf meiner Haut an.  „Ich möchte nicht, dass es schon vorbei ist“, spricht er gedämpft. Lindt-Schokolade auf der Zunge könnte nicht zartschmelzender sein. „Zum ersten Mal hat so etwas wie Eintracht zwischen uns bestanden. Alles war im Einklang, meinst du nicht auch?“ „Findest du?“ Er nickt entschieden. „Absolut. Es war perfekt. Das Essen, das Reden … Vollkommen. Selbst jetzt, absolute Perfektion.“ Oh wei, was jetzt? „Ich denke, du mochtest das Essen nicht?“ „Hm? Was lässt dich das vermuten?“ „Warst du nicht enttäuscht von deiner Wahl?“ „Es war nicht das, was ich bevorzugt hätte“, gesteht er mit einem leisen Seufzen. „Aber für dich war es das Richtige. Es hat dir Freude bereitet, oder nicht? Welch bessere Wahl hätte ich treffen können?“ „Ahja.“ Ich schmunzle bei seinen Worten. Sie sind geschleimt hoch zehn, aber was soll‘s. Für den Moment erheitert es mich. Seine Mundwinkel heben sich. „Das ist es.“ „Hm? Was ist was?“ Ich spüre, wie er die andere Hand an mein Gesicht legt. Seine Finger streichen kühl über meine Haut. „Dieses Lächeln. Ich sehe es viel zu selten. Es macht den Abend perfekt.“ „Ich lächle nicht.“ – Oder doch? Nein, ganz bestimmt nicht. Niemals. „Es ist wunderschön. Sieh dich an, du bist bezaubernd heute Abend. Nur für mich. Wie könnte ich jetzt loslassen?“ Ah, halt mal! Irgendetwas läuft hier gerade gehörig schief. Wieso sagt er so etwas? Wieso sieht er mich so an? Und wieso, verdammt, glühen meine Wangen so extrem? „Gestattest du mir eine Bitte?“ Ich zögere mit einer Antwort. „Was für eine?“ Seine Finger weichen von meinem Blickfeld. Sein Halt um meine Hand wird fester. Das Gefühl, welche diese Geste in mir auslöst, ist bedrückend. „Ich kann dich nicht loslassen, nicht jetzt“, haucht er zärtlich. Seine tiefe Stimme lässt mich angenehm schaudern. „Ich will nicht, dass der Tag hier endet. Ich bitte dich, mich zu begleiten.“ „Begleiten? Wohin?“ „Zu mir. Ich lade dich ein. Lass mich noch etwas Zeit mit dir verbringen.“ „Wie, jetzt noch?“ Sein Nicken ist bestimmt. Es lässt keinen Zweifel zu, dass er es ernst meint. Aber halt mal! Zu Luka nach Hause, zu dieser Uhrzeit. Heißt das … Lädt er mich etwa ein, bei ihm zu übernachten? Ah, stopp stopp stopp! Das geht nicht! Ich habe keine … Nein, was denke ich denn da? Vielleicht sind wir aus seiner Sicht ein Liebespaar, aber wir sind nicht … Wir werden doch nicht nur dasitzen und Wein trinken, oder? Und wenn doch? Aaah, böses Kopfkino! Das ist so falsch falsch falsch! Ich entziehe mich Lukas Griff. Still verfluche ich meinen Körper, dass er gegen mich spielt. Es gibt wirklich keinen Grund, mir so wildes Herzklopfen zu bescheren. „Das geht nicht.“ „Wieso?“, hinterfragt er. Ich höre keinen Drang aus seiner Stimme. „Ist es dir zu spät? Hast du morgendliche Termine? Du kannst über Nacht bleiben, wenn es dir beliebt. Ich bringe dich pünktlich, wohin du möchtest. Zu jeder Zeit, versprochen. Wie du es wünschst.“ Ich schüttle den Kopf. Nein, das ist es nicht. Sicher, ein Argument ist meine morgige Schicht im Meido. Ein Weiteres, dass ein Teil von mir Luka noch immer misstraut. Wir sind kein Paar, es gibt keine Gefühle zwischen uns. Zumindest nichts, woran ich mich halten könnte. Doch selbst das genügt nicht gegen das, was mich eigentlich bekümmert. Orion. Ich habe ihm versprochen, keine Dummheiten anzustellen. Ich habe versprochen, ihm keine weiteren Sorgen zu bereiten. Was würde ich ihm antun, wenn ich Luka jetzt zusage? Undenkbar. Und Ukyo … Ich weiß nicht, ob er inzwischen zu Hause ist. Ich weiß nicht einmal, ob er weiß, dass ich mit Luka zusammen bin. Ich habe ihm nichts davon gesagt, wann auch? Er weiß nichts von dem Unfall, der mich heute knapp das Leben gekostet hat. Oder dass ich Niel getroffen habe. Oder dass Orion aus heiterem Himmel bei uns zu Hause aufgetaucht ist. Was, wenn Ukyo auf mich wartet? Was, wenn ich über Nacht wegbleibe? Würde ihn eine SMS beruhigen, die ihn darüber informiert? … Vermutlich nicht. „Tut mir leid, ich kann nicht.“ Ich lifte mein Kinn und sehe hoch. Lukas Blick ruht auf mir, abwartend. Es fällt mir schwer, doch ich lächle. „Es war ein schöner Abend, ja. Es war lustig und wir hatten Spaß, das bestreite ich nicht. Aber nimm’s mir bitte nicht übel … Ich möchte wirklich nach Hause.“ Sekunden verstreichen. Luka sagt nichts, ich kann seinem Gesicht nichts ablesen. Ich hasse diesen Moment, der sich zu einer Ewigkeit zu strecken scheint. „Noch zu früh, hm?“, flüstert er schließlich, worauf ich nicke. Er entlässt ein leises Seufzen, gibt meine Hand frei und weicht einen Schritt zurück. „Scheint, als habe ich mich geirrt. Nichts hat sich verändert … In Ordnung.“ Geradewegs sieht er zu mir. Ich erkenne in seinem Gesicht weder Schmerz noch eine sonstige Gefühlsregung.  „Wenn es dein Wunsch ist, dann lasse ich dich nach Hause bringen. So spät möchte ich nicht, dass du die Bahn nimmst. Es ist zu gefährlich, das kann ich als dein Freund nicht verantworten.“ „Du willst, dass ich ein Taxi nehme?“ Er nickt. „Ich bezahle.“ „Du kommst nicht mit?“ „Nein. Es ist besser so.“   Luka begleitet mich zu dem naheliegenden Taxistand und nennt dem Fahrer meine Adresse, wo er mich absetzen soll. Mir ist nicht wohl dabei, dass er den Mann in Vorkasse bezahlt und mich auf die Rückbank lädt. „Ich habe mir die Taxinummer geben lassen“, erklärt er mir auf meine Bedenken hin. „Ich erfahre, wann du abgesetzt wurdest. Lass mir bitte eine Nachricht zukommen, sobald du zu Hause bist.“ Ich nicke versprechend und er wünscht mir eine gute Heimfahrt. Diese vergeht still, ohne dass ich mit dem Fahrer ein Wort wechsle. Schon wieder ist der Abschied kühl ausgefallen und erscheint mir noch liebloser als beim letzten Mal. Ich frage mich, ob ich Luka verletzt habe. Vielleicht ist er enttäuscht, dass ich ihn zurückgewiesen habe. Ich versuche mir einzureden, dass diese Sorgen überflüssig sind. Mein schlechtes Gewissen lässt sich davon nicht überzeugen.                                                                                                                          Auf meinem Treppenweg zum Apartment befallen mich viele Fragen. Was will ich Ukyo sagen, falls er zu Hause ist? Was will ich tun, falls er es nicht ist? Wo mag Orion jetzt wohl stecken? Werde ich den Kleinen wiedersehen? Mit einem schweren Seufzen schiebe ich all diese Dinge zurück. Ich habe meine Wohnung erreicht und drehe mich der Tür zu. Bevor ich den Schlüssel zücken kann, bemerke ich, wie sie vor mir aufgerissen wird. Im nächsten Moment finde ich mich in einer Umarmung wieder, so plötzlich, dass ich einen Schritt zurücktaumle. „Da bist du ja! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ „Uk…yo“, presse ich hervor. Würde er mich nicht halten, ich bin sicher, ich wäre gestürzt. Mein Herz rast wie wild vor Schreck. Hätte er mich nicht vorwarnen können? Seine Arme liegen so fest um mich, dass es wehtut. Er hält mich so dicht an sich, dass seine Haare meine Nase kitzeln. Sie riechen gut. Ukyo riecht gut. Aber im Moment fürchte ich, dass es das Letzte sein wird, was ich erlebe, wenn er mich nicht bald loslässt. „Ukyo … du erdrückst mich …“ Sein Griff um mich lockert sich. Er schiebt mich zurück, gerade so weit, dass wir einander ins Gesicht sehen können. Es schockt mich nicht, als ich darin dieselbe Besorgnis erkenne, wie sie aus seiner Stimme geklungen hat. Jedoch schmerzt sie mehr als der Druck, der auf meinen Armen nachwirkt. „Ich war so in Sorge“, wiederholt er gequält. Der Klang seiner Stimme versetzt mir einen Stich in die Brust. „Du warst nicht zu Hause. Ich habe gehört, was passiert ist und … Wäre ich nur dagewesen … Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, aber du warst nicht da. Ich hatte solche Angst um dich. Wenn dir wieder etwas passiert wäre … Es tut mir so leid. Ich hätte früher da sein müssen. Ich hätte –“ „Ruhig, Ukyo“, will ich ihn besänftigen. Sein Schwall an Worten macht mir bewusst, wie ernst die Lage ist. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. „Ich bin hier. Schau, mir geht’s gut. Lass uns erst mal reingehen und drinnen alles besprechen, ja?“ Er nickt nach einem kurzen Zögern und tritt zur Seite, um mich einzulassen. Ich gehe an ihm vorbei mit einem Gefühl, als würde mein Herz zerreißen. Unser kurzer Austausch hat mir eine Sache nur zu deutlich gemacht: Ukyo hat gelitten. Die ganze Zeit, in der ich mich mit Luka amüsiert habe. Erbärmlich. Wie kann ich mich ein Freund schimpfen, wenn ich ihm so etwas antue? Erbärmlich, einfach nur erbärmlich. „Wie geht es dir?“, durchbricht er die Stille im Flur. Ich bin gerade dabei, Mantel und Schuhe loszuwerden. „Bist du verletzt? Ich habe gehört, was passiert ist. … Von dem Unfall.“ Das Gewicht meines Mantels ist schwer, als ich ihn am Haken anbringe. Alles in mir widerstrebt einer Antwort. Ich will nicht darüber reden, aber ich muss. Ich bin es Ukyo schuldig. „Von wem?“, frage ich flüsternd. Meine Stimme ist belegt. „Niel.“ Ich seufze zentnerschwer. „Du hast ihn getroffen?“ „Mh.“ „Ich habe ihn geschlagen. War er wütend?“ „Nein. … Darum geht es auch nicht. Wie konnte das passieren? Ich hätte da sein müssen, um dich zu beschützen!“ „Du kannst nicht immer da sein, um irgendwen zu beschützen“, sage ich und drehe mich nach ihm um. Es fühlt sich seltsam an, in dieser Situation zu lächeln, doch ich tue es. „Außerdem war es meine eigene Schuld. Ich hätte auf Orion hören sollen. Er hat mich gewarnt, nicht die Straßenseite zu wechseln. Hat er dir das auch erzählt?“ Ukyo nickt vorsichtig. Es veranlasst mich, von ihm wegzusehen. „Niel hat mich gerettet. Und zum Dank habe ich ihn geschlagen. Ziemlich dumm, hm?“ „Das …“ „Dank ihm ist mir nichts passiert. Im Übrigen war Orion zu Besuch. Schade, dass du ihn verpasst hast. Vielleicht wäre er sogar noch hier, wenn ich nicht zu Luka gegangen wäre … Oh, das weißt du ja gar nicht. Wir waren verabredet, wir beide.“ „Doch, ich weiß.“ „Wie, du weißt?“ Irritiert sehe ich zu ihm hin. „Du hattest ein Date mit ihm. Wart ihr bis eben zusammen?“ „Ja. Wir waren in der Stadt, in Nikuni. Wir haben nett gegessen und geredet.“ Er schließt die Augen und seufzt, lang und schwer. Als er sie wieder öffnet, liegt noch immer ein Rest Besorgnis in ihnen. Doch er wirkt ruhig, kontrolliert auf mich. Ukyo setzt sich in Bewegung, bis er vor mir steht. Seine Hände kommen auf meinen Schultern zum Liegen, was mich nicht minder irritiert wie das Lächeln, welches er zeigt. Es ist nur vorsichtig und leicht, wie seine Berührung, aber lässt mich unmissverständlich wissen, dass er mich willkommen heißt. „Gehen wir rein“, spricht er leise und sanft. Es ist eine Einladung ohne jeglichen Zwang. „Drinnen ist es schöner, oder? Lass uns nur noch einen ruhigen Abend haben, den können wir beide gebrauchen. In Ordnung?“ Ich widerspreche nicht. Zwar verstehe ich nicht, wie Ukyo so ruhig sein kann, doch ich stelle keine Fragen. Wie kommt es, dass er mir keine stellt? Er muss aufgewühlt sein. Er muss besorgt sein. Dass ich mit Luka aus war, kann ihn unmöglich kaltlassen. Woher weiß er davon? Ich verstehe es nicht. Ich lasse mich von Ukyo ins Wohnzimmer führen. Seine Hand ruht in meinem Rücken, ohne mich voranzudrängen. Es ist beruhigend, ihn unmittelbar bei mir zu wissen. Doch was mich im Wohnzimmer erwartet, bereitet mir gleich die nächste Überraschung. „Endlich, da bist du ja! Genau zur rechten Zeit.“ „Orion?“ Irritiert von der bekannten Jungenstimme sehe ich zur Küche. Und dort ist er: Orion mit einem Tablett in den Händen, auf welchem drei Tassen stehen. Ich sehe Dampf aus ihnen aufsteigen. Breit lächelnd kommt er in unsere Richtung und begrüßt mich mit einem fröhlichen „Willkommen zu Hause“. „Ich … verstehe nicht. Orion, was machst du hier? Wie bist du …?“ „Ukyo hat mich reingelassen“, erklärt er prompt, ohne in seinem Frohsinn einzubüßen. Fragend sehe ich zu Ukyo hinter. Er begegnet mir mit einem vorsichtigen Lächeln. „Wir sind uns begegnet, als er zurückkam. Er hat mir erzählt, dass du … mit Luka aus bist.“ Ich fasse es nicht. Wie konnte es dazu kommen? Und irgendwie … beantwortet das gar nichts. Überhaupt gar nichts. „Ich verstehe noch immer nicht.“ „Setzen wir uns“, schlägt Ukyo vor. Indem er sich vorbeugt, nimmt er Orion das Tablett ab und trägt es für ihn zum Wohnzimmertisch. Ich bleibe fassungslos zurück. „Komm“, höre ich Orion neben mir sagen. Seine Hand umfasst meine, was mich veranlasst, zu ihm runter zu sehen. Er sieht mich nicht an. Seine Hand zittert in meiner. „Orion? Was ist los?“ „Wir haben uns Sorgen gemacht“, spricht er gedämpft. Sein Halt um meine Hand wird fester. „Ich hatte Angst um dich, große Angst.“ Ich beuge mich vor und schließe ihn in meine Arme. Ich fühle mich schrecklich für diese Worte. Schuldig für das, was ich ihm angetan habe. „Es tut mir leid, Orion. Das wollte ich nicht, wirklich. Bitte verzeih mir.“ Erst zögerlich, dann fester legen sich seine Arme um meinen Nacken. Obwohl er nichts sagt, hoffe ich, dass das seine Antwort an mich ist.   Kurz darauf sitzen wir im Wohnzimmer beisammen. Der Fernseher läuft im Hintergrund auf einem Musikkanal, der für leise Stimmung sorgt. In meinen Händen halte ich die Tasse Cappuccino, den Orion für mich gemacht hat. Er ist angenehm warm und beschert mir ein Gefühl, zu Hause zu sein. Mit dem Unterschied, dass ich nicht allein bin. Auf dem Tisch liegt mein Handy. Ich habe meine Schuldigkeit getan und Luka über meine Ankunft informiert. Eine Antwort habe ich nicht erhalten. Es bekümmert mich ein wenig. Der Unfall von heute Morgen kommt nicht weiter zur Sprache. Stattdessen befragen mich die beiden zu meinem Date mit Luka und ich erzähle ihnen von unserem Besuch im Restaurant. Ich halte mich knapp, muss jedoch erklären, was Kartoffelbrei und Sauerkraut sind. Dass Luka mich am Ende zu sich nach Hause eingeladen hat, spare ich aus. Es erscheint mir nicht relevant, jetzt, da ich zu Hause bin. Ich möchte nicht, dass sie sich deswegen weitere Sorgen machen. „Hast du die Informationen bekommen, die du wolltest?“, will Orion wissen. Ich schüttle den Kopf und verneine. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich tatsächlich nichts in Erfahrung bringen können. Bis auf das, was ich von Orion und Niel weiß, habe ich nichts Neues erreicht. Und selbst das genügt nicht, dass ich irgendwelche neuen Erkenntnisse errungen hätte, die mir weiterhelfen. „Das heißt, du wirst dich wieder mit ihm treffen?“ „Wahrscheinlich“, bestätige ich. Ein stummes Seufzen dringt aus mir hervor. „Aber das steht noch in den Sternen.“ „Wir müssen da etwas besprechen“, ergreift Ukyo das Wort. Ich sehe zu ihm in der Erwartung, dass es um Luka geht, doch es kommt anders. „Niel hat mich um einen Gefallen gebeten. Aufgrund der Umstände wird er die nächste Zeit viel zu tun haben. Er weiß noch nicht, wann sich alles geregelt haben wird. Bis dahin fragt er, ob wir Orion bei uns aufnehmen können. Er wird ihn holen, wenn es soweit ist.“ „Meinetwegen, mich soll’s nicht stören“, sage ich, ohne groß zu überlegen. Mein Blick geht zu Orion, der neben mir auf der Couch sitzt und erwartungsvoll zwischen uns hersieht. „Mir wäre es sogar ganz recht so. Wenn es denn für Orion okay ist?“ „Natürlich! Ich würde mich freuen, bei euch bleiben zu dürfen.“ Ich erwidere sein breites Strahlen mit einem Lächeln. Anschließend wende ich mich wieder Ukyo zu. „Was sind das für Umstände? Hat Niel dir irgendetwas gesagt?“ „Nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Leider nicht. Ich weiß nichts Genaueres. Aber es ist schon seltsam.“ Nachdenklich nehme ich einen Schluck von meinem viel zu süßen Getränk. Vielleicht meint er die Veränderung, die Niel und Orion durchgemacht haben. Das ist bestimmt nicht einfach für ihn, das kann ich mir gut vorstellen. Vielleicht muss er sich erst organisieren, könnte sein. Oder er will allein nach Antworten suchen. Hm, eher nicht. „Weißt du, für wie lange?“ „Leider nein.“ „Hm, das ist problematisch. Wo bringen wir Orion solange unter? Er muss irgendwo schlafen, oder nicht?“ „Macht euch meinetwegen keine Umstände“, wirft Orion ein. „Ich kann auf der Couch schlafen, die ist groß genug für mich.“ „Das kommt gar nicht infrage. Das ist doch keine Lösung für die Dauer“, widerspreche ich kopfschüttelnd. „Ich fühle mich nicht wohl damit.“ „Hm …“ Ukyo gegenüber gibt einen nachdenklichen Laut von sich. Er grübelt sichtlich, bis er seinen Blick in meine Richtung hebt. „Ich könnte … nein. Ich habe noch eine Schlafmatte, die könnte ich ihm geben. Zumindest fürs Erste. Wenn das nicht gut ist, überlegen wir uns etwas anderes. Eine Decke müssten wir noch haben, die wir ihm geben können.“ Hm, das ist eine Lösung. Ich nicke einverstanden. „Okay. Und wo soll sie hin?“ „Würde es dich stören, wenn ich bei dir bleibe?“ Fragend sehe ich Orion an. „Bei mir?“ Er nickt vorsichtig. „Das ist doch gut, oder?“, unterstützt Ukyo diese Idee. Als ich zu ihm sehe, schenkt er mir ein beklommenes Lächeln. „Natürlich nur, wenn es für dich in Ordnung ist. Ihr könntet aufeinander aufpassen und Orion ist nicht allein. Vorerst wenigstens.“ „Naja, es stört mich nicht“, sage ich zögernd. Ich sehe zu Orion und gehe in Gedanken durch, was diese Umsetzung für mich bedeuten würde. „Es wäre eine Umstellung, aber ich denke, ich komme damit klar. Es kann aber sein, dass ich unruhig schlafe.“ „Das stört mich nicht. Ich weiß noch nicht, wie ich schlafen werde“, lacht er verlegen. Es lässt mich zumindest schmunzeln.   Damit ist es beschlossen. Während Ukyo und Orion alles für die Nacht herrichten, stehe ich im Bad und mache mich bettfertig. Der Blick in den Spiegel ist ernüchternd. Mir blinzelt ein müdes Gesicht entgegen, dem die Strapazen des Tages anzusehen sind. Mein Hals ist geschunden, wenn die Blessuren auch langsam abheilen. Die dunklen Druckstellen sehen nicht schön aus, ich werde sie noch eine Weile verstecken müssen. Nachdem ich mich gewaschen und versorgt habe, gehe ich zu meinem Zimmer. Auf dem Weg begegne ich Ukyo und wir wechseln einige Worte. Er hat sich inzwischen beruhigt, was gut ist. Wir klären nur kurz einige Dinge ab und wünschen uns eine gute Nacht. Ich hoffe wirklich, dass wir die haben werden. In meinem Zimmer haben die Jungs eine Schlafmatte für Orion vor meinem Bett ausgelegt. Mich befallen Zweifel, ob es gut ist, dass er bei mir schläft. Naja, ich habe nicht minder dazu beigetragen. Es wird schon gehen. Ich warte, bis Orion aus dem Badezimmer zurück ist. Erst dann krabble ich ins Bett und Orion macht es sich auf der Matte gemütlich. Wir reden noch kurz, bevor wir uns eine gute Nacht wünschen und ich mich auf die Seite drehe. Im Zimmer wird es still. Nebenan höre ich Ukyo, wie er sich ebenfalls schlafen legt. Es ist beruhigend, zur Ruhe komme ich jedoch nicht. Hundert Dinge gehen mir durch den Kopf. Der Fakt, dass Orion mit mir in einem Raum ist, erscheint mir irreal. Dass ich heute knapp dem Tod entkommen bin, kann ich kaum glauben. Dass ich Niel begegnet bin … und was er gesagt hat. Was hat er nur gemeint, als er sagte, ich sei anders? Welchen Sinn hatten seine Fragen? Weiß er, was los ist? Was wirklich mit mir ist? Werde ich es je erfahren? Wieso will mir Orion nichts sagen? Er geht lieber Risiken ein, als mich aufzuklären. Wieso? Und was hat Luka mit der ganzen Sache zu tun? Wie viel weiß Ukyo von alledem? Sollte ich mit ihm reden? Ich seufze schwer. Fragen über Fragen und von einer Antwort so weit entfernt. Am liebsten wäre es mir egal, alles. Ich weiß allmählich nicht mehr, was ich will. „Machst du dir Sorgen?“, flüstert Orion in die dunkle Stille. Ich lausche einen Moment, ohne mich herumzudrehen. Schließlich nicke ich. „Mh.“ „Dachte ich mir“, seufzt er leise. Es wird kurz still zwischen uns. „Worüber denkst du nach?“ „Über alles“, flüstere ich. „Warum ich hier bin, was passiert ist, wie’s weitergehen soll … Ich weiß nicht, in welche Richtung ich soll. Wie ich weitermachen soll.“ „Mh, geht mir genauso.“ Wieder wird es still und ich lausche, ob Orion noch etwas sagen wird. Es vergeht einige Zeit, bis er erneut spricht: „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll. Ich will etwas tun, aber … Niel wird eine Lösung finden. Er wird dir helfen, vertrau ihm. Du wirst sehen, es wird alles gut.“ „Und das ist das Nächste. Was bedeutet dieses »es wird alles gut«?“ Ich denke über diese Frage nach, die eine immense Last auf mich ausübt. Meine Finger krallen sich in mein Kopfkissen. „Bedeutet es, ich komme nach Hause? Bedeutet es, ich kriege Antworten? Ihr redet alle davon, mir helfen zu wollen; du und Niel. Aber wie? Wobei? Ich verstehe es nicht und fragen darf ich offenbar auch nicht.“ „Es tut mir leid“, flüstert er gedrückt. In dem Moment bereue ich, ihn schon wieder mit meinem Gejammer bekümmert zu haben. „Ich kann dir nur so viel sagen. Aber glaub mir: Ich werde dich beschützen.“ „Ich weiß.“ Ich seufze lang und still. Auch wenn ich bezweifle, dass er es in seiner Verfassung kann, ich glaube ihm, dass er es versuchen wird. „Danke, Orion. Ich bin froh, dass du hier bist.“ „Und ich bin froh, dass es dir gut geht.“ Ich lächle. Diese Worte lösen ein warmes Gefühl in mir aus. Es war die richtige Entscheidung, nach Hause zu kommen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn ich jetzt bei Luka wäre. Luka. Meine Gedanken schweifen zu ihm ab, ohne dass ich es will. Irgendetwas war heute anders gewesen. Ich werde nicht schlau aus der Situation, in der ich mich mit ihm befinde. Was ist es, was da zwischen uns läuft? Wie sieht es auf seiner Seite aus? Und was hat Sawa gemeint, als sie sagte, ich sei nicht auf seinen Schutz angewiesen? Welchen Schutz? Wieso sind alle so besorgt, wenn es um mich und Luka geht? Was steht da im Raum, wovon ich nichts weiß? Aufgebend ziehe ich mir die Decke zum Kinn. So viele Fragen. Ich hoffe, dass ich irgendwann die Antworten darauf finden werde. Kapitel 19: Schreck, lass nach ------------------------------ „Hörst du mich? Hey, kannst du mich verstehen?“ Wie in weiter Ferne höre ich die Stimme. Jung, zierlich. Erst stumpf, als sei ich unter Wasser, dann wird sie klarer. „Es tut mir so leid.“ Auf einmal steht sie vor mir. Das kleine Mädchen von damals. Wie war ihr Name noch? Mari? Was will sie von mir? „Ich habe nicht viel Zeit.“ Es fällt mir schwer, ihre Gestalt richtig wahrzunehmen. Ich versuche mich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, die großen eisblauen Augen, doch es fällt mir schwer. Ihr Bild ist unscharf und je mehr ich mich anstrenge, desto mehr scheint sich ihr Bild zu verzerren. „Der erste Wunsch hätte niemals so schiefgehen dürfen. Dabei wollte ich diese beiden Menschen in ihrer Trauer glücklich machen … Dieses Mal wirst du nicht sterben, versprochen.“ ‚Warte!‘, will ich rufen, doch es geht nicht. Ich höre meine eigene Stimme nicht. Dann verblasst ihr Bild immer mehr. Wird dunkler, bis ich nichts mehr vor mir sehe. Alles wird still.   Ich öffne meine Augen. Um mich herum ist es ruhig, ich nehme nichts wahr. Benommen stütze ich mich nach oben und setze mich auf. Es dauert einen Moment, bis auch die übrigen meiner Sinne langsam aber sicher zu mir zurückkehren. Ah, richtig. Ich bin in meinem Zimmer. In meinem Bett. Der Umgebung nach zu urteilen hat sich nichts verändert. Ich bin noch immer hier im Amnesia-Universum. Es sei denn, ich bin endlich aufgewacht und stelle gleich fest, nur in einer Pension zu sein. Oder bei irgendwem zu Besuch, der so gütig war, mich sturzbesoffen bei sich pennen zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar gering, aber hey, wie viel wahrscheinlicher wäre die andere Variante? Mein Blick schweift gedankenleer durch das Zimmer. Vor meinem Bett liegt eine Matratze ausgelegt. Das Bettzeug darauf ist ordentlich zusammengelegt. Orion hatte dort geschlafen, oder nicht? Wo steckt der Knirps? Müde reibe ich meine Augen, bevor ich meine Hände in den Nacken gleiten lasse und mich einmal gut durchstrecke. Anschließend angle ich auf der Schrankablage nach meinem Handy, um die Uhrzeit zu prüfen. Kurz vor acht. Es lohnt sich nicht, noch einmal unter die warme Decke zu kriechen. „Dieses Mal wirst du nicht sterben.“ Widerwillig quäle ich mich aus dem Bett. Nachdem ich meine Brille gefunden und das Fenster angekippt habe, verlasse ich das Zimmer. Kaum dass ich das Wohnzimmer betrete, bemerke ich ein Klappern aus der Küche. Scheint, als würde sich jemand am Geschirr bedienen. „Orion? Was machst du da?“ „Oh, du bist wach! Guten Mo… –“ Mein Herz setzt einen Schlag aus, als Orion auf dem Stuhl ins Wanken gerät. Ich mache einen Satz nach vorn. „Vorsicht!“ „Wuah!“ So schnell ich kann bin ich bei ihm. Meine Hände liegen an Orions Rücken und drücken ihn bestimmt nach oben. Mit meinen Beinen fixiere ich den Stuhl gegen die Küchenzeile, um zu verhindern, dass er verrutscht. „Phew, das war knapp … Danke, dass du mich aufgefangen hast.“ Erleichtert atme ich aus. Orions Haltung ist stabil, dennoch lasse ich meine Hände an ihm, einfach für den Fall der Fälle. „Sei vorsichtiger! Das hätte echt schiefgehen können“, mahne ich und sehe zu ihm hoch. Skeptisch lege ich den Kopf schief. „Was machst du da eigentlich?“ „Ich wollte den Tisch decken“, erklärt er. Erst da erkenne ich die bunten Teller, die er in seinen Händen hält. „Aber eure Schränke sind ganz schön hoch. Da komme ich nicht so einfach ran.“ „Wieso hilft dir Ukyo nicht dabei? Ist er nicht da?“ „Er ist kurz weg zum Bäcker. Er hat gesagt, ich soll schon mal den Tisch machen.“ „Na super.“ Ich seufze verzweifelt. „Wie gut, dass ich gerade gekommen bin, hm? Das kann man sich ja nicht mitansehen. Komm, ich helfe dir.“ „Sorry, ich habe nicht aufgepasst. Bisher hat das ganz gut geklappt.“ Ich nehme Orion das Geschirr entgegen, welches er aus dem Schrank hervorgeholt hat. Kurz erkläre ich ihm, welche Tassen Ukyo und ich nutzen, bevor ich mit dem Bestücken des Esstisches beginne. Orion folgt nur kurz darauf und platziert auf meine Anweisung Tassen und Besteck, wo sie hingehören. „Und, wie hast du geschlafen?“, will ich währenddessen von ihm wissen. Breit lächelnd sieht er mich an. „Ganz gut. Ich bin nicht ein Mal wach geworden!“ „Freut mich. Dann habe ich wohl nicht im Schlaf irgendwelches dummes Zeug gemacht?“ „Nein, ich denke nicht. Und wenn, habe ich es nicht mitbekommen.“ „Da bin ich erleichtert“, lächle ich. „Ja. Ich hätte nicht gedacht, dass meine erste Nacht so toll wird.“ „Was hast du erwartet? Nein, warte, ich will es gar nicht wissen.“ „Ich war ziemlich aufgeregt. Ich hatte gedacht, ich könnte vielleicht gar nicht schlafen.“ „Schlafen Geister denn sonst nicht?“ „Mh, doch“, sagt er zögerlich. Nachdenklich legt er den Kopf zur Seite. „Schon, aber anders, glaube ich.“ „Hm.“ Für einen Moment überlege ich. „Naja, tröste dich. Schlafen ist eigentlich ganz unspektakulär. Solange du gut einschlafen kannst und keine seltsamen Träume hast, ist alles ganz harmlos.“ „Meinst du denn, dass ich träumen werde?“ „Gute Frage. Das werden wir wohl sehen.“ Abschweifend sehe ich auf den Tisch vor mir. Meine Gedanken driften ab zu dem Mädchen, das mir im Traum erschienen ist. Und zu den Worten, die sie gesagt hat. Es hat sich realer angefühlt als ein Traum, genau wie damals, als ich diesen verwirrenden Albtraum hatte. Ja, vielleicht ist erschienen das richtige Wort. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege … „Was ist?“, dreht sich Orion mir zu, als er bemerkt, dass ich ihn ansehe. Ich zögere noch einen Moment. „Du, Orion, darf ich dich etwas fragen?“ „Klar. Aber …“ Unsicher hebt er die Schultern, auf seinem Gesicht spielt ein bekümmerter Ausdruck. „Du weißt, ich kann dir vielleicht nicht darauf antworten.“ „Keine Sorge“, will ich ihn beschwichtigen. „Ich glaube, darauf darfst du mir antworten.“ „Okay.“ Seine Haltung entspannt sich. „Was ist denn?“ „Mari“, sage ich und beobachte aufmerksam, wie er auf diese Ansprache reagiert. „Niel hatte sie erwähnt. Dieses Mädchen … Weißt du etwas über sie?“ „Naja … ein bisschen.“ Mir entgeht nicht die Vorsicht in seiner Stimme. Seine blauen Augen begegnen mir achtsam. „Ist es möglich, dass sie mit mir kommuniziert?“ „Wie meinst du das?“ „Ich habe von ihr geträumt, aber es schien mir mehr als nur ein Traum zu sein.“ „Hat sie etwas zu dir gesagt?“ „Ja.“ Ich nicke. Darauf zögere ich und wäge ab, wie viel mehr ich ihm erzählen soll. „Wie oft ist das schon passiert?“, will er wissen. Ich glaube, dass er meine Unsicherheit bemerkt hat. „Jetzt zum zweiten Mal“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Das erste Mal vor einigen Nächten. Ich hatte einen schrecklichen und sehr verwirrenden Albtraum, dass meine Katze überfahren wurde und … Jedenfalls, da tauchte sie am Ende auf. Und dann eben heute.“ „Hm … Und wieso taucht sie auf? Was sagt sie?“ „Weiß nicht. Meistens … entschuldigt sie sich viel. In etwa wie bei unserem ersten Treffen. Sie entschuldigt sich und sagt, dass es ihre Schuld ist und sie irgendetwas wieder in Ordnung bringen will. Und manchmal … erwähnt sie noch andere Personen, die davon betroffen sind. Wovon auch immer.“ Orion senkt den Blick. Ich sehe ihm an, dass ihn etwas an meiner Aussage bekümmert. Was, wird er mir vermutlich nicht sagen. Es macht daher keinen Sinn, ihn zu fragen. „Steht sie … in irgendeiner Art Verbindung zu mir oder so?“, frage ich stattdessen. „Mh, ich denke schon.“ „Du denkst schon? Soll das heißen, du weißt es nicht sicher?“ „Doch, schon“, lenkt er ein. Darauf sieht er zu mir hoch, nur kurz, bevor er wieder zur Seite ausweicht. „Das … ist nicht so einfach. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll“, spricht er unsicher. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn jedoch wieder. Es hat keinen Sinn zu sehr nach Details zu bohren. Vielleicht weiß es Orion auch wirklich nicht. Außerdem … habe ich Angst. Ich bin nicht sicher, ob ich für die gesamte Wahrheit schon bereit bin. „Kannst du mir mehr über sie erzählen?“, frage ich vorsichtig. Orion sieht zu mir hoch. „Über Mari?“ „Ja“, nicke ich. „Ich wüsste gern, wer sie ist. Was sie macht und wieso sie mit mir in Kontakt tritt. Sofern du mir das sagen darfst.“ Ich sehe, wie er über meine Bitte nachdenkt. Schlussendlich nickt er. „In Ordnung. Ich werde dir sagen, was ich über sie weiß. Aber ich fürchte, das wird nicht viel sein.“ „Nicht schlimm“, entgegne ich abmildernd. Ich bin zutiefst erleichtert, dass er sich bereit erklärt hat, wenigstens ein kleines Licht in mein Dunkel zu bringen. „Ich bin schon froh, wenn ich erst mal irgendetwas weiß. Ich bin mir sicher, das wird schon helfen.“ In dem Moment hören wir, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Es wird laut im Flur, es raschelt und klappert. Wenig später erkenne ich Ukyo, wie er mit einer braunen Papiertüte im Arm in das Wohnzimmer tritt. „Orion, ich bin wieder da.“   Wenig später sitzen wir am Frühstückstisch beisammen. Zwischen Brötchen und Warmgetränken habe ich den Kuchen angeschnitten, der vom Nikolausevent übriggeblieben ist. Lange genug hat es gedauert, dass ich dazu gekommen bin. Doch der Fakt, dass Ukyo und Orion ihn mit mir gemeinsam probieren, macht mir das Warten wett. Ich genieße ein Frühstück, wie ich es mir immer gewünscht hätte: in fröhlicher Ausgelassenheit mit guten Freunden. Auch wenn es seltsam ist, Ukyo und Orion so zu bezeichnen. Aber es stimmt, wenigstens für den Moment. Ich fühle mich rundum wohl, zufrieden und in guten Händen. Alles ist perfekt, wie es ist und jeglicher Kummer und Zweifel sind weit weg. „Der Kuchen ist gut.“ „Ja“, nicke ich bestätigend und lächle zu Ukyo hinüber. „Und das, obwohl er schon drei Tage liegt. Er hat sich erstaunlich gut gehalten.“ „Er war auch gut eingepackt. Aber wieso hast du ihn nicht schon früher angeschnitten?“ „Willst du mich rollen? Natürlich, weil ich ihn mit dir zusammen essen wollte. Aber es hat sich ja nie ‘ne Gelegenheit ergeben“, sage ich vorwurfsvoll. Ukyo gibt ein leises „Oh“ von sich und senkt den Blick betroffen. „Der ist wirklich lecker“, bekundet Orion fröhlich. Groß sieht er mich an. „Kein Wunder, dass du beim Wettbewerb gewonnen hast. Du hast bestimmt viel Lob bekommen.“ „Naja, ehrlich gesagt, fand ich den von Shin und Toma besser. Die beiden haben keine fertige Backmischung verwendet und trotzdem einen großartigen Kuchen gezaubert. Den hättest du probieren sollen! Er war einfach umwerfend.“ Die bloße Erinnerung lässt mich schwärmen. „Der von Ikki und Kento hat auch toll ausgesehen“, wirft Ukyo ein. „Oh ja, aber hast du den probiert?“ „Ja, aber …“ Sein schiefes Lächeln gibt mir zu verstehen, was er unausgesprochen lässt.  „Schon gut, du brauchst nichts weiter zu sagen. Sehe ich genauso“, pflichte ich bei und lache. Derweil wechselt Orions Blick zwischen Ukyo und mir hin und zurück. Ich höre das Lächeln heraus, als er sagt: „Ihr zwei versteht euch wirklich gut. Wie schön, das freut mich zu sehen.“ Darauf wird Ukyo still. Ich kann es nicht genau benennen, aber ich spüre instinktiv, dass etwas anders ist. Bis eben hatte er mir noch herzlich ins Gesicht gelacht, jetzt weicht er meinem Blick aus. Seine Lippen tragen weiterhin ein mildes Lächeln, doch es wirkt seltsam gezwungen auf mich. Was ist auf einmal los? „Und?“, wende ich mich Orion zu. Auf gar keinen Fall will ich zulassen, dass Unbehagen zwischen uns aufkommt. „Woher kennt ihr beiden euch eigentlich? Ich meine …“ Ich stoppe mich gerade noch rechtzeitig. Um ein Haar wäre mir herausgerutscht, was ich über Orion weiß. Dass er einst mit Hanna verbunden war, weiß Ukyo möglicherweise nicht. Das hier ist das Spadeverse, erinnere ich mich. Es ist längst nicht die Gesamtheit des Spiels. Davon abgesehen bezweifle ich, dass es ratsam wäre, dieses Wissen preiszugeben. Das würde bestimmt komisch aussehen, oder etwa nicht? „Ich kannte Ukyo schon“, erklärt Orion, worauf sein Blick zu Besagtem geht. „Naja, ein wenig zumindest.“ Ich folge seinem Blick. Gespannt beobachte ich, wie Ukyo aufsieht und mit seinem üblichen Lächeln quittiert. „Mh“, bestätigt er und nickt. „Ich kannte Orion auch schon vom Hören. Niel hat mir von ihm erzählt. Aber es war gestern das erste Mal, dass ich ihm begegnet bin.“ Oh, gut. Ukyo weiß also, was Orion ist. Und wie viel er von seiner Beziehung zu Hanna weiß, lässt sich gewiss herausfinden. Orion hatte nicht misstrauisch gewirkt, als ich sie gestern erwähnt hatte. Bestimmt kann ich ihm weitere Informationen entlocken, sodass ich mich auf sicherem Terrain bewege. Es wäre ganz schlecht, wenn ich mich ungewollt verplappere und damit nur unangenehme Fragen zu mir aufwerfe. „Niel-sama hat mir auch von Ukyo erzählt. Ich glaube, ich verstehe ihn jetzt ein wenig besser als vorher.“ Bei Orions versöhnlichem Lächeln geht mir das Herz auf. Dann sieht er zu mir. „Ich denke, es ist gut, dass du bei Ukyo bist. Er kann auf dich aufpassen und … er versteht dich.“ Seine Worte lassen mich unsicher zu Ukyo sehen. Was genau hat das zu bedeuten? In welcher Hinsicht ist das gemeint? Versteht er mich auf einer menschlichen Basis oder … kann es sein, dass er etwas weiß? Ich spüre, wie sich Orions Hand warm auf meine legt. Als ich zu ihm sehe, lächelt er vorsichtig zu mir hoch. „Keine Angst“, spricht er gedämpft. Der sanfte Halt seiner Hand soll mich ermutigen. „Ukyo weiß Bescheid. Es gibt ein paar Dinge, die er weiß.“ Jetzt bin ich es, die sich unbehaglich fühlt. Ein Teil von mir will aufspringen und davonlaufen, doch mein Körper klebt wie festgewachsen auf dem Stuhl. Flucht ist keine Option. Auf der anderen Seite werden die beiden mir ebenso wenig ausweichen. Zumindest glaube ich das. Ein Teil von mir hofft es inständig. „Du weißt es?“, frage ich flüsternd zu Ukyo hinüber. Jede einzelne Silbe fällt mir schwer. Seine grünen Augen begegnen mir schuldbewusst. Er schweigt einen langen Moment, ehe er zaghaft nickt. „Ja.“ „Wieso … hast du nichts gesagt?“ „Ich wusste nicht, wie ich es hätte sagen sollen. Bitte entschuldige.“ Ich könnte auf der Stelle losheulen. Es ist nicht so, dass ich mich verraten fühle – ich bin erleichtert. Ein großer Brocken namens Einsamkeit fällt von mir ab. Gleichzeitig fühle ich mich noch beladener als zuvor. Was genau weiß er? Wie viel von der Wahrheit über mich kennt er? „Niel-sama hat ihm ein paar Dinge erzählt. Er hat Ukyo viel zu verdanken“, erklärt Orion derweil. Ich bin nicht fähig, einen von ihnen länger anzusehen. „Es tut mir leid, dass das alles so kompliziert ist. Aber wenn du magst, kann ich dir etwas über Mari erzählen.“ Ich nicke abwesend. Es entsteht eine Pause, bis ich höre, wie Orion tief durchatmet. „Okay, also“, setzt er an, worauf er seine Worte abzuwägen scheint. „Mari ist … eine von uns. Sie hatte schon immer ein großes Interesse an den Menschen und hat sie gern beobachtet und über sie gelernt. Eigentlich ist sie mehr wie Niel-sama. Sie kann, genau wie er, den Menschen ihre Wünsche erfüllen. Allerdings … ist sie nicht ganz so erfahren und, naja, ihre Macht ist nicht ganz so groß wie seine … Sie ist verantwortlich für das, was dir passiert ist. Ihretwegen bist du in dieser Situation gefangen.“ Also hatte das Mädchen recht: Es ist ihre Schuld. Irgendwie schockt es mich nicht. Ein Teil von mir hat sich bereits mit dieser Möglichkeit abgefunden, seit ich Niel entlarvt habe. Ich habe geahnt, dass es wahr ist. Leider beantwortet es nicht viel von meinen Fragen. „Wessen Wunsch hat sie erfüllt?“, will ich wissen. Ich bekomme meine Stimme kaum erhoben. „Habe ich … mir etwas gewünscht?“ „Nicht direkt.“ Ich schnaube verächtlich. Na wunderbar, tolle Antwort. Ich merke, dass ich mit diesen Fragen nicht weiterkomme. Offenbar kratze ich schon wieder an dieser Grenze, die man warum-auch-immer um dieses Thema herum gezogen hat. Frustration macht sich in mir breit. Diese Heimlichtuerei, ich hasse sie. Ich hasse es wirklich abgrundtief! „Also stimmt es, dass sie mit mir kommuniziert“, vermerke ich trocken. „Es ist möglich“, bestätigt mir Orion. Prüfend sehe ich zu Ukyo. In einer steifen Haltung sitzt er auf seinem Stuhl, das Kinn gesenkt und den Blick auf seinen leeren Teller fixiert. Ich kann nur vermuten, dass auch dieser Punkt ihm nicht neu ist. Orion hatte nicht gezögert, trotz seiner Anwesenheit über Mari auszupacken. Und Ukyo wiederum hatte keine Fragen gestellt. Es ist einfach, eins und eins zusammenzuzählen. Ich weiß nur noch nicht, ob es mich mehr ärgert oder beruhigt. „Wenn sie mit mir in Kontakt treten kann, kann ich es dann auch umgekehrt?“ „Das weiß ich nicht“, antwortet Orion gedrückt. „Es kommt darauf an.“ „Worauf?“ „Es ist nicht so einfach, weißt du?“ Keine Ahnung, ob ich das verstehe. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, auf welche Art ein Geistwesen mit einem Menschen verbunden ist. Aber vermutlich spielt das auch gar keine Rolle. Fürs Erste will ich es aufgeben, weiter nachzubohren. Es waren jetzt wahrlich genug neue Informationen für ein Frühstück. An denen werde ich noch eine Weile zu knabbern haben.   Vieles hat sich nach diesem Gespräch verändert. Es ist deutlich, als wir gemeinsam den Abwasch bedienen. Ich fühle mich befangen, neben Ukyo zu stehen. Zwanghaft versuche ich, irgendwelche unverfänglichen Gespräche mit ihm anzuzetteln. Sein schweigsames Verhalten jedoch macht mir dieses Unterfangen nicht gerade leicht. Beinah wünschte ich, diese ganze Sache wäre niemals zur Sprache gekommen. Verdammt, wirklich. Als wir mit allem fertig sind, ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück. Rücklings werfe ich mich auf das Bett und lege die Arme über mein Gesicht. Toll, und wieder laufen meine Gedanken Amok. Tausende und Abertausende von Fragen überfluten mich. Ich habe das Gefühl, mein Kopf platzt jeden Moment. Was mache ich jetzt mit diesen neuen Informationen? Wie soll ich von nun an weitermachen? Ich habe keine Ahnung, wie ich mich richtig verhalten soll. Verdammte Scheiße! Nach einigem stillen Fluchen greife ich kopfüber nach meinem Handy. Das Display zeigt mir keine verpassten Anrufe und keine neuen Nachrichten. Hm, seltsam. Luka hat sich seit gestern nicht mehr bei mir gemeldet. Ob er wohl wütend oder verletzt ist, dass ich ihn zurückgewiesen habe? Ach, was kümmert es mich. Kann mir doch eigentlich egal sein. Wieso mache ich mir überhaupt solche Gedanken? Ich habe andere Sorgen. Das passt nun mal gar nicht in diese Situation. Seufzend lasse ich den Arm neben mir auf das Kissen fallen. Indem ich die Augen schließe, versuche ich, den Wirrwarr in meinem Kopf zu bändigen. Nicht nachdenken, nicht nachdenken. Ich muss zur Ruhe kommen, egal wie. Nichts kann besser werden, wenn ich mich zu sehr mitreißen lasse. Ruhe bewahren und dann langsam Schritt für Schritt – nur so komme ich voran. Minuten vergehen, bis ich bemerke, wie die Tür zu meinem Zimmer geöffnet wird. „Shizana?“, höre ich Orion, noch bevor ich ihn an der Tür erblicke. „Ukyo will aufbrechen. Magst du ihn nicht verabschieden?“ Wie? Jetzt schon? „Komme schon.“ Mühsam richte ich mich auf und verlasse mit Orion das Zimmer. Im Flur finde ich Ukyo, fertig angezogen und gerade dabei, in seine Straßenschuhe zu schlüpfen. „Du willst schon los?“ Er dreht sich darauf nach mir um und zeigt ein vorsichtiges Lächeln. „Ja, ich muss. Ich habe einen Termin.“ „Arbeit?“ „Ja, so etwas in der Art.“ „Hm, verstehe.“ Ich lasse meinen Blick zu Boden gehen für eine kurze Überlegung. Nicht lange, dann sehe ich wieder zu ihm auf. „Wirst du heute Abend wieder zu Hause sein?“ „Ich werde es versuchen, ja?“ Ich nicke. Welche andere Wahl habe ich schon? „Ich habe eine Bitte.“ Fragend kippe ich den Kopf. „Welche?“ „Lass dich heute bitte von Orion zur Arbeit bringen“, äußert er. Es klingt ernst. „Ich habe ein schlechtes Gefühl. Jemand sollte auf dich aufpassen, nur für den Fall. Ich möchte nicht, dass dir wieder etwas passiert.“ Seine Worte klingen wie eine Warnung in meinen Ohren. Erinnerungen an den gestrigen Tag werden in mir wach, was mich frösteln lässt. Ich bin wahrlich nicht erpicht, eine zweite Erfahrung dieser Art zu machen. Nein, besser nicht. Es ist mir zwar nicht lieb, ein Kind als Aufpasser zu haben, aber wenn Ukyo mich bittet, werde ich nicht ablehnen. Keiner kennt sich besser mit Gefahren aus als er. „In Ordnung“, willige ich ein und nicke erneut. „Das sollten wir hinbekommen. Mach dir keine Sorgen, okay?“ „Dann bin ich beruhigt. Also, passt gut auf euch auf. Ich gehe dann jetzt.“ „Ukyo?“ Er hat seine Hand bereits am Türknauf, als ich mich entschließe, die Distanz nun doch zu überbrücken. Eilig hole ich zu ihm auf und bleibe vor ihm stehen. „Versuch bitte, heute Abend da zu sein. Es gibt da ein paar Dinge, die wir vielleicht klären sollten. Ich habe viel Klärungsbedarf, weißt du.“ Sein anschließendes Schweigen stellt mich auf eine harte Geduldsprobe. Es erscheint mir wie eine Ewigkeit, bis ich sehe, dass er die Mundwinkel zu einem Lächeln hebt. „Das verstehe ich“, sagt er ruhig, worauf er nickt. „Ich versuche es, versprochen.“ „Danke.“ „Also, bis später.“ „Mh, bis dann. Pass auf dich auf.“ Damit verlässt Ukyo die Wohnung und zieht die Tür hinter sich zu. Ich stoße ein schweres Seufzen aus, ehe ich mich herumdrehe und ins Wohnzimmer zurückkehre. Auf meinem Weg zu meinem Raum bemerke ich Orion, wie er auf der Couch sitzt. Er wirkt dort ein wenig verloren, den Blick auf einen Fleck am Boden gerichtet, bis er auf mich aufmerksam wird. „Und?“, will er wissen, wobei er mich erwartungsvoll ansieht. Ich gehe einmal um den Tisch herum, bis ich mich auf einen freien Platz neben ihm niederlasse. „Gratuliere, du bist nachher mein Begleitschutz.“ „Nachher? Wohin gehen wir denn?“ „Zur Arbeit. Ich zumindest.“ „Ah, ach so“, stößt er aus und lacht dabei. „Super, das wird bestimmt toll! Wann gehen wir denn los?“ „Wir haben noch ein bisschen Zeit“, erkläre ich. Flüchtig werfe ich einen Blick zu der einzigen Wanduhr, um die Zeit zu prüfen. „In zwei Stunden mache ich mich fertig. Wir gehen so gegen halb los, dann brauchen wir uns nicht so zu beeilen.“ „Okay.“ „Die Frage ist nur, was machen wir noch so lange? Ich finde bestimmt eine Beschäftigung, aber ich fürchte, für dich haben wir nichts wirklich.“ „Oh, das ist nicht schlimm“, meint Orion schnell. „Ich finde bestimmt auch etwas zu tun. Und wenn nicht, unterhalten wir uns einfach.“ „Hm, das geht natürlich auch. Lass uns aber trotzdem mal schauen, ja?“ Damit erhebe ich mich und Orion tut es mir gleich. Gemeinsam gehen wir zu meinem Zimmer, wo ich hoffe, etwas für den Kleinen zu finden. In einem der Schränke glaube ich ein paar Bücher gesehen zu haben. Ich weiß allerdings nicht, ob sie für Orion geeignet sind. „Vielleicht sollten wir etwas für dich kaufen. Eins, zwei Bücher oder etwas anderes, das du magst. Hm, vielleicht eine Spielkonsole. Wobei, das ist so eine Sache …“ „Du musst dir wirklich keine Umstände wegen mir machen“, beteuert er wiederholt. „Wir finden bestimmt irgendetwas.“ Ich seufze schwer. Leichter gesagt, als getan. „Ist das dein Schichtplan?“ Auf seine Frage drehe ich mich herum. Orion steht vor meinem schlichten Schreibtisch und sieht auf etwas, das darauf liegt. Ich erinnere mich, dass ich dort meinen abgeschriebenen Schichtplan vom Meido abgelegt habe. „Ja“, bestätige ich, wobei ich an ihn herantrete. „Du hast heute also mit Ikki und Kento Schicht“, bemerkt er, einen Finger auf den heutigen Tag gelegt. Breit grinsend sieht er zu mir hoch. „Du magst die beiden, oder?“ „Wie kommst du darauf?“, will ich wissen. „Du hast Herzen in die Tage gemalt, an denen du mit ihnen Schicht hast. Heißt das nicht, dass du sie magst?“ Mein Gesicht glüht. Orion hat mich auf voller Breitseite erwischt. Rein aus dem Affekt entreiße ich ihm das Blatt und nehme es an mich. „Ja und? Ich mag sie halt, was ist schon dabei?“ „Nichts. Ich finde es nur toll.“ „Ach ja? Und wieso?“ „Es ist doch schön, wenn du jemanden magst. Dann gehst du auch gern auf Arbeit, oder nicht?“ „Hm, schon“, brumme ich widerwillig. Kurz betrachte ich das Blatt und bleibe am heutigen Tag haften, wo zwei Herzen die beiden Namen meiner Kollegen verzieren. Jetzt im Nachhinein, da es jemand anderes gesehen hat, macht es mich ausgesprochen verlegen. Argh, was habe ich mir nur dabei gedacht, so etwas Kindisches zu tun? Noch offensichtlicher geht es nicht, ehrlich. Wobei … Jetzt, da ich die Namen sehe, fällt mir wieder etwas ein.   Die Zeit vergeht am Ende doch schneller, als mir lieb ist. Ich hatte mir vorgenommen, sie zu nutzen, um meine Antwort auf Kentos E-Mail nachzuholen. Dummerweise habe ich unterschätzt, wie umfangreich seine Auswertung verfasst ist. Es hat gerade gereicht, um alles zu lesen und mir die Worte durch den Kopf gehen zu lassen. Ich habe meine Antwort begonnen, bin jedoch nicht weit gekommen, weswegen ich es letztlich aufgegeben habe. Tja, dann muss ich es wohl persönlich tun, hilft alles nichts. Ich hoffe nur, dass Kento nachsichtig mit mir sein wird, wenn ich ihm erklären muss, wieso ich ihm nicht schon früher geantwortet habe. Ich fürchte mich jetzt schon davor. Bewaffnet mit Broten und Halstuch verlassen Orion und ich pünktlich die Wohnung. Auf unserem Weg erkläre ich ihm, welche Erfahrungen ich bisher mit meiner Arbeit im Meido und meinen Kollegen gemacht habe. Vieles davon kann er nachvollziehen, was wohl seiner Zeit an Hannas Seite zu verdanken ist. Mir ist es nur recht. Es ist schön, dass es ein Thema gibt, bei dem wir größtenteils auf dem gleichen Wissenstand sind und eine Meinung teilen. „Wir liegen gut in der Zeit“, sage ich, als das »Meido no Hitsuji« endlich in Sichtweite ist. Ein kurzer Blick auf meine Handyuhr bestätigt mir, dass es erst fünf vor eins ist. Ich habe wirklich noch mehr als genug Zeit, um mich von Orion zu verabschieden und anschließend in Ruhe umzuziehen. Wir biegen gerade um die Ecke in Richtung Personaleingang, als ich ein Klacken vernehme. Ich richte meinen Blick nach vorn und erkenne Hanna, die gerade aus der Tür tritt. „Hanna? Hi.“ „Oh, Shizana-san. Guten Tag“, grüßt sie höflich, kaum dass sie mich erkannt hat. Die förmliche Anrede irritiert mich, doch ich kommentiere es nicht. Vorsichtig sehe ich neben mich, wo ich Orion vermute. Zu meinem Erstaunen muss ich feststellen, dass er nicht länger bei mir ist. Er muss wohl geflüchtet sein, als er Hanna bemerkt hat. Ich kann verstehen, warum er das tun würde. Traurig. Orion tut mir leid. „Was machst du denn hier?“, wende ich mich wieder Hanna zu. Ich versuche meine trüben Gedanken zu überspielen, so gut es mir eben möglich ist. „Hast du heute nicht frei?“ „Ja. Ich habe nur etwas geholt, was ich heute Morgen hier vergessen habe“, erklärt sie schüchtern. Tatsächlich erkenne ich, als sie näherkommt, ein kleines Büchlein in ihrer Hand. Vermutlich hat sie das gemeint. „Ach so, sehe schon. Sind Ikki und Kento schon da?“ „Ja, sie sind schon umgezogen.“ „Echt jetzt? So spät bin ich doch gar nicht dran.“ „Die beiden sind meistens schon sehr früh da.“ „Hm, dann sollte ich mich wohl besser beeilen. Sorry, Hanna.“ „Schon gut“, weist sie zurück und schüttelt den Kopf. „Ich muss auch weiter. Ich bin schon spät dran.“ „Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Wir sehen uns bestimmt die Tage?“ „Freitag, denke ich. Da haben wir zusammen Schicht.“ „Alles klar, dann spätestens Freitag. Ich freue mich drauf.“ „Ich mich auch“, entgegnet sie lächelnd. „Viel Erfolg heute.“ „Danke, dir auch. Bis dann.“ Ich hebe die Hand zum Abschied und gehe an ihr vorbei. Bei der Tür zum Personaleingang bleibe ich stehen und sehe mich noch einmal nach ihr um. Gerade biegt sie um die Ecke, schon ist sie aus meinem Sichtfeld verschwunden. Ich warte noch einen Moment, hoffend, dass sich Orion noch einmal blicken lässt. Als aber auch nach einer Minute kein Junge mit Kapuze um die Mauer linst, seufze ich und gebe mich geschlagen. Ich betrete den Flur, als es passiert … Es ist still im Pausenraum. Niemand außer uns ist hier. Ich sehe ihn an. Wie ein verlassenes Häufchen Elend sitzt er auf der Bank, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Stirn in die Hände gelegt. Er sieht kraftlos aus, verzweifelt und unsagbar einsam. So habe ich ihn bisher noch nie gesehen. Er ist nicht der Typ, der diese Schwäche zeigt. Seine Stimme klingt noch in meinen Ohren. Sie ist voll Kummer gewesen, seine Worte ohne Hoffnung. Es schmerzt. Dieser Anblick ist für mich nicht zu ertragen. Ohne zu überlegen beuge ich mich vor und schließe ihn in meine Arme. Ziehe ihn an mich und halte ihn fest. So gern will ich ihn trösten, ihm Mut spenden. Doch in dieser Situation weiß ich nicht, ob irgendjemand, der nicht sie ist, das zu bewerkstelligen vermag. „Du hast recht“, spreche ich sanft. Meine Hand streichelt seinen Kopf, fährt durch das weißsilberne Haar. „Es ist nicht leicht. Und was andere auch sagen, das wahre Leben ist kein Spiel. Es gibt kein Game Over, solange man nicht aufgibt. Es gibt Hürden und manchmal scheitern wir an ihnen. Manchmal fühlt man sich besiegt, aber im Gegensatz zu einem Spiel können wir an diesen Dingen wachsen. Es ist eine Gelegenheit, stärker voranzugehen. Deswegen, auch wenn es im Moment leichter gesagt ist, gib bitte nicht auf.“ Ich kehre in Schweigen ein. Um uns herum ist es still. Ich habe nichts zu ergänzen und überlasse es der Zeit, den Rest zu tun. Langsam doch sicher spüre ich, wie sich Ikkis Haltung in meinen Armen entspannt. „Schön gesagt.“ Seine Stimme klingt ruhig und sanft, wie ich es gewohnt bin. Ich bemerke die Regung und löse die Umarmung, um Ikki freizugeben. Bevor ich mich ihm ganz entziehen kann, ergreift er meine Hand und hält sie warm in seiner. Er hebt den Blick auf mich. Sein helles Lächeln trägt mich davon. „Danke für diese Worte. Und danke, dass du mir zugehört hast. Ich würde mich gern dafür revanchieren. Vielleicht gestattest du mir, dich auf ein Date einzuladen?“ Ich versinke rettungslos in dem klaren Blau seiner Augen … Ich taumle zurück gegen die Wand. In meinem Kopf herrscht ein heftiger Schwindel. Mir ist regelrecht übel. Was ist denn jetzt auf einmal los? „Hey, du!“, reißt mich ein lauter Appellruf aus meiner Trance. Er schmerzt in meinen Ohren und in meinem Kopf. „Was stehst du dort so herum?! Wie oft sage ich, dass ihr für den Kampf gewappnet auf Arbeit erscheinen sollt?! Schwäche ist ein Vorreiter zur Niederlage! Ich wünsche nicht, dass du ihn aufs Schlachtfeld trägst!“ Ich weiß nicht, was Waka da redet. Dieses ständige Gebrüll von Kampf und Kriegsgehabe … so langsam geht es mir auf den Geist. Gerade jetzt kann ich das nicht gebrauchen. Doch ich weiß, dass ich mich fügen muss, weswegen ich ein knappes „‘tschuldigung, Boss“ aus mir herauszwänge. „Wenn du das verstanden hast, dann geh und rüste dich für den Feind! In zehn Minuten will ich sehen, dass du einsatzbereit bist!“ „Jawohl.“ Ich protestiere nicht. Mit bemüht geraden Schritten gehe ich an der Küche vorbei und sehe nur kurz zu meinem Boss auf. Hinter ihm erkenne ich Kento, fertig hergerichtet in seiner Kochuniform, ganz wie Hanna es gesagt hatte. Er hat also alles mitbekommen. Ich kann nur erahnen, was diese Szene hinter seiner Stirn anregt. Super, blamiert habe ich mich also auch noch. Der Tag ist jetzt schon für mich gelaufen. Ohne weitere Umschweife begebe ich mich in den Pausenraum. Ich steuere auf gerader Strecke meinen Spind an. Flüchtig werfe ich einen Blick über meine Schulter in Richtung Sitzbank, während ich Tasche und Mantel verstaue. Das vorhin, was war das gewesen? Ein weiteres Déjà-vu? Es war dort drüben. Dort hat Ikki gesessen und ich habe ihn getröstet. Das war keine Erinnerung, oder? Aber was war es dann? Laut dem, was da passiert ist … Im Spiel war es genauso gewesen, oder nicht? Ich erinnere mich an solche Szenen. Hat Hanna dasselbe durchgemacht, wann immer eine Erinnerung zu ihr zurückgekehrt ist? Vom Flur höre ich Waka irgendetwas brüllen. Es scheint nicht an mich gerichtet zu sein, trotzdem rüttelt es mich auf. Ich beeile mich, meine Arbeitskleidung zusammenzusuchen, ehe ich den Spind schließe und mich ins Badezimmer zurückziehe.   In weniger als zehn Minuten bin ich mit allem fertig. Ich verlasse das Bad und gehe an meinen Spind, um meine Privatsachen darin zu verstauen. Während ich damit beschäftigt bin, höre ich ein Klopfen an der Tür. „Kann ich reinkommen?“ Ich erkenne die Stimme, die gedämpft in den Raum dringt. Schnell bejahe ich, drehe mich jedoch von der Tür weg, um ein beschäftigtes Tun vorzutäuschen. „Ist alles in Ordnung? Ich habe Waka-san brüllen gehört.“ Na super, nicht nur Kento. Ikki hat es also auch mitbekommen. Ich will Waka am liebsten den Hals umdrehen und anschließend beschämt im Boden versinken. „Ja, tut mir leid. Ich habe kurz neben mir gestanden“, erkläre ich beiläufig. Ich hoffe inständig, dass er es darauf beruhen lassen wird. „Geht es dir auch gut? Soll ich heute vielleicht besser ein Auge auf dich haben?“ Oh nein. Alles, nur das nicht! „Nein, keine Sorge“, beschwichtige ich. „Es war nur ein Ausrutscher. Es wird während der Arbeit nicht nochmal vorkommen.“ „Hm, okay. Aber wenn etwas ist, sag mir bitte rechtzeitig Bescheid. Und wenn es nur ist, dass du eine Pause brauchst. Ich kümmere mich dann darum, wenn nötig.“ „Alles klar.“ Vorsichtig linse ich zu Ikki hinüber. Mein Herz rast wie verrückt in meiner Brust. Er steht nicht weit von der Tür entfernt, trotzdem fürchte ich, dass er meine Aufregung bemerken könnte. Diese Bilder, sie wollen mir einfach nicht aus dem Kopf. Sein Leiden, mein Trösten. Ich habe ihn im Arm gehalten und er ist ganz ruhig geworden. Er hat mich auf ein Date eingeladen. Ich habe nicht zugestimmt, oder doch? Nein, das glaube ich nicht. Das geht nicht mit meiner Vorstellung einher. Aber wenn doch …? „Ich liebe dich.“ Mir schießt alles Blut in die Wangen. Ich spüre es zu deutlich und wende das Gesicht von ihm ab. Verdammt, wieso denke ich jetzt an diesen Traum? Nichts davon ist wirklich passiert. Nichts davon ist real. Nur ein Albtraum mit vermischten Gefühlen, mehr nicht. Das hier, das vorhin, ist nichts anderes. Kein Grund so nervös zu werden. „Warte nicht, bis es zu spät ist“, höre ich Ikki sagen. Mein Herz überspringt einen Schlag. „Du bist heute als einzige Maid eingesetzt. Wenn du ausfällst, wird es schwer, jemanden einspringen zu lassen. Deswegen –“ Ein dumpfer Schlag gegen die Tür beendet unsere Unterhaltung. Mein Herz flattert noch vor Schreck, als ich Waka erkenne, der Stock voran in den Pausenraum tritt. „Die Zeit ist um. Ikki, ich brauche dich im Café. Shizana, du wirst in der Küche gebraucht. Geh deinem Kameraden zur Hand.“ „Ja“, sage ich und nicke verstanden. Kurz sehe ich noch einmal zu Ikki, ehe ich an ihm vorbei den Raum verlasse. Für eine Antwort bleibt mir keine Gelegenheit.   In der Küche treffe ich auf Kento, der gerade dabei ist, einen der unteren Schränke auszuräumen. Neben ihm stapeln sich bereits mehrere Töpfe und Pfannen zu einem kleinen Berg. Ich frage mich, wieso sie draußen auf dem Boden stehen. „Hey. Ich soll dir in der Küche helfen, hat Waka-san gesagt?“ „Hallo“, grüßt er unbetont zurück und dreht den Kopf in meine Richtung. „Wir haben neues Küchenutensil bekommen. Dort vorn steht es. Überprüfe bitte die Listen, ob alles komplett ist. Wenn du etwas bemerkst, das nicht in Ordnung ist, vermerke es darin. Ansonsten findest du dort drüben Reinigungsmittel, solltest du sie brauchen. Ich bin mit dem Ausräumen gleich fertig.“ Ich nicke verstehend. Mit anderen Worten soll ich die neuen Waren auf ihre Vollständigkeit und ihren einwandfreien Zustand überprüfen. Okay, das sollte ich hinbekommen. Und im Zweifelsfall kann ich immer noch fragen. Kento wird mir das sicherlich nicht übel nehmen. Ich mache mich also an die Arbeit. Drei große Kartons gilt es zu überprüfen. Sie beinhalten nicht viel, vorrangig Küchensets unterschiedlicher Töpfe und Pfannen in verschiedenen Größen. Ein paar Schüsseln und Kleingeräte befinden sich außerdem darunter. Die Listen sind schnell abgearbeitet. Unter genauer Überprüfung entdecke ich nichts, was mir an den Geräten ungewöhnlich vorkommt. Noch bevor ich den letzten Karton überprüft habe, ist Kento mit dem Ausräumen fertig. Ich kann mich direkt ans Einsortieren machen. Ein wenig frustrierend ist es. Ich hatte gehofft, bei der gemeinsamen Arbeit ein wenig Smalltalk mit Kento aufholen zu können. Zu meinem Bedauern ergibt sich mir keine Gelegenheit. Er ist so in seinen Listen vertieft, dass ich nicht wage, ihn großartig anzusprechen. Gelegentlich frage ich ihn, wo etwas einsortiert werden soll, das war’s aber auch schon. „Der Rührstab?“ „Unterer Schrank, obere Ablage, links.“ „Die Presse?“ „Selber Bereich, daneben.“ „Hm, und die Plastikschüsseln S und XS?“ „Oberer Schrank, oberes Fach, wo Platz ist.“ „Hm.“ Ich komme den Anweisungen nach. Das Einräumen geht mir wirklich schnell von der Hand. Die Schränke sind sehr ordentlich und übersichtlich sortiert. Es ist einfach, sich zurechtzufinden. Der letzte Karton ist so gut wie geleert. Fehlen nur noch die Schüsseln und dann … „Vorsicht!“ Etwas packt mich hart bei den Schultern. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, werde ich bereits nach hinten gezogen. Im gleichen Moment poltert und kracht es ohrenbetäubend. Ich spüre, wie der Schreck jeden meiner Muskeln lähmt. Mein Herz rast schmerzhaft in meiner Brust. In meinem Rücken spüre ich einen unnachgiebigen Widerstand, dem ich meinen aufrechten Stand zu verdanken habe. Ohne ihn und den festen Halt an meinen Armen wäre ich in mich zusammengesunken. Noch begreife ich nicht, was da soeben passiert ist. „Wie ist das möglich?“, höre ich Kento hinter mir. Seine stoische Stimme, aus der eine Ahnung von Unglauben klingt, holt mich ins Hier und Jetzt zurück. „Das ergibt keinen Sinn. Wer hat die nach oben gestellt?“ ‚Woher soll ich das wissen?‘ Der Schock sitzt mir in den Gliedern. Ich vermag nicht, meine angespannte Haltung in Kentos sicheren Händen zu lockern. Mein Blick ist auf die immense Eisenpfanne gebannt, die keinen Meter vor mir auf dem angeschlagenen Küchenboden liegt. Kapitel 20: Aussprache mit Ukyo ------------------------------- Ich kann noch immer nicht glauben, was passiert ist. Wie ist das möglich? War ich unvorsichtig, als ich die Schranktür geöffnet habe? Der laute Krach hat dafür gesorgt, dass auch Waka und Ikki auf den Unfall aufmerksam geworden sind. Die Küche ist zu klein, um so viele Personen zu beherbergen. Der Raum wirkt eng bei vier Leuten. Zum Glück bin ich ohnehin nicht imstande, mich groß von der Stelle zu bewegen. „Was ist passiert? Lagebericht!“, fordert Waka im schroffen Tonfall. Ich bezweifle, dass er sich wirklich Sorgen macht. „Wir haben die Inventur gemacht“, beginnt Kento zu schildern, seine Stimme ruhig und beherrscht wie immer. „Shizana hat die neuen Arbeitsmaterialien eingeräumt. Als sie an den oberen Schrank ging, um die neuen Schüsseln einzusortieren, kam die Eisenpfanne herunter. Ich habe es noch rechtzeitig gesehen und konnte sie vor Schlimmerem bewahren. Es war Glück.“ Glück? Wie kann Kento nur von »Glück« sprechen? Der Fußboden ist ein Massaker! Die Pfanne hat einiges an Geschirr mitgerissen und eine fiese Schramme am unteren Schrank hinterlassen. Vielleicht war das auch zum Teil meine Schuld, das weiß ich nicht genau. Auf jeden Fall ist ein nicht geringer Schaden entstanden, der nicht zu ignorieren ist. Wir können höchstens von Glück reden, dass das Café noch nicht geöffnet hat. Ich will mir nicht ausmalen, wie viel des Lärms bis in den Vorderraum gedrungen ist. „Ist jemand zu Schaden gekommen?“ „Wir sind beide unversehrt. Es wurde nur Materielles beschädigt.“ „Gut.“ Waka nickt auf Kentos Erklärung hin. Anschließend senkt er den Blick und betrachtet das Ausmaß des Schadens, ohne eine Miene zu verziehen. „Als Erstes müssen die Scherben vorsichtig und sorgfältig aufgeräumt werden. Benutzt Hilfsmittel und Handschuhe dafür. Ich will nicht, dass sich jemand an ihnen verletzt. Die aufgeschlagene Bodenstelle muss sicher abgedeckt werden. Sie stellt ein Risiko dar, dass jemand stolpert und zu Fall kommt. Ich werde jemanden kommen lassen, der sich das ansieht. Anfallende Kosten trage ich.“ Mich befällt ein schlechtes Gewissen. Wie teuer ist wohl solch eine Reparatur? Bestimmt nicht billig, wenn sie von einem Spezialisten vorgenommen wird. Es sind zwar nur ein paar Fliesen beschädigt, aber trotzdem. „Die Hauptsache ist, dass niemand verletzt wurde“, verkündet Waka. Sein wacher Blick ruht auf uns. „Kento, du hast richtig reagiert.“ „Gut gemacht, Ken.“ Ich sehe, wie Ikki dem Freund ein anerkennendes Nicken zeigt. Anschließend sieht er zu mir. „Alles okay bei dir?“ Ich nicke knapp. „Alles okay, nichts passiert. Ich bin nur erschrocken.“ „Ich frage mich, wie so etwas passieren konnte“, überlegt Ikki laut. Seine Haltung ist abwehrend, wie er die Arme vor dem Körper verschränkt hält. Sein besorgter Blick ruht auf der felgengroßen Pfanne, deren gewölbte Form an die eines Wok erinnert. „Diese Pfanne wiegt einiges in der Hand. Wie konnte die einfach so herunterstürzen?“ „Die Frage ist doch, wie kommt es in erster Linie, dass sie auf einem so hohen Platz stand?“, wirft Kento ein. Ich beobachte von der Seite, wie er ebenfalls die Arme verschränkt und prüfend in die Runde sieht. „Meines Wissens gehört sie dort nicht hin. Eben genau aus diesem Grund, um einen Vorfall wie diesen zu vermeiden. Aufgrund ihres hohen Gewichts steht sie für gewöhnlich immer im unteren Schrank und wird nur hervorgeholt, wenn sie benötigt wird. Shin-kun und ich schauen immer, dass alles am richtigen Platz ist. Was wir nicht brauchen, räumen wir ordentlich weg. Schon allein des Platzes wegen, den wir in der Küche brauchen, um zu zweit gescheit arbeiten zu können.“ „Vielleicht hat Shin sie dort hingestellt? In der Eile vielleicht, weil er den Platz brauchte?“ „Ausgeschlossen“, weist Kento entschieden zurück. „Der Letzte von uns beiden, der in der Küche war, bin ich gewesen. Das war am Sonntag, als ich noch einmal geprüft habe, ob alle nichtbenötigten Geräte vom Strom sind. Es war kurz vor meinem Aufbruch. Shin-kun war zu dieser Zeit nicht mehr im Meido.“ Darauf wechselt sein Blick von Ikki zu Waka. Der feste Ausdruck auf seinem Gesicht bleibt unverändert. „Das war das letzte Mal, dass einer von uns in der Küche war. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass alle verwendeten Arbeitsmaterialien zum Ladenschluss an ihrem richtigen Platz waren. Seitdem hat niemand von uns Schicht gehabt. Die Frage ist also, wer hat ihren Standort verändert? Von allein wird sie sich nicht auf den Schrank gezaubert haben.“ „Ich war das“, ist es Waka, der gesteht. „Ich habe heute Morgen mit der Inventur begonnen. Die Pfanne ist noch zu gebrauchen. Ich wollte verhindern, dass sie versehentlich abhandenkommt. Ein Ersatz wäre zu kostspielig gewesen.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mir liegt ein Kommentar auf der Zunge, den ich nur mit Mühe zurückhalten kann. Neben mir seufzt Kento einmal lang und schwer. „Dachte ich es mir.“ Darauf beobachte ich, wie er den Blick erneut in Wakas Richtung hebt. „Du warst der Einzige, der seitdem die Küche in Verwendung hatte. Sowohl Shin-kun als auch ich sind am Montag verhindert, weswegen keiner von uns an diesem Tag die Küche bedient. An den Dienstagen habe ich meinen festen Rhythmus, wann ich an der Universität beschäftigt bin und wann ich in der Frühschicht aushelfe. Shin-kun nimmt ausschließlich den Donnerstag und Freitag für die Frühschicht, da er an diesen Tagen flexible Kurse hat. Folglich warst du der Einzige, der seit meinem letzten Sicherstellen der Ordnung etwas verändert haben könnte.“ Ich blinzle überfordert. Kurz frage ich mich, ob Kento den Schichtplan aller Angestellten auswendig gelernt hat, dass er das alles weiß. Bewundernswert, und irgendwie unheimlich zugleich. Ich erinnere mich, dass er mir beim letzen Mal auch genau geschildert hat, wie meine Donnerstagsschichten auszusehen haben. „Es sei denn, wir hätten Handwerker oder Ähnliches dagehabt“, wirft Ikki ein. „Darüber hättest du mich bei meiner Ankunft in Kenntnis gesetzt.“ „Wohl wahr.“ „Demzufolge“, wendet sich Kento wieder Waka zu, „muss ich dich daran erinnern, dass ein Hochstellen eines schweren Gegenstandes auf einer Ablage, höher eines Meters ohne verfügbarer Sicherheitsvorkehrung, gegen die Vereinbarung zum Arbeitsschutz von Mitarbeitern verstößt.“ Mit großen Augen sehe ich Kento an. Hat er es gerade wirklich gewagt, das Handeln unseres Bosses infrage zu stellen? Mehr noch, er klagt ihn darauf an. Sicher, er hat recht, aber … Wakas Blick wird schmal. „Möchtest du mir damit sagen, dass ich einen Fehler begangen habe?“ „So ist es“, bestätigt Kento und nickt. „Tatsächlich? Einen Fehler … Verrat … Unverzeihlich.“ Er schließt die Augen. Langsam, Knopf um Knopf, lockert er die Ärmel seiner Butleruniform, krempelt den vornehmen Stoff zurück. „Verrat muss gesühnt werden.“ Während ich mich noch frage, was er da macht, spüre ich, wie jemand nach meiner Hand greift. „Komm mit“, spricht Ikki mir zu und zieht mich von meinem Fleck. „Das willst du dir nicht ansehen. Viel Erfolg, Ken.“ „Ikkyu? Was …?“ Irritiert folge ich Ikki aus der Küche. Fragen türmen sich in mir auf, die sich von selbst beantworten, als ich Waka hinter mir höre: „Ich habe meine Kameraden in Gefahr gebracht. Auf diesen Verrat steht die höchste Strafe! Ich bin als Chef unwürdig!“   „Ist Waka-san okay?“ „Mach dir um ihn keine Sorgen“, spricht Ikki ruhig. Inzwischen haben wir den Pausenraum betreten, wo er mich zu der Sitzbank führt. „Das ist hier ganz normal. Er wird sich schon wieder fangen.“ „Hätten wir Kento wirklich mit ihm allein lassen sollen?“ „Naja, er hat es heraufbeschworen. Soll er sehen, wie er mit ihm fertig wird.“ „Denkst du denn, das kriegt er hin?“ „Wer weiß, wir werden sehen“, scherzt er amüsiert. Witzig finde ich es nicht. „Mach dir keine Sorgen. Ich schlage vor, du setzt dich erst einmal und ruhst dich ein wenig aus. Das muss ein Schock für dich gewesen sein. Soll ich dir etwas bringen, damit du zur Ruhe kommst?“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, geht schon, danke. Mir geht’s gut soweit.“ „Wirklich? Dann bin ich erleichtert.“ „Mir tut nur der ganze Tumult leid. Ich hätte vielleicht besser aufpassen sollen.“ „Gib dir nicht die Schuld. Die Pfanne hätte erst gar nicht dort oben stehen dürfen.“ „Vielleicht, aber ich hätte trotzdem aufpassen müssen.“ „Ich bin froh, dass Ken so gute Reflexe hat. Das macht ihn zum Held des Tages. Fast beneide ich ihn.“ Seine gemurmelten Worte lassen mich fragend zu ihm sehen. Wie schon die ganze Zeit vermeide ich es tunlichst, ihm in die Augen zu sehen. Noch bevor ich etwas sagen kann, setzt er ein abtuendes Lächeln auf. „Nur ein Scherz.“ Darauf wendet er sich ab und entfernt sich. „Ruh dich aus, überlass alles andere mir. Ich sehe eben nach den anderen beiden. Vielleicht kann ich bei etwas helfen.“ „Ich kann im Café vorbereiten“, werfe ich ein. „Ich bin vorne so gut wie fertig. Du brauchst dich nicht kümmern.“ „Na schön“, gebe ich bei. Nur widerwillig sehe ich zu der Bank, auf welche ich mich schließlich setze. Mein Blick geht zu dem freien Platz neben mir. Jene Bilder von vorhin kommen mir wieder in den Sinn. Dort hatte Ikki gesessen. Er war niedergeschlagen gewesen und ich hatte ihn getröstet. Ob das wirklich passiert ist, weiß ich nicht. Doch gemessen an dem, was ich weiß, besteht die Möglichkeit, dass es sich um eine Erinnerung handelt. Nicht von mir, sondern von meinem anderen Ich. Irgendwie klingt das absurd. Es ist vielleicht weit hergeholt, aber ich kann es nicht ausschließen. Gehe ich davon aus, dass das der Fall ist … „Ikki?“ „Hm? Was ist?“ Bei der Tür bleibt er stehen und dreht sich nach mir um. Ich sehe auf. „Das ist vielleicht etwas random, aber … Ist bei dir alles okay?“ Seine Reaktion ist exakt die, die ich erwartet habe. Verwunderung spiegelt sich auf seinem Gesicht. Ich kann sie ihm nicht verübeln. „Bei mir? Alles okay. Wieso fragst du?“ „Ich dachte nur … ach, egal“, erkläre ich ausweichend. Ich komme mir selbst blöd vor, so etwas in dieser Situation zu fragen. Er ist nicht derjenige, der vor wenigen Minuten knapp von einer Pfanne erschlagen wurde. So dumm, wirklich. „Gibt es etwas, worüber du reden möchtest?“ ‚Ja‘, schreit mein erster Impuls. Es gibt viel, so viel, worüber ich gern mit ihm reden würde. Dinge, die ich ihn gern fragen würde. Aber so aus dem Stehgreif käme das doof. Dies dürfte zudem nicht der richtige Zeitpunkt dafür sein. „Nein“, sage ich und schüttle den Kopf. „Schon gut. Vergiss es.“ „Sicher?“ „Ja.“ Ich ringe mir ein bekräftigendes Lächeln ab. „Hm. Wenn du es dir anders überlegen solltest, lass es mich wissen.“ Schon verlässt er den Raum und zieht die Tür hinter sich zu. Ich stoße ein langes Seufzen aus. In vornüber gebeugter Haltung lasse ich den Kopf hängen und fahre mit den Fingern in mein Haar. Im Augenblick weiß ich nicht, was ich denken soll. Es ist einfach alles zu viel.   Die ersten Kunden lassen nicht lange auf sich warten, kaum dass wir das Meido geöffnet haben. Bis zum Nachmittag ist es entspannt und die Arbeit vermag mich erfolgreich abzulenken. Ab dann jedoch wiederholt sich, was ich allmählich gewohnt bin. Es ist einfach immer dasselbe, wann immer ich mit Ikki zusammen Schicht habe. Bald besteht der größte Anteil unserer Gäste aus weiblicher Kundschaft. Ein Blick durch die Reihen lässt vermuten, dass es sich bei den meisten um Studentinnen handelt. Einige der Gesichter erkenne ich wieder. Dieser dämliche Fanclub hat offenbar nichts Besseres zu tun, als seinem Idol jederzeit an der Hacke zu kleben. Ein guter Grund, mich zurückzuhalten. Ich stehe jetzt schon im Visier der Mädchen, was mich stresst. Es ist anstrengend, ungerührt zu tun, wenn jede meiner Bewegungen unter größter Achtsamkeit geschieht. Ich wünschte wirklich, sie würden wieder gehen und nie wieder kommen. Zu meinem Bedauern weiß ich, diesen Gefallen werden sie mir nicht tun. Dank der unfairen Arbeitsaufteilung habe ich zu viel Zeit. Ich übernehme mehr Abwasch, als dass ich bediene. Leise wünsche ich mir Toma herbei, oder gern auch Sawa. Mit ihnen hätte ich mich wenigstens unterhalten können. Ikki wage ich nicht anzusprechen und Kento ist die ganze Zeit von Waka belagert. So bleibt mir nur die Hoffnung auf ein schnelles Zeitverstreichen. Ich will nach Hause und mich verkriechen, einfach weil. Doch wenn ich so darüber nachdenke … Wird es mir dann wirklich besser gehen? Mein Blick schweift zu dem Kalender und bleibt daran haften. Eine Woche ist vergangen, seit ich in diese Welt gekommen bin. Eine Woche auf den Tag genau. Hier zu stehen und dies zu erkennen, löst ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Was habe ich in dieser Zeit erreicht? Wie viel habe ich erfahren, wie viel gelernt? Irgendwie nichts. – Das stimmt nicht, ich weiß. Es fühlt sich allerdings so an. Alle Informationen, die ich bislang gesammelt habe, helfen mir in keinster Weise weiter. Sie beantworten mir weder, wie ich hergekommen bin, noch wie ich wieder nach Hause komme. Auch sagen sie mir nicht, warum ich überhaupt hier bin. Ich weiß lediglich, dass mich ein Geistmädchen versehentlich hierher verfrachtet hat. Nun ja, immerhin etwas. Daraufhin habe ich den Platz meines Offenbar-Vorgänger-Ichs eingenommen, wo auch immer dieses hergekommen ist. Dadurch habe ich die kuriosesten Dinge erfahren, wovon die meisten keinen Sinn machen. Super, das hilft mir alles nicht weiter. Im Gegenteil, es macht alles nur noch schlimmer. Ich stehe bei Null, nach wie vor. Vielleicht habe ich mich nicht genug bemüht. Ich gebe zu, aus Vorsicht zu wenig Fragen gestellt zu haben. Vielleicht wird es Zeit für einen Taktikwechsel. Ich will doch meine Katze wiedersehen. Ich will wieder meine Musik hören können. Ich will tun, was ich immer getan habe und gewiss sein, dass ich einen festen Platz im Leben habe. Aber das wird nicht gehen, wenn ich immer nur auf Gelegenheiten warte. Ein vorsichtiger Blick in Ikkis Richtung lässt mich zweifeln. Nach Hause zu wollen bedeutet, diese Welt hinter mir zu lassen. Ich werde nie mehr hierher zurückkommen können. Vielleicht werde ich sogar vergessen, dass ich hier war. Wenn ich Glück habe, wird ein leeres Gefühl in mir zurückbleiben. Ähnlich als sei ich aus einem Traum erwacht, an den ich mich nicht mehr erinnern kann. Ich weiß nicht, ob ich das will. Der Gedanke, zu gehen ohne etwas von mir zurückzulassen, schmerzt. Nichts von dem, was ich hier erlebt habe, mitnehmen zu können … Es kommt einem Tod gleich. Genau das ist es, was ich im Bezug aufs Sterben am meisten fürchte: dass nichts bleibt. Bin ich erst wieder zu Hause, gibt es kein Zurück mehr. Ich werde Ikki und die anderen niemals wiedersehen. Wir werden nie wieder reden und etwas zusammen erleben können. Alles, was dann noch bliebe, wäre das Fiktive von ihnen. Ich glaube nicht, dass ich dafür bereit bin. Es gibt so viel, was ich so gern tun und ihnen sagen würde … So eine Gelegenheit bietet sich mir nie wieder.   Nach meiner Pause kehre ich ins Café zurück. Ich bin überrascht, als sich mir Waka in den Weg stellt. Es macht den Anschein, als hätte er im Flur auf mich gewartet. „Du hast Feierabend“, verkündet er mir. Irritiert hebe ich die Augenbrauen. „Wie? Jetzt schon?“ Mein letzter Blick zur Uhr hatte mir eine Zeit von halb sechs verraten. Es konnte jetzt kaum später als dreiviertel sein. Viel zu früh, um schon von Feierabend zu sprechen. Das Meido hat noch mehr als zwei Stunden geöffnet. „Du siehst erschöpft aus. Ich verlange, dass du dich ausruhst. Ich übernehme ab hier.“ Wie jetzt? Waka will allen Ernstes meinen Job machen? Aber … das ist irgendwie entwürdigend. „Mir geht es gut“, beteuere ich. „Ich bin nicht erschöpft oder so. Die meiste Arbeit hat Ikki. Ich kann getrost noch die paar Stunden bleiben.“ „Es ist einstimmig entschieden“, erklärt er. „Ich habe bereits mit Kento und Ikki gesprochen. Wir erwarten, dass du bis zu deinem nächsten Einsatz wieder fit bist.“ Wie, er hat mit ihnen gesprochen? Einstimmig entschieden? Wie wäre es, wenn man mich mit einbindet? „Wieso?“ „Ken und Waka-san sind besorgt um dich“, höre ich Ikki leise neben mir sagen. Ich habe nicht bemerkt, wie er von der Bedienung zu uns zurückgekehrt ist. Er besieht mich lächelnd, worauf ich meinen Blick senke. „Dasselbe gilt für mich. Die Arbeit macht dir nach dem Vorfall vorhin zu schaffen, nicht?“ „Wie kommst du darauf?“, presse ich heraus. „Du wirkst sehr niedergeschlagen. Ken sagt zudem, dass du bereits bei deiner Ankunft nicht gut ausgesehen hast. Vielleicht waren die letzten Tage etwas viel für dich.“ ‚Das war doch etwas ganz anderes!‘, will ich am liebsten sagen, verkneife es mir jedoch. In diese Erklärnot will ich wirklich nicht geraten. Aber verdammt nochmal, Kento! Leg dir doch nicht einfach irgendwelche Dinge zurecht! „Mir geht es wirklich gut“, versuche ich es ein letztes Mal. All meine Hoffnung baut auf Waka. „Ich kann gern noch bleiben. So lange ist es nicht mehr.“ „Shizana“, betont Waka ruhig, doch streng. „Mach Schluss für heute. Ich bestehe darauf.“   Na wunderbar. Und wieder habe ich es glorreich geschafft, mir einen Tag mit Ikki und Kento zu vermasseln. Weder habe ich mit Kento gesprochen, noch konnte ich die Zeit mit Ikki genießen. Wie immer. Ich habe einfach nichts erreicht, dafür mal wieder eine Gelegenheit in den Sand gesetzt. Wäre nur dieser dumme Unfall nicht gewesen. Wieso hatte mich Kento auch an Ikki verpetzen müssen? Er hat mein Schwächeln vollkommen falsch gedeutet. Aber wie hätte ich erklären sollen, was wirklich mit mir los war? Zudem muss mich Ikki die ganze Zeit heimlich in meinem Trübsinn beobachtet haben. Ja klar, wenn man das alles zusammenzählt, können schon falsche Eindrücke entstehen. Boah, das macht mich so unglaublich wütend! Mir rennt die Zeit davon, verdammt nochmal! Jeder Tag hier könnte mein letzter sein. Missmutig trotte ich die Straßen entlang. Ich weiß nicht, auf wen ich meinen Ärger richten soll. Eigentlich bin ich ja selbst schuld. Hätte ich mich nur besser im Griff … Würde ich nur rechtzeitig für Klarheit sorgen … „Nanu? Shizana?“ Beim Klang meines Namens stoppe ich und drehe mich herum. Ich staune nicht schlecht, als ich nur wenige Meter weiter Orion entdecke, der eilig auf mich zukommt. „Was machst du denn hier? Bist du schon fertig mit der Arbeit?“ „Dasselbe könnte ich dich fragen“, gebe ich zurück, wobei ich Orion prüfend mustere. Der Kleine hält einige Tüten in seiner Hand, die nicht sehr schwer aussehen. Ich frage mich, was sich in ihnen befindet. „Warst du einkaufen? Woher hast du das Geld und hast du überhaupt einen Schlüssel dabei?“ „Oh, Ukyo hat mich darum gebeten“, erklärt er schnell und grinst breit. „Er ist schon zu Hause, weißt du? Er hat sich wirklich beeilt, schnell zurück zu sein und sein Versprechen zu halten. Wir wollten dich mit einem leckeren Abendessen überraschen … Oh nein, jetzt habe ich es verraten!“ Sein entsetztes Gesicht lässt mich schmunzeln. „Ich habe nichts gehört, okay? Soll ich dir vielleicht beim Tragen helfen?“ „Brauchst du nicht“, weist er zurück. „Es ist nicht schwer. Kommst du denn jetzt mit nach Hause?“ „Denke schon. Was anderes fiele mir zumindest nicht ein. Oder soll ich lieber noch etwas warten und erst später kommen? Ich meine, wenn es eine Überraschung werden sollte …“ „Nein, komm ruhig mit!“, sagt er schnell. Seine freie Hand umfasst meine, als fürchte er, ich könne plötzlich verschwinden. „Das ist sogar ganz gut. So weiß ich, dass du sicher nach Hause kommst und Ukyo muss sich keine Sorgen machen. Dir kann nichts passieren, wenn ich bei dir bin, nicht?“ Ich verkneife mir, ihn auf den Autounfall hinzuweisen. Das ist etwas, woran ich mich am liebsten nicht mehr erinnern würde. Zudem wäre es fies, ihn dafür verantwortlich zu machen. Spaß oder nicht, darüber scherzt man nicht. Orion trägt keine Schuld und hätte ich nur auf ihn gehört, wäre es niemals passiert. „Na schön, auf deine Verantwortung. Was hast du denn Schönes gekauft?“   Ich erfahre während unseres gemeinsamen Heimweges, dass Orion verschiedenes Gemüse und Fisch geholt hat. Wofür das sein soll, will er mir partout nicht verraten. Es ist niedlich, wie er versucht, ein großes Geheimnis aus seinem und Ukyos Vorhaben zu machen. Ich bin zugegeben neugierig, was sie für mich geplant haben. Aber das werde ich schon früh genug erfahren. Zum wiederholten Male fragt mich Orion, wieso ich schon so früh Schluss habe. Ich hapere mit meiner Antwort. Die Wahrheit würde ihn bestimmt bestürzen. Ich bin nicht wirklich erpicht, dass sich wieder jeder um mich sorgt. Also entscheide ich mich für eine Ausrede, so leid es mir für Orion tut. Ich erzähle, dass es mir nicht besonders gut ging und schiebe es auf das Wetter. Es war den ganzen Tag trüb und grau gewesen, und kalt. Genau die Art Wetter, die mir gern aufs Gemüt schlägt, was nicht gelogen ist. Ich habe mich antriebslos gefühlt und die anderen haben es mitbekommen. Waka hat mir darauf einen frühen Feierabend angeboten. Als Ausgleich für die Mehrarbeit, die ich in Vertretung für Hanna geleistet habe, ergänze ich vorsichtshalber. „Das ist wirklich nett von ihm“, befindet Orion, nachdem ich meine Geschichte beendet habe. Ich grinse vertuschend. „Oder er will nur etwas Geld an mir einsparen. Nicht, dass er noch wegen mir pleitegeht.“ „Das glaube ich nicht. Er hätte doch dasselbe an Hanna bezahlt, wenn sie dagewesen wäre, oder nicht?“ „Schätze schon. Hm, oder ich kratze mit meinen Stunden am vereinbarten Maximum. Bei meiner alten Arbeit durfte ich auch nur eine bestimmte Anzahl an Stunden in der Woche gehen. Darüber hinaus hätte es gegen meinen Arbeitsvertrag verstoßen oder den Arbeitsschutz oder so.“ „Da kenne ich mich leider nicht so gut aus.“ „Nicht schlimm. Hm, ich frage mich ja, wie gut ich im Meido eigentlich verdiene“, überlege ich laut. „Ist es nicht nur Teilzeit, was ich gehe? So viel kann da doch nicht herauskommen, oder?“ „Schätze nicht. Du gehst in der Regel drei Tage die Woche dort arbeiten“, erklärt Orion mir. „Manchmal springst du auch ein, wenn jemand ausfällt. Aber soweit ich weiß, hast du noch eine zweite Arbeit.“ „Ach echt?“, stoße ich überrascht aus. Fragend sehe ich Orion an. „Ja. Du schreibst doch, oder nicht?“ „Ähm, ja? Aber … was willst du damit sagen?“ „Na, dass du noch mit dem Schreiben Geld verdienst. Ich weiß nicht genau, wie man das nennt … aber du hast es mir mal erzählt.“ So? Habe ich das? „Davon weiß ich gar nichts“, sage ich leise und sehe auf die Straße. Neue Sorgen befallen mich. „Bin ich Autor? Habe ich einen Vertrag mit einem Verlag?“ „Hm, nein. Es war etwas anderes.“ Er schweigt einen Moment, während er nachdenkt. „Du schreibst im Auftrag für andere. Du hast mir mal gesagt, wie das heißt … Hm, etwas mit Ghost. Ghost… Ghostwriting oder so was?“ „Ghostwriting?“ Ich denke nach. Den Begriff habe ich schon einmal gehört. „Hm, ja, das kommt hin. Soweit ich weiß, schreibt man als Ghostwriter im Auftrag für andere, die es selbst nicht können. Man übernimmt Skript und alles von anderen und liefert das Werk beim Auftraggeber ab. Aber ich kenne mich nicht wirklich damit aus. Wie bin ich denn auf diese Idee gekommen?“ „Ich glaube, Ukyo hat dir dabei geholfen.“ „Ach wirklich?“ Das überrascht mich. Niemals hätte ich Ukyo zugetraut, dass er sich mit solchen Dingen besser auskennt als ich. „Frag ihn am besten. Jetzt, da du weißt, dass du ihm nicht alles über dich verheimlichen musst, wird es dir bestimmt helfen. Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Das sagst du so leicht … Ich habe sie trotzdem.“ Bedrückende Stille kehrt zwischen uns ein. Sie endet erst, als ich Orions warme Hand um meine spüre, was mich zu ihm sehen lässt. „Ich weiß, dass du Angst hast. Bestimmt fühlst du dich einsam. Aber du bist nicht allein in dieser Welt“, spricht er sanft und lächelt ermutigend. Sein Griff um meine Hand wird fester, sicherer. „Vertrau mir. Ich bin hier und passe auf dich auf. Und vergiss Ukyo nicht, er war die ganze Zeit bei dir.“ Ich will lächeln, kann es aber nicht. Stattdessen nicke ich schwach. „Ich versuch’s.“   Kaum zu Hause angekommen, hat es Orion sehr eilig, vor mir ins Wohnzimmer zu kommen. Ich kann mir denken, dass er Ukyo meinetwegen vorwarnen will. Ein wenig komme ich mir wie ein Eindringling vor. Ich lasse mir bewusst Zeit, mich meiner Straßenkleidung zu entledigen, ehe ich den Flur verlasse. „Du bist schon da?“, werde ich postwendend aus der Küche begrüßt. Ich höre sofort, dass Ukyo nicht minder überrascht ist, wie Orion es war. „Ja, ich wusste es selbst nicht vorher. Störe ich?“ „Nein, wie kommst du darauf?“, sagt er schnell. Er lässt liegen, was immer er gerade gemacht hat, und kommt zu mir herüber. „Ich bin nur überrascht,  aber es freut mich. Wie kommt es, dass du schon Schluss hast?“ „Waka hat mich eher gehen lassen“, antworte ich knapp. Für einen Moment bin ich abgelenkt, als ich Ukyo vor mir betrachte. Ich mustere ihn eingehend, bis mir wieder einfällt, dass ich ihm nicht fertig geantwortet habe. „Ich war nicht so auf der Höhe wegen dem Wetter. Und weil ich die letzten Wochen so eifrig war, durfte ich heute früher gehen. Sag mal, warst du duschen?“ Diese Frage ist unnötig. Auch ohne Ukyos Bestätigung wäre ich gewiss gewesen. Ich erkenne, dass seine Haarspitzen feucht sind. Von ihm geht ein frischer Duft aus, den ich ohne Zweifel unserem Kräuter-Shampoo zuordnen kann. Nicht das, was ich gerne verwende, aber an ihm wirkt der Duft ausgesprochen wohltuend. „Fanservice, hm?“, raune ich genüsslich. Provozierend starre ich auf den V-Ausschnitt seines Hemdes, welches ohne Krawatte und Jacke einen Knopf mehr als sonst Haut zeigt. „Das wäre doch nicht nötig gewesen, Ukyo. Ich freue mich auch so, dich zu sehen.“ „W-was?“, gerät er ins Stammeln. Sein Blick folgt meinem, worauf er sich wegdreht. Ich ahne anhand seiner Bewegungen, dass er sich der Knöpfe bedient. „Mann, Shizana! Musst du mich immer mit solchen Dingen ärgern? Du bist ja schlimmer als ein Perverser …“ „Schockt dich das etwa noch?“, kontere ich kichernd. Ah, ich kann es mir echt nicht verkneifen. Es ist einfach zu herrlich, wie leicht sich Ukyo aus der Fassung bringen lässt. Obgleich ich lache, entschuldige ich mich vorsorglich bei ihm. Direkt im Anschluss ermahne ich ihn, dass er mich nicht geboxt hat, wie wir es ausgemacht hatten. Ich freue mich dennoch, dass wir gemeinsam lachen können, trotz dass eine Unbehaglichkeit zwischen uns im Raum steht. Ukyo hat sein Versprechen gehalten und wir haben mehr Zeit, als ich gehofft hatte. Ich bereue nicht länger, dass Waka mich so früh von der Arbeit entlassen hat.   Gemeinsam bereiten Ukyo und ich das Abendessen vor. Mein frühes Auftauchen hat wohl Ukyos ursprüngliches Vorhaben ruiniert, weswegen wir spontan umgeplant haben. Aus Reis, Gemüse und Garnelen zaubern wir ein schnelles Pfannengericht, das uns allen zusagt. Während mir Ukyo von seinem Tag berichtet, überlege ich, ob ich ihm von dem Vorfall auf Arbeit erzählen soll. Auf der einen Seite will ich ihn nicht beunruhigen. Andererseits, mehr als das, will ich endlich ehrlich zu ihm sein. Ich habe genug von all der Heimlichtuerei und den Lügen, zu denen ich gezwungen bin. Ich will, dass das ein Ende hat. Auch wenn ich weiß, dass diese Bereitschaft nicht auf Gegenseitigkeit beruhen muss. „Alles okay? Du bist so ruhig“, holt mich Ukyos Stimme aus meinen Gedanken. Ich lächle vorsichtig. „Naja, soweit, weißt du.“ Ukyo besieht mich einen Moment. „Wir haben den ganzen Abend Zeit“, spricht er zögerlich. „Wir reden, versprochen.“ „Mhm“, nicke ich sicher. „Ich weiß ja jetzt, dass du deine Versprechen hältst.“ Er lächelt, was mich weiter ermutigt. „Ich bin wirklich froh, dass du da bist. Danke dafür, Ukyo.“ „Selbstverständlich. Wir sind doch Freunde.“ Seine Worte fangen mich auf. Wir beenden unsere Vorbereitungen und zusammen mit Orion decken wir den Tisch. Während des Essens lasse ich mir von Orion berichten, wie er den Tag herumgekriegt hat. Die Gespräche tun gut und helfen mir, mich in Gegenwart der beiden zu entspannen. Ich gestatte mir, mich ein wenig über die Arbeit auszulassen, als wir darauf zu sprechen kommen. Was Ikkis Magnetismus auf Frauen angeht, sind wir immerhin alle einer Meinung. Nach dem Abräumen sitze ich mit einer Tasse warmen Cappuccino in der Hand auf der weichen Wohnzimmercouch. Orion hat sich mit einem Manga, den Ukyo ihm auf Verdacht mitgebracht hat, in mein Zimmer zurückgezogen. Ukyo selbst sitzt mir gegenüber, vor sich einen Kaffee, und sieht mich aus vornübergebeugter Haltung an. „Also dann, sollen wir anfangen? Mit unserem Gespräch?“ Ich nicke langsam. „Ist es okay für dich, wenn ich einfach drauflos frage?“ „Ja, natürlich.“ „Okay.“ Ich rücke meine Haltung zurecht und atme einmal tief durch. Offen sehe ich ihn an. „Was genau weißt du über mich?“ Er nimmt sich die Zeit, um über seine Antwort nachzudenken. „Ich weiß, dass du nicht die Shizana bist, die ich kenne.“ Autsch. Erster Treffer. „Seit wann weißt du es?“ „Hm …“ Kurzes Schweigen, bis er mich wieder besieht. „Ich habe es schon früher geahnt. Den ersten Verdacht hatte ich nach unserer letzten Aussprache letzte Woche. Ich habe mich gefragt, wieso du mich wegen dieser Personentauschsache gefragt hast. Das hat mich nicht losgelassen.“ Ich erinnere mich daran. Das war an diesem verflixten Tag, an dem Rika und Luka im Café aufgetaucht waren. Am gleichen Abend hatten wir diese Aussprache wegen meinem Date mit Luka. Eigentlich eine schöne Erinnerung, denn das war der Tag gewesen, an dem ich mit Ukyo offiziell Freundschaft geschlossen habe. „Schon den Tag davor hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt“, fährt Ukyo fort. „Du warst an dem Morgen auffallend still gewesen … ruhiger als sonst. Und du hast mir Fragen gestellt, die du mir rückblickend betrachtet vorher nie gestellt hast. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Ich bin selbst an manchen Tagen ziemlich zerstreut.“ Ich nicke verstehend und setze meine Tasse an. Die warme Süße hilft mir, entspannt zu bleiben. „Ich war mir dann nicht mehr sicher und wollte Gewissheit haben. Ich habe Niel aufgesucht und … Naja, nachdem er sich dich angesehen hat, war er derselben Meinung wie ich.“ Urgh, ja … Der Tag, an dem mich Ukyo mit dem mir damals Fremden im Café besucht hat. Derselbe Tag, an dem ich Mari das erste Mal begegnet bin. War klar, dass Ukyo nicht nur aus Nettigkeit vorbeigekommen ist. Wenn ich so zurückdenke, war es dumm von mir zu denken, er sei nur meinem Anstoß gefolgt. „Verstehe“, flüstere ich leise und nehme einen weiteren Schluck. „Also das hatte Niel mit seiner Frage gemeint. Macht Sinn, denke ich.“ „Er war sich selbst nicht sicher, aber er konnte es auch nicht ausschließen. Dadurch wusste ich, dass es so sein musste.“ „Was unterscheidet mich von der Shizana, die du kennst? Wie war sie so?“ „Nun ja“, überlegt er lang. „Eigentlich war sie nicht viel anders … Anders, ja, aber nicht sehr. Ich glaube, wären dir diese Kleinigkeiten nicht unterlaufen, ich hätte nicht bemerkt, dass du eine andere bist.“ „Es ist seltsam, das zu hören.“ Ich lasse mir sein Gesagtes einen Moment durch den Kopf gehen, ehe ich die Tasse in meinen Schoß sinken lasse. „Was ist mit ihr passiert? Was ist … mit mir passiert? Weißt du etwas darüber?“ Zaghaft schüttelt er den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich weiß es nicht.“ „Ist es möglich, dass ich Amnesie habe?“ „Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich glaube … es ist etwas anderes.“ Der Gedanke, der mir bei diesen Worten kommt, lässt mein Herz schwer wie Blei werden. „Bin ich … vielleicht gestorben?“, ringe ich unter größter Mühe aus mir hervor. Meinen Körper durchfährt ein Ruck. „Ist mein vorheriges Ich vielleicht irgendwie umgekommen? Und ich … bin dafür eingesprungen?“ „Wie kommst du darauf?“, fragt er bedächtig. Mir entgeht nicht die Vorsicht in seiner Stimme. „Naja, weißt du … Ich habe doch erzählt, dass ich die Nacht von Mari geträumt habe. Und in diesem Traum hat sie gesagt, dass ich dieses Mal nicht sterben werde. Das … bereitet mir Sorge. Und nachdem, was mir Orion über sie erzählt hat, frage ich mich, ob das etwas zu bedeuten hat.“ Ukyo wird still, auffallend still. Für zu lange. Ich beobachte, wie er auf seine Tasse starrt und ins Leere blickt, als wäre er irgendwo anders. Ich habe Angst, dass er mich mit dieser Frage allein lassen könnte. „Ich werde dir etwas erzählen, das du mir vielleicht nicht glauben wirst“, beginnt er, wobei er weiter in sich zusammenfällt. Sein Blick haftet am Boden, bis er Mut fasst und in meine Richtung sieht. „Ich habe mir etwas gewünscht: Das Mädchen, das ich liebe, glücklich zu sehen. Ich wollte sie wiedersehen, mehr als alles andere. Doch um diesen Wunsch wahr werden zu lassen … Niel hat sich meiner angenommen und … Du weißt ja inzwischen, was er ist.“ Ich nicke. Mir ist klar, was er mir erzählen will, doch ich verharre in Schweigen. Ich will, dass er es mir erzählt. Ich will es von ihm selbst hören. Sein langes Seufzen wiegt tonnenschwer. „Es mag unglaublich klingen, aber … um diesen Wunsch zu erfüllen, sind wir durch verschiedene Welten gereist. Doch wo wir auch waren, es war nicht möglich. Das Mädchen, das ich liebe, ist in den meisten von ihnen gestorben. Wieder und wieder habe ich ihren Tod mit ansehen müssen. Entweder sie oder … Ich selbst gehöre eigentlich nicht in diese Welt. Ich bin ein Fremdling, ein Störenfried. Ein Eindringling, den diese Welt nicht duldet. Ich weiß, dass mit höheren Mächten nicht zu spaßen ist und dass es qualvoll ist, gegen das Schicksal anzukämpfen … Was ich sagen will“, unterbricht er, worauf er seinen verlorenen Blick fixiert, „ich weiß, dass nicht auszuschließen ist, dass manchmal unmögliche Dinge passieren. Ich glaube, dass du etwas Ähnliches durchmachst. Nein, ich bin mir sicher, dass wir einander ähnlich sind.“ Ich senke das Kinn. Mir gehen viele Dinge durch den Kopf, wovon ich nicht weiß, was ich ansprechen soll. „Du meinst, dass ich ebenfalls an einen Wunsch gebunden bin? Hm, das würde Mari erklären, wenn sie ähnlich wie Niel sein soll … Aber Orion sagt, dass ich mir nichts gewünscht haben soll. Nicht direkt zumindest. Ich habe schon mit ihm darüber gesprochen, nachdem Mari etwas in dieser Art in meinem Traum verlauten lassen hat …“ „Hm. Vielleicht … Vielleicht hat es nichts mit deinem Wunsch zu tun“, wirft er ein, was mich aufhorchen lässt. „Vielleicht spielst du nur eine wichtige Rolle bei etwas, was sich jemand anderes gewünscht hat.“ „Jemand anderes?“          Das lässt mich grübeln. Wenn ich so zurückdenke, einmal hatte Mari etwas in meinem Traum verlauten lassen, das auf so etwas hindeuten könnte. Ich wollte diese beiden Menschen in ihrer Trauer glücklich machen. Vielleicht sprach sie von einer Überschneidung oder vielleicht … vielleicht bin ich einfach nur in ihre Lösung hineingefallen? „Denkst du denn, dass so etwas möglich ist?“ „Naja, wenn wir Mächte wie die von Niel bedenken … Ich halte es nicht für unmöglich.“ Okay, fein. Also bin ich vielleicht in irgendein Massaker hineingeraten, mit dem ich ursprünglich nichts zu tun hatte. Toll. Sehr verantwortungslos von Mari, wenn dem so sein sollte. Oder habe ich doch mehr damit zu tun, als mir in den Sinn will? „Also … schätze ich, brauche ich dir nicht weiter zu verheimlichen, dass ich nicht aus dieser Welt stamme?“ Er lächelt besänftigend. „Ich habe es mir denken können.“ „Gut“, sage ich und entspanne den Rücken. „Das nimmt mir eine wirklich große Last von den Schultern. Ich bin das Lügen wirklich leid.“ „Ja, das glaube ich dir“, spricht er gedämpft. Sein Lächeln wird herzlicher. „Und keine Sorge: Ich nehme dir nichts übel, was du mir bislang verschwiegen hast. Du hattest keine andere Wahl.“ „Ich musste sehr vorsichtig sein. Ich hatte das Gefühl, dass ich es sein muss. Aber es ist ein schreckliches Gefühl, immerzu jeden anlügen zu müssen, obwohl ich das gar nicht will.“ „Hm, ich weiß, was du meinst. Aber vielleicht kannst du jetzt wenigstens zu mir ehrlich sein. Und Orion und Niel kannst du ebenfalls vertrauen.“ Ich schnaube leise durch die Nase aus. „Bei Niel bin ich mir noch nicht so sicher. Aber vermutlich hast du recht. Eigentlich hat er mir ja nichts getan und an sich hat er auch nichts mit der ganzen Sache zu tun. Wenn es wirklich diese Mari ist, die für dieses Dilemma verantwortlich ist, müssten sich Orion und Niel nicht so sehr in diese Sache hineinhängen.“ „Sie können nicht anders. Ich bin mir sicher, sie wollen dir nur helfen.“ „Ja, aber warum? Es kann ihnen doch eigentlich egal sein. Sie sind nicht an mich gebunden oder so. Ich habe nichts mit ihnen zu tun.“ „Ich glaube, es ist auch wegen Mari“, spricht Ukyo nach einem Moment des Schweigens. „Ich habe mit Niel gesprochen und er sagte, dass er sich verantwortlich fühlt. Vermutlich gibt es da noch etwas zwischen den Geistern, in das wir uns nicht weiter einmischen sollten.“ „Hm, möglich.“ Familienbanden kommt mir dazu in den Sinn. Ich weiß wirklich nichts darüber, in welchem Bezug diese Mari zu den anderen beiden steht. Vielleicht geht es weniger um mich, als ich annehme. „Ist das der Grund, warum Niel noch hier ist? Ich meine, dein Wunsch hat sich doch erfüllt?“ „Eh?“, besieht er mich fragend. In einer befangenen Geste streicht er sich über den Kopf und wendet den Blick zur Seite ab. „Mh. Das hat er, denke ich.“ Es folgt ein kurzes Schweigen, bis er mich mit einem beklommenen Lächeln besieht. „Um ehrlich zu sein, war ich überrascht, ihn wiederzusehen. Ich dachte erst, es sei wegen mir. Ich hatte Angst. Aber als er dann sagte, dass er meine Hilfe braucht –“ Ich warte, dass er weiterspricht. Als es mir zu lange dauert, hake ich nach: „Deine Hilfe?“ „Naja, weißt du … Es war Niel, der mich zu dir geführt hat. Du warst bewusstlos, als ich dich fand. Als du das erste Mal zu dir kamst, warst du ziemlich verwirrt gewesen. Hast mich gefragt, wo du bist und wie das möglich ist. Du hast mich gleich bei meinem Namen genannt, obwohl ich mich dir noch gar nicht vorgestellt hatte.“ Ich beiße mir auf die Lippe. Ups, das klingt wirklich sehr nach mir. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das auf Ukyo gewirkt haben muss. Wie unvorsichtig von mir. Ukyo entlässt ein leises Lachen, wohl weil er meine Verunsicherung bemerkt hat. „Keine Angst, ich habe es nicht hinterfragt. Ich bin solch seltsame Begegnungen gewohnt. Obwohl es normalerweise immer so ist, dass man nicht weiß, wer ich bin. Haha.“ „Sorry, ich wollte dich nicht schocken.“ „Es war ein Schock, aber ein angenehmer“, lacht er weiter. „Hm. Und dann hast du mich bei dir aufgenommen?“ Er nickt. „Ja, genau.“ „Das erklärt einiges. Danke, dass du das für mich getan hast, obwohl du mich nicht kanntest.“ „Ich hätte dich nicht draußen zurücklassen können. So ganz allein und verloren, wie du ausgesehen hast. Ich war nur nicht sicher, ob es die sicherste Wahl für dich ist … Und dann bist du auch noch krank geworden.“ „Ach echt?“ Erneut nickt er. „Ja. Du hattest sehr hohes Fieber. Ich hatte Angst, dass du es vielleicht nicht schaffst.“ Uff, so viele Informationen auf einmal. „Da habe ich dir ja ganz schön was zugemutet. Tut mir leid, dass du so viel Stress und Kummer wegen mir hattest.“ „Ach, nicht so schlimm“, winkt er hektisch ab. „Du hast es ja geschafft. Ich wusste nicht ganz, was ich tun sollte … Aber die anderen haben mir sehr geholfen.“ „Die anderen?“ „Mh. Waka-san, Toma und Shin in erster Linie. Ich habe sie um Hilfe gebeten und sie haben mir viele Tipps gegeben. Es hat mich gerettet. Sie haben mir Medizin für dich gegeben und erklärt, was ich tun kann, damit es dir bald besser geht.“ „Ernsthaft? Waren sie etwa hier?“ „Nein“, entgegnet er kopfschüttelnd. „Ich hielt es für besser, wenn sie fürs Erste nichts von dir wissen. Ich habe sie selbst gefragt.“ „Oh Mann … Dass du so weit für mich gehen würdest …“ Ich verfalle in Gedanken. So langsam ergibt vieles einen Sinn für mich. Ich spüre, wie sich der Halt unter meinen Füßen festigt. „Und dass ich im Meido angefangen habe? Hat das auch damit zu tun?“ „Kann man so sagen“, meint er lächelnd. „Niel hielt es für besser, wenn du unter Leute kommst. Und ich wusste, dass ich den Leuten im Meido vertrauen kann. Ich habe also mit Waka-san gesprochen und … Ich wusste, dass du dort in guten Händen sein würdest.“ Tränen steigen in mir auf. Ich spüre, wie sie einen schweren Kloß in meinem Hals formen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll …“ „Weinst du?“ Rasch wische ich mit dem Fingerrücken unter meinen Augen entlang. Die Brille ist nervig, aber ich will sie nicht abnehmen. Es muss auch so gehen. „Ein wenig“, gestehe ich. „Ich bin nur so sprachlos, dass jemand so viel für mich getan hat. Ich habe dir so viel zu verdanken … und Niel. Ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn ihr nicht gewesen wärt.“ „Nicht doch … Wenn du weinst, muss ich mitweinen.“ Ein Blick auf sein Gesicht verrät, dass er nicht übertreibt. Ich erkenne, wie ein feuchter Schleier über seinen grünen Augen liegt. Ukyo sieht tatsächlich so aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Und das nur, weil ich ein wenig sentimental werde. Ich muss lachen. „Du bist wirklich zu herrlich, Ukyo. Wieso weinst du, obwohl ich diejenige sein müsste? Haha, das ist irgendwie falsch, meinst du nicht? Hör auf, du schaffst mich.“ Er protestiert gegen meine Worte an, doch es nützt nichts. Ich lache und spüre zugleich, wie das schwere Gefühl in mir nachgibt. Es ist gänzlich verschwunden, als ich höre, wie Ukyo zögerlich in mein Gelächter einklinkt. „Hach, wie schön“, sage ich nach einiger Zeit, nachdem ich mich wieder größtenteils gefangen habe. „Das tat jetzt wirklich gut. Ich fühle mich schon gleich sehr viel besser.“ „Das freut mich“, entgegnet mir Ukyo mit einem Lächeln. „Gibt es sonst noch etwas, das du von mir wissen möchtest?“ „Hm … Lass mich kurz überlegen.“ Ich lehne mich entspannt zurück, die halbleere Tasse schwenkend in meiner Hand. „Das Wie hat sich für mich einigermaßen geklärt. Zum Warum wissen wir vorerst nicht mehr … Du hast mir wirklich schon sehr viel mehr weitergeholfen, als ich allein auf die Beine gestellt bekommen hätte.“ Ich sehe, wie Ukyo lächelt. Doch er hält sich in Schweigen, wohl wartend, dass ich zu einem Ergebnis komme. „Zu Luka wirst du mir sicherlich nicht viel mehr sagen können. Oder weißt du, was zwischen ihm und mir vorgefallen sein soll?“ „Hm? Zwischen Luka und dir?“ Ich nicke. „Ja. Orion macht ständig irgendwelche Andeutungen, aber er will mir nichts sagen.“ Sichtlich nachdenklich legt sich Ukyo eine Hand an sein Kinn. Er schweigt einige Zeit, bis er ein schweres Seufzen von sich gibt. „Nein, tut mir leid“, sagt er und schüttelt bedauernd den Kopf. „Ich weiß nur, was ich bereits gesagt habe. Ich kenne ihn nicht so gut und mir ist unklar, wieso du ausgerechnet mit ihm zusammen bist. Nicht, dass ich dir das ausreden will. Ich hatte nur immer gedacht … aber vielleicht habe ich mich auch geirrt. Du scheinst nur nicht glücklich mit ihm zu sein und vielleicht wäre es besser –“ Er bricht ab. Ich weiß nicht wieso, aber er sagt nichts mehr. Das Warten wird mir zu lang. „Schon gut, ich seh‘ schon. Du weißt dahingehend auch nicht mehr als ich.“ Ich seufze und trinke anschließend von meinem abgekühlten Süßgetränk. „Ich kann das nicht beenden, noch nicht. Ich muss erst noch einige Dinge in Erfahrung bringen.“ „Mh, ich verstehe. … Aber versprich mir, vorsichtig dabei zu sein.“ Ich nicke. „Bin ich.“ „Und wenn etwas ist, komm zu mir. Ich will nicht, dass du alles allein durchmachst. Die Welt ist gefährlich und es passiert schnell, dass etwas passiert.“ „Ich passe auf“, will ich ihn besänftigen. „Das letzte Mal hätte ich auf Orions Warnung hören sollen. Ich werde in Zukunft nicht mehr so unvorsichtig sein.“ „Vorsicht allein reicht manchmal nicht. Du musst jederzeit aufmerksam sein. Glaub mir … Manchmal reicht nur ein kurzer Moment, ein falscher Schritt, eine falsche Drehung … nur einmal zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein … Versprich mir, dass du immer gut auf dich aufpasst!“, wird er laut und stützt sich auf seinen Knien nach vorn. Ich erkenne den Ernst und die tiefe Besorgnis in seinem Blick. Fast macht er mir Angst. „Und auf das, was um dich herum passiert! Es kann jederzeit etwas passieren … Man weiß es nicht vorher. Und ich weiß nicht, was dich erwarten wird. Ich kann dich nicht auf dieselbe Weise beschützen …“   „Ich werde aufpassen“, beteure ich und beobachte, wie er schwach nickt. Ich gönne uns einen Moment, in dem Ukyo von seinem Kaffee trinkt. Mein Kopf ist voll neuer Informationen, aber da ist noch eine Sache … „Darf ich dich noch etwas fragen?“ „Klar“, sagt er sanft, mir offen zugewandt. „Dieses Mädchen, das du liebst … Es ist Hanna, richtig?“ Ukyos Haltung verkrampft sich. Ich erkenne es daran, wie er an seiner Tasse klammert. Alle Farbe scheint aus seinem Gesicht zu flüchten. Er setzt ein gezwungenes Lächeln auf. „Wie … kommst du denn …?“ „Ich weiß es.“ Darauf wird er still. Nach einer Weile löst sich seine Anspannung und seine Mundwinkel heben sich traurig. „Also glaubst du mir die Geschichte?“ „Ich weiß, dass sie stimmt. … Du weißt, dass sie nicht mehr mit Ikki zusammen ist?“ Eine unangenehme Stille kehrt zwischen uns ein, die mich sofort bereuen lässt, diese Frage gestellt zu haben. Doch nun ist es zu spät. Ich kann es nicht mehr ungesagt werden lassen. „Mh“ ist alles, was er dazu verlauten lässt. Bevor ich mehr dazu sagen oder fragen kann, erhebt er sich aus seinem Sitz und besieht mich mit diesem falschen Lächeln. „Ich denke, ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Wenn du noch Fragen haben solltest, ich werde immer ein offenes Ohr für dich haben.“ Damit entfernt er sich und flüchtet hinter seine Zimmertür. Mir bleibt keine Gelegenheit, mich bei ihm zu bedanken. Ich bleibe sitzen, verharre und warte, doch nichts rührt sich mehr. Es wird winterlich kühl im Raum.   Nach einiger Zeit der Lethargie beschließe ich, den Tag mit einer wohltuenden Dusche zum Abschluss zu bringen. Die letzten Zweifel sind noch nicht in mir verstummt. Hätte ich nur diese letzte Frage nicht gestellt, martert mich das kleine Stimmchen, das sich »Gewissen« nennt. Jauchzt sonst immerzu von Harmonie, und schleudert mir doch gerade Vorwürfe aus erprobtesten Granit an den Schädel. Ganz, wie ich es liebe. Und genau, was ich jetzt brauche. ‚Vielleicht versuche ich gleich nochmal, mit ihm zu reden‘, überlege ich still, während ich mich meiner Klamotten entledige. Vielleicht, wenn ich ihm nur etwas Zeit einräume, hat er sich nachher schon wieder gefangen. Ich will nicht, dass er sich meinetwegen unbehaglich fühlt. Abgesehen davon will ich mich noch bei ihm bedanken. Ich fühle mich ihm schuldig nach allem, was er in der Vergangenheit für mich getan hat. Und wäre er nicht so offen zu mir gewesen, würde ich wieder so viele Fragen mit ins Bett nehmen. Ich drehe das Wasser auf und klettere vorsichtig darunter. Inmitten diesen sanften Schauers gelingt es mir, alle Gedanken von mir abzuschütteln. Für die nächsten Minuten zählt nichts mehr als diese Wärme, diese Düfte, dieses Rauschen … … dieses Rauschen … Schwarz. Alles schwarz um mich herum. Nichts. Leises Rauschen. Wasser. Kein Gefühl. Eine Stimme. Wer? „Ich wünsche mir noch eine Chance.“ Mir wird schwarz. Alles dreht sich in meinem Kopf. Es tut weh, mir wird übel. Unfähig, mein Gleichgewicht länger zu halten, taumle ich zurück. Kalte Fliesen drücken unnachgiebig gegen meinen Rücken. Um mich herum dieses Rauschen … Kapitel 21: Im Auftrag der Dämonenlady -------------------------------------- Ich gleite aus meinem Schlaf. Eine Zelle nach der anderen schaltet sich in meinem Kopf ein und lässt mich langsam zu Bewusstsein kommen. Ich denke an nichts. Mein Körper fühlt sich schwer an. Egal, ich bin müde. Reglos bleibe ich liegen, bis ein Ziehen in meinem Rücken verkündet, dass dies nicht die geeignetste Liegeposition ist. Verdammtes Hohlkreuz. Schwerfällig drehe ich mich auf die Seite und genieße den langen Moment, in dem der Schmerz von meiner Wirbelsäule ablässt. Gleichzeitig wird ein erstes Flimmern in meinem Kopf wach. Schnaufend und weit unter Schneckentempo stütze ich mich auf die Hände und stemme mich hoch. Mein Kopf dröhnt, als hätte ich ein Saufgelage auf Rechtschreibfehler mit Eri hinter mir. Ich fühle mich schummerig und bin froh, sicher auf weichem Polster zu sitzen. Es ist außerdem angenehm dunkel um mich herum, wofür ich dankbar bin. Während ich nach meinem Kopf fasse, merke ich, wie etwas meinen Oberkörper herunterrutscht. Schnell greife ich nach der Decke und wickle sie schluderig um mich. Etwas unbeholfen angle ich nach dem Handtuch und habe Mühe, es unter mir hervorzuholen. Die Fragen hämmern gegen meinen Schädel: Was ist hier los und wieso, zum Geier, bin ich nackt? Mein Blick geht zur Seite, von wo ich ein Gewicht auf der Decke bemerke. Ich erkenne Orion, den Kopf auf den Armen und die Augen geschlossen. Vor dem Bett sitzt er auf dem Boden und muss wohl bei seiner Wache eingeschlafen sein. Ich erkenne seinen Pullover mit der Öhrchenkapuze, welche unordentlich auf seinem Rücken liegt. Der Ärmste, wie lange hat er da wohl ausgeharrt und auf ein Lebenszeichen von mir gewartet? Die Haltung sieht nicht sehr bequem aus. Das bringt mich zu der Frage, wie spät es wohl ist. Und wo ist Ukyo gerade? Vielleicht nebenan in seinem Zimmer und schläft? So einfach wird sich das nicht beantworten lassen, wohl aber das Erste. Athletisch angle ich auf der Schrankablage nach meinem Handy. Ich nehme einige Verrenkungen auf mich, damit die Decke nicht verrutscht und ich Orion nicht versehentlich von der Matratze schubse. Ich schnaube erschöpft, als ich es endlich zu fassen kriege, und schalte sogleich das Display an. Das grelle Licht ist ekelhaft für meine müden Augen. Kurz vor drei. Mit anderen Worten: mitten in der Nacht. Kein Wunder, dass Orion pennt. Wie lange habe ich eigentlich geschlafen? Ich versuche mich zu erinnern. Es muss … wohl so gegen neun gewesen sein, als ich das Bewusstsein verloren habe. Wieso eigentlich? Ich war duschen gewesen und dann … Ja, und was ist dann eigentlich passiert? Bin ich zusammengeklappt, so richtig? Hat mich dann jemand aus der Duschkabine angeln und mich … Oh mein Gott! Wirklich? Ich schlage mir eine Hand vor den Mund. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, wie ich dagelegen haben muss. Habe ich geblutet? Mir etwas angeschlagen? Hat Ukyo mich etwa so gefunden und mich … Oh Gott! Kurz taste ich meinen Hinterkopf ab. Eine harte Beule schmerzt, aber sie ist klein. Sonst spüre ich nichts Verdächtiges. Meine Schulter schmerzt ebenfalls; dieselbe, die ich mir erst neulich in der Rangelei mit Ukyo angeschlagen hatte. Am Rücken scheint es zu gehen, Steiß wirkt in Ordnung. Arme und Hände sind okay, Beine ebenfalls. Ich wackle mit den Zehen, spüre aber nichts. Wie es aussieht, bin ich größtenteils unversehrt. Puh, Schwein gehabt! Ich werfe einen weiteren Blick auf mein Handy. Erst jetzt bemerke ich, dass mir ein Anruf in Abwesenheit angezeigt wird. Eine Textnachricht informiert mich darüber, dass mir jemand auf die Mailbox gesprochen hat. Ich tue die unbekannte Nummer als unwichtig ab und lege das Handy zurück an seinen Platz. Um diesen wen-auch-immer kann ich mich später immer noch kümmern, aber nicht jetzt mitten in der Nacht. Still verharre ich und lausche in die Dunkelheit. Bis auf Orions ruhiges Atmen höre ich nichts. Ich sehe zu ihm und muss doch lächeln, als ich sein schlafendes Gesicht betrachte. In einer behutsamen Geste hebe ich die Hand und streiche ihm über das Haar. Ich frage mich, wie lange er wohl durchgehalten hat, bis er weggedriftet ist. So ein tapferer Junge. Es muss anstrengend für ihn sein, in diesem neuen Körper zurechtzukommen. Vielleicht hätte er die Wache lieber Ukyo überlassen. Auf der anderen Seite … Meine Gedanken driften zu meinem Mitbewohner ab. Ich frage mich wirklich, ob er nebenan ist und gerade schläft. Zu gern würde ich aufstehen und nachsehen, wage es aber nicht. Vielleicht ist er auch im Wohnzimmer, wer weiß? Egal, solange er sich nicht wieder irgendwo herumtreibt. Ich wünsche mir wirklich, dass er zu Hause ist. „Du bist wach?“, höre ich Orions schlaftrunkenes Gemurmel. Ich sehe zu ihm und beobachte, wie er sich schläfrig die Augen reibt. „Habe ich dich geweckt?“ „Mh, mh“, macht er und schüttelt den Kopf. Ein herzhaftes Gähnen folgt. „Bin ich eingeschlafen? Wie spät ist es?“ „Drei Uhr nachts. Keine Zeit, um wach zu sein.“ Orions Blick geht zum Fenster, dann zu mir. Ich erkenne in seinem Gesicht, dass sein Zustand kaum als »wach« zu bezeichnen ist. „Bist du eben erst aufgewacht? Wie geht es dir?“ „Mir geht es gut, bis auf eine kleine Beule“, sage ich und lächle beschwichtigend. „Aber heben wir uns das für später auf. Ich bin müde, du nicht? Lass uns noch ein wenig schlafen.“ „Mh“, bestätigt er und dreht sich zur Seite. In einigen wenigen Hangriffen richtet er sein Bettzeug zurecht und rollt sich, wie er ist, unter die eigene Decke. „Ich bin froh, dass du aufgewacht bist.“ Ich nicke. „Ja, ich auch. Dank euch beiden.“ Damit mummle auch ich mich zurück unter meine Decke und sorge dafür, dass sie fest und sicher um mich gewickelt ist. „Gute Nacht, Orion.“   Es ist bereits hell, als ich das nächste Mal wach werde. Ich blinzle mehrere Male, nur um mich auf die andere Seite zu drehen. Erst Minuten später bin ich soweit bei mir, dass ich mich in meine Decke gewickelt aufsetzen kann. Ich starre ins Leere, wartend, bis mein Kopf sich vollständig hochgefahren hat. ‚Orion ist nicht da‘, ist das Erste, was mir bei einem Blick zur Seite auffällt. Diese Erkenntnis lässt mich nach meinem Handy greifen für eine zeitliche Orientierung. Kurz nach neun. Während ich mir neue Klamotten zusammensuche und mich ankleide, gehe ich in Gedanken den anstehenden Tag durch. Heute ist Mittwoch. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich heute keine Schicht im Meido. Ein Blick auf meinen Schichtplan bestätigt diesen Punkt. Das bedeutet, ich habe Zeit für mich. Vielleicht schaffe ich es endlich, mich um ausstehende Dinge zu kümmern. Kentos E-Mail, zum Beispiel. Oder ich gehe mal mit meinen Jungs weg. Ob Ukyo wohl da ist? Eine Salve angenehmer Gerüche empfängt mich, als ich die Zimmertür öffne. Es riecht verlockend nach Kaffee und frischen Brötchen. Jemand hat das Radio eingeschaltet, aus welchem leise Pop-Musik dringt. Eine einzige Zeile des Liedes fange ich auf, und sie könnte kaum treffender sein: Du schaffst dieses Gefühl, ganz wie zu Hause. „Shizana! Guten Morgen!“, höre ich Orion vom Wohnbereich rufen. Noch im selben Moment, wie es scheint, springt er auf und eilt schon zu mir herüber. „Hast du gut geschlafen? Sag, wie fühlst du dich? Hast du irgendwelche Schmerzen?“ „Mir geht es gut, alles noch dran. Guten Morgen.“ Flüchtig prüfe ich den Raum nach Ukyo ab. Lange muss ich nicht suchen, denn gerade erhebt er sich von einem der Stoffhocker. „Guten Morgen, Ukyo.“ „Guten Morgen“, spricht er leise und erwidert mein Nicken. Ich erkenne die Sorge in seinem Blick. „Tut mir leid wegen gestern“, beginne ich und sehe zu Boden. „Ich weiß nicht mehr wirklich, was passiert ist. Hattet ihr arg Schwierigkeiten wegen mir?“ „Du weißt nicht mehr, was passiert ist?“, springt Orion an. Ich sehe zu ihm. „Ich bin nicht sicher. Ich kann mich bis zu einem gewissen Punkt erinnern und ab dann an nichts mehr.“ „Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?“, will er wissen. Ich überlege kurz. „Hm, wir haben zusammen Abendbrot gegessen und dann habe ich mich mit Ukyo ausgesprochen. Danach war ich im Bad und … Ich glaube, ich bin unter der Dusche zusammengebrochen?“ „Weißt du noch, warum das passiert ist?“ „Ich … habe irgendetwas gehört. Oder nein, warte. Ich hatte einen Flashback und danach war alles schwarz.“ „Einen Flashback?“ „Eine Art Déjà-vu“, erkläre ich. Mein Blick wird zweifelnd. „Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Ich stand unter dem Wasser und das hat irgendetwas in mir getriggert.“ „Eine Erinnerung?“ „Ausgeschlossen“, weise ich zurück. Hilfesuchend sehe ich zu Ukyo. „Ich meine, ich bin doch ich? Ich kann mich an alles vor … dem Ganzen hier erinnern. Das würde keinen Sinn machen. Es muss etwas anderes gewesen sein.“ „Hattest du danach Kopfschmerzen?“, drängt Orion weiter, was ich bejahe. „War dir übel? Wurde dir schwindelig? Hattest du das Gefühl, als hätte dir gerade jemand mit der Eisenpfanne auf den Kopf geschlagen?“ „Rede bitte nicht über Eisenpfannen“, flehe ich in Erinnerung an den Zwischenfall, der sich gestern auf Arbeit ereignet hatte. Ich kann von Glück reden, dass ich nicht erfahren musste, wie sich das anfühlt. Und diese Erfahrung will ich wahrlich nicht aufholen. „Aber ja, so in etwa können wir’s stehen lassen. Und es war nicht das erste Mal.“ „Bitte entschuldige … Was hast du in diesem Flashback gesehen?“ „Nichts“, antworte ich prompt. „Ich habe nur etwas gehört, sofern man das so sagen kann. Jemand sagte, er wünsche sich noch eine Chance.“ Darauf wird es still. „Hey“, werfe ich zögerlich in dem Schweigen ein, „darf ich vielleicht auch etwas fragen?“ „Klar, was denn?“, begegnet mir Orion aufgeschlossen. Ich zögere. „Uhm, nun ja … Ich bin in der Dusche zusammengebrochen. Wie … bin ich in mein Zimmer …?“ „Ah, das? Nun, weißt du, Ukyo hat –“ „Ah!“ Ukyos Ausruf lässt Orion erschrocken zusammenfahren. Kurz sieht er zu ihm, bevor er sich wild gestikulierend an mich richtet und zu erklären versucht: „A-aber es ist nicht, wie du denkst! Ich war dabei, er hat wirklich nichts Unanständiges getan! Er hat nur … mit dem Handtuch …“ „Hört auf!“, ruft Ukyo dazwischen und tritt nach vorn. Ich glaube, seine Wangen nie so rot gesehen zu haben. „K-können wir nicht einfach frühstücken? Ich … ich habe Kaffee gekocht und … die Brötchen werden bestimmt gerade kalt.“   Es gleicht einem Wunder, dass wir ein gesittetes Frühstück zustande bringen. Der Ausgang unseres letzten Gesprächs war nicht gerade angenehm gewesen, für keinen von uns. Selbst jetzt noch spüre ich, wie dieses penetrante Kribbeln in meine Wangen zurückkehren will. Dieses peinliche Thema will mir nicht aus dem Kopf, doch ich mahne mich, nicht länger daran zu denken. „Ach so“, wirft Orion irgendwann ein, „jemand hat gestern versucht dich anzurufen. Wir kannten die Nummer nicht, deswegen haben wir nicht angenommen. Hast du es schon gesehen?“ „Ach ja?“ Stimmt, da war ja was. „Ich habe es die Nacht kurz gesehen, ja. Aber es war wohl keiner meiner gespeicherten Kontakte. Ich weiß nicht, wer mich sonst noch anrufen könnte.“ „Vielleicht die Agentur?“, mutmaßt Ukyo, was mir Fragezeichen beschert. „Sie haben sich lange nicht mehr gemeldet, oder? Vielleicht geht es um den Auftrag.“ „Ah, du meinst das Ghostwriting?“ „Es könnte wichtig sein.“ „Wenn es die Agentur war, ist es bestimmt wichtig“, setzt Orion nach. Aufgeregt sieht er mich an. „Hast du nachgesehen, ob sie dir geschrieben haben? Vielleicht hast du vergessen auf eine E-Mail von ihnen zu antworten.“ „Ich hatte eine Sprachnachricht auf der Mailbox, wenn ich mich recht erinnere“, sage ich zögernd. Nach einem Moment sehe ich zu ihnen auf. „Ist es okay, wenn ich eben mein Handy herhole?“ Ich erhalte keinen Widerspruch, weswegen ich mein Vorhaben in die Tat umsetze. Keine zwei Minuten später sitze ich wieder am Tisch und wähle die Mailbox, um die hinterlassene Nachricht abzuhören. „Hier ist Rika“, verkündet mir die klare Frauenstimme direkt in mein Ohr. Ihr vornehmer Klang lockt eine Gänsehaut über meine Arme. „Wir müssen reden, es ist wichtig. Dein Rückruf hat oberste Priorität. Du entnimmst meine Nummer dem Gesprächsprotokoll. Enttäusch mich nicht.“ – Klick. Keine weiteren Nachrichten. „Und? Wer war es?“, möchte Ukyo wissen. Ich lege das Handy vor mir ab, ohne aufzusehen. „Rika.“ „Rika?“ „Rika? Etwa die Dämonenlady?“ „Orion!“ Orions Kommentar lässt mich auflachen. „Dämonenlady? Sehr treffend, Orion, wirklich.“ „Was könnte ausgerechnet sie denn von dir wollen?“ „Ich weiß es nicht.“ „Was hat sie gesagt?“, will Ukyo wissen. „Ich soll sie zurückrufen. Keine Ahnung, wieso. Es soll wohl wichtig sein.“ „Wichtig?“ „Bestimmt hat es etwas mit Luka zu tun!“, bauscht Orion auf. „Ganz bestimmt hat es etwas mit ihm zu tun! Wieso sonst sollte sie dich wegen etwas anrufen, das so wichtig ist?“ „Hm, möglich. Etwas anderes fiele mir spontan auch nicht ein.“ „Du solltest sie zurückrufen“, bringt Ukyo an, was mich entsetzt zu ihm sehen lässt. Ich erkenne Zurückhaltung auf seinen Zügen, was mich wenigstens ein bisschen beruhigt. „Was, wenn es wirklich etwas Dringliches ist? Du solltest sie zumindest fragen, worum es geht. Damit kann man niemandem wehtun, oder nicht?“ Allein der Gedanke, seinem Anraten zu folgen, löst in mir jedes denkbare Widerstreben aus. „Ich bin nicht begeistert“, murre ich leise. „Ich weiß, aber … Wäre es nicht schlimmer, es nicht zu tun?“ Ich hasse es, wie er mich zu bereden versucht. Und ich hasse es, zu wissen, dass er recht hat. Mein innerer Schweinehund kläfft wütend. „Ich will nicht“, beharre ich flehend. Ukyo lächelt verständnisvoll. Und ich, ich bin besiegt. „Na schön“, seufze ich widerstandslos. „Ich werde sie anrufen. Auf deine Verantwortung!“ Es kostet mich Überwindung, das Handy zur Hand zu nehmen und die unbekannte Nummer herauszusuchen. Laut Historie hat sie in der Nacht gegen halb eins angerufen. Hat die Frau ‘n Rad ab? Es gibt Menschen, die müssen am frühen Morgen raus und schlafen um diese Zeit längst! Es ist das längste und zäheste Tuten, das ich jemals gehört habe. Einmal, zweimal … „Hallo, hier spricht Rika. Wer ist da?“ „Hier ist Shizana, guten Morgen. Du hattest mich angerufen?“ „Oh, Shizana-san“, nimmt ihre Stimme einen helleren Klang an. Unwillkürlich lege ich meinen freien Arm um meinen Bauch. „Das habe ich, in der Tat. Wie gut, dass du die Zeit gefunden hast.“ „Worum geht es?“, treibe ich höflich an. Meinetwegen können wir direkt zum Punkt kommen. Ich bin wahrlich nicht auf Smalltalk mit ihr aus. „Du hast recht, ich habe nicht viel Zeit“, spielt sie mir zu, wofür ich den arroganten Ton in ihren Worten zu gern ignoriere. „Gestatte mir, wenn ich direkt zum Thema komme. Hatten du und mein verehrter Bruder in der vergangenen Zeit Streit?“ „Streit? Luka und ich?“ Mein Blick geht prüfend zu Ukyo und Orion. Beide beobachten mich aufmerksam. „Nein, nicht dass ich wüsste. Wieso? Wie kommst du darauf?“ „Ich war gestern bei meinem verehrten Bruder zu Besuch“, beginnt sie zu erzählen, was mich beherrscht durchatmen lässt. „Ich hatte den Abend zuvor nichts von ihm gehört, was mich sorgen ließ. Als ich ihn am Tage sah, wandte er sich von mir ab, bevor ich zu ihm sprechen konnte. Ein solches Verhalten, es ist äußerst ungewöhnlich für meinen Bruder.“ Ich rolle mit den Augen. Was bitte hat das mit mir zu tun? Sie fährt fort: „Zum Abend saßen wir beim Tee zusammen und ich erfuhr, dass er dich den Abend zuvor zum Essen ausgeführt hat. Jedoch, wie mir schien, hat es ihn nicht so erfüllt wie die Male zuvor.“ Moment mal. Höre ich da einen Vorwurf heraus? „Shizana-san“, klingt ihre Stimme glatter als bislang. „Ist an jenem Abend etwas zwischen dir und meinem Bruder vorgefallen?“ Ich krause die Stirn in Skepsis. „Nicht dass ich wüsste.“ „Er wollte mir nichts erzählen. Es ist wirklich betrüblich“, betont sie, meines Erachtens zu sehr. „Aber ich sehe meinem Bruder an, wenn ihn etwas bekümmert. Du als seine geschätzte Freundin, müsstest du nicht wissen, was der Grund dafür ist?“ „Tut mir leid, ich weiß es nicht.“ „Wirklich? Das ist zu bedauerlich“, höre ich sie seufzen. „Wenn es nichts mit dir zu tun hat, was mache ich dann nur? Ich ertrage es nicht, meinen geliebten Bruder unglücklich zu sehen.“ Was soll das hier eigentlich werden? Versucht sie mir irgendetwas einzureden? Ich fühle mich wie im Verhör, dabei habe ich gar nichts verbrochen! „Luka-san und ich hatten keinen Streit“, verdeutliche ich in aller Ruhe. Die Wut, die aufgrund ihrer Unterstellung in mir brodelt, halte ich mit aller Mühe in mir zurück. „Ich weiß nicht, vielleicht gab es da ein Missverständnis? Ich kann dir anbieten, dass ich mit ihm rede. Aber ich kann nicht versprechen, dass es etwas mit mir zu tun hatte.“ „Dann tu das, bitte.“ Ich grolle bei ihrem bestimmenden Ton. Nur der Fakt, dass ihre Stimme um ein Weiteres kühler geworden ist, hält mich davon ab, meinem Trotz zu verfallen. „Ich will nur, dass mein geehrter Bruder glücklich ist. Und wenn dies bedeutet, dass sein Glück aus dir besteht, dann sei dem so.“ „Ich werde ihn direkt im Anschluss unseres Gesprächs anrufen.“ „Nein, such bitte das persönliche Gespräch mit ihm“, gibt sie mir vor. „Mein Bruder wird heute den ganzen Tag in seinem Atelier zu finden sein. Ich nehme an, die Adresse ist dir bekannt?“ „Bedauere“, verneine ich brummig. „Oh, wirklich nicht? Kein Problem, ich nenne sie dir. Mein Bruder wird gewiss nichts dagegen haben, wenn ich bei seiner Freundin eine Ausnahme mache.“   Nach zwei weiteren Minuten ist es überstanden. Ich bin um eine Adresse reicher und eine Würde ärmer, als ich das Handy zur Seite lege. Rika hat mich ihr versichern lassen, dass ich ihren Bruder noch heute besuchen werde. Im Anschluss erwartet sie meine Rückmeldung, wie das Gespräch verlaufen ist. Wie krank ist das, bitte? Mit welchem Recht kann sie die Freundin ihres Bruders so bevormunden? Ich schwöre es, wenn diese Beziehung nicht nur fake wäre … „Und?“, fragt Ukyo an. „Was ist herausgekommen?“ „Es ging also doch um Luka! Habe ich es nicht gesagt?“ Ich seufze schwer. „Das meiste habt ihr wahrscheinlich eh mitbekommen. Rika denkt, dass Luka und ich gestritten haben.“ „Habt ihr das denn?“ „Nein“, betone ich an Ukyo gewandt und besehe ihn scharf. „Nicht dass ich wüsste, wie ich es schon sagte. Eigentlich bin sogar ich es, die auf eine Rückmeldung von ihm wartet. Allerdings … kann es gut sein, dass er da etwas in den falschen Hals bekommen hat.“ „Was meinst du?“ Ich sammle mich in einem tiefen Durchatmen. „Es gibt da etwas, das ich euch beiden bislang verschwiegen habe. Ich wollte euch keine weiteren Sorgen bereiten.“ Darauf sehe ich hoch und prüfe jeden Einzelnen von ihnen. Ihre Gesichter sind fragend, sehr zu Recht. „Es ist eigentlich nichts Dramatisches. Den Abend, als ich mit Luka aus war – also vorgestern –, hat er mich gefragt, ob ich bei ihm übernachten möchte. Ich habe sein Angebot ausgeschlagen aus mehreren Gründen. Danach wirkte er ein wenig distanziert, aber nicht wirklich niedergeschlagen. Ich kann nicht einmal sagen, ob ihn meine Ablehnung irgendwie verletzt hat. Seitdem warte ich auf Nachrichten von ihm, aber er schreibt nicht mehr.“ Darauf wird es still am Frühstückstisch. Ich will etwas fragen, da kommt mir Orion zuvor: „Du solltest bei ihm übernachten? Nie im Leben hatte der anständige Absichten! Wenn ich dagewesen wäre, ich hätte ihn –“ „Orion“, fällt ihm Ukyo beherrscht ins Wort. „Bitte, beruhige dich.“ „Ukyo hat recht“, stimme ich meinem Mitbewohner zu. „Es war wirklich nichts Bewegendes. Und wir wollen ihm nichts unterstellen, was am Ende nicht stimmt. Vielleicht wollte er ja einfach nur herausfinden, wie weit wir schon in unserer Beziehung sind.“ Orion lässt sich in seinem Stuhl zurückfallen und verschränkt die Arme. „Es war richtig, dass du nicht zugesagt hast“, befindet er mit geblähten Backen. Ich nicke. Ja, das finde ich auch. „Und du meinst, das hat ihn vielleicht verletzt?“ „Ich nicht, sondern Rika“, korrigiere ich Ukyo. „Sie ist der festen Überzeugung, sein niedergeschlagener Zustand habe mit mir zu tun. Ich habe versprochen, mit ihm zu reden. Ich werde ihn nachher besuchen gehen.“ „Was?“, fährt Orion hoch. Er ist sichtlich entsetzt von meinem Beschluss. „Du willst wirklich zu ihm nach Hause? Ganz allein?“ „Ich kann kaum mit Bodyguards bei ihm aufwarten“, erkläre ich. „Das würde ein sehr seltsames Bild ergeben.“ „Ich bin auch nicht dafür, dass du allein hingehst“, vertritt Ukyo. Ich seufze aus voller Brust. „Können wir vielleicht erst in Ruhe fertig frühstücken? Ich lasse mir schon etwas einfallen.“   Als Ausgleich für das Frühstück, das die Jungs hergerichtet haben, bediene ich den Abwasch. Viel Geschirr gibt es nicht zu spülen, trotz dass wir drei Personen sind. Die Arbeit geht mir schnell von der Hand, was ich fast bedauere. Zu gern würde ich länger hinauszögern, was heute noch vor mir liegt. „Brauchst du Hilfe?“ „Nein, ich bin fertig“, gebe ich an Ukyo zurück, der sich an meiner Seite eingefunden hat. Ein kurzer Blick durch die Küche zeigt mir, dass alles ordentlich eingeräumt ist. „Seid ihr mit dem Abräumen schon fertig?“ „Ja. Orion ist gerade im Bad.“ „Mhm.“ Ich lasse das Wasser ab und greife nach einem Handtuch, um meine Hände zu trocknen. Ukyo hat derweil begonnen, mit einem Geschirrtuch das Geschirr zu trocknen. Ich schließe mich dieser Aufgabe an. „Du, wegen gestern“, setze ich an, ohne mein Tun zu unterbrechen. „Ich bin gar nicht dazu gekommen, mich nochmal zu bedanken. Das Gespräch hat sehr gut getan und hat mir sehr geholfen. Danke dafür.“ „Nicht der Rede wert“, begegnet er mir mit einem freundlichen Lächeln. „Ich freue mich, wenn ich helfen konnte. Wenn ich weiterhin helfen kann, sag es mir bitte.“ „Ich müsste mich demnächst damit auseinandersetzen, was es mit dieser zweiten Arbeit auf sich hat. Und mein Geldbeutel sieht allmählich etwas mau aus. Ich hoffe, Waka zahlt demnächst ein wenig Lohn. Aber darauf kann ich zu Monatsanfang wohl eher nicht hoffen, hm?“ „Ach, das weißt du ja gar nicht. Du hast noch Erspartes.“ „Ach wirklich?“, frage ich überrascht. Er nickt zuversichtlich. „Es dürfte noch ausreichend für den übrigen Monat sein. Ich zeige es dir später, okay?“ „Das wäre gut. Danke.“ „Keine Ursache.“ Schweigen kehrt zwischen uns ein, während wir die restlichen Teller und das Besteck trocknen. Ich komme nicht umhin, Ukyo stumm von der Seite zu mustern, als er das Geschirr in die Schränke sortiert. „Wie geht es deinem Rücken?“ Fragend sieht er zu mir. „Meinem Rücken? Wieso?“ „Du hast dir doch bestimmt ‘n Bruch gehoben. Gestern.“ „Gestern?“ Ich beobachte auf seinem Gesicht, wie es in ihm arbeitet. Sekunden später scheint er zu verstehen und seine Wangen gewinnen an Farbe. „Du meinst, als ich …? N-nein, du bist … Können wir das bitte vergessen?“ „Sorry“, lache ich und nehme ihm das Geschirrtuch ab. Gewissenhaft hänge ich sie über ihre Halterung zum Trocknen. „Eigentlich sollte ich dich nicht damit aufziehen. Ich … bin dir dankbar. Egal, wie peinlich die Situation war. Danke, Ukyo.“ Er sieht von mir weg. Ich könnte mich irren, doch es wirkt, als schleiche ein trauriger Schatten über sein Gesicht. „Es gibt wirklich keinen Grund, mir zu danken.“ Ich weiß nicht, was er hat. Sein Flüstern ist so leise gewesen, dass ich ihn nicht verstanden hätte, hätte ich nicht direkt neben ihm gestanden. Auch wenn mich die Neugierde quält, ich befinde, besser nicht weiter nachzubohren. Am Ende mache ich es nur schlimmer. Was auch immer es ist. „Wegen der Sache mit Luka“, lenke ich daher um, „ich habe darüber nachgedacht. Ich möchte dich gern um einen Gefallen bitten.“ Ich warte, bis er mich ansieht, ehe ich fortfahre: „Ich würde gern Orion mitnehmen. Ist das okay für dich?“ „Orion? Ja, natürlich“, sagt er schnell. Er wirkt erleichtert, als er schwach lächelt. „Um ehrlich zu sein, ich wollte dich dasselbe bitten. Mir wäre es unlieb, wenn du allein gehst.“ Ich nicke verstehend. „Okay, dann machen wir’s so. Ich werde ihn gleich fragen, wenn er aus dem Bad kommt.“ „Danke.“ Ich beobachte ihn, wie er sich einen Espresso brüht. Als er sich anschließend in Richtung Wohnzimmer entfernt, folge ich ihm versetzt. Auf einer der Couchlehnen ihm gegenüber lasse ich mich nieder, wartend, wobei ich sein Gesicht studiere. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst müde aus“, spreche ich ihn an. Fragend sieht er auf, bevor er ein verlegenes Lächeln zeigt. „Ich habe die Nacht nicht gut geschlafen. Ich werde das nachholen, sobald ihr beiden weg seid.“ „Mhm.“ Still frage ich mich, ob sein Schlafmangel wohl auf mich zurückzuführen ist. Das muss es wohl, schließlich habe ich vergangene Nacht für ausreichend Tumult gesorgt. Verdammtes Gewissen! „Ich bin fertig“, höre ich Orion rufen. Sofort erhebe ich mich und gehe auf den Jungen zu. „Du, Orion? Darf ich dich um etwas bitten?“   Die genannte Adresse führt Orion und mich ins Stadtinnere. Etwas ratlos arbeiten wir uns über verschiedene Bahnlinien voran und irren durch mehrere Straßen. Am Ende stehen wir vor einem grauen Hochhaus, an dem wir zuerst dreimal vorbeigelaufen sind. Ich hätte schwören können, dass es sich dabei um ein Hotel oder modernes Büro handelt, doch nein. Noch einmal prüfe ich den Zettel in meiner Hand und schaue das mindestens zehn Stockwerk hohe Gebäude hinauf. „Das ist es? Sicher?“ „Wir sind alle Straßen in der Nähe abgelaufen“, meint Orion neben mir. Verdeutlichend hebt er den Arm. „Schau, dort steht die Hausnummer. Das muss es sein.“ „Ich hätte mir vorgestellt, dass ein Künstler wie Luka etwas … abgelegener wohnt?“ „Tja …“ Ich seufze. „Alles okay? Noch können wir umkehren und so tun, als seien wir nie hier gewesen.“ Ich lächle zu ihm runter. „Bisschen spät dafür, hm? Dann wären wir ganz umsonst hergekommen und hätten den ganzen Stress für nichts auf uns genommen. Außerdem … halte ich das für keine gute Idee.“ „Wegen Rika?“ „Mh.“ Ich nicke. „Ich soll ihr sagen, was rausgekommen ist. Ihr am Ende nichts sagen zu können, halte ich für nicht so klug.“ „Hast du Angst vor ihr?“ „Sagen wir, ich habe einen gesunden Respekt vor ihr. Außerdem denke ich nicht, dass mich ein Gespräch mit Luka umbringen wird.“ „Ja. Wohl nicht, hm?“ Noch einmal prüfe ich die notierte Anschrift auf meinem Zettel, ehe ich diesen in meiner Manteltasche verschwinden lasse. „Ab hier muss ich wohl allein weiter“, sage ich und richte meine Umhängetasche über die Schulter zurecht. Absichernd sehe ich zu Orion herunter. „Kannst du hier bitte irgendwo auf mich warten? Ich versuche, mich zu beeilen. Es kann aber sein, dass ich unter einer halben Stunde bis Stunde nicht wieder raus bin. Abhängig davon, wie lange mich Luka in Beschlag hält.“ „Kein Problem“, versichert er mir und lächelt. „Ich werde hier sicher etwas finden, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich schaue, dass ich in der Nähe bleibe. Und sollten wir uns nicht finden, rufst du mich auf Ukyos Nummer an. Dann finden wir uns ganz bestimmt.“ Ich nicke. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, dass ich ihn anrufen muss. Wie gut, dass Ukyo weiter gedacht hat als ich. „Und wenn etwas ist“, sagt Orion weiter, „wenn du Hilfe brauchst oder eine Gelegenheit zur Flucht, ruf ebenfalls an. Kurz klingeln reicht. Ich hole dich dann da raus, egal wie. Versprochen!“ Seine Worte lassen mich lächeln. „Ja, ich vertraue darauf. Aber hoffen wir, dass es nicht so weit kommen muss.“ Wir verabschieden uns anschließend und ich sehe zu, wie Orion über die Straße verschwindet. Erst dann drehe ich mich herum und trete auf die Anlage zu, um diese Mission nur irgendwie hinter mich zu bringen. Bei den Klingeln stutze ich. Es sind keine Namen angebracht, lediglich vor jedem Knöpfchen steht eine Ziffer. Zur Vorsicht prüfe ich noch einmal den Zettel, bevor ich meine Wahl treffe. Ich warte. Gerade als ich erneut klingeln will, meldet sich eine männliche Stimme durch die Sprachanlage: „Ja, wer ist da, bitte?“ Ich schlucke. „Hi. Hier ist Shizana.“ „Shizana? Du?“ Er ist hörbar überrascht. Wie es scheint, hat er mit einem Besuch von mir nicht gerechnet. „Was führt dich denn hierher?“ „Sagen wir, ich wurde gebeten, vorbeizukommen.“ „Gebeten? … Ich komme sofort runter. Warte bitte drinnen auf mich, in Ordnung?“ Darauf ertönt ein Surren und ich werde eingelassen. Das Foyer ist groß und erinnert mich tatsächlich ein wenig an ein Hotel. Einen Empfang gibt es nicht, stattdessen sorgen Topfpflanzen und ein kleiner Wandbrunnen für ein freundliches Ambiente. Der dunkle Boden sieht edel aus und glänzt, könnte Marmor sein. Die Wände hingegen sind hell und mit funkelnden Schwarzflecken versehen. Linkerhand gibt es einen Fahrstuhl, der gerade in Bedienung zu sein scheint. Rechterhand führt eine Treppe sowohl nach oben als auch nach unten. Weiter hinten scheint es Abbiegungen zu den Seiten zu geben, vermutlich für Wohnungen. An der Decke entdecke ich zwischen der reich eingelassenen Beleuchtung ein blinkendes, schwarzes Etwas. Könnte ein Überwachungssystem sein oder vielleicht doch nur ein Rauchmelder? Neben mir blingt es einmal und als ich mich herumdrehe, geht gerade die Tür zum Fahrstuhl auf. Ein wohlbekannter Blondschopf tritt heraus und direkt auf mich zu. „Bitte entschuldige, falls ich eben unhöflich zu dir war. Ich habe nicht mit dir gerechnet“, erklärt sich Luka mir. Ich schüttle den Kopf. „Schon gut, du warst nicht unhöflich. Ich hätte mich auch lieber zuvor angekündigt, wenn die Umstände andere gewesen wären.“ „Ist etwas vorgefallen? Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Nicht direkt“, sage ich und überlege, wie ich ihm mein Anliegen schildern soll. „Zumindest glaube ich, dass nichts ist. Deswegen bin ich hier, um das herauszufinden.“ Luka besieht mich fragend. Verübeln kann ich es ihm nicht, ich an seiner Stelle wäre ebenfalls verwirrt gewesen. „Ich verstehe nicht wirklich, was du meinst“, gesteht er, versieht es jedoch mit einem Lächeln. „Aber ich wäre erfreut, wenn du es mir erklärst. Magst du nicht mit rauf kommen auf eine Tasse Tee? Vielleicht kann ich dir doch behilflich sein.“ Ich nicke zustimmend und folge Luka in den Fahrstuhl. Es geht hinauf bis in die zwölfte Etage.   „Rika also“, greift Luka unsere kurze Unterhaltung vom Fahrstuhl auf, als er die Tür zu seinem Apartment aufschließt. „Was für eine aufmerksame Schwester. Dass sie dir meine Adresse geben würde, damit hätte ich nicht gerechnet.“ „Sie war wohl besorgt um dich.“ „Ist das nicht großartig? Rika ist immer so umsichtig mit mir. Welch bessere Schwester könnte man sich wünschen?“ Er lobt sie zu sehr, in meinen Augen. Schließlich scheint er zu vergessen, dass sie mich gedrängt hat, extra hierher zu kommen. Aber gut, noch habe ich ihm nicht gesagt, warum ich tatsächlich hier bin. „Fühl dich ganz wie zu Hause. Warte, ich nehme dir den Mantel ab. Ich zeige dir gleich alles.“ Kommentarlos lasse ich mir den Mantel abnehmen und schlüpfe aus meinen Schuhen. Im Anschluss folge ich Luka, der mich in den nächsten Raum führt. „Und, was sagst du? Ich hoffe, es ist nicht zu unordentlich.“ Verneinend schüttle ich den Kopf. „Es ist nicht unordentlich. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.“ Es stimmt. Der Raum ist groß, nur gering kleiner als das Wohnzimmer von Ukyo und mir. Die Wände sind hell und mit vielen bunten Bildern geschmückt. Anders als bei uns handelt es sich hierbei überwiegend um Gemälde in verschiedenen Stilen. Zwischen ihnen stehen vereinzelte Skulpturen, einige aus Gips und unbemalt, andere aus Ton und hochverziert. Auf verschiedenen Regalbrettern erkenne ich weitere Figuren, von Holz bis Stein scheint alles dabei zu sein. Manche davon haben eine so seltsame Form, dass ich nicht genau weiß, was sie eigentlich darstellen sollen. Und es gibt Pflanzen, in Hülle und Fülle. Der Raum selbst, so zugestellt er auch ist, ist wenig eingerichtet. Es gibt eine große Rundcouch, die den meisten Platz an der Fensterfront einnimmt. Sie scheint mir aus hellem Leder zu bestehen, ist aber größtenteils blau ausgepolstert. Viele Kissen, überwiegend schwarz und weiß bezogen, schmücken den Platz aus. Davor liegt ein weich aussehender Teppich aus hellem Langflor, auf welchem wiederum ein niedriger Glastisch steht. Auf ihm liegen allerlei Zeitschriften, Blöcke und Stifte außerhalb ihrer Halter verteilt. Das scheint mir das Einzige zu sein, was einigermaßen unordentlich wirkt. In der Nähe steht ein Fernseher, nicht sehr groß und ausgeschaltet. Das war’s. „Sieh dich ruhig um“, ermuntert mich Luka und geht an mir vorbei. „Es gibt nichts, was du dir nicht ansehen darfst. Kunst ist etwas Belebendes, nicht wahr? Was kann ich dir anbieten? Tee, Kaffee?“ „Ist mir egal“, sage ich und gehe weiter in den Raum hinein. Es gibt in diesem Zimmer so viel zu entdecken, dass ich sicher bin, mich locker Stunden rein mit Umsehen beschäftigen zu können. „Meinetwegen kann’s auch Wasser sein. Was du dahast.“ „Dann stört dich Kaffee hoffentlich nicht? Ich habe vorhin welchen aufgesetzt.“ „Ist okay. Mit Milch, wenn’s geht?“ Mit einem bestätigenden Zuspruch verschwindet Luka durch irgendeine Tür. Ich nutze die Zeit, um mich weiter in dem Zimmer umzusehen. Von irgendwoher dringt leise Musik und erfüllt den Raum mit klassischen Klängen. Es dauert ein wenig, bis ich den kleinen CD-Spieler entdeckt habe, der weiter oben auf einem der Regale steht. Er ist mit einem Soundsystem verbunden, das mehrere Boxen im gesamten Raum verbindet. Ich versuche mir den Surround vorzustellen, wenn ich meine Lieblingstracks in erhöhter Lautstärke darüber laufen lassen könnte. Bei der Couch entdecke ich eine Kommode im tiefen Mahagoni, die meine Aufmerksamkeit erregt. Keine Kunstwerke befinden sich darauf, sondern Fotografien. Allesamt schön eingerahmt und über Decken und kleine Podeste aufgestellt. Sie zeigen alle eine bestimmte Person: Rika. Mal im viktorianischen Stil, mal im farbenfrohen Kimono, auch schlichte Yukata und eine Schuluniform befinden sich darunter. Es scheinen Fotos aus verschiedenen Jahren zu sein; auf einigen schätze ich Rika nicht älter als vierzehn, bei anderen um die achtzehn. Es gibt nur zwei Bilder darunter, auf denen auch Luka zu sehen ist. Ihre Ähnlichkeit ist verblüffend, das wird deutlich, wenn beide nebeneinander gestellt sind. Zwischen den Fotos stehen einige Klappkarten. Neugierig nehme ich eine zur Hand und erkenne, dass es sich dabei um Gruß- und Geburtstagskarten handelt. Alle mit handschriftlichen Grüßen versehen. Rikas geschwungene Unterschrift ziert in jeder von ihnen. Sie hat eine wirklich beneidenswerte Handschrift, so kunstvoll und feminin. „Hier“, höre ich Luka neben mir sagen und schrecke zusammen. „Dein Kaffee.“ „Danke“, sage ich und stelle die Karte zurück, die ich eben noch bewundert habe. Anschließend nehme ich die Tasse entgegen, die Luka mir anbietet, und nippe vorsichtig an dem aromatischen Getränk. „Du hast wirklich viele Fotos von Rika. Ich konnte nicht widerstehen.“ „Viele halten sie für meine Freundin“, erklärt er und lacht, was mir einen kurzen Stich versetzt. „Oder ein Model. Sie hat einfach die Ausstrahlung dafür, findest du nicht?“ Darauf will ich nicht antworten. Es ist krank genug, seine eigene Schwester als »Freundin« zu bezeichnen und auch noch stolz darauf zu sein. Merkt er überhaupt noch, wie versessen er ist? Krank. „Da fällt mir ein“, schwenkt er um, „ich hatte dir versprochen, dir meine Arbeit zu zeigen, wenn du einmal zu Besuch kommst, richtig?“ Fragend sehe ich zu ihm auf. „Ich denke schon?“ „Das trifft sich sehr gut“, sagt er und strahlt mir breit entgegen. „Ich habe erst ein neues Kunstwerk vollendet. Vielleicht magst du es dir ansehen?“   Über einen Seitenbereich der Wohnung führt eine kleine Treppe auf eine andere Etage. Eine Tür trennt diesen Bereich vom Rest des Wohnraumes, was erklärt, warum ich nirgendwo Farbe riechen konnte. Doch hier ist es anders, kaum dass Luka den Raum für mich entriegelt hat. Der Geruch von Farbe ist hier allgegenwärtig. Der Raum ist klein, sicher keine zehn Quadratmeter, und extrem lichtdurchflutet. Überall hängen Gemälde, einige stehen am Boden gegen die Wand gelehnt, und ich erkenne eine große Staffelei an einem Ende des Raumes. Ein geräumiger Holztisch nimmt fast eine komplette Wandseite ein, der über und über voll Stifte, Papierbögen und Zeichengeräte ist. Über mehrere Wandregale stehen Töpfchen und Dosen von Farben, Paletten und andere Behälter. In den Ecken lehnen verschiedene Rollen, an einer erkenne ich Leinwandmaterial, und riesige Pappkartons. Alles hier schreit geradewegs nach Kunst, schlimmer als ich es zu Schulzeiten je erlebt habe. „Schau, hier drüben“, erregt Luka meine Aufmerksamkeit und führt mich in die Mitte des Raumes. Neben der Staffelei ist ein Bild auf ausgelegtem Zeitungspapier aufgestellt. Es zeigt ein Motiv, das mir bekannt vorkommt: zwei geflügelte Frauenwesen mit großen, prachtvollen Pflanzen um sie herum. „Was hältst du davon? Ich habe bei den Farben ein wenig experimentiert. Denkst du, es ist zu viel geworden?“ „Nein“, sage ich und schüttle den Kopf. „Die Farben sind umwerfend. Das Rot inmitten von Grün ist ein richtiger Blickfänger. Und dort hinten das vereinzelte Blau, ich finde es großartig.“ „Wirklich? Welch Glück.“ „Hast du an den Feen etwas verändert? Ich könnte schwören, auf den Skizzen hatten sie noch anders ausgesehen.“ „Ja, in der Tat.“ Luka geht die wenigen Schritte zu dem Tisch und beginnt in einem der Schubläden zu kramen. Mit einem Blatt in der Hand kehrt er kurz darauf zu mir zurück. „Ich finde, du hattest recht. Fantasiewesen wie Feen dürfen in ihrer Darstellung gelegentlich variieren. Ich habe ihre Formen verändert, sie haben jetzt mehr Bezug zu ihrer Umgebung. Schau, dieser hier zieren feine Äderchen die Haut, wie bei einem Blatt. Und hier, in ihrem Haar sind Pollen eingefangen. Hältst du die schorfen Stirnhöcker für übertrieben?“ „Ich finde es authentisch“, sage ich und lächle. „Sie wirken jetzt viel natürlicher und weniger verschönlicht. Du hast einen sehr guten Job gemacht.“ „Es freut mich, dass es dir gefällt.“ Während mir Luka erklärt, wie er bei seiner Arbeit vorgegangen ist, stört irgendwann ein Anruf seine Ausführungen. „Ein Kunde“, erklärt er mir, nachdem er einen kurzen Blick auf sein Handy geworfen hat. „Macht es dir etwas aus, kurz zu warten? Ich bin gleich zurück.“ Schon verlässt er das Zimmer und lässt mich in seinem Atelier zurück. Ich nutze die Zeit, mir einige seiner Kunstwerke näher anzusehen. Die Motive sind vielfältig und reichen von realem Stillleben bis zur freien Kunst. Eines haben sie alle gemeinsam: sie sind reich an Details und kräftigen Farben. Ich finde kein Einziges, das in irgendeiner Form untergeht. Er muss ein beneidenswerter Künstler sein. Während ich meine Runde drehe, gelange ich irgendwann zu einem kleinen Ecktischchen. Er wäre leicht zu übersehen gewesen, um ihn herum lehnen weitere Rollen und gestapelte Kleinkartons. Auf ihm entdecke ich etwas, was in dieser Wohnung Mangelware zu sein scheint: ein kleines Büchlein. Es ist nicht sehr groß, höchstens A5. Der dunkle Einband wirkt ledern und ist unbedruckt. Es scheint neu zu sein oder wurde zumindest gut behandelt. Möglicherweise ein Skizzenbuch, nach einem Roman sieht es mir jedenfalls nicht aus. Neugierig nehme ich es zur Hand und schlage den Umklappverschluss auf. Wie ich schnell feststelle, befinden sich keine Bilder darin. Keine Bleistiftskizzen, nichts in der Art. Stattdessen sind die ersten Seiten voll mit Handgeschriebenem auf blankem Papier. Und die Handschrift, sieht sie nicht aus wie meine? Ich blättere flüchtig über die ersten Seiten. Alle sind voll mit Geschriebenem, alle in derselben Handschrift. Ich bin verwirrt, denn je weiter ich schaue, desto fragloser wird es: das ist meine Handschrift, Kana hin oder her. Spätestens die Vermerke in Lateinschrift machen das unbestreitbar. Ich verstehe es nicht. Wieso hat Luka ein Buch voll mit Texten, die von mir stammen? Und das sind nicht einmal irgendwelche Texte … Was ist das überhaupt? Morgenseiten? Gedankenausschüttung? Es scheint viel Persönliches drin zu stehen. Ein Tagebuch etwa? Was immer der Grund ist, dass so etwas bei Luka liegt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in meinem Einverständnis war. Was ich bislang überflogen habe, erscheint mir zu privat, um es aus der Hand zu geben. Nie im Leben hätte ich Luka erlaubt, so etwas an sich zu nehmen. Oder sonst irgendwem. Prüfend schleiche ich zur Tür und lausche nach draußen. Lukas Stimme ist undeutlich zu hören, vermutlich von irgendwo im Wohnzimmer. Ich fasse meinen Entschluss und lasse das Buch in meiner Tasche verschwinden. Es gehört nicht hierher, ganz sicher nicht. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass weder dem Raum noch mir die Entwendung anzusehen ist, greife ich nach meiner Tasse und verlasse das Zimmer. Unten höre ich Luka, wie er weiterhin telefoniert. Bei der Couch bleibe ich stehen und spinne mir in meinem Kopf zusammen, wie ich am besten von hier wegkomme. Kapitel 22: Luka unter Verdacht ------------------------------- Er lässt sich Zeit. Meine Tasse ist leer und ich werde allmählich unruhig. All meine Gedanken kreisen um das Buch in meiner Tasche. Ich kann es wirklich kaum erwarten, von hier wegzukommen. Luka ist in einem der Nebenzimmer verschwunden. Von dem, was ich mitbekomme, führt er wirklich ein Kundentelefonat. Mehr kann ich nicht tun, als stumm hier zu sitzen, zu warten und zwischen Piano und Gespräch zu lauschen. Es vergehen um die fünf Minuten, bis ich höre, wie Luka aus dem Nebenzimmer kommt. Noch hält er das Telefon an seinem Ohr, ein paar Mappen unter den Arm geklemmt, und beendet das Gespräch. Kaum dass er seinen Kunden verabschiedet hat, kommt er auf mich zu: „Hier bist du. Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich habe großartige Neuigkeiten!“ „Kein Problem. Worum geht’s?“ „Stell dir vor, an diesem Wochenende findet eine Veranstaltung zu fördernden Zwecken statt. Ich wurde eingeladen, ihr beizuwohnen.“ „Als Künstler? Geht es um deine Bilder?“ „Ganz recht“, bestätigt er und nickt. „Der Sponsor ist ein guter Kunde und in der Gesellschaft angesehen. Es wird eine erwählte Kunstausstellung geben mit anschließender Spendenauktion. Sie bildet den Höhepunkt der Veranstaltung.“ „Wow, gratuliere. Das muss ein gutes Gefühl sein, so als Künstler anerkannt zu werden.“ „Das ist es.“ Seine Lippen umspielt ein stolzes Lächeln. In einer fließenden Bewegung lässt er sich neben mir nieder. Der kleine Stapel Ledermappen findet Platz auf dem hellen Polster an seiner Seite. Ich gestatte, dass er mir die Tasse aus den Händen nimmt und auf dem niedrigen Glastisch abstellt. „Ich möchte sie dir zeigen“, sagt er, wobei sein Blick den meinen sucht. „Die Bilder, die dafür ausgewählt wurden. Möchtest du sie sehen?“ „Na klar, zeig her.“ Bereitwillig lege ich meine Tasche zur Seite und rücke ein Stück näher. Ich gebe Acht, dass sie genug außer Reichweite ist, dass Luka nicht ohne Weiteres an sie gelangen kann. Er tut es mir gleich, wobei er die erste Mappe auf seinem Schoß ausbreitet. „Sechs meiner Bilder wurden ausgewählt“, beginnt er zu erzählen. Zeitgleich löst er in geübter Handhabung einige erwählte Seiten aus ihrer Halterung. Er geht sehr bedacht in seinem Tun vor. „Welche davon ausgestellt werden, entscheidet sich vor Ort. Einmal dieses.“ Behutsam nehme ich die Blätter entgegen, welche er mir reicht. Jedes von ihnen liegt in einer durchsichtigen Schutzhülle. Ich nehme sie einzeln entgegen und betrachte sie ausgiebig in aller Ruhe. Derweil lausche ich den Ausführungen, die Luka zu jedem Bild parat hat. Bei den ersten beiden handelt es sich um farbstarke Naturmotive. Etwas abstrakt erkenne ich Tiere und Pflanzen in dem vielen Bunt verborgen. In dem einen spielen farbenprächtige Vögel eine Rolle, in dem anderen erkenne ich verschiedene Waldtiere. Es macht Spaß, die vielen Details zu entdecken, je länger man die Bilder betrachtet. Das dritte bildet einen Kontrast zu den ersten beiden. Zu erkennen ist ein stilles Stadtpanorama in idyllischen Blau-, Grau- und Violetttönen. Es wirkt wesentlich ruhiger, einträchtiger und lädt zum Verweilen ein. Die Farben sind voller Facetten, ihre variierenden Nuancen haben etwas Verspieltes. Das Motiv, so alltäglich es mit seinen hohen Bauwerken ist, wirkt auf neuartige Weise aufregend. Faszinierend, irgendwie. Mir fehlen die Worte für das, was ich sehe. Als Luka mir das vierte Blatt reicht, versteift meine Haltung. Dieses Bild zeigt ein kleines Mädchen im weichen Aquarell. Ihr weißes Haar, zu zwei wehenden Seitenzöpfen gehalten mit rosa Spitzenverlauf, kommt mir sehr bekannt vor. Ich verliere mich in dem hellen Blau ihrer fröhlich strahlenden Kinderaugen. In vornübergebeugter Haltung scheint sie über das Blatt zu schweben. Zwischen den kleinen Händen hält sie eine große, runde Lichtkugel. Deren helles Leuchten verdeckt den Großteil ihrer vermutlich schwarzen Kleidung. Flügel im Glitzer, schemenhaft dargestellt, füllen den pastellenen Hintergrund großzügig aus. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Das Haar dieser Figur mag länger sein, die Augen froher und das Gesamtbild pompöser, dennoch habe ich das Gefühl, Mari ins Gesicht zu blicken. Was albern ist, denn darin fehlt jegliche Logik. Wie sollte Luka dazu kommen, ausgerechnet sie darzustellen? Nein, das ist schlicht nicht möglich. Es muss ein Zufall sein. … Doch was, wenn nicht? „Dieses hier“, sage ich und halte das Blatt ein Stück hoch. „Wie bist du auf dieses Motiv gekommen?“ „Hm? Darf ich sehen?“ Wortlos reiche ich es ihm. Luka wirft nur einen kurzen Blick darauf. „Ah, dieses“, belächelt er und gibt die Zeichnung an mich zurück. „Sie war eine Eingebung, ein Geschenk der Musen an mich. Ich hatte diese Vision von einem Wesen, jung in Gestalt und doch älter als die Welt. Voll Güte und Barmherzigkeit. Faszinierend, findest du nicht? Sie ist wahrhaftig ein Engel, einfach bezaubernd.“ „Sie erinnert mich an jemanden.“ „Tatsächlich?“ Ich nicke, meinen Blick fest auf das Bild gerichtet. „Zu einem gewissen Teil zumindest. Ein paar Details weichen ab und die Botschaft ist eine andere. Aber so im Großen und Ganzen …“ „Und an wen erinnert sie dich?“ An ein Geistmädchen, das von keinem außer mir gesehen werden kann. Das kann ich ihm schlecht antworten. Schon in meinen Ohren klingt das schräg. „An einen Charakter“, sage ich stattdessen. „Sie spukt mir schon eine ganze Weile im Kopf herum. Eines Tages war sie da … Man könnte sagen, sie ist wie aus dem Nichts aufgetaucht. Seitdem werde ich sie nicht mehr los. Sie taucht auf, wann immer ihr danach ist. Und jedes Mal gibt sie mir Rätsel auf. Wirklich nervig.“ „Ist das nicht wunderbar?“, jauchzt Luka erfreut. Seine Euphorie, woher auch immer sie gekommen ist, bringt mich für einen Moment aus dem Konzept. „Welch glückliche Fügung! Zu denken, dass wir dieselben Vorstellungen teilen … Zwei Künstler, so individuell in ihrem Schaffen, und doch im Geiste eins. Das kann kein Zufall sein, es ist Schicksal! Du und ich, wir sind wie der Klang einer perfekten Symphonie. Unsere Begegnung war vorherbestimmt!“ Ich befinde es für klüger, nichts darauf zu erwidern. Jede Antwort wäre eine Lüge gewesen oder zumindest verletzend. Mir ist nicht nach Diskutieren zumute, da ist Schweigen die bessere Wahl. „Ich hatte gehofft, dass sie dir gefällt“, bekundet er weiterhin. „Ich habe viel an dich gedacht, als ich sie entworfen habe. Bei der Gelegenheit, ich habe hier noch ein –“ Ein lautes Rumpeln unterbricht seine Ausführungen. Erschrocken sehe ich nach oben, dann zu Luka. Es kann keine Einbildung gewesen sein, denn auch sein Blick ist der Decke zugewandt. „Entschuldige mich kurz. Ich gehe eben nachsehen.“ „Ich komme mit“, verkünde ich und erhebe mich nach ihm. Gemeinsam gehen wir nach oben und werden Zeugen eines Flatterchaos, kaum dass Luka die Tür zu seinem Atelier geöffnet hat. „Was zum …?“, höre ich ihn fluchen. Erst als er vor mir das Zimmer betritt, erkenne ich, was wirklich los ist. Federn wirbeln durch die Luft. Ich beobachte Luka, wie er mit weiten Armen versucht, Herr über die Lage zu werden. Überall flattern Flügel laut und heftig. Ich erkenne zwei Tauben, die sich irgendwie in den Raum hinein verirrt haben. Unbeholfen ducke ich mich und schütze meinen Kopf mit den Händen. Wie um alles in der Welt sind die hier herein gekommen? Mein Blick geht zu den Fenstern. Eines von ihnen steht weit aufgerissen. Ich versuche mich zu erinnern, wie ich das Zimmer verlassen hatte. Waren sie nicht geschlossen gewesen? Vielleicht war eines von ihnen lediglich angelehnt und ich hatte es nicht bemerkt? Irgendetwas schlägt leicht gegen mein Bein. Ich sehe hinab und erkenne ein Blatt, das sich an meinem Schienbein verfangen hat. Weiter im Raum bemerke ich einen Karton, der von einem der Regale gestürzt sein muss. Nahezu sein gesamter Inhalt liegt über den weiten Boden verteilt: Mappen, einzelne Blätter und etliche Farbtuben. Hier, wo ich stehe, bin ich Luka nur im Weg. Bei der Vogelhatz bin ich ihm keine große Hilfe. Ich beschließe, weiterem Übel vorzubeugen, indem ich an die Unglücksstelle gehe und alles einsammle, was mir auf dem Boden begegnet. „Ich dachte, ich hätte sie alle geschlossen. Seltsam.“ Ein Klacken folgt, als Luka das Fenster verriegelt. In der wiedergekehrten Ruhe höre ich die Schritte, als er in meine Richtung kommt. „Ist alles okay bei dir? Wurdest du verletzt?“ „Nein, mir geht es gut. Aber es hat einen deiner Kartons erwischt.“ An meiner Seite lässt er sich in die Hocke nieder. Ich bemerke in seiner Hand ein farbverschmiertes Stofftuch und eine Sprühflasche, durchsichtig mit bläulichem Inhalt. Ein umschauender Blick beantwortet mir, was er damit vorhat. Der helle Linoleumboden ist über und über mit bunten Klecksen versehen. Vermutlich von den Tuben, die in dem Karton gelegen haben. Man sieht genau, wo sie aufgeschlagen sind. Genau jene Stellen benetzt Luka mit einigen Spritzern aus der Sprühflasche. Mir steigt der stechende Geruch von starkem Reinigungsmittel in die Nase. Unangenehm, doch ich beschwere mich nicht. „Ein paar Blätter wurden geknickt“, berichte ich. Sorgfältig prüfe ich den kleinen Stapel aufgelesener Zettel in meiner Hand. „Es scheinen aber alles Skizzen zu sein. Ist das arg schlimm?“ „Nein, das ist nicht schlimm“, entgegnet er, während er die Bodensauerei bekämpft. „Leg erst einmal alles in den Karton. Ich schaue es später in Ruhe durch.“ „Okay. Ich lege sie hier zu der Mappe.“ Ein unglücklicher Griff, und schon passiert das nächste Dilemma. Zu spät bemerke ich, dass erwählte Pappmappe nicht durch ihren Gummibandverschluss gehalten wird. Ein Rutsch Blätter kommt mir entgegen und verbreitet sich großzügig über meinen Schoß. Ich stöhne genervt. Na toll, noch mehr Papier. Heute ist irgendwie nicht mein Tag. Während ich abermals alles einsammle, erregen zwei Seiten meine Aufmerksamkeit. Sie liegen gleich obenauf und unterscheiden sich deutlich von den anderen: diese hier sind nicht skizziert, sondern beschrieben. Ein Titel »Geist der Wünsche« steht auf der Ersten vermerkt. Jede Zeile des Linienpapiers ist mit Schriftzeichen gefüllt. Beim Überfliegen stelle ich fest, dass es sich um eine Geschichte handelt. Und mehr noch: dass es dieselbe Handschrift ist, die ich auch im Buch gesehen habe. Meine. „Was ist das?“ Ich lese über die ersten Zeilen. Der Text ist im Ich-Erzähler verfasst, wie ich nach einer philosophisch angehauchten Einleitung bemerke. Eine seltene Wahl für mich. Es geht um Wünsche und die Frage, wie sie entstehen. Um Sternschnuppen und den Aberglauben, Wünsche unter einer solchen gesprochen gingen in Erfüllung. Etwas, woran der Erzähler nicht glaubt. Klingt ganz nach mir. Der Erzähler ist der Überzeugung, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Dass Wunder und Zauber durch einen selbst entstehen. Oder zumindest war es so, bis er diesem Wesen begegnet ist … Mir werden die Seiten entrissen. Überrumpelt sehe ich zu Luka, der noch einige Mappen und Tuben aufliest, ehe er sich erhebt. „Danke.“ Mit einer Leichtigkeit hebt er den Karton auf den Arm und entfernt sich wenige Schritte. Kurz darauf steht alles an seinem gewohnten Platz. Seine Hände sind leer, als er zu mir zurückkehrt. „Um den Rest kümmere ich mich später. Magst du nicht noch etwas trinken? Es gibt da etwas, das ich dich fragen möchte.“ Ich bin irritiert. Sein Verhalten wirft einige Fragen in mir auf. Hat er etwas zu verbergen? Will er ganz bewusst von meinem Fund ablenken? Oder ist es nur so, dass er mein Interesse nicht bemerkt hat? Nein, so unsensibel schätze ich ihn eigentlich nicht ein. Ich habe ihn gezielt darauf angesprochen, und er hat nicht geantwortet. Das hat in meinen Augen nichts mit Übersehen zu tun. Es ist Ignoranz, geflissentlich eingesetzt. „Was war das gerade?“, hinterfrage ich ruhig. Ich erwäge, seine Hand auszuschlagen, die er mir gutmeinend entgegenhält. Erst nach kurzem Zögern willige ich ein und lasse mir aufhelfen. „Hm? Was meinst du?“ „Das gerade … war etwas von mir Geschriebenes.“ Ich lasse diese Worte offen im Raum stehen. Zu gern würde ich mehr sagen, doch ein leises Stimmchen mahnt mich zur Vorsicht. Mir ist bewusst, dass ich mich auf sehr dünnem Eis bewege. Jede Schlussfolgerung, jede leichtfertig gestellte Frage könnte es zum Einsturz bringen. Das Risiko ist zu hoch. Eine Sache darf ich bei allem Verdacht nicht vergessen: Egal, ob Luka etwas zu verbergen hat oder nicht, ich für meinen Teil habe es. Ich sehe ihn an, wartend. Hoffend, dass er mir einen Anhaltspunkt bieten wird. Ich erhoffe mir Informationen durch Observation. Und, mit etwas Glück, eine Gelegenheit, meine Bedenken geschickt anbringen zu können, ohne mich in Verdacht zu stellen. Leider, wie ich feststelle, fahre ich keinen Erfolg. Lukas Gesicht verrät mir nichts. Ich erkenne offene Verwunderung darin, mehr aber auch nicht. Es lässt mich zweifeln, ob mein Verdacht an ihn berechtigt ist. „Wolltest du es lesen?“ Ich nicke vorsichtig. „Schon?“ „Tut mir leid, das wusste ich nicht“, gibt er vor. Es klingt aufrichtig. Noch dazu beobachte ich, wie seine Hand in einer verlegenen Geste in seinen Nacken wandert. „Ich meine, ich habe nicht damit gerechnet. Würde es dir etwas ausmachen, damit zu warten? Ich habe etwas wirklich Wichtiges mit dir zu besprechen. Ich möchte das ungern aufschieben.“ Ich nicke erneut. Meine Gefühle sind ein einziges Chaos. Ich kann nicht aufhören, Luka zu verdächtigen. Das Buch, die Zeichnung, obendrauf sein Verhalten nach meinem Fund … Das alles stinkt zum Himmel. Aber genügt es, daraus meine Schlüsse zu ziehen? Was, wenn alles seine Richtigkeit hat? Wenn er für all diese Dinge mein Einverständnis bekommen hat? Ich halte es für unwahrscheinlich, aber kann ich es ausschließen? Ich habe keine Beweise, die dagegen sprechen. Verdammt, ich kann mich nicht einmal auf mich selbst berufen! Allmählich beginne ich, die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Ich glaube zu verstehen, warum Orion der Heroine im Spiel davon abgeraten hat, jemandem von ihrer Amnesie zu erzählen. Das Risiko, einem Schein zu erliegen, ist zu hoch. Es gibt nichts, woran man sich halten kann. Toma war ein gutes Beispiel gewesen. Doch das hier ist kein Spiel. Im Gegensatz zur Heroine schützen mich weder Saves noch Walktroughs vor einem vermeintlichen Bad End. Ein kurzer unachtsamer Moment reicht aus, und … Ich weiß nicht einmal, was dann passiert.   „Wegen der Veranstaltung“, beginnt Luka, kaum dass wir ins Wohnzimmer zurückgekehrt sind. „Ich habe dir noch gar nicht alles erzählt. Der Sponsor ist ein guter Kunde von mir. Er pflegt Kontakte zu Kunstliebhabern in ganz Japan.“ „Aha“, sage ich und lasse mich zurück auf die Couch sinken. Mein Blick geht zu meiner Tasche. Sie auf meinen Schoß zu heben, könnte verdächtig wirken. Ich will so schnell es geht weg von hier. „Dann ist er wohl wichtig. Es werden viele Leute da sein, nehme ich an?“ „Genug, dass ich nicht ablehnen kann. Kein Künstler lässt sich diese Gelegenheit entgehen.“ „Nachvollziehbar. Ich freue mich für dich.“ Ich ringe mir ein Lächeln ab. Zu meiner Verwunderung reagiert Luka nicht. Den Blick gen Boden gesenkt wirkt er irgendwie abwesend, nachdenklich auf mich. Fragend lege ich den Kopf schief. „Ist etwas?“ Er zögert noch einen Moment. Fast denke ich, dass er meine Frage nicht vernommen hat. Als er endlich zu mir sieht, scheint er entschlossen. „Ich möchte, dass du mich begleitest.“ „Wohin?“ „Zu der Veranstaltung“, erklärt er. Seine Haltung entspannt sich, ebenso seine Gesichtszüge. „Als meine Freundin.“ Ich sehe ihn an. Mir kommt keine Antwort in den Sinn, ich sehe ihn einfach nur an. „Sie wird über zwei Tage gehen“, fährt er fort. „Am Freitag ist die Eröffnung. Erwählte Werke stellen in einer Ausstellung die anwesenden Künstler und ihre Arbeit vor. Es wird eine formelle Feierlichkeit geben, an der Gäste aller Art teilnehmen. Am Samstag findet das eigentliche Event statt. Den ganzen Tag über dreht sich alles um Kunst und Visionen. Zum Abend erfolgt die Spendenauktion. Der Sonntag wird weniger wichtig, es werden überwiegend Kontakte gefestigt. Für Unterkunft und Verpflegung ist gesorgt, bei Bedarf.“ „Luka, ich weiß nicht“, gebe ich zögernd zurück. Unwohl lege ich mir die Arme um den Bauch und senke den Blick. „Eine Kunstaustellung ist nichts für mich. Ich fürchte, ich werde dort ziemlich fehl am Platz sein. Außerdem bin ich am Wochenende schon zu einem Mädchenabend verabredet. Und ich muss am Freitag arbeiten.“ „Es reicht, wenn du am Freitag dabei bist“, argumentiert er gegen. „Ich würde dich von der Arbeit abholen lassen. Du müsstest dich um nichts sorgen bis auf angemessene Kleidung. Um alles Weitere kümmere ich mich.“ „Ich weiß nicht …“ „Ich bitte dich“, beharrt er. Sein eindringlicher Blick gibt mir zu schaffen. „Du musst nur an meiner Seite sein. Ich sorge dafür, dass du dich nicht verloren fühlst. Ehrenwort.“ Ich hadere. Mein Kopf und mein Gefühl sind sich uneins. Auf der einen Seite ist diese Veranstaltung bestimmt wichtig und ich will Luka nicht hängen lassen. Zudem könnte es eine interessante Erfahrung werden und vielleicht ergibt sich mir eine Gelegenheit, Antworten auf meine vielen Fragen zu finden. Auf der anderen Seite würde es tatsächlich Stress bedeuten und ich fühle mich auf einer Kunstaustellung ziemlich fehl. Dazu der Gedanke, all die Zeit an Lukas Seite verbringen zu müssen … Nein, im Augenblick fühle ich mich wirklich nicht wohl damit. Lohnt es sich für mich bei all dem Verdacht und der Ungewissheit, über meinen Schatten zu springen und ihm etwas Gutes zu tun? „Lass mich erst mit Sawa reden“, lenke ich ein. „Ich habe den Mädels schon zugesagt und ich breche ungern gegebene Versprechen. Allerdings war noch nichts Festes vereinbart, ich weiß keine Details. Vielleicht kann ich etwas vereinbaren.“ „In Ordnung.“ Er nickt einverstanden, obgleich er unzufrieden auf mich wirkt. Seufzend hole ich mein Handy hervor und öffne meine gespeicherten Kontakte. Ich erinnere mich, Sawas Namen in ihnen gesehen zu haben. Wenn ich Glück habe, erwische ich sie zu einem günstigen Zeitpunkt. „Ich werde sie eben anrufen“, verkünde ich nach kurzem Überlegen. „Für eine Nachricht ist es zu viel abzuklären. Stört es dich?“ „Nein, mach nur.“ Ich nicke und erhebe mich. Am Rande bemerke ich meine Tasche, was mich daran erinnert, was in ihr verborgen liegt. Wegzugehen und sie außer Sicht zu lassen, kommt nicht infrage. Also drehe ich mich lediglich ab, bleibe aber in der Nähe der Couch, während ich Sawas Nummer anwähle. Nach nur zweimal Tuten wird das Gespräch angenommen. „Ja, hallo? Sawa hier.“ „Hallo, Sawa. Hier ist Shizana. Störe ich gerade?“ „Ah, nein, nein. Es passt noch. Was gibt’s?“ „Hör mal, bei mir hat sich etwas ergeben“, beginne ich und überlege, wie ich mein Anliegen am besten formulieren soll, ohne dass mir Sawa vor Luka eine Szene macht. Es wäre ungünstig, wenn er davon etwas mitbekäme. „Am Wochenende steht doch der Mädchenabend an. Hanna hatte mich eingeladen …“ „Ah, ja, das hat sie mir gesagt“, antwortet sie fröhlich. „Du kommst doch, oder? Es wäre so cool, wenn wir jemand Neues dabei hätten.“ „Genau darum geht es. Hanna hat mir keine Details genannt, wann ihr das machen wollt und wo und ob ich etwas mitbringen soll. Sie wollte außerdem erst mit dir und Mine darüber reden. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Naja, wir haben uns ja auch nicht nochmal gesehen. Nur gestern einmal kurz vor meinem Schichtbeginn.“ „Naja, geredet haben wir darüber. Meinetwegen kannst du gern kommen, das weißt du hoffentlich? Mit Mine wollte sie gestern noch reden, aber ich habe vergessen nochmal nachzufragen, was dabei herausgekommen ist. Tut mir leid. Ich kann aber Mine nachher gern fragen, wenn wir auf Schicht sind.“ „Naja, die Sache ist die, es eilt ein wenig bei mir. Luka hat mich um einen Gefallen gebeten und ich möchte nicht, dass sich das überschneidet.“ „Luka? Der? Um was hat er dich denn gebeten, wenn ich fragen darf?“ „Um es kurz zu machen“, sage ich und werfe einen vorsichtigen Blick zu Luka. Dieser hat sich derweil auf der Couch niedergelassen, von wo aus er mich aufmerksam besieht. „Ich soll ihn auf eine Veranstaltung begleiten. Sie findet dieses Wochenende statt.“ „Eine Veranstaltung? Was denn für eine Veranstaltung?“ „Eine Kunstausstellung.“ „Kunst? Ah, er ist ja Künstler. Stimmt, da war etwas.“ „Also? Wann wäre denn der Mädchenabend und wie habt ihr euch das vorgestellt?“ „Naja, also … Wir treffen uns Samstag direkt nach der Arbeit und gehen gemeinsam zu Hanna. Am Sonntag liegt bei keinem etwas an, wir können also so lange wachbleiben, wie wir wollen. Wir machen ganz unser Ding, nur unter Mädels. Und wehe dem, der mir mit Unikrams ankommt!“ „Samstag also.“ Prüfend sehe ich zu Luka und er erwidert meinen Blick mit Interesse. Ich sehe deutlich die Erwartung in seinen grünen Augen aufblitzen. „Okay, dann weiß ich fürs Erste Bescheid. Hältst du mich wegen Mine auf dem Laufenden?“ „Na klar. Ähm …“ Sie zögert. „Wegen der Sache mit der Ausstellung … Willst du da wirklich mit ihm hingehen?“ Na super. Genau diese Frage kann ich im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen. „Das ist gerade ungünstig“, weiche ich aus und hoffe, dass Sawa meinen Wink versteht. Vor Luka möchte ich mir die Unbefangenheit, die diese Frage in mir auslöst, wahrlich nicht anmerken lassen. „Bist du etwa gerade bei ihm? … Ah, ich verstehe schon. Dann machen wir das besser ein andermal.“ Ich nicke. „Ja. Also dann, melde dich dann bitte noch einmal bei mir. Ich bin gespannt, was Mine dazu zu sagen hat.“ „Ach, mach dir darum keine Sorgen. Ich kann sehr überzeugend sein, weißt du?“ Ihre Worte lassen mich lächeln. Zu deutlich kann ich mir ihr zuversichtliches Grinsen vorstellen, mit dem sie ihre Überzeugung vertritt. „Na schön, ich vertraue darauf. Viel Erfolg.“ „Dir auch. Wir telefonieren später nochmal.“ „Okay. Viel Spaß auf Arbeit, nehme ich an?“ „Ja, ich muss gleich los. Also dann, bis später.“ „Bis dann. Und danke.“ Wir beenden das Gespräch und ich atme einmal lang durch. Am Samstag also. Das bedeutet, rein von der Zeitplanung her steht Lukas Bitte nichts im Weg. Die Frage ist nur, ob ich will … „Und?“ „Also, der Mädchenabend ist am Samstag“, berichte ich, wobei ich mich ihm offen zuwende. „Theoretisch steht der Sache nichts im Wege. Ich könnte mitkommen.“ „Theoretisch? Das klingt nicht, als ob du es auch möchtest.“ Ich schweige. Seine Vermutung bringt die Sache auf den Punkt, das will ich nicht noch untermauern. „Ich habe dir meine Bedenken genannt“, sage ich stattdessen. „Ich denke nicht, dass ich eine gute Begleitung wäre. Ich kenne mich mit Kunst nicht aus. Am Ende stehe ich blöd da, wenn mich jemand darauf anspricht. Und du gleich mit.“ „Hm.“ Sein Gesicht wird nachdenklich. Zu gern wüsste ich, was in seinem Kopf vorgeht. „Du musst am Freitag arbeiten, sagtest du?“ Ich nicke. „Ja.“ „Wie lange geht deine Schicht?“ „Bis halb neun. Ehe ich raus bin, rechne mit neun mit Aufräumarbeiten und allem.“ „Verstanden.“ Luka erhebt sich und ich beobachte gespannt, wie er einige Schritte auf mich zukommt. Meine Tasche findet bei dem Ganzen keine Beachtung, zum Glück. „Halte dich aufbruchbereit. Ich sorge dafür, dass du pünktlich Feierabend bekommst. Du musst dich um nichts kümmern, warte einfach vorm Meido auf mich.“ „O…kay?“ „Hast du irgendwelche Einwände?“ Zu Genüge, aber interessiert das irgendwen? Bei Luka bezweifle ich es allmählich. „Keine, die ich nicht schon angebracht hätte.“ „Gut“, gibt er sich zufrieden. Seine Gesichtszüge entspannen und formen ein versöhnliches Lächeln. „Nur keine Sorge, du wirst wunderbar sein. Ich weiß, dass du das sein wirst. Ich werde dir keine Gelegenheit geben, daran zu zweifeln. Es wird ein schöner Abend werden.“ Die Zweifel kommen mir unweigerlich, doch ich halte sie in mir zurück. Jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher. Luka hat sich entschieden und ich kann ihn nicht zurückweisen. Allem Unmut zum Trotz, das bringe ich nicht über mich. „Also, abgemacht?“ Ich seufze besiegt. „Na schön, abgemacht. Ich versuche mein Bestes.“ „Das freut mich“, antwortet er fröhlich, worauf sein Blick zur Wand geht. „Ich fürchte, ich muss dich bitten zu gehen. Ich würde gern länger reden, aber es ist später geworden, als ich gedacht habe. Ich habe noch einiges zu erledigen.“ Ich folge seiner Bemerkung und prüfe mein Handy. Das Display zeigt mir eine Zeit von zehn nach eins. Eine knappe dreiviertel Stunde bin ich schon hier. Mir kommt der Gedanke, ob sich Orion bereits Sorgen um mich macht. Zwar liege ich noch im Rahmen der Zeit, die ich ihm angekündigt habe, aber wenn Luka es nicht angesprochen hätte … Erschreckend, irgendwie. „Na schön, dann will ich dich nicht länger aufhalten. Danke, dass du dir die Zeit für mich genommen hast.“ „Keine Ursache. Du bist mir jederzeit willkommen.“ Ohne jede Hast hebe ich meine Tasche von der Couch und halte sie nah bei mir, als Luka mich in den Flur führt. Wir wechseln kein weiteres Wort, während ich in Schuhe und Mantel schlüpfe. Als er die Wohnungstür öffnet, fällt mir etwas ein. „Was ist mit den Zetteln?“, frage ich und drehe mich zu Luka herum. „Den Zetteln? Ah.“ Er senkt das Kinn ein Stück und zeigt ein Lächeln, dem nur noch ein Schnurren gefehlt hätte. „Die waren nicht wichtig. Aber wenn du sie unbedingt sehen willst, zeige ich sie dir ein andermal, okay?“ „Sicher?“ „Ich vergesse es nicht.“ Ich belasse es bei einem Kopfnicken. Weiteres Drängen führt zu nichts, das sehe ich ein. Immerhin, ich verlasse seine Wohnung nicht mit leeren Händen. Selbst wenn Luka versuchen sollte, mir auszuweichen, ich kann ihn jederzeit auf dieses Gespräch ansprechen. Bis dahin werde ich mich weiter in Geduld üben. Mit etwas Glück kann das Büchlein in meiner Tasche ein paar Dinge für mich aufdecken. Ich hoffe sehr darauf. Vor dem Aufzug warten wir, dass der Fahrstuhl im obersten Stockwerk eintrifft. Ich nutze die Zeit, um noch eine wichtige Sache anzusprechen. „Übrigens“, sage ich und suche den Blickkontakt zu ihm, „ich hatte dir doch erzählt, dass Rika mich angerufen hat. Sie ist der Meinung, dass wir gestritten hätten. Deswegen bin ich hergekommen. Wie denkst du darüber?“ „Gestritten?“, reagiert er fragend. Seine Miene nimmt einen strengen, nachdenklichen Ausdruck an. „Ich weiß nicht, was sie meint, fürchte ich.“ „Gut, ich nämlich auch nicht“, seufze ich leise. Erleichterung macht sich in mir breit. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir den Abend gestritten hätten. Wenn ich streite, sieht das für gewöhnlich anders aus. Und du hast mir auch nicht das Gefühl gegeben, dass es bei dir anders wäre.“ „Keine Sorge.“ Pling, der Fahrstuhl ist eingetroffen. Ich steige ein und betätige den Knopf für das Erdgeschoss, zögere dann aber für einen Moment. „Sag mal“, beginne ich und drehe mich zu Luka herum. Mein Finger liegt auf dem Haltknopf, um ein Schließen der Tür zu verhindern. „Was ist?“ Ich sage nichts. Jetzt, da ich ihm ins Gesicht sehe, bereue ich, einen Anfang gesetzt zu haben. Aber es ist zu spät für einen Rückzieher. Luka wartet auf eine Erklärung und ich würde es vermutlich bereuen, diese Chance nicht genutzt zu haben. „Wenn etwas wäre, das unsere Beziehung belastet“, wage ich daher hervor, „würdest du doch mit mir darüber reden? Ich frage das aus gegebenem Anlass. Nicht, dass ich eines Tages wirklich über eine dritte Person erfahre, dass etwas nicht stimmt. Das wäre der Sache nicht sehr förderlich.“ Damit ist es gesagt. Ich versuche in Luka zu lesen, erfolglos. Sein Gesicht ist so unbewegt und starr, dass es mich nervös stimmt. Es vergehen Sekunden, glaube ich. In dieser Anspannung fehlt mir jegliches Zeitgefühl. „Ja.“ „Gut.“ Ich nicke. So knapp seine Antwort auch ausgefallen ist, sie genügt mir fürs Erste. „Ich wollte nur sichergehen. Hören wir uns nochmal vor Freitag?“ „Bei Gelegenheit.“ „Okay. Dann dir noch viel Erfolg bei der Arbeit.“ „Danke, dir auch.“ Ein kühler Abschied, wie immer. Ich versuche, mich nicht daran zu stören. Zumindest hege ich gute Hoffnung, dass man es mir nicht anmerkt. Endlich schließt die Tür. Stille kehrt ein und ich feiere sie in einem langen Seufzen. Das sanfte Ruckeln löst Erschöpfung in mir aus. Im Nachhinein denke ich, dass diese kurze Zeit bei Luka anstrengender war als jede Convention, die ich in meinem Leben besucht habe. Die haben zumindest noch Spaß gemacht, meistens jedenfalls. Das kann ich von meinem Besuch nicht gerade behaupten. Müde lasse ich mich gegen die kühle Blechwand sinken. Ich gestatte mir, für die wenigen Sekunden meine Augen zu schließen. Das Gewicht meiner Tasche wiegt angenehm schwer auf meiner Schulter. Ich drücke sie enger an mich, hoffend, dass ich meine Entscheidung nicht bereuen werde.   Mit einem erneuten »Pling« kommt meine Fahrt zu einem Ende. Damit ist es geschafft. Jetzt heißt es nur noch Orion anrufen und dann nichts wie nach Hause. Der Fahrstuhl öffnet sich und ich verwurzle an meinem Fleck. Draußen vor der Tür steht ein kleines Mädchen, deren weiße Seitenzöpfe mir zu bekannt vorkommen. Aus großen, erwartungsvollen Schlumpfaugen sieht sie mich an. Sie macht den Anschein, als habe sie auf mich gewartet. Gruselig, zu denken, von Geistern verfolgt zu werden. „Da bist du ja“, begrüßt sie mich heiter. Der Gedanke, mich in eine Bonusfahrt zu flüchten, verliert sich in Anbetracht ihres breiten Lächelns. „Schön, dich zu sehen. Ich habe auf dich gewartet.“ „Das sehe ich“, entgegne ich angebunden. Die Frage, warum sie hier ist – ausgerechnet hier, an diesem Ort – lässt mich die Stirn runzeln. „Hast du es gefunden?“ „Äh, wie bitte?“ „Na, was ich dir gezeigt habe. Hast du sie gesehen?“ „Was meinst –“ Ich breche ab, als ich das Klacken der Haustür vernehme. Herein tritt eine alte Frau, deren quietschbuntes Regencape jede Toleranz übersteigt. Ihre schlurfenden Schritte werden von tapsigen Hundepfoten begleitet. Wir grüßen einander höflich, als sie an mir vorbei in den Fahrstuhl tritt. Ihr grauer Zwergterrier macht einen Aufstand, als sei ich ein Schwerverbrecher, der tödliche Waffen bei sich führt. Entsprechend misstrauisch trifft mich der Blick der Alten hinter dicken Rundgläsern, regelrecht anklagend. Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, dass das Gekläff ihres Zottels nicht mir, sondern dem Mädchen an meiner Seite gilt. Zu blöd, dass es nichts zur Aufklärung beitragen würde. Eher im Gegenteil. „Du bist die Einzige, die mich sehen kann“, äußert Mari neben mir, kaum dass sich der Fahrstuhl geschlossen hat. Es entlockt mir ein Schnauben. „Was du nicht sagst.“ „Bist du böse auf mich?“ „Ich bin nicht böse auf dich“, seufze ich kopfschüttelnd. „Ich wollte dir keinen Ärger machen“, murmelt sie leise. „Ich will dir helfen, aber ich mache immer noch so viele Fehler. Tut mir leid.“ „Schon okay“, will ich sie beruhigen. Ein Blick in ihr Gesicht sagt mir, dass sie genauso betreten dreinschaut, wie sie geklungen hat. „Viel wichtiger: Was machst du hier? Du willst dich hoffentlich nicht wieder nur entschuldigen und dann plötzlich verschwinden und mich mit Fragen zurücklassen.“ „Nein.“ Sie schüttelt den Kopf. Als sie anschließend zu mir sieht, liegt ein ernster Ausdruck in ihren blauen Augen. „Ich will mit dir reden. Es ist wirklich wichtig.“ „Ich glaube, das ist überfällig“, entgegne ich. Es fällt mir schwer, die Gefühle, die in mir aufwallen, zurückzuhalten. „Lass uns aber besser woanders hingehen. Es kommt seltsam, wenn ich die ganze Zeit Selbstgespräche führe. Zumindest aus der Sicht von anderen.“ Sie nickt verstehend, schon dreht sie sich herum. „Komm mit“, ruft sie mir zu. „Ich weiß einen Ort. Es ist nicht weit.“ Ich folge ihr ohne weitere Einwände. Still hoffe ich, dass wir dieses Mal wirklich reden werden. Und dass diese Unterhaltung zu etwas führen wird. Das wäre eine Abwechslung. Ich habe sehr viele Fragen. Kapitel 23: Wunschkiste ----------------------- Die kalte Winterluft ist wie ein Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich schnaufe und ziehe den Reißverschluss meines Mantels bis zum Ansatz hoch. Es ist nicht diese stechende Art von Kälte, eher die, die einen packt und ins nächste Kühllager abschiebt. Nach Winter fühlt sich das nicht an, eher nach Spätherbst in Deutschland. Eine eklige Zeit. Tiefster Winter wäre mir fast lieber. Da weiß man wenigstens, worauf man sich einlässt. Mein Blick geht hinauf zum Horizont. Alles grau, trist und trostlos da oben. Demotivierend. Kein Deut Sonne ist zu sehen. Möglich, dass es heute noch Regen geben wird. Schnee würde ich bevorzugen, aber darauf wage ich nicht zu hoffen. Egal was da noch kommen mag, ich wäre auf jeden Fall gern zu Hause, ehe es losgeht. Auf Niederschlag kann ich verzichten. „Komm, hier lang!“ Mari ist mir einige Meter vorausgeeilt. Ihre Rufe treiben mich an, nicht länger wie verwurzelt dazustehen. Ich folge ihnen zügig. Mit jedem Schritt nehmen die Fragen in meinem Kopf zu. ‚Nur Geduld‘, rede ich mir zu. Bald werde ich die Antworten bekommen. Nicht mehr lang, nicht mehr weit.   Einige Straßen weiter biegt Mari in ein Parkgelände. Es erscheint mir nicht sehr groß, folge ich der Straßenführung, die wenige Meter weiter eine Biegung macht. Hohe Wohngebäude ragen hinter dem Grün hinauf. Ich kann abschätzen, wie groß die Fläche ist. Ein kleiner Stadtpark, mehr nicht. Wenn man es denn so benennen darf. Der zu Hause war jedenfalls größer gewesen, soweit ich mich erinnere. Mindestens um das Doppelte. In meiner Welt natürlich, bevor ich vor gut einem Jahr in die Nordstadt gezogen bin. Nach wenigen Schritten wird ein Spielplatz erkennbar. Ebenfalls klein gehalten mit zwei Schaukeln im Sand, einer Wippe und Drehscheibe. Ein kleines Kletterhaus gibt es ebenfalls. Mari eilt sofort auf die Drehscheibe zu, wohin ich ihr folge.  Ohne Kinderlachen wirkt der Ort irgendwie freudlos, was am Wetter liegen könnte. Ist wohl nicht die Zeit für Spielaktivitäten im Freien. Ich erkenne lediglich einen Jungen, der auf einer der Schaukeln sitzt. Als wir näher kommen, springt er herunter und eilt in unsere Richtung. Ich erkenne ihn, zu meinem Erstaunen. „Du hast sie also gefunden!“ „Orion?“, frage ich verdutzt. Welch seltsamer Zufall, dass wir uns ausgerechnet hier wiederfinden. Wobei, vielleicht ist es gar kein Zufall? „Was machst du hier?“ „Ja, habe ich.“ „Ich hoffe, sie hat dir keinen Ärger gemacht“, wendet sich Orion an mich und verbeugt sich eilig. Ich weiß nicht, wofür er sich entschuldigt. „Nein, hat sie nicht“, sage ich zögernd. „Allerdings frage ich mich, was das hier werden soll. Wieso bist du hier? Ich habe nicht mit dir gerechnet.“ „Ich habe Mari getroffen, während ich auf dich gewartet habe. Naja, eigentlich hat sie mich gefunden“, erklärt Orion, wobei er zu Mari sieht. „Sie sagte, dass sie mit dir reden muss und dass sie auf dem Weg zu dir ist. Ich wollte erst mitkommen, aber …“ „Ich wollte allein mit dir reden“, verkündet Mari von abseits, was Orion leise seufzen lässt. „Im Gegensatz zu ihr kann ich gesehen werden“, erklärt er an mich gerichtet. „Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen, für den Fall, dass jemand misstrauisch geworden wäre und Fragen gestellt hätte.“ „Verstehe.“ Viel beantwortet es nicht, aber es ist ein Anfang. Ich sehe zu Mari, die ihren Platz auf dem Rad der Drehscheibe gefunden hat. Vornehm sitzt sie da in ihrem grauen Kleid und mustert mich aus wachen Kristallaugen. Ihr eingehender Blick verschafft mir Unwohlsein. „Also“, sage ich und lasse mich auf der Scheibe nieder. Sie bewegt sich unter mir, was ich mit festem Bodenstand stoppe. „Wir haben uns heute hier versammelt, um … hoffentlich nicht alles schlimmer zu machen. Also, was gibt‘s? Über was wolltest du mit mir sprechen?“ „Es geht um Luka“, eröffnet sie, was mich gequält stöhnen lässt. „Du darfst ihm nicht trauen. Er ist nicht gut.“ „Ernsthaft, Mari? Diese Leier?“ „Aber du hast es doch selbst gesehen! Ich habe es dir gezeigt. Vorhin, in seiner Wohnung.“ „Was? Etwa das Flatterchaos? Bist du das gewesen?“ „Ganz genau“, nickt sie und lächelt stolz. Im nächsten Moment kehrt ihr Ernst zurück. „Du hast sie gefunden, nicht wahr? Ich wusste, wo sie versteckt sind, deswegen habe ich –“ „Moment. Reden wir von den Zetteln, die in dem Karton lagen?“ „Ja, genau die! Hast du sie gesehen?“ Ich erinnere mich zurück. Die Zettel, die meine Handschrift aufwiesen und nach einer Geschichte aussahen. Die mir Luka schnell aus den Händen gerissen hat. Mich interessiert, was dahintersteckt. „Was hat das zu bedeuten?“, frage ich an Mari gewandt. „Was weißt du darüber? Kannst du mir mehr dazu sagen?“ „Luka ist nicht ehrlich zu dir“, sagt sie. Auf ihren kindlichen Zügen spielt ein besorgter Ausdruck. „Ich wollte dich warnen. Ich dachte, wenn du es siehst, würdest du mir glauben.“ „Den Verdacht hatte ich schon vorher“, entgegne ich gefasst. „Noch bevor ich euch begegnet bin. Du hättest dir wirklich nicht die Mühe machen müssen, um mir das zu verdeutlichen.“ „Aber wieso …?“ „Ich habe sie gewarnt“, spricht Orion ruhig von meiner Seite. Sitzend dreht er sich halb zu Mari herum. „Aber es hat nicht geholfen. Sie will sich selbst von seinen Absichten überzeugen.“ „Aber er ist gefährlich!“ „Das weiß sie nicht.“ „Sie hat es nur nicht gesehen.“ „Moment mal“, werfe ich ein. Mir gefällt nicht, in welche Richtung dieses Gespräch schlägt. „Ich weiß sehr wohl, dass er gefährlich ist. Wenn auch anders, als ihr es wahrscheinlich meint.“ „Wieso bist du dann noch bei ihm?“ „Wie könnte ich nicht?“, gebe ich spitz zurück. „Bedenkt mal bitte meine Situation. Ich weiß nicht, was los ist. Im Gegenteil, ich wurde einfach in etwas hineingeworfen und bekomme immer nur halbe Sachen an den Latz gepfeffert. Berechtigter ist also die Frage, wieso ihr mir nicht sagen wollt, was Sache ist. Warnungen schön und gut, aber was bringen sie mir, wenn ihr mir den Grund dafür verschweigt?“ „Bevor du da warst, hat Luka –“ „Mari-sama“, fällt Orion ihr schnell ins Wort. „Wir dürfen es ihr nicht sagen. Die Regeln …“ „Ach, auch noch Regeln?“, entkommt es mir. Vorwurfsvoll sehe ich zwischen den beiden hin und her. „Es gibt Regeln“, sagt Mari und seufzt schwer. „Ich finde es nicht fair, dir nichts zu sagen … Es tut mir leid, aber ich darf nicht. Es könnte schlimme Folgen haben.“ Na super. Ich werfe einen bösen Blick zu Orion. Hätte er nur nichts gesagt, dann wäre ich jetzt um eine Antwort reicher. Aber vermutlich kann ich ihm nicht einmal einen Vorwurf machen. Theoretisch. „Was soll das bitte für Folgen haben?“, schnippe ich. Mein Geduldsfaden ist an einem Ende angelangt. „Ich wüsste, woran ich bin und könnte die Lage besser abschätzen. Ich wäre automatisch sicherer und ihr müsstet euch nicht dauernd solche Sorgen um mich machen. Zumal ihr Luka wie ein Monster darstellt mit diesen ständigen Anspielungen, die keiner begründen will. Und das, obwohl ihr ihn nicht einmal kennt, laut eurer Aussage. Muss das denn wirklich sein?“ „So ist es nicht“, beteuert Orion. Indem er die Hände hebt und mich eingehend besieht, versucht er wohl, mich zu beruhigen. „Wir wollen dich nur beschützen. Vielleicht wirkt es nicht so auf dich, aber bitte glaube uns. Wenn wir es dir sagen, besteht die Gefahr, dass sich die Dinge wiederholen.“ „Was dürft ihr mir überhaupt sagen?“, fahre ich aus. „Ihr dürft mir nicht sagen, was mit Luka ist. Ihr dürft mir nicht sagen, warum ich hier bin und was passiert ist –“ „Ah, doch!“, ruft Mari dazwischen. Sie wirkt ganz euphorisch. „Das darf ich dir sagen.“ Perplex sehe ich sie an. „Wie? Jetzt doch auf einmal?“ „Es war meine Schuld, also darf ich es dir sagen“, unterbreitet sie fröhlich. Ich verstehe nicht, wie sie dabei stolz lächeln kann. „Mari-sama …“ „Ich weiß, ich weiß“, weist sie zurück, bevor sie sich an mich wendet. „Ich darf dir nicht alles sagen, aber ein bisschen. Wenn ich vorsichtig bin, wird dir nichts passieren. Du willst doch wissen, was passiert ist?“ „Ja?“ „Wünschst du es dir?“ Ich rolle die Augen. „Ja doch. Ich habe wirklich keine Lust mehr, blind an der Wand entlangzuhangeln. Wenn du mir wenigstens etwas sagen kannst, ist das immer noch besser als gar nichts.“ Sie lächelt erfreut. „Das kann ich machen. Diesen Wunsch kann ich dir erfüllen.“ Darauf gleitet sie von dem Rad herunter. Ich verspüre kein Ruckeln der Platte, als sie sich an meiner anderen Seite niederlässt. Einen Moment lang sitzt sie nur still da und scheint zu überlegen. Dann beginnt sie zu erzählen: „Ich bin besonders, weißt du? Ich kann den Menschen ihre Wünsche erfüllen. Nicht alle, nur die, die gut sind. Aber ich bin noch nicht sehr gut darin“, gesteht sie, worauf sie unwohl mit den Beinen wackelt. „Es gibt Wünsche, die sind sehr groß und schwer zu erfüllen. Diese kann ich nicht. Aber die Kleinen, das klappt ganz gut.“ „Wie definiert ihr »kleine« und »große« Wünsche?“, möchte ich wissen. „Nun ja …“ Sie überlegt. „Zum Beispiel, wenn du dir einen Hund wünschst. Das ist einfach. Oder etwas zu können, was du nicht kannst, aber könntest. Aber jemanden gesund zu machen, der sehr krank ist, das ist schwer.“ „Wie steht es darum, jemanden in eine andere Welt zu schicken?“ „Das ist einfach“, erklärt sie. „Allerdings, wenn derjenige in dieser Welt bleiben möchte, das ist schwer. Es gelten für solche Wünsche auch ganz bestimmte Regeln, damit das System seine Ordnung behält. Das Universum ist sehr sensibel.“ Na, dann war es ja ein Leichtes, mich in dieses Massaker hineinzuziehen. Ich kann nur vermuten, dass mich wieder herauszuholen das größere Problem darstellt. „Bei dir war es aber etwas anderes“, ergänzt sie, als habe sie meine Gedanken gelesen. „Dass du hier bist … war notwendig. Ich hatte keine andere Wahl.“ „Was meinst du?“ Ruckartig hat das Beinewackeln ein Ende. Ihr Schweigen dauert mehrere Sekunden. „Da war dieser Mensch“, erzählt sie mit trauriger Stimme. „Er war sehr unglücklich. Menschen leiden sehr, wenn ihre Gefühle nicht erwidert werden. Ich dachte, wenn ich helfe, wird alles gut. Ich wollte diesen Menschen glücklich machen und seinen Wunsch erfüllen.“ Sie seufzt, als wögen Tonnen auf ihren schmalen Schultern. „Aber es war schwerer, als ich gedacht habe. Ich brauchte sehr viel Zeit. Und dann habe ich nicht aufgepasst und alles ist schiefgegangen.“ Ich weiß nicht, ob ich etwas einwerfen soll. Ich komme mit ihrer Erklärung nicht ganz mit. Ob ich sie fragen sollte? „Es ist meine Schuld“, flüstert sie und es klingt, als stünde sie den Tränen nahe. „Ich habe es nicht geschafft, diesen Wunsch zu erfüllen. Er war zu groß für mich. Aber ich wollte ihn nicht aufgeben. Ich wollte es möglich machen … Ich habe sie alle in Gefahr gebracht. Meinetwegen ist so viel Unglück passiert. Ich wollte alles wieder gutmachen, deswegen habe ich …“ Sie verstummt und lässt mich mit einem unwohlen Gefühl zurück. Unschlüssig, was ich tun soll, blinzle ich zu Orion hinüber. Wirklich ansprechbar wirkt er nicht, so wie er starr gen Boden stiert. Von ihm kann ich keine Hilfe erwarten. Schöne Schei…benschnitte. „Ich nehme an, das hat alles noch etwas mit mir zu tun? Nicht, dass ich taktlos sein will oder so“, bemerke ich zögerlich. „Hat es“, meint sie und sieht wieder zu mir auf. „Weißt du, ich musste dich holen. Ich brauche dich, um ihren Wunsch zu erfüllen. Ohne dich kann ich sie nicht retten. Und der erste Wunsch ist noch nicht erfüllt … Es tut mir leid, es ist alles meine Schuld.“ Ich seufze niedergeschlagen. „Schon gut. Es lässt sich jetzt eh nicht mehr ändern.“ Mein Blick geht zu Orion, der noch immer wie abwesend wirkt. „Ukyo hatte also gar nicht so unrecht mit seiner Vermutung“, merke ich in seine Richtung an. Kurz sieht er hoch, dann wieder weg. Er nickt, sagt aber nichts. Ich will ihn fragen, ob er es wusste. Bevor ich es kann, höre ich Mari neben mir wispern: „Bruder hatte recht. Hätte ich nur auf ihn gehört … Meinetwegen sind alle in Schwierigkeiten. Hätte ich den Wunsch nur nie so unterschätzt …“ „Hey“, sage ich sanft und will meine Schulter aufmunternd gegen die ihre drücken. Zu meiner Überraschung stoße ich auf keinen Widerstand. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass Maris Körper durchlässig ist. Klar, sie ist ja ein Geistwesen. Ich lockere meine Haltung und scharre mit meinen Schuhen im Sand. Wie tröstet man jemanden, wenn einem nur Worte zur Verfügung stehen? Gar nicht so einfach in so einer Situation. Es kommt mir schmerzlich bekannt vor. „Jetzt bin ich ja hier“, spreche ich ruhig. Nachdenklich sehe ich auf und wiege den Kopf langsam hin und her. „Was passiert ist, ist passiert. Du hast einen Fehler gemacht, aber du kannst ihn korrigieren. Es ist nicht zu spät dafür, richtig? Und wenn ich dir dabei helfen kann, werde ich es tun.“ „Wirklich?“ Ich sehe zu ihr und schenke dem Mädchen ein Lächeln. „Na klar. Ich habe eh nichts Besseres zu tun, oder? Dafür bin ich ja irgendwie hier.“ Ich erkenne Erstaunen in ihren großen Kinderaugen. Im nächsten Moment macht sie ein Gesicht, als wolle sie losweinen, doch es fließen keine Tränen. „Ich werde alles tun“, wimmert sie. „Ich werde alles wieder in Ordnung bringen. Das mit dir, ihr, Ori-pon und Bruder. Ich mache alles wieder gut, versprochen!“ „Ori-pon?“ Verdattert wechsle ich die Seite. Orion hat sich offenbar ins Diesseits zurückgefunden, denn er mustert Mari aus großen Augen. Als er meinen Blick bemerkt, lächelt er verlegen, bevor er das Kinn senkt und sich mit einem Finger über die Wange kratzt. „Ich fange sofort damit an!“ Ohne Vorwarnung springt sie auf ihre Beine. Als ich es bemerke, ist sie bereits in der Luft. „Halt mal, Mari!“, rufe ich ihr nach und erhebe mich eilig. „Nicht so schnell, ich habe noch Fragen!“ „Ja?“ Gott sei Dank hält sie an und dreht sich zu mir herum. Etwas versetzt kehrt sie zurück und landet leichtfüßig vor mir im Sand. „Ja?“ „Ähm … Wo soll ich anfangen?“ Na großartig. Vorhin hatte ich so viele Fragen und jetzt … alles weg. Tolle Kiste. Zum Verrücktwerden! „Da sind diese Träume“, beginne ich und studiere sie achtsam. „In denen tauchst du auf, in einigen von ihnen. Kommt das durch dich?“ „Träume? Ah, wenn du schläfst? Ja, das bin ich“, bestätigt sie und nickt. „Wenn ich das tue, kann ich mit dir reden, ohne dass es jemand bemerkt. Aber es ist sehr anstrengend, weißt du?“ „Dachte ich mir. Nun, die Sache ist die … Diese Träume sind ganz schön wirr und manchmal beängstigend. Könntest du daran etwas machen?“ Sie schiebt die Arme nach hinten und senkt betroffen den Blick. „Bitte entschuldige. Ich kann versuchen, es besser zu machen.“ „Danke. Und dann sind da diese Flaschbacks …“ Ich hadere. Wie soll ich das am besten formulieren, damit sie versteht, was ich meine? „Also diese Momente, in denen mir irgendwelche Bilder in den Kopf kommen. Oder Stimmen … Was ist damit? Was ist das?“ „Bilder?“ „Naja, zum Beispiel …“ Ich sinne nach, bevor ich meine Antwort formuliere. „Neulich zum Beispiel war ich mit Luka verabredet. Während ich dasaß und auf ihn gewartet habe, hatte ich das Gefühl, genau diese Szene schon einmal erlebt zu haben. Und dann habe ich Bilder gesehen, von Luka und mir, in denen er sich für irgendetwas entschuldigt hat. Sie waren genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen waren. Oder erst neulich war ich duschen und dann habe ich Stimmen gehört …“ „Oh, das“, stößt sie verstehend aus. Alle Verklemmung fällt von ihr ab und weicht einem hellen, unverhohlenen Interesse. „Du kannst sie also wirklich sehen? Weißt du, das sind ihre Erinnerungen. Sie kommuniziert mit dir!“ „Sie?“ Mir wird ganz flau im Magen. „Du meinst, von meinem vorherigen Ich? Sie kann Kontakt mit mir aufnehmen?“ Grotesk! „Hm, nicht direkt“, druckst sie. Unwohl dreht sie mit den Füßen im Sand, ohne mir auszuweichen. „Sie kann nicht mit dir reden, wie ich es kann. Aber es gibt eine Verbindung. Es war schwer, das zu machen, weißt du?“ Woah, das muss erst einmal sacken. Da bekommt dieses gepflogene »Selbstgespräche führen« plötzlich eine ganz neue Bedeutung. „Wenn wir eine Verbindung haben“, greife ich auf und zögere, den Gedanken zu Ende zu spinnen. „Heißt das, sie ist noch hier? Wo ist sie? Was ist mit ihr passiert?“ Bestürztheit überschattet Maris hübsches Gesicht. Ich erkenne es, bevor sie den Kopf von mir abdreht und betroffen zu Boden stiert. „Naja, sie –“ „Mari-sama!“ „Mann, du bist gemein!“, trotzt sie an Orion zurück. Eingeschnappt bläht sie die Backen. „Warum darf ich es ihr nicht sagen? Das ist nicht fair!“ „Vergesst die Regeln nicht. Niel-sama hat gesagt –“ „Die Regeln sind doof!“, plärrt sie weiter. „Ich weiß ja, aber sie sind trotzdem doof. Ich will ihr doch nur helfen! Bruder sagt immer, wir sollen für unsere Taten Verantwortung übernehmen!“ „Schon, aber …“ „Bruder übernimmt nie die Verantwortung.“ Auf ihren eigenen Kommentar rümpft sie die Nase und wirft den Kopf aufmüpfig zur Seite. „Wie damals, als er diesem Kind diese Augen gegeben hat. Der Junge wollte nur von den Mädchen geliebt werden, die ihn immer geärgert haben. Und was ist passiert? Bruder hat sich nie mehr um ihn gekümmert.“ Huh? Kommt mir diese Geschichte nicht irgendwoher bekannt vor? „Redet ihr von Ikki?“ „Ahaha“, lacht Orion auf. Es dauert nur kurz, dann verstummt er und lässt gedemütigt die Schultern nach vorn fallen. „Ich werde nicht so wie Bruder“, resultiert sie. Entschieden tritt sie an meine Seite und baut sich zu ihrer vollen Größe auf. „Ich passe auf sie auf. Ich bin für sie verantwortlich. Ihr wird nicht dasselbe passieren! Allerdings“, wendet sie sich an mich. Ich erkenne tiefes Bedauern in ihren hellblauen Augen. „Ich darf dir wirklich nichts sagen. Ich darf nicht bestraft werden, bis ich ihre beiden Wünsche erfüllt habe. Ich habe es Bruder versprochen … Wenn doch, kommst du vielleicht nie mehr nach Hause. Das will ich nicht …“ Ich schlucke. Dass die Lage so ernst ist, damit hätte ich nicht gerechnet. Und dass ich auf Mari angewiesen bin, ob sie scheitern wird oder nicht … Nein, das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht. Dennoch nicke ich zustimmend. Welch andere Wahl habe ich? „Ich muss jetzt los“, verkündet sie und steigt abermals empor. Ein letztes Mal dreht sie sich nach mir herum und schenkt mir ein aufbauendes Lächeln. „Bitte warte auf mich. Ich werde tun, was ich kann, um alles wieder richtig zu machen. Du darfst nicht sterben.“ Ja, toll. Genau diesen Zuspruch habe ich jetzt gebraucht. Vielen Dank auch für diese netten Aussichten, Mari. Wirklich sehr aufbauend …   „Sag mal“, wende ich mich Orion zu, während wir die Straßen entlanglaufen. „Wie viel von dem hast du gewusst, was Mari uns erzählt hat?“ „Nicht viel“, antwortet er leise. Seit Maris Aufbruch ist es das erste Mal, dass er wieder spricht. „Niel-sama hat mir erzählt, dass sie sich einem Wunsch angenommen hat und dass sie deswegen in dieser Welt ist. Das war, nachdem ich dir begegnet bin. … Also nicht dir, du weißt schon.“ Ich nicke und wende meinen Blick nach vorn. In meinem Kopf wirbelt der Input, den ich heute errungen habe. Zusammen mit dem, was ich zuvor hatte, wird mir noch manches zu ordnen bleiben. Zu einem ruhigeren Zeitpunkt. „Ich weiß nicht, wessen Wunsch es war“, erzählt er weiter, „aber Niel-sama sagte, dass er für Mari zu groß war. Deswegen ist er hier, um ihr zu helfen. Weißt du, Maris Kräfte sind weit geringer als seine.“ „Ja, das sagtest du schon.“ „Aber es ist nicht so einfach“, erklärt er mit einem Seufzen. „Ein Wunsch, der einmal erfüllt wurde, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Regeln sind sehr streng. Nicht einmal Niel-sama kann sich darüber hinwegsetzen.“ „Aber ich denke, der Wunsch wurde nicht erfüllt?“ „Das nicht, aber Mari hat eingegriffen. Damit kann das, was sie verändert hat, nicht mehr rückgängig gemacht werden. Und sie kann nicht zurück in unsere Welt, bis der Wunsch richtig erfüllt ist.“ „Hm. Ist das nicht anstrengend für sie?“ „Mh“, bestätigt er. „Niel-sama sagt, dass es anstrengender wird, je länger es dauert. Mari war viel in der Welt der Menschen, bevor das passiert ist, deswegen ist sie an sie gewöhnt. Aber sie hat noch nie einen Wunsch dieser Größe erfüllt. Niel-sama sagt, dass er viel Zeit braucht, was viel Kraft kostet.“ „Hm.“ Ich lasse mir das Gehörte einen Moment auf mich wirken. „Machst du dir Sorgen um Mari?“, frage ich, wobei ich ihn ansehe. Er nickt. „Ja, große. Aber ich kann nichts tun.“ „Das tut mir leid“, sage ich mitfühlend. Ratlos suche ich den grauen Asphalt nach einer Lösung ab, was ich tun soll. „Ich würde gern helfen, aber wie? Wenn ich nur wüsste, was das für ein Wunsch war …“ Orion dreht seinen Kopf zu mir. Es vergeht ein stiller Moment, bis er das Gesicht wieder abwendet, ehe er spricht: „Weißt du, als du vorhin sagtest, dass du Mari helfen willst, hat sie sehr glücklich ausgesehen.“ „Huh? Findest du?“  „Ich glaube, du hast sie überrascht. Nach allem, was passiert ist, dachte sie wohl nicht, dass du ihr vergeben würdest. Dass du ihr stattdessen sogar helfen willst, muss ihr viel bedeutet haben.“ „Naja, eigentlich hat es nicht viel mit Vergeben zu tun“, murmle ich, ohne ihn anzusehen. Seine Worte stimmen mich verlegen. „Ich meine, gut, da ist wohl etwas schiefgelaufen, aber sie hat es ja nicht böse gemeint letztendlich. Sollte ich ihr daraus wirklich einen Vorwurf machen?“ „Heißt das, du bist ihr wirklich nicht böse?“ „Sagen wir, mir ist es wichtiger, dass alles wieder ins Lot kommt. Ich habe daran ein mindestens so großes Interesse wie ihr. Außerdem … ein wenig freue ich mich ja schon.“ Diesen Satz flüstere ich lediglich. Ich weiß nicht, ob Orion es gehört hat. Es ist mir auch egal, solange er es nicht aufgreift. „Du, sag mal“, ergänze ich nach einiger Zeit, „dass ich hier bin, hat doch etwas mit diesem Wunsch zu tun? Kannst du mir nicht sagen, was ich tun kann?“ „Nein, du bist nicht deswegen hier“, widerspricht er leise. Kurz überlegt er, was er sagen soll. „Du bist ihretwegen hier, soweit ich weiß. Niel-sama sagt, dass es zwei Wünsche gibt.“ „Ach ja, stimmt ja“, gebe ich geknickt zurück. Mutlos seufze ich. „Mari sagte ja so etwas. Aber dann hatte mein anderes Ich mit diesem Wunsch zu tun. Und da ich an ihrer Stelle stehe, so irgendwie … Oder verwechsle ich da was?“ „Ich weiß es nicht genau“, beteuert er und sieht zu mir auf. „Wirklich. Aber mach dir keine Sorgen. Mari hat dir versprochen, dass sie alles tun wird, um dir zu helfen. Und Niel-sama hilft ihr dabei. Du wirst sehen, es wird alles gut werden.“ Na, ich weiß nicht. Zwei Chaotengötter auf einem Haufen, ob das wohl gut geht? Zumal ich noch immer nicht weiß, was dieses »alles wird gut« in meinem Fall überhaupt zu bedeuten hat. Werde ich nach Hause kommen? Und wenn, wie geht es dann weiter? „Ne, Ori-pon“, lenke ich vom Thema ab. Ich kann mir ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen. „Hast du vielleicht Hunger? Du hast seit dem Mittag nichts mehr gegessen. Was hältst du von einer Pause?“ „Ich habe ihr gesagt, dass sie mich nicht so nennen soll“, springt er an. Ich erkenne, dass seine Wangen eine rote Farbe angenommen haben. Ah, zu niedlich! „Wieso nicht? Ist doch süß.“ „Es ist aber nicht mehr angemessen.“ „Nicht mehr? Also standet ihr euch mal nahe?“ „Mari war vorher wie ich, bevor sie eine Göttin wurde. Wir haben viel Zeit zusammen verbracht.“ „Hm, verstehe. Also deswegen benutzt du die Höflichkeitsform nur, wenn du direkt mit ihr sprichst.“ Er nickt vorsichtig. „Es ist noch ungewohnt, aber so ist es richtig“, flüstert er. „Wie funktioniert das eigentlich?“, möchte ich wissen. „Ich meine Niel ist ein Gott, wenn du sagst, dass er und Mari gleich sind. Aber jetzt sagst du, dass Mari vorher wie du war. Und du bist kein Gott, richtig? Also wie funktioniert das?“ „Nein, ich bin kein Gott. Ich wurde von Niel-sama erschaffen und diene ihm. Götter können das, wir nennen sie »Könige« in unserer Welt. Es gibt viele von ihnen. Jeder kann ein Gott werden, wenn er es will.“ „Echt? Einfach so?“ „Nein, so einfach ist es nicht. Hm, wie soll ich dir das erklären?“ Nachdenklich legt er den Kopf zur Seite. Er überlegt einige Zeit, ehe er fortsetzt: „Du musst einen sehr starken Wunsch haben und du musst stark daran gebunden sein. Wenn du dann … Hm, so genau weiß ich das eigentlich nicht. Niel-sama sagt, es ist wie eine zweite Geburt. Naja, also eigentlich unsere Erste. Wir werden ja nicht geboren so wie ihr.“ „Verstehe ich nicht.“ „Ich auch nicht“, meint er und lacht, worin ich einstimme. „Ist ja auch egal. Also, wie sieht es aus? Ich lade dich ein. Wir sollten schauen, dass du regelmäßig isst. Das ist wichtig für einen heranwachsenden Jungen und so.“ Als wolle er meine Anregung bestätigen, gibt Orions Magen ein langes, lautes Grummeln ab. Es bewirkt, dass sich Orion beide Arme um den Bauch schlingt. Erneut schleicht ihm die Röte auf die Wangen, was mich auflachen lässt. „Okay, das war eindeutig. Also, sag schon. Worauf hast du Lust?“   Kurz darauf haben sich Orion und ich auf einer der Stadtbänke niedergelassen. Eine flache Pappschale wärmt meine ausgekühlten Hände. Sicher wäre bei diesem Wetter ein ruhiges Plätzchen in einem der vielen Imbissrestaurants besser gewesen, aber … Verdammt, dieser Duft war einfach zu verlockend gewesen! Skeptisch mustere ich die kleinen Teigbällchen auf meiner Schale. Sie sind mit dicken Salzkrümeln überstreut, wie der Verkäufer es mir empfohlen hat. Von ihnen geht ein schwacher Geruch aus, der typisch für Gebackenes ist. Auch sehen sie wenig eindrucksvoll aus, schlicht hellbraun mit etwas dunkleren Flecken hier und da. Viel spannender dürfte ohnehin das Innere sein. Mich überkommt ein mumliges Gefühl, ob meine Wahl nicht doch einen Ticken zu mutig war. „Und du hast so etwas wirklich noch nie gegessen?“ Ich schüttle auf Orions Frage den Kopf. „Nein. So etwas gibt es bei uns in Deutschland nicht.“ Takoyaki. Runde Teigbällchen mit Oktopusstückchen, hat mir der Verkäufer auf meine Nachfrage erklärt. Ein beliebter Snack, der ursprünglich aus Osaka stammt. Gerade wenn man es noch nie gegessen hat, müsse man es probieren. Man würde den besonderen Geschmack, der von dem angemengten Dashi kommt, nie mehr vergessen. Er sei unvergleichbar auf der ganzen Welt, versprach er. Ich habe keine rechte Ahnung, was Dashi ist. Allerdings glaube ich mich zu erinnern, dass es sich dabei um eine wichtige Gewürzzugabe handelt. Sie wird in allem Möglichen verwendet, unter anderem in Misosuppe. Hatte ich irgendwann einmal gelesen, aber so genau weiß ich es nicht mehr. Ich pflocke eines der Bällchen auf meinen kleinen Holzspieß. Er geht ganz leicht durch die weiche Masse. Kurz überlege ich, ob ich mir das ganze Stück in den Mund schieben soll. Der Vorsicht halber  entscheide ich, fürs Erste nur vorsichtig abzubeißen. „Heich!“, keuche ich aus. Hektisch schnaufe ich gegen das dampfende Stück auf meiner Zunge an. Verdammt, konnte mich keiner vorwarnen, dass es so dermaßen heiß ist? „Und?“, will Orion wissen. „Ist es gut?“ Ich versuche, den Bissen einigermaßen zu kühlen, ehe ich kaue. Ein mild-würziger Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Das Innere ist weich, nahezu cremig und zergeht auf der Zunge. Irgendwo dazwischen schmecke ich einen Anteil Fisch heraus. Es erinnert mich entfernt an Garnele, aber doch anders. Der Geschmack ist dezent und vermengt sich angenehm mit dem Rest. „Mh, das ist echt gut“, bestätige ich, nachdem ich geschluckt habe. Überrascht sehe ich auf den übrigen Rest meines Bällchens, bevor ich diesen als Nächstes verputze. Eine erneute Welle des Genusses überkommt mich und ich seufze verzückt. „Das sieht man“, kommentiert Orion amüsiert. Darauf imitiert er mein Vorgehen, beißt vorsichtig in eines der Bällchen, was nach kurzer Prozedur ein vergnügliches Jauchzen zur Folge hat. „Lecker!“ „Was ist das?“, werde ich auf etwas aufmerksam, während ich ihn beobachte. Unmissverständlich deute ich mit meinem Spieß auf seinen Handrücken. „Hm? Das? Das sind nur Kratzer.“ „Wo hast du die her?“ „Auf dem Spielplatz war eine Katze, mit der ich gespielt habe. Aber als Mari kam, hat sie Angst bekommen. Sie hat mich gekratzt, als sie versucht hat, davonzulaufen.“ „Lass mal sehen“, sage ich und lege mein Schälchen zur Seite. Gründlich besehe ich mir die roten Striemen, die zweireihig unter dem Zeigefinger durch seine blasse Haut ziehen. „Hm, tut es weh? Du hättest mir etwas sagen können.“ „Nein, es tut nicht mehr weh. Brennt nur, wenn man es anfasst.“ „Wir sollten eine Apotheke aufsuchen, nur für den Fall. Ich habe leider keine Pflaster dabei. Katzen können alles Mögliche unter ihren Krallen haben, egal ob sie drinnen oder draußen sind.“ Orion nickt, womit wir uns einig sind. Wir genießen noch den Rest unsere Portionen, bevor wir uns auf die Suche nach Verarztung machen. Eine Apotheke ist bald gefunden und ich weine über die Preise, die man für ein medizinisches Pflaster verlangt. Doch es ist für Orion, versuche ich mich zu trösten. Das Geld könnte wesentlich schlechter investiert sein. In Zigaretten, zum Beispiel. Gott, wie schön es ist, sich selbst zu sabotieren. Darauf gleich mal eine verbrauchen!   Auf unserem Rückweg zum Bahnhof reden wir über meinen Besuch bei Luka. Ich erkläre Orion, was es mit den Zetteln auf sich hat, von denen Mari gesprochen hatte. Auch berichte ich von Lukas Verhalten und was ich bezüglich unseres angeblichen Streits in Erfahrung bringen konnte. Das Buch, welches ich entwendet habe, verschweige ich. Es lohnt sich nicht, die Pferde scheu zu machen, bevor ich den Inhalt kenne. Zumal Orion so schon nicht gut auf Luka zu sprechen ist. Ich will ihm wirklich keinen Extragrund geben, mir eine weitere Sorgenpredigt zu halten. „Mir graut es wirklich davor, Rika gleich anrufen zu müssen“, sage ich, während wir auf unseren Zug warten. Ich unterstreiche meine Worte mit einem wehleidigen Seufzen. „Das glaube ich. Aber ist es nicht gut, dass sie sich geirrt hat?“ „Schon. Wobei es mich echt ärgert, dass sie sich überhaupt einmischt. Ich meine, wie alt sind wir? Luka kann ja wohl für sich selbst sprechen, wenn ihn etwas kratzt.“ „Vielleicht denkt sie, dass er für dich zu sehr zurücksteckt?“ „Er und zurückstecken?“ Ich lache anzweifelnd. „Ich denke nicht, dass er dafür der Typ ist. Die einzige Person, für die er das tun würde, wäre Rika. Aber bestimmt nicht für mich, das hat er bereits bewiesen.“ „Ich mache mir Sorgen wegen der Ausstellung.“ „Ich auch“, stimme ich zu und runzle die Stirn. „Wenn auch aus anderen Gründen. Eine Buchmesse wäre mir lieber gewesen.“ Orion sagt nichts. Sein Schweigen lässt mich vermuten, dass dieses Thema Befangenheit in ihm auslöst. „Wie ist deine Crêpe? Lecker?“ „Mh, sehr“, bestätigt er und nickt. Anbietend hält er die zarte Gebäcktüte mit dem sahneumrahmten Schokoeis in der Mitte zu mir hoch. „Magst du wirklich nicht probieren?“ Ich winke mit einem Lächeln ab. „Danke, aber ich bin noch satt von den Takoyaki. Es sieht sehr gut aus, aber lass es dir mal schmecken. Ich mag wirklich nicht.“ „Na gut“, meint er und dreht sich zurück nach vorn. Still schmunzelnd beobachte ich, wie er genüsslich an seiner Portion mümmelt. „Oh, Entschuldigung“, höre ich eine Frau irgendwo hinter mir sagen. Über die Schulter drehe ich mich herum und bemerke einen kleinen Tumult vor einem Blumenladen. Dort hat eine junge Frau mehrere Einkaufstüten aus den Händen verloren und ist eilig dabei, ihre Habseligkeiten wieder einzusammeln. Zwei Passanten und ein Angestellter helfen ihr dabei. Ich beobachte die Gruppe, wobei mein Interesse auf dem Angestellten ruht. Irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor. Ich könnte mich irren, aber dieser junge Mann sieht aus wie … „Unser Zug kommt“, ruft Orion aus, was mich nach vorn sehen lässt. Sekunden später fährt die U-Bahn ein und es wird lebhaft um uns herum. Ich werfe noch einen Blick zurück, doch die Aufregung vor dem Blumengeschäft hat sich inzwischen gelegt. Von dem Angestellten ist nichts mehr zu sehen. Mit gemischten Gefühlen folge ich dem Menschenstrom. Mein Verdacht lässt mich nicht los und ich wüsste zu gern, ob er berechtigt ist. Wenn ja, hätten wir künftig eine Sorge weniger. Es wäre zwar eine lustige Fügung, aber hey, laut Laters ist es gar nicht so abwegig. Und ehrlich gestanden, ich würde es sogar begrüßen, wenn dem so wäre. Wir finden einen Vierersitz und ich lasse mich Orion gegenüber sinken. Er verputzt noch den Rest seiner Crêpe, während ich überlege, ob ich ihm von meiner Beobachtung erzählen soll. „Ich glaube, ich habe gerade Niel gesehen.“ Überrascht sieht er zu mir auf. „Wirklich? Wo?“ „In dem Blumenladen am Bahnhof. Ich könnte mich allerdings auch irren, aber ich glaube, er war es.“ Ich beobachte, wie es in dem Jungen arbeitet. Gern wüsste ich, mit welchen Gedanken er spielt. „Was hältst du davon, wenn wir demnächst noch einmal vorbeikommen und uns vergewissern?“, schlage ich vor. Aufmunternd lächle ich. „Ich habe schließlich noch eine Entschuldigung offen. Und bestimmt gibt es Dinge, die ihr noch besprechen wollt?“ Er nickt, womit es beschlossen ist. Ich drehe den Kopf ab und bette das Kinn auf meinen aufgestützten Arm. Den Rest der kurzen Fahrt lasse ich einfach alles an mir vorbeiziehen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Nicht an mein anstehendes Telefonat mit Rika, nicht an das Buch in meiner Tasche. Alles Nervenfresser. Später, aber nicht jetzt.   Endlich zu Hause und des klammen Mantels befreit, kehre ich sofort in die Küche ein. Ich fühle mich halb erfroren und sehne mich einem warmen Cappuccino entgegen. Den habe ich mir verdient, bin ich der Meinung. Dazu noch ein wenig Ruhe, bevor ich mich der nächsten Tortur stellen darf. „Magst du auch etwas trinken?“, rufe ich nach Orion aus. Ich vermute den Kleinen im Flur, was sich bewahrheitet, als er von dort auf mich zukommt. „Darf ich etwas von deinem Cappuccino haben?“ „Na klar“, sage ich und lächle ihn an. Eine zweite Tasse gesellt sich zu meiner. „Setz dich solange doch schon mal ins Wohnzimmer. Du kannst den Fernseher anmachen, wenn du magst. Aber nicht zu laut. Ich glaube, Ukyo schläft noch.“ Orion nickt und entfernt sich. Meine Gedanken driften zu Ukyo ab, während ich auf das Wasser warte. Seine Jacke wie seine Mütze hatten an der Garderobe gehangen, was bedeutet, dass er zu Hause ist. Da ich ihn noch nicht gesehen habe, wird meine Vermutung wohl richtig sein. Gut wäre es, er hatte am Morgen wirklich nicht gut ausgesehen. Auf meinen Weg ins Wohnzimmer werfe ich einen verstohlenen Blick zur Uhr. Kurz vor halb vier. Lange sollte ich mein Telefonat mit Rika nicht mehr hinauszögern. Sicher brennt sie schon auf ein Update von mir. Besser, ich bringe es bald hinter mich. Die beiden Tassen verteilt, lasse ich mich auf einem der Stoffhocker sinken. Ich nehme einen ersten Schluck von meinem geliebten Heißgetränk, bevor ich es zur Seite stelle. Im Austausch angle ich mir mein Handy vom Tisch und wähle mich in die Liste der letzten Anrufe. Rika hatte von einer unbekannten Nummer aus angerufen. Besser, ich speichere sie ab, nur für den Fall. Man kann nie wissen, wann es einem zum Vorteil genügt. „Sag mal“, fange ich Orions leises Gemurmel auf. Ich sehe hoch und erkenne, wie er im Schneidersitz auf dem hellen Polster wippt und unruhig mit seiner Tasse spielt. „Was ist?“ „Also, ich will dich das eigentlich schon die ganze Zeit fragen.“ Er zögert noch einen Moment, dann rückt er seine Haltung zurecht. Aus offenen, wenn auch zweifelnden Augen sieht er mich an. „Magst du Luka eigentlich wirklich?“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Wie kommst du jetzt darauf?“ „Mir ist nur aufgefallen, dass du ihn vorhin verteidigt hast. Liebst du ihn wirklich?“ Seine Frage erschüttert mich. „Nur weil ich jemanden verteidige, heißt das noch lange nicht, dass ich irgendwelche Gefühle für ihn hege“, brumme ich missmutig. Ich wende mich wieder meinem Handy zu, einfach, um mich abzulenken. „Ich hielt es nur nicht für fair, wie ihr immer über ihn redet. Da konnte ich nicht länger meine Klappe halten. Aber das hatte nichts mit Luka per se zu tun. Ich hätte das bei jedem anderen genauso getan.“ Stille kehrt ein, die wenige Sekunden dauert. „Und wenn ich dir sage, dass Luka in der Vergangenheit sehr schlimme Dinge getan hat?“ Ich seufze gedehnt. „Und was, wenn ich dir sage, dass es mich nicht schocken würde? Ich sagte doch, dass ich weiß, dass er gefährlich ist. Glaub es mir einfach. Ich sagte das nicht ohne Grund.“ Den ich ihm allerdings nicht nennen kann, wie ich weiß. Wie auch? Sollte ich ihm etwa erzählen, was außerhalb dieser Zeit im Rahmen eines Spiels vorgefallen ist? Zumal es ein ganz anderes Universum betrifft, womit es für diese Welt von keinem Belang ist. Die Umstände sind auch komplett andere. Welchen Anlass sollte es geben, um eine Realisierung zu triggern? Nein, ich muss den Teufel nicht an die Wand malen. Das hier ist nicht das Crowd-Jokerverse und Luka ist längst nicht nur ein Lückenbüßer, der für einen unsinnigen Kick herhalten muss. Er ist so viel mehr, real und ein individueller Charakter, wie jeder andere auch. Er hat eine Chance verdient. Und sollte er die vergeigen … Nun, dann habe ich mich wohlmöglich geirrt, aber ich habe es zumindest versucht. „Interpretiere das bitte nicht falsch, ich bin einfach so. Und jetzt muss ich Rika anrufen. Drück mir die Daumen, dass wir das schnell über die Bühne bringen.“   Es tutet ganze drei Mal, ohne dass etwas passiert. Beim vierten Tuten überlege ich, einfach aufzulegen und es später erneut zu versuchen, als endlich angenommen wird: „Ja, bitte? Hier spricht Rika.“ „Hier ist Shizana. Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.“ „Shizana-san, ich habe deinen Anruf bereits erwartet.“ Urgs, genau das hatte ich befürchtet … Ich reiße mich zusammen, sachlich zu bleiben. „Ich sollte mich melden, sobald ich mit Luka-san gesprochen habe. Ich war bei ihm und es ist alles in Ordnung, wie ich gesagt habe.“ „Ja, ich hörte bereits. Ich bin beruhigt, dass alles nur ein Missverständnis war“, verkündet sie handzahm. Wäre ich eine Katze, mir würde vor Wut und Entsetzen das Nackenfell zu Berge stehen. „Ich hörte auch, dass mein verehrter Bruder dich zu der anstehenden Kunstausstellung eingeladen hat. Du wirst uns also begleiten?“ Huch, Moment mal. „Uns?“ „Selbstverständlich“, schnurrt sie am anderen Ende, als sei es selbstergebend. „Es ist ein wichtiges Ereignis für meinen Bruder, natürlich ist es auch mir wichtig. Sein Glück und sein Erfolg liegen mir am Herzen. Ihn in einem solchen Moment begleiten zu dürfen, ist mir eine große Freude.“ Na toll, so viel dazu. Wer hätte gedacht, dass ich meine Entscheidung so schnell bereuen würde. Hätte man mich vorgewarnt, dass Rika mit von der Partie ist, ich hätte mir meine Zusage fünfmal überlegt. „Da du uns begleiten wirst, werde ich mich selbstverständlich im Hintergrund halten. Sei unbesorgt, ich werde meinem Bruder und dir nicht im Wege stehen. Ich bin mir darüber bewusst, wie viel es ihm bedeutet, dich an seiner Seite zu wissen. Und für dich ist es eine Ehre, du solltest es genießen dürfen.“ „Danke.“ „Nicht doch, ich danke dir“, säuselt sie lieblich. „Ich freue mich, dich auf der Veranstaltung zu sehen. Du wirst ganz hinreißend an der Seite meines Bruders sein. Zieh dir bitte etwas Schickliches an.“ „Ich werde es versuchen“, sage ich, wobei ich in Gedanken meinen Kleiderschrank durchgehe. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe noch etwas zu erledigen. Ist es in Ordnung, wenn wir das Gespräch beenden?“ „Aber natürlich. Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast.“ „Keine Ursache, und gleichfalls. Ich wünsche dir dann noch einen schönen Abend.“ „Dir ebenfalls, Shizana-san.“ – Klick, und damit ist es vorbei. „Mist. Ich wusste nicht, dass Rika auch kommt“, fluche ich leise. Ich lege das Handy auf dem Tisch ab und erhebe mich von meinem Platz. „Kann ich dich hier vorne allein lassen? Ich müsste etwas in meinem Zimmer überprüfen.“ „Na klar. Verlief das Gespräch gut?“ „Bis auf den Punkt, dass ich auf der Veranstaltung zwischen beiden Geschwistern stehen werde“, grummle ich. „Das kann ja was werden. Ich bin hellauf begeistert.“ „Kannst du nicht noch absagen?“ Ich schüttle den Kopf. „Dafür ist es zu spät. Rika würde mich in Fetzen reißen. Außerdem wäre es Luka gegenüber nicht fair.“ „Also gehst du trotzdem? Wirklich?“ „Ja. Vorausgesetzt, ich finde etwas zum Anziehen.“   Genau diesen Punkt prüfe ich ab, als ich kurz darauf in meinem Zimmer stehe. Wie nicht anders erwartet, gibt mein Kleiderschrank nicht viel her. Jedenfalls nichts, was mir für eine Ausstellung angemessen erscheint. Abgesehen von dem, was ich mit Luka erworben habe, sticht nichts heraus, das »für besondere Anlässe« brüllt. „Großartig“, murre ich ernüchtert. „Im schlimmsten Fall muss ich schon wieder shoppen gehen. Wie ich das hasse. Ich kann mir diesen Firlefanz nicht leisten!“ Niedergeschlagen lasse ich die Schranktüren zufallen. Anschließend wende ich mich dem Bett zu, auf welchem ich meine Tasche zuvor lieblos abgeladen habe. Sie ist zugeklipst und zeigt nichts von ihrem Inhalt. Allein bei der Erinnerung spüre ich, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. Die Matratze gibt leicht nach, als ich mich setze. Indem ich mir die Tasche auf den Schoß hebe, öffne ich den Deckel und lange ins Innere. Der harte Lederverband fühlt sich regelrecht ausgekühlt unter meinen Fingern an. Ich streiche einmal über die glatte Frontfläche, ehe ich das Buch auf eine zufällige Seite aufschlage. Wieder begegnet mir meine vertraute Handschrift. Wenige Sätze genügen, um mir zu bestätigen, dass die Texte in diesem Buch rein persönlicher Natur sind. Mir kommt erneut die Frage, wie Luka in den Besitz von etwas so Privatem gelangen konnte. Wenn das hier wirklich so eine Art Tagebuch von »mir« ist, wieso befindet es sich dann nicht geschützt in meiner Reichweite? Ich verstehe es nicht. Abweisend schüttle ich den Kopf. Nein, ich verstehe es wirklich nicht, und vielleicht werde ich es auch nie erfahren. Sehr wohl aber, was mein vorheriges Ich bewegt hat. Zumindest hoffe ich das, sofern ich mit meiner Vermutung richtig liege. In diesem Buch könnten Antworten verborgen sein. Wenn ich so darüber nachdenke, weiß ich nicht, ob ich mich ihnen wirklich stellen will. Was, wenn ich etwas erfahre, das meinen Standpunkt komplett in Zweifel stellt? „Ich brauche eine Zigarette“, beschließe ich und erhebe mich. Vorsorglich schiebe ich das Buch unter mein Kopfkissen, bevor ich das Zimmer verlasse. Orion ist im Wohnzimmer nicht auszumachen, woraus ich schlussfolgere, dass er im Bad ist. Soll ihm wohl zustehen. Ich für meinen Teil schnappe mir Schachtel und Feuerzeug und ziehe mich auf dem Balkon zurück. Kaum draußen, bereue ich, nicht in der warmen Stube geblieben zu sein. Es ist noch kälter geworden, der Regen hat eingesetzt und in der Ferne bahnt sich ein Unwetter an. Eigentlich die perfekte Gelegenheit, Vernunft walten zu lassen. Aber bleibe ich ehrlich: die Gewohnheit überzeugt. Die Flamme vor dem Wind abschirmend, zünde ich meine Zigarette an. Ich nehme einen tiefen Zug und lege den Kopf zurück, den Blick zum Himmel gerichtet. Wirklich zu blöd. Ein Tag im Winter ist schon zu kurz, da brauchen wir nicht noch so hässliche, dicke Quellwolken, die alles verfinstern. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis etwas aufzieht. Besser, ich beeile mich ein wenig. Übel gelaunt lehne ich mich über die Mauer. Sie ist feucht vom Regen und fühlt sich unter den Ärmeln unangenehm kalt an. Ich mummle mich in meinen Pulli und ziehe an meinem Glimmel, doppelt so eifrig, als ich es für gewöhnlich täte. Bloß schnell fertig werden und dann nichts wie rein. Der Wind nimmt zu, oder bilde ich mir das ein? Ich bin beim letzten Zug, als mich ein heftiger Windstoß trifft. Er ist so stark, dass ich taumle und einen Schritt seitwärts weiche. Was, bitte, war das gerade? Ich drehe mich von der Brüstung weg, als eine zweite Welle kommt. Dieses Mal trifft sie mich frontal und ich schaffe es nicht, mich ihr entgegenzustemmen. Meine Schulter schmerzt, als sie gegen die harte Seitenmauer aufschlägt. Dann folgt ein Knacken, ein Bröckeln und ich bemerke zu spät, wie der Halt in meinem Rücken auseinanderbricht. Auf einmal ist da nichts mehr, das mich hält. Kapitel 24: Lass nicht los! --------------------------- Vorbei, das war’s. Ende der Fahnenstange. Wieso auf einmal? Was habe ich verbrochen, dass das passiert? Ich will noch nicht sterben … Meine Hände jagen durch die Luft. Ich greife, wonach auch immer ich zu fassen kriege. Ich erwische ein Stück Mauer, die unter meinen Fingern zerbröselt wie morsches Knäckebrot. Meine Hände rutschen an der feuchten Hauswand entlang, sie ist zu glatt. Mist, ich habe keine Zeit! Ich finde keine Alternative. Mein Körper kippt nach hinten. Ah, so schnell kann es also gehen. Wenn ich mit dem Kopf oder Genick aufschlage, ist es vorbei. Ich könnte auch Glück haben und es erwischt nur ein paar Knochen. Das ist der zweite Stock. Meine Lage und Höhe berücksichtigt, wie hoch sind meine Überlebenschancen? Schwerkraft mal Gewicht … Hätte ich in Physik nur besser aufgepasst. Ich sehe den dunklen Wolkenhimmel über mir. Diese hässlichen, grauen Miesepeterdinger, die diesen Tag verspotten. Selbst durch die fetten Tropfen, die auf meiner Brille verwischen, erkenne ich sie noch. Welch Ironie. »An Tagen, an denen es regnet, passiert immer etwas Schlimmes«, heißt es. Ich erinnere mich genau an Lupins Worte. So toll ich Code:Realize auch fand, dieses Klischee ist doof. Einfallslos. „Du darfst nicht sterben“, hat sie gesagt. Ob Mari wohl wusste, was mir bevorsteht? Ich werde sie nie mehr fragen können. Schlimmer, ich kann ihre Bitte nicht erfüllen. Es tut mir leid. Wessen Schuld ist es? Ach, egal. Ist jetzt eh zu spät, es macht keinen Unterschied. Es ist vorbei. Tränen brennen in meinen Augen. Ich schließe sie in einer stummen Kapitulation. Es gibt so vieles, was ich bereue. Mein Traum, eines Tages als Autor ein Buch rauszubringen, wird sich nie mehr erfüllen. Ich habe zu lange gewartet. Meine Zeit, hier und in meiner eigentlichen Welt, ich habe sie nicht richtig genutzt. Sie war zu kurz, nun ist es vorbei. Gerade als ich das denke und mit allem abschließe, packt etwas nach meinem Bein. Ein heftiger Ruck stoppt meinen Fall. Bevor ich mich versehe, hänge ich kopfüber in der Luft. Es ist, als hätte jemand die Zeit angehalten. Ich kapiere nicht, was los ist. „Hmpf, das war es also? Perfektes Timing.“ „Ukyo!“, schnappe ich laut. Ich kann nicht fassen, dass Rettung eingetroffen ist. In letzter Minute, nein, Sekunde! „Bitte, zieh mich rauf!“ Meine Arme wirbeln herum, auf der Suche nach Halt. Wie auf Knopfdruck sind alle Lebensgeister zu mir zurückgekehrt, und mit ihnen der Zeitverlauf. Ich darf nicht aufgeben, ich werde es nicht! Mir pumpt so heftig das Adrenalin durch die Venen, dass es in meinen Ohren rauscht. „Oh, du verstehst mich falsch“, höre ich Ukyo sagen. Es klingt … belustigt. Wieso lacht er? „Ich meinte kein perfektes Timing für dich, sondern für mich!“ Etwas stimmt nicht, das wird mir schlagartig bewusst. Das Schaudern ergreift meinen Körper schneller, als mein Kopf schalten kann. Ich beuge mich hoch, so gut ich kann. Über dem Rand der Balkonmauer erkenne ich das Gesicht meines Mitbewohners. Es ist feucht von dem klatschenden Regen. Sein langes Haar wirbelt in dem tosenden Wind. Was ich des Weiteren erkenne, behagt mir nicht. Dieses Grinsen, unverhohlen amüsiert … es bereitet mir Grauen. Er lacht, lauter dieses Mal. Ich kann das Beben von seiner Hand aus spüren. Seine Finger verrutschen an meinem Fußgelenk, was mein Herz einen Schlag überspringen lässt. „Welch erfreulicher Anblick! Habe ich es nicht gesagt? Ich habe ihm gesagt, dass es passieren wird. Wenn es auch länger gedauert hat, als ich erwartet habe. … Egal, jetzt hat das Warten ein Ende. Alles wird wieder seine gerechte Ordnung bekommen.“ Wovon redet er da? „Ukyo, bitte“, appelliere ich drängend. „Zieh mich hoch, schnell!“ „Auf keinen Fall“, spricht er gleichgültig. „Das ist die perfekte Gelegenheit. Sobald ich loslasse, erledigt sich alles von selbst. Es ist so einfach, fast bedauerlich.“ Mir gefriert sämtliches Blut. Es besteht kein Zweifel, welcher Ukyo das ist. Trotz dass er mich hält, stehen meine Überlebenschancen nicht besser als zuvor. Das wird mir jäh bewusst, und es schnürt mir die Kehle zu. „Tu’s nicht!“, stoße ich aus. Die Panik hat mich fest im Griff. „Bitte, lass nicht los!“ „Du wirst es kaum merken“, übergeht er mein Flehen und ich höre, dass er grinst. „Sei froh, du kannst dich glücklich schätzen. Ein kurzes Knacken, Ende. Es könnte qualvoller sein.“ „Gott verdammt, zieh mich hoch!“ „Ukyo? Was ist denn … Shizana!“, höre ich eine Jungenstimme von oben. Gott sei Dank! „Orion!“ „Warte, ich helfe –“ „Zurück!“, fährt Ukyo schneidend dazwischen. Darauf poltert es laut, es ruckt und ich stoße einen hohen Schrecklaut aus. „Orion, nehme ich an? Noch eine Dummheit, und ich lasse sie fallen!“ „Nein!“ „Ukyo …?“, schnauft Orion gepresst. Er klingt angeschlagen. „Wieso? Warum tust du das? Willst du sie wirklich verletzen?“ „Falsch. Ich helfe ihr, dass es leichter wird.“ „Leichter? Du willst sie doch retten, oder nicht? Lass mich dir helfen!“ „Wieder falsch.“ Ukyos Pause lässt mich vermuten, dass er den Kopf schüttelt. Sehen tue ich es nicht. „Es ist ihr Schicksal, hier zu sterben. Ich habe das nicht ausgesucht. Doch ich muss zugeben, es könnte mir nicht gelegener kommen.“ „Was sagst du da? Ukyo, soll das ein Scherz sein? Ich dachte, ihr seid Freunde!“ Er lacht, bitter und finster. „Freunde? Unmöglich! Sie ist das Schlimmste, das uns passieren konnte! Sie ist der Grund, dass sich die Dinge wiederholen! Wie kann man so blind sein, so naiv und dumm? … Egal, es wird gleich vorbei sein.“ „Tu’s nicht!“, schreie ich aus. „Gott, lass nicht los! Ich will nicht sterben!“ „Ukyo, bitte!“, appelliert Orion an ihn. „Sei doch vernünftig! Ich weiß nicht, was los ist, aber du bist nicht du selbst. Du würdest Shizana doch nie etwas antun!“ „Hmpf, naives Kind.“ „Niel-sama vertraut darauf!“, fährt Orion fort. „Er glaubt daran, dass sie bei dir in sicheren Händen ist. Deswegen hat er sie dir anvertraut. Und ich weiß, dass er –“ „Still!“ Ein weiterer Ruck geht durch meinen Körper. Ich brülle wie am Spieß, voller Angst, dass er den Halt um meine Fessel verliert. Doch zu meinem Erstaunen ist sein Griff eiserner denn zuvor. Es schmerzt. „Genug mit dem Geplänkel! Es endet hier. In dieser Welt –“ „Ukyo will das nicht!“, rufe ich dazwischen. Trotz des Rauschens in meinen Ohren, dem Pochen in meinen Schläfen und der eisigen Kälte auf meiner Haut ist mir eine Sache nicht entgangen. Die Belastung auf meinen Körper ist enorm, doch jetzt ist nicht die Zeit zum Wegdriften. Ukyo, er ist … „Er hält mich fest, oder nicht? Wenn du mich so sehr töten willst, wieso hänge ich dann hier noch herum? Ich weiß nicht, was ich dir getan habe, aber Ukyo würde niemals –“ „Was weißt du schon?!“, fährt er mich an. Die Klammer um mein Gelenk wird fester. „Was glaubst du über ihn zu wissen? Heuchlerin, du weißt nicht das Geringste!“ „Das ist nicht …“ „Weißt du denn, warum er sich Nacht für Nacht aus dem Haus schleicht? Was er wegen dir durchmacht? Von wegen!“ Seine Worte schneiden tief. Sie schmerzen mehr als alles, was er mir sonst antun könnte. In meinem Hals formt sich ein Kloß. „Ich habe ihn gewarnt, dass es so kommen wird, aber der Idiot wollte nicht hören“, spricht er weiter, begleitet von einem kehligen Knurren. „Wir könnten uns all den Ärger ersparen. Wenn du nicht aufgetaucht wärst! Wenn du nicht wärst …!“ „Ukyo, bitte“, flehe ich mit schwacher Stimme. „Ich weiß, dass du mich hören kannst. Lass das nicht zu! Dann wäre alles umsonst gewesen!“ „Zwecklos.“ „Wir sind Freunde! Du hast mich gerettet!“ „Es ist vorbei.“ Es nützt nichts. Meine Worte dringen nicht zu ihm durch. Nun gut, wenn Worte nicht helfen … Ich spanne mich an. So gut ich kann, strecke ich das Kinn nach vorn und suche nach Ukyos Arm. Konzentration, Anwinkeln, und dann mit aller Kraft …! Der Stoß versetzt meinen Körper ins Pendeln. Mit Schrecken bemerke ich, wie der Halt um meine Fessel rutscht. Im selben Moment bereue ich, was ich soeben getan habe. Jetzt ist mir das Ende gewiss. Doch der erwartete Fall bleibt aus. Ich richte all meine Sinne in Richtung Fußgelenk, taub vom aufgescheuchten Klopfen meines Herzens. Die Hand, die mich hält … sie ist noch da! „Ah, M-Mist. Schwer … Was ist …? Shizana!“ Oh Gott, ich kann’s nicht glauben! Ich lächle beim Klang seiner Stimme. Sie ist von Verwirrung und Aufruhr geprägt, aber sie lässt mich hoffen. – Es ist noch nicht vorbei. „Hat er …? Hör zu, du darfst nicht aufgeben! Ich hole dich rauf, versprochen!“ Ich will etwas sagen, etwas erwidern, doch jedes Wort bleibt mir im Halse stecken. Meine Lippen gehorchen mir nicht, sie beben unkontrolliert. „ Verd…“, presst er hervor. Die Anstrengung ist unüberhörbar. „Tut … mir leid. Das ist ganz allein … meine Schuld. Wenn ich ihn nur nicht … herausgelassen hätte …“ „Ukyo“, unterbreche ich ihn. Meine Kehle schmerzt dabei, meine Stimme ist brüchig. „Schon gut. Zieh … mich einfach hoch!“ „Okay.“ Sein Griff um meinen Knöchel wird fester. Ich spüre, wie seine Finger zittern. Bitte, lass ihn nur nicht weiter abrutschen! „Ich … kann nicht“, keucht er gedrückt. „Es ist … schwer. Ich kann mich … nicht … bewegen.“ Ich bin versucht, mich nach oben zu beugen. Mein Körper fühlt sich an wie Blei. Vielleicht besser so, jede meiner Bewegungen würde es Ukyo nur zusätzlich erschweren. Also halte ich still, bange unruhig und bemerke am Rande, wie einzelne Klümpchen und Bröckchen an mir vorbeirieseln. Ich bete, dass die Mauer Ukyos Gewicht standhalten wird. Wenn nicht, stürzen wir beide in die Tiefe. In dem Moment, als mir das bewusst wird, wünschte ich, er würde loslassen. „Ukyo!“, höre ich Orion rufen. Mein Herz macht einen Hüpfer. Gott, den Jungen hatte ich ganz vergessen. „Lass mich dir helfen! Ich kann … Sag mir, was ich tun soll!“ „Orion? Was machst du …? Egal jetzt. Decken!“ „Was?“ „Hol Decken, schnell!“ „Wo finde ich die?“ „In … meinem Schrank. Hol zwei. Und verknote sie fest!“ „Aber wie …?“ „Beeil dich!“ Es folgt keine Antwort. Ukyos Finger verrutschen ein weiteres Stück. Ich fühle mich hilflos, dass ich nichts tun kann, um ihn zu entlasten. Mir gehen die Ideen und die Kraft aus. Und was Ukyo vorhat, ich weiß es, doch ich habe laute Zweifel, dass es funktionieren wird. „Ukyo … Das klappt nicht.“ „Orion muss sich beeilen“, knirscht er zwischen den Zähnen. Das Zittern seiner Hand wird stärker. „Ich weiß nicht, wie lange …“ „Wir werden beide abstürzen.“ „Das werden wir nicht! Ich werde dich nicht loslassen, auf keinen Fall! Ich verspreche dir, es wird alles wieder gut. Also … gib nicht auf!“ Wie gerne würde ich ihm glauben, doch die Angst ist stärker. Hier geht es nicht mehr nur um mein Leben, sondern auch um seines. Ich will nicht sterben, wirklich nicht. Aber so, wie die Aussichten stehen … „Wir können das schaffen!“, stört Ukyo meine Gedanken, als habe er sie gehört. Sein schweres Schnaufen verrät, wie er um Kräfte ringt. „Ich … ich glaube daran. Ganz fest sogar! Du darfst … nur nicht aufgeben!“ „Ich bin zu schwer“, presse ich hervor. Die Verbitterung treibt neue Tränen in mir hoch. Ich kneife die Augen zusammen. „Du kannst mich kaum halten. Und dann noch der Regen …“ „Glaub daran!“, drängt er. „Wir können … wenn wir alle zusammen …“ „Hey, Sie da!“, ruft eine fremde Männerstimme dazwischen. Ich will aufsehen, kann aber nicht. „Was machen Sie da? Brauchen Sie Hilfe?“ „Ich … kann sie nicht hochziehen.“ „Was, da ist noch jemand? Warten Sie, ich helfe! Gut festhalten!“ Meine Gehirnzellen arbeiten, aber es nützt nichts. Ich kann diese Stimme keiner Person zuordnen. Ein Nachbar vielleicht? Das wäre die einzige Erklärung. Sie kam von oben, glaube ich. Das ist durch den Wind nicht so gut zu bestimmen. „Ukyo, ich habe die Decken!“ „Bring sie her“, fordert Ukyo an. „Hast du sie gut verknotet?“ „Ich habe es so fest gezogen, wie ich konnte. Aber ich weiß nicht, ob das reicht.“ „Das ist zu riskant!“, werfe ich ein. Der Gedanke, dass mein improvisiertes Rettungsseil reißen könnte, bereitet mir Horror. „Lass ihn lieber mit festhalten! Versucht mich zu zweit raufzuziehen!“ „Orion ist nicht stark genug“, widerspricht Ukyo. „Wir können nicht umgreifen. Ich … kann mich nicht genug abstützen, um dich raufzuziehen.“ „Ich könnte dich stützen?“ „Zu gefährlich“, weist Ukyo zurück. „Wir müssen das mit den Decken versuchen. Wir haben … keine andere Wahl.“ „Lasst uns lieber warten. Auf die Hilfe“, sage ich. Das scheint mir das Einzige zu sein, was wir im Moment tun können. Ich hoffe nur, dass Ukyo durchhalten wird. Es fällt mir schwerer, meine Aufmerksamkeit nach oben zu richten. Mein Kopf schmerzt, die Ohren drücken und mir ist kalt, so unsagbar kalt. Es ist kaum zu ertragen. Bitte, lass es bald vorbei sein. Lange stehe ich das nicht mehr durch. „Aufgepasst!“, ertönt die Männerstimme von vorhin. Es erschien mir wie eine Ewigkeit des Harrens, doch jetzt wage ich wieder zu hoffen. „Ich lasse ein Seil runter!“ Die Sekunden ziehen sich wie Gummi, bis ich aus dem Seitenblickwinkel das graue Wunder aus geflochtenem Garn erfasse. Ich warte voller Ungeduld, bis es weit genug zu mir hinunterreicht, rufe ein „Stopp!“ und greife danach. „Gehen Sie mit einem Arm durch die Schlaufe“, wird mir gewiesen, „und fassen Sie dann mit beiden Händen über den Knoten. Sagen Sie, sobald sie einen festen Griff haben, dann ziehe ich Sie rauf!“ Leichter gesagt, als getan. Ich starte einige Manöver, doch mein Körper ist in dieser Position und Verfassung schwer zu koordinieren. Der reißende Wind macht es nicht besser. Es kostet mich alle verbliebene Konzentration, um ruhig und gezielt zu hantieren. Erst beim dritten Versuch klappt es und ich klammere mit allem, was ich an Kräften übrig habe, an dem rau-kratzigen Material. „Gut festhalten!“ Endlich geht es aufwärts und mit dem Straffen des Seils zurrt sich die lockerliegende Schlaufe eng um mein Handgelenk. Ich spüre noch Ukyos Hand an meinem Fuß, der nicht loslässt, bis ich ihm meinen sicheren Halt versichert habe. Danach geht es schnell. Ehe ich mich versehe, greifen zwei starke Arme um meinen Körper und ziehen mich aus der Luft. Nach einer schieren Ewigkeit in Bange und Furcht spüre ich wieder sicheren Boden unter den Füßen. Ich höre Ukyos bebende Stimme, die mich tröstet und mir versichert, dass alles überstanden ist. Seine Kleider sind nass, wie er mich eng an seinen Körper drückt. Meine Glieder zittern, mein Blick verschwimmt. Dann wird alles schwarz. Ich sacke kraftlos in mich zusammen.   Was danach alles passiert ist, habe ich nur am Rande mitbekommen. Kurze Zeit nach meiner Rettung war ein Auflauf an Polizei, Feuerwehr und Rettungsleuten in unserer kleinen Wohnung eingetroffen. Soweit ich es aufgeschnappt habe, hatte einer der Nachbarn den Notruf bedient. Aufmerksam, ohne Frage, und ganz klar die richtige Entscheidung. Leider äußerst unglücklich für mich. Wenn ich eines gern vermieden hätte, dann schon wieder an die Polizei zu geraten. Zum zweiten Mal binnen drei Tage. Kein guter Kurs. Ich wurde zum Vorfall befragt, doch mehr als dass ich einen Anschlag ausschließe, konnte ich nicht beitragen. Zu meiner geringeren Überraschung befand der Rettungshelfer einen Schockzustand an mir, worauf man sich mit allen weiteren Fragen an Ukyo hielt. In all der Zeit war Orion nicht von meiner Seite gewichen. Seine Hand streichelte behutsam über meinen Arm, während wir gemeinsam auf der Couch verblieben. Ich vermag nicht zu sagen, was seine Worte mir geflüstert haben. Sie sind an mir vorbeigegangen, so wie alles andere, was meine Aufmerksamkeit nicht länger bedurfte. Auch jetzt sehe ich zu niemandem auf. Ich nehme nichts um mich herum wahr, blende alles aus. Die vielen Menschen, ihre verschiedenen Stimmen, selbst die wohlige Decke um meine Schultern. Nicht einmal der vertraut duftende Cappuccino in meinen Händen behält mich im Raum.   Auf Orions Anraten nehme ich ein Bad. Als ich aufgewärmt und in trockener Kleidung ins Wohnzimmer zurückkehre, hat sich die Meute verzogen. Ich höre keine Gespräche, sehe nur Orion, der soeben auf mich zukommt. „Ukyo ist bei den Nachbarn“, erklärt er gleich. „Sich für die Hilfe bedanken und für die Sache mit dem Balkon entschuldigen. Er sagt, dass du dir keine Gedanken machen sollst. Er regelt das schon. Magst du etwas trinken?“ „Nein“, sage ich und schüttle den Kopf. „Ich … denke, ich will einen Moment allein sein. Ich gehe in mein Zimmer.“ Orion hält mich nicht ab und ich gehe, ohne ihn eines Blickes gewürdigt zu haben. Jetzt gerade kann ich keinen von ihnen ertragen. In meinem Zimmer lasse ich mich aufs Bett sinken. Ich sitze eine Weile nur da, starre auf den Dielen imitierenden PVC-Boden und denke an nichts. Dann, in einer Art Ausbruch, werfe ich mich bäuchlings auf die Matratze, kralle um das Kissen und vergrabe mein Gesicht tief darin. Ich weine. All das, was ich die letzte Stunde erfolgreich unterdrückt habe, besiegt mich jetzt. Ich werde von meinen Emotionen überrollt: der Angst, der Verzweiflung und der plättenden Erleichterung, dass ich wie durch ein Wunder überlebt habe. Schon wieder. „Ich kann nicht mehr“, wimmere ich laut. Mein Schluchzen wird von dem Stoff erstickt. „Bitte, ich will nicht mehr. Ich will nur noch nach Hause. Ich kann einfach nicht mehr …“ Ich lasse mich gehen, zerfließe in meinem Elend, bis mir die Tränen versiegen. Ich fühle mich längst nicht befriedigt, schon gar nicht getröstet. Frustriert versuche ich, noch etwas aus mir herauszudrücken, doch bis auf mühsame Schluchzer kommt da nichts mehr. ‚Wieso passiert das alles?‘ Diese Frage geht mir nicht aus dem Kopf. Bei aller Fanliebe, die ich stets für Amnesia übrig hatte und mit allen Mitteln verteidigt habe, aber ich hatte nie auf dem Plan, dafür im wörtlichen Sinne mein Leben zu lassen. Wieso wird ein Segen zu so einem Fluch? Was habe ich in meinem vorherigen Leben verbrochen, dass ich dieser Glaubensprüfung unterzogen werde? – Ha, wenn es nur das wäre. Ein wünschenswertes Kinderspiel. „Wieso hast du mich hergeholt?“, frage ich erstickt in den Raum hinein. Es gilt Mari, die mir natürlich nicht antwortet. Das wäre wohl zu einfach. Was gäbe das auch, wenn ich frei nach Laune mit ihr kommunizieren könnte? Dieses System der Geister weiß schon, wie es richtig geht. Bloß nicht zur Stelle sein müssen, wenn es unangenehm wird. Ich fühle mich von allem im Stich gelassen. „Wieso bist du nicht hier?“, gilt mein nächster Vorwurf meinem Vorgänger-Ich. Mari hat angedeutet, dass sie noch da ist. Sie kommuniziert mit mir. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, dass sie es wieder täte. „Wo bist du? Was ist mit dir passiert? Wieso … musste ich für dich einspringen?“ ‚Vielleicht ist ihr etwas Ähnliches passiert‘, geht mir durch den Sinn. In den letzten Tagen sind mir so viele Dinge widerfahren, die mich beinah das Leben gekostet hätten. Da war diese Sache mit dem Auto … Kurz darauf kam die Pfanne und heute wäre ich mal eben in den Tod gestürzt. Das sind zu viele Vorfälle auf so kurze Zeit, um es als Zufall abzutun. Die Welt … hat es auf mich abgesehen. Ja, das ist die einzige Erklärung. Arbeitet Amnesia nicht mit der Theorie, dass Eingriffe in die Weltenordnung von einer höheren Macht verfolgt und schwer bestraft werden? Ukyo hat das erfahren müssen. Er ist unzählige Male gestorben, weil er in fremde Welten eingedrungen ist. Was, wenn mir nun ganz genau dasselbe droht? „Ich kann doch nichts dafür …“ Ich weigere mich, dieses Schicksal anzuerkennen. Ich hatte keinerlei Einwirkung auf das, was hier geschehen ist. Oder was gerade geschieht. Ich bin doch einfach nur hier, mehr nicht. Ich bin nicht mehr als eine Gefangene in dieser Welt … Genieße ich diesen Umstand zu sehr? Ist das der Grund, dass ich so bestraft werde? „Hey, antworte mir“, knirsche ich verzweifelt. Meine Sinne tasten nach einer Gegenwart, die nicht vorhanden ist. „Was ist passiert? Wo bist du? Sag mir, wie ich mich verhalten soll. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Bitte … Ein Zeichen, irgendeins. Egal was.“ Ich lausche in den Raum hinein, vergebens. Eine Antwort bleibt aus. Vielleicht ist es besser so. Eine Stimme aus dem Nichts zu hören, wäre gruselig gewesen und hätte mich wohlmöglich überfordert. Mir ist durchaus bewusst, dass das Wenigste hier mit reiner Logik zu erklären ist. Das bedeutet aber nicht, dass ich jede Abstrusität so einfach hinnehmen kann. Das geht nicht, unmöglich. Ich bin noch eine Weile still, warte auf irgendwas. Schließlich setze ich mich auf, schaue im Zimmer umher, sehe aber nichts Außergewöhnliches. Dieselben Möbel wie immer, schlicht und dem Nutzen genügsam, wie ich sie inzwischen gewöhnt bin. Orions provisorisches Bett vor meinen Füßen. Das Fenster hinter mir geschlossen und reglos. Aus der Wohnung höre ich nichts. Es ist ruhig und einsam. Geistesabwesend greife ich unters Kissen. Ich erfühle das harte Cover und ziehe das kleine Buch hervor, das ich dort versteckt hatte. Ich hebe es auf meinen Schoß und betrachte es teilnahmslos. ‚Vielleicht stecken Antworten darin‘, denke ich bei mir. Wenn sie mir so schon keiner geben will, was hält mich davon ab, sie mir zu holen? Dieser kleine Träger enthält bestimmt etwas, das mir Aufschluss gibt. Und sei es nur, wie das Ganze seinen Anfang nahm. Vielleicht erfahre ich auch, was passiert ist. Was »mir« widerfahren ist. … Ich zweifle für eine Sekunde, ob es gut ist, das zu erfahren. Schließlich ist genau das der Grund, warum sich Orion und Mari so bedeckt halten. ‚Lass gut sein‘, rede ich mir zu und schüttle den Kopf. Entschieden lege ich das Büchlein zurück und streiche das Kissen glatt. Meine Nerven sind zerwühlt genug. Wenn ich ehrlich bin, will ich gar keinen weiteren Input aufnehmen. Es reicht für heute. Mir soll einfach alles egal sein. Ich rolle mich auf den Rücken und mache mich lang. Während ich stumm zu der weißen Decke starre, kommen die Gedanken und Bilder wieder in mir hoch. Endlich sammeln sich neue Tränen und ich bekomme eine zweite Chance, mich von meinen Emotionen überschwemmen zu lassen. Ich drehe mich zur Seite und schlinge die Decke um mich. Die Nase in dem warmen Stoff vergraben, vergesse ich alles um mich herum. Ich wimmere hemmungslos.     Das Zimmer ist lichtdurchflutet, als ich blinzelnd die Augen aufschlage. Wie ich es geschafft habe einzuschlafen, ist mir ein Rätsel. Es war gegen sechs abends gewesen, als ich das letzte Mal auf die Uhr gesehen habe. Jetzt ist es … keinen Schimmer. Brummend mühe ich mich nach oben und halte mir den Schädel, kaum dass ich im Schneidersitz angelangt bin. Die erste Frage, die ich mir an diesem Morgen stelle, lautet, ob wir Kopfschmerztabletten im Haus haben. Müssten wir, im Medizinschränkchen hatte ich welche gesehen, wenn mich nicht alles täuscht. Wie herrlich, wenn man den Tag direkt mit einem Chemiecocktail beginnen darf. Ein erster Blick auf mein Handy zeigt mir, dass es bereits nach zehn ist. Ein zweiter, dass ich eine Nachricht erhalten habe. Ich bin nicht gerade bester Dinge, als ich das Mobiltelefon entsperre und feststellen muss, dass sich mein Stalker erneut gemeldet hat. Die neue Botschaft, schlicht formuliert mit »Bald sehe ich dich wieder. Ich freue mich darauf«, ist so aussagekräftig denn je. Ich will am liebsten mein Handy gegen die nächste Wand pfeffern, oder zumindest meine Nummer abmelden lassen. Bevor ich Ähnliches tun kann, empfängt mich ein Anruf. Ich erschrecke so stark durch die plötzliche Vibration, dass ich das Gerät aus der Hand verliere. Skeptisch prüfe ich die angezeigte Nummer, nur um eilig das Telefon aufzusammeln und überstürzt anzunehmen. „Ja?“ „Guten Morgen“, säuselt dieser wohle Klang von Stimme, worauf ein amüsiertes Kichern folgt. „Oder sollte ich besser sagen: Guten Tag. Ich war nicht sicher, ab wann ein Anruf dich nicht stört, und jetzt ist es später geworden, als ich vorgehabt hatte.“ „Du störst nicht“, bringe ich hervor. Nervös streiche ich durch mein Haar, ordne es, obgleich es albern ist. Er wird den Wulst auf meinem Kopf kaum sehen können. „Ich bin … nur überrascht. Was gibt’s?“ „Habe ich dich geweckt?“ Ich schlucke ertappt. Bevor ich etwas sagen kann, lacht Ikki am anderen Ende der Leitung. „Deine Stimme klingt noch etwas verschlafen. Ich hoffe, du nimmst mir meinen Anruf dennoch nicht übel.“ „Nein.“ Argh, und wieder genügt ein einziger Satz, dass er mich besiegt! Dagegen komme ich nicht an. „Sehr gut. Der Grund für meinen Anruf ist folgender: Im Kino läuft heute ein Film an, der ganz interessant klingt. Und ich dachte mir, da wir beide heute keine Schicht haben, könnten wir zusammen hingehen und ihn uns ansehen. Wie sieht es aus, wärst du frei?“ Ich bringe kein Wort heraus. Irre ich mich, oder ist das eine Einladung? Auf ein Date etwa? Au Backe. „Öhm, ich …“ „Es ist ein Tanzfilm“, beginnt er zu erläutern. „Mit Starbesetzung und verliehenem Musik-Oscar. Du sagtest einmal, dass du dich dafür interessierst. Er soll sehr gut sein. Was sagst du?“ Verdammt. „Es klingt gut, aber … Ist es wirklich okay, wenn wir zusammen gehen?“ „Wieso nicht?“ „Naja, weil eben …“ „Ken muss arbeiten“, argumentiert er. „Und ich bin frei. Kino klingt ganz gut, und mit dir wird der Film gleich umso besser. Oder hast du schon etwas anderes vor?“ „Nein.“ „Dann lade ich dich ein“, spielt er den finalen Zug. Und setzt mich ins Schachmatt. „Ich nehme an, du wünschst noch immer nicht, dass ich dich von zu Hause abhole? In dem Fall schlage ich vor, treffen wir uns direkt vor Ort. Du kennst das Kino?“ „Ich … werde mich hinfinden.“ „Ich kann dir die Adresse geben, falls du sie brauchst. Dann sagen wir 15 Uhr?“ Mein Herz rast. Oh Gott! „Okay, 15 Uhr.“ „Sehr schön. Ich freue mich sehr darauf.“ „Ich mich auch.“ „Dann sehe ich dich später. Nur keine Sorge, ich werde dich finden.“ „Ich verlasse mich darauf. Also, bis später.“ „Bye.“ Damit ist das Telefonat beendet. Ich lasse das Handy sinken. Ungläubig, was da soeben passiert ist. Ich habe einem Treffen mit Ikki zugesagt. Halb so wild, komm wieder runter. Das muss noch lange nichts heißen. Es ist nur Kino, mehr nicht. Aber … ach, verdammt! Ein Treffen mit Ikki! Ein Klopfen an der Tür unterbricht meine wüsten Gedanken. Gerade rechtzeitig, um das Fangirl in mir von einer Privatkopfparty abzuhalten. Ich vernehme Orions fragendes „Darf ich reinkommen?“, bevor er schon den Kopf durch den Rahmen schiebt. „Mit wem hast du gesprochen?“ „Mit Ikki“, sage ich ruhig und lege das Mobiltelefon zur Seite. Gott, sähe es in mir nur auch so beherrscht aus. „Er hat mich angerufen.“ Orion schließt die Tür leise hinter sich und tritt zu mir heran. Das Bett gibt kaum merklich nach, als er sich an meiner Seite niederlässt. „Was wollte er denn? Ging es um die Arbeit?“ „Nein, er hat mich eingeladen. Heute ins Kino.“ „Oh.“ Er wird still darauf, als müsse er nachdenken. „Mit Ikki? Ehrlich? Findest du nicht, dass er ein ziemlicher Womanizer ist?“ „Ja doch, schon“, gebe ich zu. „Aber, wie soll ich sagen? Ich mag ihn halt. Und ich freue mich darauf, um ehrlich zu sein.“ „Dann ist doch gut, denke ich. Du hast dir eine Auszeit verdient. Nach gestern …“ „Ja.“ Ich nicke. Mein Herz fällt von einem Freudentanz in einen schweren Trab. Gestern. Die Erinnerungen kehren zurück und brechen so heftig über mich herein, dass mir übel wird. „Geht es dir gut?“, klingt Orion besorgt. Mein Nicken ist vorsichtig. „Etwas Kopfschmerzen. Ich werde gleich eine Tablette nehmen. Aber sonst geht es mir gut, denke ich.“ „Du musst also nicht ins Krankenhaus?“ „Nein, ich denke nicht. Ich stehe vielleicht noch ein wenig unter Schock … aber mir ist nichts passiert“, versichere ich und schenke dem Jungen ein Lächeln. „Ich werde nur so bald auf keinen Balkon mehr gehen, so viel ist sicher.“ „Mh.“ Orion wendet den Blick von mir ab und sieht betreten auf seine Füße. Gerade als es unbehaglich wird, sagt er: „Tut mir leid, dass ich nichts tun konnte. Ich hätte so gern geholfen, aber ich …“ Ich schlucke unwillkürlich. Die Bilder in meinem Kopf werden immer klarer: die Welt auf Kopf, Bad-Ukyo über mir, die Angst und Kälte überall … Mist, das wird mir noch eine Weile nachhängen. „Ist schon okay, Orion“, spreche ich schwach und sehe ebenfalls weg. „Du hast getan, was du konntest, ebenso wie Ukyo. Es war eben eine sehr unglückliche Situation … Und du hättest nicht sehr viel mehr tun können. Sieh es so, mir ist am Ende nichts passiert und ich lebe noch.“ „Ja, aber was wäre, wenn der Mann nicht –“ „Denken wir nicht daran“, falle ich dazwischen. Tröstend stoße ich meine Schulter sanft gegen seine. „Es ist alles gut ausgegangen. Lass uns nicht mehr darüber reden, okay? Und keine Eventualitäten durchgehen, was hätte passieren können. Das macht’s nicht besser.“ Er nickt, worauf ich mich erhebe. „Ich habe Frühstück gemacht“, meint Orion und tut es mir gleich. „Die Brötchen sind leider nicht mehr warm … Ich wollte dich nicht wecken. Aber wir können zusammen essen. Ukyo ist nicht da.“ Ich zucke bei der Erwähnung von Ukyos Namen unmerklich zusammen. Es sticht kurz in meiner Brust, während sich zeitgleich eine Gänsehaut über meine Arme zieht. „Ich habe keinen Hunger“, sage ich leise und gehe ans Fenster. Nachdem ich es geöffnet habe, wende ich mich Orion zu und lächle bemüht. „Aber ich komme mit raus und leiste dir Gesellschaft. Ein Cappuccino täte mir grad ganz gut.“   Mein Blick huscht verstohlen zu der geschlossenen Balkontür, als wir das Wohnzimmer durchqueren. Mir wird mulmig zumute, als ich daran denke, welch Chaos dahinter liegen muss. Von drinnen ist nicht viel zu erkennen, was vielleicht besser ist. Ich wüsste nicht, ob ich gemütlich mit Orion sitzen könnte, wenn ich die ganze Zeit die Hinterbleibsel einer Horrorszene vor mir hätte. „Ukyo war die ganze Nacht nicht zu Hause“, erzählt mir Orion, als ich samt Tabletten in die Küche zurückkomme. Ich setze uns Wasser auf für warme Getränke und versorge mich nebenbei. „Ich habe ihn nur kurz gesehen, als er vorhin die Brötchen gebracht hat. Ich soll dir ausrichten, dass du dir keine Sorgen machen sollst. Mit den Nachbarn ist alles geklärt und er spricht noch heute mit eurem Vermieter wegen des Schadens.“ Und da ist es wieder, das schlechte Gewissen. Während ich geschlafen habe, hat er sich den ganzen Ärger allein aufgehalst. Darunter viel unangenehmer Kram. Ich empfinde gleichzeitig Respekt, wie schnell er im Klären so vieler Dinge ist. Ich hätte das nicht gekonnt. Doch dass er jetzt nicht da ist … „Hat er etwas gesagt, wann er zurück ist?“ „Nein“, sagt Orion und schüttelt den Kopf. „Wir haben nicht wirklich gesprochen, um ehrlich zu sein. Er hat mir nur die Schlüssel gegeben und gesagt, was ich dir eben gesagt habe. Danach ist er gleich wieder gegangen.“ „Er hat dir seine Schlüssel gegeben?“, frage ich perplex. Orion nickt. „Hm, okay?“ Das ist schon seltsam. Aus welchem Grund sollte Ukyo so etwas tun? Aber gut, vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken. Wesentlich beunruhigender ist, was Orion zuvor gesagt hatte. „Woher weißt du, dass er die ganze Nacht weg war? Hast du nicht geschlafen?“ „Naja doch, ein wenig. Ukyo hat gesagt, dass es wichtig ist, dass ich mich ausruhe. Aber ich bin oft wach geworden und bin umhergelaufen. Ich habe ihn kein einziges Mal gesehen, wenn ich wach war. Und seine Schuhe waren auch weg.“ Das klingt ziemlich übel. Armer Ukyo, was mag wohl in ihm vorgehen? Bestimmt macht er sich Vorwürfe, sicher fühlt er sich schrecklich. Ich hoffe nur, dass er unversehrt zurückkommt. Hier ist doch sein Zuhause. „Ich weiß nicht, ob ich mich entschuldigen sollte“, gestehe ich leise. „Wofür denn? Du kannst doch nichts dafür. Du musst dich nicht entschuldigen.“ „Ich weiß, aber ich habe dennoch das Gefühl, dass ich es sollte“, seufze ich. „Ich meine, ihr hattet beide so viel Ärger wegen der Sache. Und ihr habt beide schlecht geschlafen.“ „Die Hauptsache ist, dass keinem etwas passiert ist“, meint Orion und lächelt überzeugt. „Ukyo, du und ich, wir sind alle mit einem Schrecken davongekommen.“ „Einem gewaltigen Schrecken.“ „Ja.“ „Lass uns erst mal frühstücken“, schlage ich vor. „Und lass uns bitte nicht mehr darüber reden. Ich mag vorerst nicht mehr daran denken.“ Wir setzen uns gemeinsam an den Essenstisch, wo Orion seine Brötchen schmiert und ich an meiner Tasse halte. Wir lenken unser Gespräch auf das schöne Wetter und was man in Deutschland an solchen Tagen machen würde. Wir landen beim Sommer, ich erzähle von meinem Zuhause, meinen Katzen und Freunden. Irgendwann kehren wir zum Heute zurück und meiner anstehenden Verabredung mit Ikki. Gerade rechtzeitig, denn das Heimweh schlich sich bereits in die Mitte meines Herzens. Ich kann es nicht vermeiden. Wann immer ich mich unbeobachtet fühle, huscht mein Blick in Richtung Balkontür. In mir braut sich ein Gemisch aus Neugierde und böswollender Abneigung. Auf der einen Seite will ich diesen Balkon so bald nie wieder betreten müssen. Auf der anderen … will ich es sehen. Ich habe das Gefühl, dass ich es muss. Nur so werde ich mit dieser Sache abschließen können. Wirklich wohl ist mir bei diesem Gedanken jedoch nicht.   Nach dem gemeinsamen Abräumen schicke ich Orion ins Badezimmer, um sich die klebrigen Hände zu waschen. Ich warte geduldig, bis er außer Sicht ist, ehe ich mich meinem Vorhaben zuwende. Ich schiebe die Balkontür nur ein Stück weit auf, gerade ausreichend, um im Rahmen zu stehen. Der Schaden am hinteren Eck ist kleiner, als ich erwartet habe. Er wirkt lachhaft unspektakulär, dass wohl niemand erahnen würde, welche Folgen er letzte Nacht nach sich gezogen hat. Es betrifft lediglich das Wandeck, an dem vielleicht ein halber Meter Breite fehlt. Der Schaden geht knapp bis zum Boden, mittig des Lochs ist dieser fransig. Wenige Bröckchen liegen am Rand verteilt, das meiste hat wohl den Weg nach unten gefunden. Mir wird schlecht, als ich den Moment erneut durchlebe, wie jeder Halt in meinem Rücken verlorenging. Einfach so, ohne Vorwarnung. Ich versuche mich zu entsinnen, erinnere mich aber nicht, zuvor einen Mangel an der Wand bemerkt zu haben. Wie konnte ein stabiles Gerüst so einfach wegbrechen? „Shizana?“ „Komme schon“, rufe ich an Orion zurück. „Ich wollte mir nur kurz ein Bild machen. Keine Sorge, alles gut.“ Entschieden schiebe ich die Tür ins Schloss und überlasse diesen Albtraum den Trümmern seiner selbst.   Es ist gerade einmal elf. Ich habe noch locker drei Stunden, bis ich mich fertig machen muss. Was fange ich mit dieser Zeit nur an? Reglos sitze ich auf der Couch, einen zweiten Cappuccino in der Hand und starre Löcher in den Tisch vor mir. Orion liegt neben mir. Zusammengerollt und ruhig atmend kann es nicht mehr lange dauern, bis er eingeschlafen ist. Ich will ihn nicht stören, der Kleine hat sich etwas Ruhe verdient. Ich gehe in meinem Kopf die Möglichkeiten durch. Viel zu putzen gibt es nicht, die Wohnung sammelt überraschend wenig Schmutz. Auffallend, wenn man keine Tiere im Haus hat. Ich bin es gewohnt, sonst regelmäßig mit Feger und Sauger durch die Bude zu gehen. Ganz zu schweigen von den Haaren, die überall sind. Aber hier, nichts von alledem. Fast langweilig. Ich lenke meine Gedanken von zu Hause ab. Es muss doch irgendetwas geben, womit ich mir die Zeit vertreiben kann. Gott, ich weiß sonst nicht wohin mit mir. Duschen muss ich nicht, mich herzurichten macht mich nur nervöser. Gibt es nicht irgendetwas, das ich … Mein Blick fällt auf den Laptop unter der Tischplatte. Ich könnte schreiben, ist die erste Idee. Doch ich bezweifle, dass ich dafür im Moment die Ruhe habe. Und im Internet surfen? Wo soll ich mich groß herumtreiben, wenn es Seiten wie Animexx nicht gibt? Mir will nichts einfallen, das ich recherchieren könnte. Der größte Youtube-Gammler bin ich auch nicht. ‚Kentos E-Mail‘, fällt mir ein. Stimmt, die ist ja noch ausstehend. Bisher habe ich mich erfolgreich vor einer Antwort gedrückt, aber die sollte ich besser aufholen. Er hat sich immerhin Mühe gegeben und Zeit investiert, ich könnte dasselbe für ihn tun. Zumal, eine bessere Ablenkung kommt mir eh nicht in den Sinn. Kurzerhand hole ich den Laptop hervor und stelle ihn auf. Das Öffnen der E-Mail geht schnell, ich habe mich an die Programme gewöhnt. Flüchtig fliege ich über die Zeilen, die locker eine ganze Seite füllen. Ich muss ein Stück scrollen. „Ganz schön viel Text“, staune ich leise und seufze erschöpft. Die Mail beginnt mit Kentos Eindruck, den er von dem gelesenen Text hatte. Er geht fließend über in eine Interpretation, zu der ich »Rain Beat« vorsorglich öffne, um es vergleichen zu können. Es ist deutlich, dass Kento geschrieben hat, wie es ihm durch den Kopf ging. Die vielen Fragen, gefolgt von rhetorischen Antworten, machen das deutlich. Es lässt mich stellenweise schmunzeln. Am Ende folgt eine Auswertung zur Schreibtechnik und ihrer Gegenüberstellung zur Lesewirkung. Er scheint wenig am Können des Schreibers auszusetzen zu haben, gesteht aber, den Sinn und die Bedeutung des Textes nicht ganz verstanden zu haben. Er bittet mich diesbezüglich um Aufklärung. „Puh, gute Frage …“ Das ist eine wahrlich anspruchsvolle Aufgabe. Woher soll ich wissen, was mein Vorgänger-Ich beim Verfassen von »Rain Beat« im Sinn hatte? Das geht nicht wirklich aus dem Text hervor. Ich werde mir wohl etwas aus den Fingern saugen müssen. Ich nehme mir die Zeit, die Geschichte noch einmal in Ruhe zu lesen. Im Anschluss nehme ich mir erneut Kentos Interpretation zur Hand und kurble mein eigenes Köpfchen an. Einige seiner Ansätze machen Sinn, könnten sogar treffend sein. Aber irgendwie … Ich versuche, mich in die Situation meines vorherigen Ichs hineinzuversetzen. Wie mag es ihr ergangen sein? Laut Datum, an dem die Datei erstellt wurde, wie lange war sie da schon in dieser Welt? Was mag ihr zu dieser Zeit durch den Kopf gegangen sein? Ich habe einen Verdacht. Er geht ziemlich einher mit dem, was ich selbst denke und empfinde. Und je länger ich darüber nachdenke … Da bestehen immer weniger Zweifel. Ich atme tief durch, trinke noch einmal genügsam von meinem lauwarmen Cappuccino. Dann beginne ich zu schreiben. Kapitel 25: Was das Herz begehrt -------------------------------- „Und senden.“ Zufrieden strecke ich den Rücken durch und falte die Hände über dem Kopf. Lange hat es gedauert, aber endlich ist es geschafft. Eine Sorge weniger auf meiner Liste. Orion neben mir ist ruhig. Er ist derweil eingeschlafen und atmet gleichmäßig. Ich beobachte ihn eine Weile dabei, während ich still bei mir denke, dass er sich diese Pause verdient hat. Ich gönne ihm diesen Moment der Sorglosigkeit. Ein Blick zur Wanduhr zeigt, dass es zehn vor halb eins ist. Meine Verabredung mit Ikki ist zu fünfzehn Uhr ausgelegt. Im Bad brauche ich so etwa eine halbe Stunde bis Stunde, mit Anziehen und allem Drum und Dran. Ich sollte in Erfahrung bringen, wie lange ich zum Kino benötige, um zu errechnen, wie viel Zeit mir noch bleibt. Bestimmt habe ich ein wenig davon übrig. Kurzerhand rufe ich Google auf und suche nach dem vereinbarten Treffpunkt. Nach einiger Recherche im Internet und einem fixen Vergleich auf Google Maps weiß ich, dass das Kino nicht weit vom Meido entfernt liegt. Zur Innenstadt brauche ich etwa dieselbe Zeit wie zur Arbeit, mir stehen sowohl Fußweg und Bahn zur Verfügung. Ich mache mir Notizen, die mich sicher geleiten werden. Für welche Option ich mich entscheide, schaue ich dann, wenn es soweit ist. Nach getaner Arbeit klappe ich den Laptop zu und verstaue ihn sorgfältig unter dem Tisch. Ich leere noch den Rest meines kalten Cappuccinos, ehe ich mich leise erhebe. Ich schleiche die wenigen Schritte hinüber in mein Zimmer. Dort, vor dem geöffneten Kleiderschrank stehend, sehe ich mich meiner nächsten großen Herausforderung gegenüber: etwas zum Anziehen finden. Ein leidiges Thema, dem ich heute ganz besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen will.   Es dauert lange, bis ich ein gutes Outfit zusammengestellt habe. Mitten im Stapel finde ich einen Pullover, der mir wegen seiner schwarz-violett gestreiften Ärmel ins Auge sticht. Sie sehen wie Armstulpen aus, die fließend in den Rest des schwarzen Teils übergehen. Über dem Handrücken laufen sie spitz zu, knapp bis über die Fingerknöchel reichend. Beim Anprobieren stelle ich fest, dass die Schultern freiliegen. Ein neckisches Detail, ich mag es. Interessant ist zudem der Ausschnitt. Er ist von Haus aus U-förmig, lässt sich aber dank Knöpfe zu einem V-Schnitt umfunktionieren. Diese Variante ist bereits vorgegeben und ich belasse es zu gern dabei. Zwei Knopf tief reicht, das ist weder obszön noch verklemmt. Mit dem violetten Shirt darunter, dessen spitzenverzierten Kastenausschnitts mich gereizt hat, sieht das Ganze sehr gut aus. Erinnert mich ein wenig an meinen Kleidungsstil zu Hause: schlicht, feminin mit einem Touch Verspieltheit. Ich bin zufrieden mit meiner Wahl. Dazu kombiniere ich eine schwarze Stoffhose mit Schlag. Accessoires braucht es eigentlich keine. Ich begnüge mich mit violetten Steckohrringen, zwei Ketten trage ich bereits. Das Pentagramm passt gut zu dem angehauchten Gothic-Look. Darunter liegt, wie immer, mein Ring am silbernen Kettenband mit dem violetten Schmuckstein in der Kreismitte. Zärtlich streiche ich über die Anhänger und denke an die lieben Menschen, denen ich diese Schätze zu verdanken habe. ‚Schluss jetzt‘, schelte ich mich und lasse von den Schmuckstücken ab. Kopfschüttelnd verwehre ich mich den Gedanken, die mich zurück nach Hause geführt haben. Zurück in die Arme meines Liebsten und in schöne Erinnerungen ganz besonderer Momente mit meinem besten Freund. ‚Jetzt ist nicht die Zeit zum Trübsal blasen! Du siehst sie wieder, ganz bestimmt.‘ Entschieden wende ich mich vom Kleiderschrank ab und trete auf meinen Schreibtisch zu. Gewiss ist niemand vergessen, den ich in meiner Welt zurückgelassen habe, doch jetzt ist keine Zeit, dem nachzuhängen. Das hier ist Realität und ich muss ihr entgegentreten. In erster Linie bedeutet das, mich auf das zu fokussieren, was vor mir liegt. Wie sonst will ich einen Weg nach Hause finden? Ich zögere. Mein Blick haftet an der Tischplatte, auf der Suche nach irgendwas. Nur flüchtig streife ich den ausliegenden Schichtplan für meine Arbeit im Meido. Eigentlich müsste ich mich freuen, oder etwa nicht? Ich habe ein Treffen mit Ikki in Aussicht, nur wir zwei allein. Müsste dies das Fangirl in mir nicht zum Kreischen bringen? Gut, vielleicht tut es das auch, aber irgendwie … fühlt es sich nicht wirklich an. Gedanken sammeln sich in meinem Kopf. Fragen darüber, wie ich mich denn eigentlich fühlen sollte. Ist es richtig, mich über das Bevorstehende zu freuen? Ist es denn überhaupt etwas Echtes? Betrüge ich damit jene, die ich zurückgelassen habe? Und allem voran, ist es nicht etwas grotesk, so voller Vorfreude und Euphorie zu sein, nachdem ich beinah ums Leben gekommen bin? In einer Welt, die es gar nicht geben dürfte. In der ich mich gefangen sehe. Erneut schüttle ich den Kopf. Streng versuche ich, mir solche Gedanken zu verbieten. So sehr sie ihre Daseinsberechtigung haben, sie sind mir eindeutig zu negativ behaftet. All diese Zeit mit so vielen Zweifeln und Fragen zu verbringen, ist … Ich sabotiere mich nur selbst. „Trotzdem, ein paar Antworten wären nett.“ Seufzend drehe ich mich weg und trotte auf das Bett zu. Die weichen Polster fangen mich auf, als ich mich rücklings darauf sinken lasse. Ich gönne mir einen Moment der Stille und genieße die Pause in meinem Kopf. Ein stummes Verlangen wird in mir wach und bewegt mich zum Handeln. Entschlossen greife ich unter das Kissen und angle das kleine Buch hervor, das ich darunter versteckt hielt. Ich setze mich auf und rutsche an den Rand, die Quelle aller Antworten auf meinem Schoß. Wenigstens einige davon, das würde schon reichen. Nervosität steigt in mir auf. Kurz zögere ich noch, ob das Timing für ein solches Wagnis wirklich angemessen ist. Mir steht die Erfüllung eines Traumes bevor, und diese Erfahrung will ich mir ungern vermiesen. Auf der anderen Seite, wie sehr kann ich es schon genießen, wenn mich ständig diese Fragen quälen? Sicher gibt es auch zu Ikki irgendwas, das ich besser wissen sollte. Ich möchte mich ungern bei unserem Treffen verplappern und sein Misstrauen erregen. Das ist doch eine gute Rechtfertigung, es jetzt zu tun? Noch ehe ich mir diese Frage beantworten kann, habe ich das Buch bereits aufgeschlagen. Beim schnellen Durchblättern stelle ich fest, dass es nicht sehr viele Einträge enthält. Es ist nicht einmal zum Viertel gefüllt. Mir kommen erste Zweifel auf, wie viel ich wirklich erfahren werde. Zurück auf Anfang bestätigt sich erneut: das hier ist definitiv meine Handschrift. Es ist offenkundig, denn der Text ist auf Deutsch verfasst. Das Datum ist mit dem 8. Oktober angegeben, der Eintrag geht über zwei Seiten in kleiner Schrift auf blankem Papier. Ich habe mir dieses Buch gekauft, um meine Gedanken zu ordnen. Es gibt wirklich viel, worüber ich nachdenken muss und was ich nicht wirklich verarbeiten kann, lauten die ersten Zeilen. Ich lese gespannt weiter. Es macht keinen Sinn. Ich bin im Amnesia-Universum gelandet. Keine Ahnung, wie das passiert ist … eigentlich sollte es gar nicht möglich sein. Aber es ist passiert, irgendwie. Ich bin auf Ukyo getroffen, ich lebe sogar mit ihm zusammen. Der wahre Ukyo, live und in Farbe! Er ist echt! Ein realer Mensch. Ich weiß wirklich nicht, wie das möglich ist. Ich fühle mit »mir«. Wie es aussieht, hat mein Vorgänger-Ich so ziemlich dieselbe Erfahrung wie ich gemacht. Was das Herkommen anbelangt. Das beantwortet die erste Frage, ob mein anderes Ich ebenfalls aus der realen Welt stammt. Scheint so zu sein. Wie soll ich anfangen?, schreibt sie weiter. Der Anfang ist ziemlich verschwommen. Ich bin am 1. Oktober hier gelandet. Ich habe keine wirkliche Erinnerung an das, was passiert ist und wie es passiert ist. Es habe an dem Tag geregnet, schildert sie, und Ukyo fand sie bewusstlos unter einer Brücke liegend. Als sie das erste Mal zu sich kam, war sie in einer fremden Wohnung. Ukyos Apartment. Sie litt unter sehr hohem Fieber und war für ganze drei Tage bettlägerig. Ich habe nicht viel von dieser Zeit mitbekommen, schreibt sie. Laut Ukyo war ich immer mal wach, aber ich erinnere mich kaum an diese Momente. Erst am 4. Oktober realisierte sie, was los war. Ich habe das alles für einen Traum gehalten, ziemlich lange sogar. Aber inzwischen … weiß ich, dass es nicht so ist. Es ist alles real. Ich habe mich auf viele Weisen davon überzeugt. Das hier ist kein Traum! Ich bin wirklich hier. Alles ist echt! Sie schreibt in den nächsten Zeilen, dass Ukyo stets nett und zuvorkommend zu ihr ist. Da sie ihm nicht viel zu sich sagen kann, glaubt er, dass sie unter temporärer Amnesie leiden könnte. Eine Nachwirkung vielleicht vom hohen Fieber. Er sah jedoch davon ab, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Mit genug Erholung, so seine Meinung, könnten sich die Gedächtnislücken möglicherweise ganz von selbst füllen. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, schreibt sie. Ich weiß auch nicht, ob er Verdacht schöpft. Er sagt zwar, ich könne über alles mit ihm reden und er würde mir helfen, so gut er kann, aber wie käme das denn? „Hi, ich komme aus einer anderen Welt. Keine Ahnung, wie ich hergekommen bin, aber ich kenne euch alle aus einem Anime.“ Das kann ich ihm schlecht sagen. Er würde es eh nicht glauben. Ich würde mir selbst nicht glauben, wäre ich an seiner Stelle. Aber abgesehen von Ukyo bin ich noch niemandem begegnet, lese ich dann, was mich verwundert, aber ich bin mir sicher, dass sie hier sind. In welchem Universum ich wohl bin? Am einfachsten bekäme ich das wohl im Meido heraus. Anhand von Waka lässt sich das ganz schnell ableiten. Aber soll ich Ukyo fragen, ob er mich hinbringt? Das könnte verdächtig wirken. Ich komme nachweislich nicht von hier, und Amnesie habe ich angeblich auch noch, also woher kenne ich das Meido? Ist ja nicht gerade McDonalds um die Ecke. Ich halte einen Moment inne. Eine Sache sticht mir ins Auge: Wie es scheint, wurde mein Vorgänger-Ich nicht in alles hineingeworfen, so wie ich. Vom ersten Moment an habe ich kämpfen müssen, fand mich nicht nur in einer fremden Umgebung wieder, sondern auch in einem ungewohnten Job und unbekannte Beziehungen. Alles prasselte auf mich ein, Schlag auf Schlag binnen weniger Tage. Doch sie ist laut Bericht seit einer Woche im Universum und hat noch niemanden getroffen bis auf Ukyo? Wie ist das … Halt mal, mir dämmert es jetzt. Sagte man mir nicht, ich würde seit einem Monat im Café arbeiten? Wenn ich so überlege, stimmt. Laut Ukyos Aussagen leben wir schon zwei Monate zusammen, das ergibt eine signifikante Differenz zu meiner Zeit im Meido. Das beantwortet meine Frage, alles ergibt wieder einen Sinn. Ich wende mich erneut dem Lesen zu. Der restliche Text handelt von ihren zerwühlten Gefühlen. Sie freut sich darauf, die anderen Charaktere zu treffen. Ihre Gedanken nehmen Ausmaße eines Fangirls an, nur um in trüben Zweifeln zu münden. Sie gesteht, Angst zu haben vor dem, was ihr in dieser Welt bevorsteht. Dass sie Sorge hat, wie sie nach Hause kommen soll. Am Ende beklagt sie schlimmes Heimweh und dass sie nicht weiß, wonach sie streben soll. – Armes Ich. Ich fühle mit »mir«. Der nächste Eintrag handelt überwiegend von den Fragen, die ich mir selbst so oft gestellt habe. Welche Möglichkeiten es gibt, dass sie in einem fiktiven Universum hatte landen können. Aus welchem Grund sie hier ist, ob und wie sie je wieder heimkehrt. Sie fragt sich, welche Auswirkungen dieser Vorfall auf ihre Welt hat. Ob die Zeit verstreicht? Ob ihr Verschwinden aufgefallen ist? Und falls sie je nach Hause zurückkommt, wo wird sie landen? Wird sie sich an das Erlebte erinnern, oder wird eine Lücke zurückbleiben? Sie versucht, diesen Fragen mit Logik auf den Grund zu gehen. Sie stellt verschiedene Thesen auf und verwirft sie sofort wieder. Ihr Ringen macht mir deutlich, dass ihr Mari zu dem Zeitpunkt noch nicht begegnet sein kann. Wäre es so, sollten meinem Ich einige Antworten vorliegen. Für einen Moment frage ich mich, ob sie je erfahren hat, was ich heute weiß. Wie weit ist sie wohl mit ihrer Suche nach Antworten gekommen? Ich hoffe, dass dieses kleine Buch mich nicht enttäuschen wird. Große Neuigkeiten, empfängt mich der Eintrag vom 10. Oktober und erregt meine Aufmerksamkeit. Ukyo hat gesagt, er will nach einer anderen Wohnung für uns schauen. Das Apartment sei zu klein für uns beide und er wolle mir etwas Freiraum gönnen. Naja, recht hat er ja. Ein Zimmer für zwei Personen ist schon ziemlich beengend. Aber wirklich umziehen will ich eigentlich nicht. Nicht schon wieder. Das bedeutet eine weitere Umstellung, als wäre es nicht schon schwer genug. Aber er hat vermutlich recht. Keiner weiß, wann ich nach Hause komme … Ob überhaupt. Aber ich will ihm eigentlich nicht zur Last fallen. Nur wo soll ich sonst hin? Wow, das kommt unerwartet. Ich wusste nicht, dass Ukyo und ich bereits einmal umgezogen sind. Ich ging in der Annahme, dass sei das Apartment, in dem er … Wenn ich es so überdenke, vielleicht etwas groß für eine einzelne Person. Überhaupt ist es ein Wunder, dass er sich niedergelassen hat. Bedeutet wohl, dass er in dieser Welt seinen Platz gefunden und nach langer Zeit einen Neuanfang gewagt hat. – Das war, bevor ich hier aufgetaucht bin. Wie viele Umstände hat dieser Kerl denn noch auf sich genommen? Gott, ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich darüber nachdenke. Ich stehe tiefer in seiner Schuld, als mir bislang bewusst war. Sie beschreibt, dass sie viel mit Ukyo gesprochen hat. Sie befragte ihn scheinheilig zu seiner Person, was er so macht und warum er all die Mühe auf sich nimmt. Er erzählte von seiner Tätigkeit als Fotograf und zeigte ihr einige seiner geschossenen Fotos. An dem Tag waren sie sich näher gekommen und mein Ich sah positiv der Zukunft entgegen. Ich überfliege die nächsten Einträge bis zum 13. Oktober, der mir interessant erscheint. Ich hatte einen seltsamen Traum, schreibt sie da. Eigentlich war er sehr unspektakulär. Ich weiß nicht, was ich ursprünglich geträumt habe, aber ich erinnere mich sehr deutlich an ein Mädchen am Ende des Traumes, das vor mir gestanden hat. Sie war sehr jung, eigentlich noch ein Kind, hatte weiße Seitenzöpfe und kristallblaue Augen. Sie stand einfach nur vor mir und wollte wohl etwas sagen, konnte es aber nicht. Vielleicht erinnere ich mich auch einfach nicht mehr daran. Es war ein seltsamer Traum, aussagelos, aber er ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Warum auch immer. Bei mir klickt’s. Das Mädchen, das sie beschreibt, ist ohne Zweifel Mari. Das bedeutet, dass sie an dem Tag zum ersten Mal Kontakt zu meinem Vorgänger-Ich aufgenommen hat. Es freut mich einerseits, ärgert mich jedoch gleichzeitig, da er nichts weiter zur Folge hat. Zu blöd, denn der Rest des Eintrags besteht nur aus Alltagserzählung, wie die letzten zuvor auch. Ich stutze, als der nächste Eintrag mit dem 17. Oktober datiert ist. Ich habe mir die Hand verletzt, beginnt sie hier, deswegen konnte ich die letzten Tage nicht schreiben. Es tut noch ein wenig weh, aber es ist schon besser geworden. Möglich, dass ich heute öfter pausieren muss. Ich entnehme den Zeilen, dass sich mein Ich drei Tage zuvor schlimm in die Handfläche geschnitten hat. Es sei ein langer Schnitt gewesen und habe geblutet wie Sau. Ukyo musste ihr die Hand verbinden. Der Verband sei nervig, aber nicht hinderlich. Sie hoffte nur, dass keine Narbe zurückbleiben wird, wobei der sie vielleicht nach ihrer Rückkehr an diesen Vorfall erinnern würde. Unwillkürlich werfe ich einen prüfenden Blick in meine rechte Hand. Ich halte Ausschau nach einer Narbe oder etwas Ähnlichem, das Hinweis auf diesen Unfall geben könnte. Doch ich entdecke nichts dergleichen. Im Nachhinein erscheint mir der Gedanke absurd, wir könnten denselben Körper teilen. Das wäre etwas zu viel des Guten. Ich verwerfe ihn sofort wieder. Heute waren wir im Meido, lese ich weiter und mein Herz macht einen Hüpfer. Ukyo hat mir versprochen, dass er mich mitnimmt, wenn es mir mit der Hand wieder besser geht. Mit seinen Worten wollte er mir „einen schönen Ort“ zeigen, an dem er gern Zeit verbringt. Das würde mich aufheitern, meinte er. Oh, wenn er nur wüsste, wie sehr es das tut! Ich habe so oft überlegt, wie ich ihn fragen soll, und nun kam er ganz von selbst darauf. Ich habe Ikki gesehen und Mine, schwärmt sie. Leider konnte ich nicht wirklich mit einem von ihnen reden. Gott, Ikki sieht so gut aus in seiner Butler-Uniform! In real noch mehr als im Anime oder im Spiel. Ich habe nur heimlich gewagt, ihn anzusehen. Sicher ist sicher. Gott, ich hoffe, wir werden öfter im Meido vorbeischauen! Ich will ihn unbedingt wiedersehen und vielleicht mal etwas mehr mit ihm sprechen. Sofern ich mich traue. Sie erkennt daraufhin, dass sie sich im Spadeverse befinden muss. Waka habe Ukyo begrüßt und sei zu den anderen sehr schroff gewesen. Daran habe sie es bemerkt. Einerseits freut sie das, andererseits muss Ikki dann mit der Heroine zusammen sein. Sie habe sie nicht gesehen. Im nächsten Satz zweifelt sie, dass dies hoffentlich nicht das Bad Ending sei, in dem sich die beiden getrennt haben und die Heroine zu ihrem Vater gezogen ist. Aber Ikki habe nicht so gewirkt, als sei ihm ein solches Schicksal widerfahren. Ein Grund mehr, warum sie gern wiederkommen möchte. Die folgenden Einträge sind wesentlich kürzer. Ich vermute, dass dies der anhaltenden Verletzung geschuldet ist. Mein Ich schreibt jetzt häufiger über Ikki und dass sie hofft, noch den anderen zu begegnen. Hier und da ringt sie mit Zweifeln, ob das, was sie tut und begehrt, wirklich das Richtige ist. Ich gehöre hier nicht her, schreibt sie immer wieder, und dass sie lieber nach Antworten und Lösungen suchen sollte. Doch ich weiß nicht, wie. Ist es falsch, dass ich diesen Traum noch ein wenig länger träumen will? So viel ich auch lese, etwas wirklich Neues gewinne ich nicht daraus. In keinem der folgenden Berichte taucht Mari auf. Ich lese immer nur dieselben Fragen, erfahre wiederkehrende Zweifel, erlebe ein wenig Alltag. Ich freue mich für »mich«, als sie beschreibt, wie sie und Ukyo in der Stadt bummeln waren auf der Suche nach einem gemeinsamen Laptop. Es folgte ein zweiter Besuch im Meido, der noch ereignisloser war als der erste. Antworten finde ich keine. Ich blättere durch die Seiten, gezielt auf der Suche nach einem kleinen Mädchen oder der Erwähnung bestimmter Namen. Erst am 24.Oktober stoppe ich wieder, als direkt der Satz fällt, dass Ukyo eine Überraschung für »mich« habe. Ich werde im Meido arbeiten!, heißt es. Ukyo hat wohl mit Waka gesprochen und gefragt, ob er mich nehmen würde. Er ist der Meinung, dass mir etwas Ablenkung und eine Aufgabe gut täten. Wir brauchen zudem etwas Geld für die neue Wohnung. Meinetwegen, nur zu gerne! Übermorgen schon soll es losgehen mit einer Testwoche. Ich bin so wahnsinnig aufgeregt! Zu blöd, dass ich nicht über Amnesia recherchieren kann. Ich habe es versucht, aber die Suchmaschine spuckt nichts aus. Als gäbe es das nicht. Ich würde mich zu gern auf die Arbeit vorbereiten, aber ich erinnere mich fast gar nicht, was das Meido so im Sortiment hat. Bis auf das handgemachte Maid-Parfait, haha. Ich werde dastehen wie ein blutiger Anfänger. Naja, offiziell bin ich das auch. Wird schon schiefgehen. Bis auf langes Fangirling folgt nichts mehr groß in diesem Eintrag. Auch die nächsten beiden sind wenig ereignisreich und enthalten nichts, was mich weiterbringt. Erst am besagten 26. Oktober wird es wieder interessant. Heute war mein erster Tag im Meido, schreibt sie. Es war schrecklich. Waka war sehr schroff zu mir und hat mich behandelt, als sei ich eine Festangestellte, die den Job schon ewig macht. Ich wurde eine Stunde lang unterwiesen, dass der Kunde der Feind ist und wir eine Schlacht gegen ihn zu schlagen haben. Er hat mir gezeigt, wie ich mich zu verhalten und zu bewegen habe. Die Speisekarte ist ab heute meine Kriegswaffe. Ich soll mich erstmal in der Begrüßung und Verabschiedung der Kunden üben. Sawa ist mein Mentor, wenigstens etwas Gutes. Sie schreibt, dass außerdem Ikki da war. Er konnte sich nicht an sie als Kundin erinnern, habe sie aber freundlich willkommen geheißen und seine Hilfe bei Fragen angeboten. Wirklich gesprochen hätten sie nicht, da Ikki ständig eingebunden war und sie an Sawas Seite bleiben musste. Schade, bedauert sie, aber wenigstens wird es nicht das letzte Mal sein, dass ich ihn gesehen habe. Ich darf die ganze Woche im Meido arbeiten. Bestimmt lerne ich auch bald die anderen kennen. Ich kann es kaum erwarten! Morgen soll ich den ganzen Tag nur beobachten, ab Mittwoch bediene ich richtig. Ich sollte vielleicht anfangen, die Speisekarte auswendig zu lernen. Und einen Kimono zu binden. Kurz erwähnt sie noch, dass der Fanclub zu Feierabend im Café gewesen sei. Inklusive Rika, welche die Mädels im Griff hatte. Sie hätten Ikki von der Arbeit abgeholt und es habe so gewirkt, als hätte Rika »mich« auffällig gemustert. Als neue Angestellte fällt man wohl auf, scherzt sie bitter. Allerdings kann ich auf diese Art von Aufmerksamkeit verzichten. Rika ist mir nicht geheuer, man denke nur an das Spiel. Alles Weitere handelt ebenso von ihrer Arbeit im Meido und wie sie mit Ukyo am Abend darüber gesprochen hat. Auch der nächste Tag berichtet durchweg davon, wobei sie gesteht: Es war zwar mein Job, die beiden zu beobachten, aber ich glaube, ich habe es nicht immer im Sinne der Arbeit getan. Die Rede ist von Ikki und Hanna, der Heroine, der sie heute zum ersten Mal begegnet ist. Es war komisch, ihr gegenüberzustehen, heißt es, aber an sich war sie ganz nett. Allerdings fernab von den netten Gesprächen hinter dem Tresen, habe es Momente gegeben, in denen sie in Ikkis Gegenwart verhalten gewirkt habe. Ich kann es nicht recht beschreiben, erklärt sie, aber es war nicht das, wie man sich ein glückliches Paar auf Arbeit vorstellt. Die beiden haben kaum miteinander gesprochen, und wenn, dann war es irgendwie … angespannt. Sie haben einander kaum in die Augen gesehen. Ich meine, ich kaufe ja ab, dass Hanna eventuell schüchtern ist. Aber dass sich Ikki auf Arbeit zurückhalten würde? Das ist nicht, wie ich es aus dem Spiel kenne. Es wirkte eher so, als versuchten sie einander aus dem Weg zu gehen, und sich doch nicht zu schneiden, indem sie einander ignorieren. Ob es wohl zwischen ihnen kriselt? Vielleicht haben sie Streit, soll ja vorkommen. Ich sollte mich da besser nicht reinhängen, aber … ich mache mir schon dezent Sorgen. Oh wie, wenn sie nur wüsste. Aber vermutlich kann es nicht lange dauern, bis im Tagebuch die Wahrheit ans Licht kommt. Es tut mir leid für mein Vorgänger-Ich, dabei trifft mich die Trennung der beiden nicht minder. Wie konnte es nur dazu kommen, frage ich mich. Der nächste Tag wird als nervig beschrieben. Shin, erklärt sie, ist ein Idiot. Ein riesengroßer Vollidiot! Ich dachte ja erst, dass er es gut mit mir meint – von wegen! Er korrigiert mich immer, wenn ich etwas falsch ausspreche, und er kritisiert als Einziger, dass ich die Bestellungen in Lateinschrift notiere. Er sagt, ich solle Kanji lernen und mich gefälligst mit der Sprache auseinandersetzen, wenn ich schon hier arbeite. Und wer in einem fremden Land arbeitet, geht nicht mehr als Tourist durch. Hakt’s bei dem? Als ob das so einfach wäre! Aber bitte, wenn er’s so will. Der soll mich mal nicht unterschätzen! Danach schreibt sie einige Sätze in Kana, wohl rein aus Protest. Sie sind sehr einfach formuliert, auf Grundschulniveau. Die Zeichen sehen furchtbar aus, ungeübt und schluderig, aber ich kann es entziffern. Mittendrin wechselt sie zurück auf Lateinschrift, schreibt aber weiterhin Japanisch. Da fällt mir zum ersten Mal auf, dass ich bewusst in den Schriftsprachen wechseln kann. Wann habe ich das gelernt? Der Rest des Eintrages handelt weiter von der Arbeit. Sie schreibt, dass Toma ihren Namen anfangs falsch verstanden und sie Chiisana genannt hat. Es war lustig, schreibt sie. Wir haben sehr darüber gelacht. Er meint, er will es beibehalten, weil es ihm eh nachhängen wird. Shin hält das für bescheuert, aber es ist auf jeden Fall ein guter Insider. Ich überfliege den nächsten Tag flüchtig, der viel von ihren Fortschritten im Meido handelt. Vieles ist in Kana geschrieben, zwischendrin wechselt sie immer mal wieder auf Romaji. Deutsch finde ich nur noch in Ausnahmefällen vor. Ich schmunzle über die Entwicklung und empfinde so etwas wie Stolz auf mich selbst. Ein komisches Gefühl, immerhin ist es nicht meine eigene Leistung. Nicht direkt zumindest. Am 30. Oktober schildert sie, dass sie endlich vernünftig mit Ikki gesprochen habe. Er hat mich für meine Fortschritte gelobt, schwärmt sie, und gefragt, ob ich nach der Woche gedenke zu bleiben. Natürlich würde ich das gern, sofern Waka mich lässt. Ich bin ihnen endlich so nah, das möchte ich nicht aufgeben. Wozu sonst bin ich dann noch in dieser Welt? Ikki jedenfalls sähe ihre Chancen positiv. Eine europäische Maid brächte neuen Wind in ihr Café. Waka würde das sicherlich nicht zu verkennen wissen. Und während er das gesagt hat, schreibt sie, haben wir uns für einen Moment in die Augen gesehen. Nur kurz, aber ich habe in diesem Moment gemerkt, dass seine Augen auf mich wirken. Ich hatte plötzlich ganz wildes Herzklopfen und … Ich weiß nicht, was ich wollte, aber Ikki hat die Situation gerettet. Er hat sich entschuldigt und gemeint, dass ich in seiner Nähe aufpassen soll. Er dachte wohl, ich würde ihm das mit den Augen nicht glauben, aber ich weiß, was er meint. Armer Kerl, und armes Ich. Das kann ja noch heiter werden. Ein Klopfen an der Tür lässt mich hochfahren. Sofort klappe ich das Buch zu und schiebe es unter das Kissen, als ich Orions zaghaftes Rufen mit einem „Komm rein“ beantworte. „Du bist noch hier? Sagtest du nicht, du bist noch mit Ikki verabredet?“ „Ja“, bestätige ich, „aber erst zu um drei. Wieso? Wie spät ist es denn?“ „Als ich eben auf die Uhr gesehen habe, dreiviertel zwei.“ „Was?!“, schrecke ich hoch und suche nach meinem Handy. Dem Display entnehme ich die Anzeige von 13:47 Uhr. „Oh Mist, ich muss mich fertig machen! Ich hab‘ die Zeit ganz vergessen!“ In Windeseile wirble ich an Orion vorbei, hetze einen Dank hervor und verschwinde im Badezimmer. Die Haare müssen gebürstet, gestylt und mit Haarspray fixiert werden. Ein schnelles Make-up muss genügen, ich verzichte auf unnötigen Schnickschnack. Prüfend werfe ich einen Blick auf meinen Hals, die blauen Stellen sind noch blass zu erkennen. Ich werde nicht umhin kommen, das Halstuch zu tragen. Bald werde ich es weglassen können. Abschließend noch etwas Duft ins Dekolleté, eine letzte Musterung im Spiegel, fertig. Ich bin ganz zufrieden mit mir und kann mich so aus dem Haus trauen. Puh, mein Herz, beruhig dich wieder. Es wird alles gut.   Gehetzt sehe ich von Handy und Straße hin und her. Laut Google Maps ist es noch eine Kreuzung, dann bin ich da. Mir bleiben knappe fünf Minuten, das sollte zu schaffen sein. Hoffentlich bin ich nicht zu spät. Ich stehe schließlich vor einem großen Einkaufscenter. Überrascht stelle ich fest, dass es dasselbe ist, in das ich mich damals bei meiner Hetzjagd nach Orion verirrt hatte. Hier habe ich auch Shins Geburtstagsgeschenk gekauft. Lustig, wie klein die Welt ist. Selbst in einer Stadt wie Tokyo. Nach etwas Umsehen entdecke ich ein Schild, das mich fürs Kino auf die zweite Etage verweist. Hm, okay. Und nun? Ikki und ich haben ausgemacht, dass wir uns vor dem Kino treffen. Bezieht sich das auf direkt davor oder draußen vor dem Center? Was tun? Ich entscheide, die Rolltreppe zu nehmen. Am Eingang ist so viel Betrieb, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn wir uns dort finden. Auf kleinerem Raum ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher. Ikki hätte zudem betont, wenn unser Treffpunkt ein anderer wäre, oder nicht? Selbst wenn ich mich irren sollte, im Zweifelsfall gibt es ja Handys. „Hier drüben“, höre ich die vertraute Stimme, bevor ich ihre Person dazu ausmachen kann. Ich entdecke Ikki ein paar Schritte rechts von mir, in seiner gewohnten Aufmachung und mit aufgesetzter Sonnenbrille. Binnen Sekunden ist er bei mir und empfängt mich mit einem Lächeln. „Du hast dich hergefunden. War es schwer für dich zu finden?“ Ich atme erleichtert aus. „Nein, dank Internet war es ganz einfach“, sage ich und erwidere das Lächeln. „Ich hatte etwas Sorge, dich nicht zu finden. Ich wusste nicht, dass sich ein Kino mitten im Einkaufscenter befindet.“ „Hätte ich dich besser von zu Hause abholen sollen?“ „Ist schon okay“, meine ich zuversichtlich. „Wir haben uns ja gefunden. Also, sollen wir schon die Karten holen?“ Seine Mundwinkel heben sich triumphierend. Er präsentiert mir zwei längliche Tickets, mit denen er verspielt durch die Luft wedelt. „Es bot sich an, also habe ich vorweggegriffen. Die Vorstellung findet in Saal Zwei statt. Uns bleiben noch zehn Minuten bis dahin.“ „Oh, bin ich so spät dran? Das tut mir leid.“ Ich ziehe meine Tasche über die Schulter nach vorn und beginne darin zu kramen. Rasch ertaste ich den rauen Stoff meiner Geldbörse und zücke sie hervor. „Was bekommst du von mir?“ Er schüttelt den Kopf. „Nicht nötig.“ „Aber …“ „Es ist eine Einladung“, betont er und lässt die Hand sinken. „Richtig? Wir haben vereinbart, dass ich dir noch etwas schuldig bin.“ Ich verstehe nicht, wovon er spricht. Welche Schuld auch immer er meint, sie kann nur mit meinem Vorgänger-Ich zu tun haben. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als es zu akzeptieren. „Das geht nicht“, protestiere ich dennoch. „Das kann ich nicht annehmen. Die Karten hier sind nicht gerade billig. So war das sicher nicht vereinbart.“ „Nun ja“, argumentiert er, „es ist mitunter das Beste, was ich dir in Anbetracht unserer vereinbarten Bedingungen bieten kann. Ein Kinobesuch ist unverfänglich, öffentlich und unterhaltsam. Kollegen können sich ohne Probleme gemeinsam einen Film ansehen. Zu zweit macht es außerdem mehr Spaß, oder bist du anderer Meinung?“ Ich hasse es, dass ich ihm nicht widersprechen kann. „Nein …“ „Na also“, lächelt er zufrieden. „Dann lass mich mein Versprechen hiermit einlösen. Ich habe dir versprochen, die Zeit wieder wettzumachen, die du in mich investiert hast. Du sollst keine Minute bereuen.“ In einer deutlichen Geste reicht er mir eine der beiden Karten. Ich gebe jeden Widerstand auf, seufze kapitulierend und nehme sie an mich. Dieses eine Mal, so rede ich mir ein, kann ich es ihm durchgehen lassen. Ausnahmsweise. Auf unserem Weg zum Filmsaal lasse ich meinen Blick aufmerksam durch die Gegend schweifen. Ich inspiziere jede Ecke, jeden Winkel, auf der Suche nach versteckten Zuschauern. Der Gedanke, von jemandem aus Ikkis Fanclub beobachtet zu werden, behagt mir nicht. Doch zu meiner Erleichterung sehe ich niemand Verdächtiges. Jeder verhält sich normal, niemand hat ein Auge auf meine Begleitung oder zeigt sonst auffälliges Interesse. Ich wage erleichtert auszuatmen. Keine Gefahr, fürs Erste. Der Saal ist kleiner, als erwartet. Er ist weder sehr breit, noch sehr hoch. Ich schätze sieben Reihen mit um die zehn Plätze jeweils. Knapp die Hälfte ist mit Zuschauern besetzt, welche noch angeregt knabbern und plaudern. Wir suchen uns eine möglichst freie Reihe und nehmen etwa mittig Platz. Mir gefällt, wie sauber und bequem die Sitze wirken. Ich werde nicht um diesen Eindruck betrogen, als ich mich in das blaue Polster sinken lasse. Wir unterhalten uns über Unverfängliches, bis das Licht sich dimmt und der Film beginnt. Ich behalte die Arme an meinem Körper, locker vor meinem Bauch verschränkt. Es böte sich an, aber ich will es zu keiner klischeehaften Berührung kommen lassen. Nicht dass ich davon ausgehe, Ikki könnte irgendwas versuchen … Nein, das würde er ganz sicher nicht. Das hier ist kein Date, ich bin nicht seine Freundin. Der Gedanke lässt mich vorsichtig zu Ikki schielen. Er sitzt ganz entspannt auf seinem Platz, ein Bein lässig überschlagen, den Blick auf die Leinwand gerichtet. Er scheint mich nicht zu beachten. Irgendwie bin ich erleichtert. Für die nächsten knapp zwei Stunden darf ich in nächster Nähe zu ihm sein, ohne mir irgendwelche Gedanken machen zu müssen, wie ich mich gebe oder was er von mir hält. Ich kann ihn ansehen und mich an seiner bloßen Gegenwart erfreuen. Mehr brauche ich nicht, es ist Wunder genug. Ich lächle bei dem Gedanken. Ikki, der mein liebster Charakter in »Amnesia« war, sitzt direkt neben mir. Uns trennt keine halbe Armlänge. Es ist etwas anderes, als im Meido zusammen zu arbeiten. Hier verbringen wir bewusst Zeit miteinander. Uns stehen alle Möglichkeiten offen, zu reden und einander besser kennenzulernen. Ich will diese Zeit so gut es geht genießen. Ich will sie nutzen und dabei so mutig sein, wie ich mich traue. Wenn da nur diese Sache mit seinen Augen nicht wäre. Wie gern würde ich nach seiner Brille greifen, ihm die dunklen Gläser abnehmen und nur einmal, außerhalb von Bildern, in sein offenes Gesicht und diese blauen … Ich sah zu ihm auf. Sein aufmerksamer Blick ruhte auf mir. Das fahle Licht der Straßenlaterne war zu weit entfernt, um hinter seine Sonnenbrille sehen zu können. Ob er wohl traurig war? Ob sein Lächeln ehrlich war nach solch bedeutsamen Worten? Es war nicht zu erkennen, welcher Ausdruck hinter diesen dunklen Gläsern lag. Ich überlegte einen Moment, wägte die Optionen ab. Dann, entschieden, hob ich beide Hände und streckte sie seinem Gesicht entgegen. „Nicht“, sagte er sanft und fing mein Vorhaben auf. Kühl, dank seiner seidenen Handschuhe, umfasste er meine Handgelenke und drückte sie langsam nach unten. „Tu’s nicht“, drang sein Flüstern wie ein Flehen. „Es könnte den Moment zerstören. Bislang gab es nur eine Frau, die meinen Augen widerstehen konnte. Ich möchte nicht noch etwas Wertvolles verlieren.“ Ich spürte den Trotz wie ein kleines Kind in meinem Hirn aufstampfen, doch rang ihn nieder. Für einen kurzen Moment überdachte ich seine Worte, von denen ich wusste, dass sie wahr waren. Der Zauber seiner Augen war mächtig, das hatte ich eigens zu spüren bekommen. Und doch, obgleich meines Wissens … Ich lächelte besänftigend. „… …“ Er sagte nichts. Unsere Blicke verschmolzen ineinander. Ich wagte einen zweiten Versuch. Dieses Mal bekamen meine Finger die schmalen Bügel zu fassen. Die Barriere liftete sich, als ich ihm die Brille aus dem Gesicht hob. Klare, blaue Augen suchten nach mir in der Dunkelheit. In ihnen erkannte ich einen Ausdruck von Sorge und leuchtender Neugier. „Hm? Was ist?“ Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Im nächsten Moment überkommt mich ein Gefühl von Schwindel und drückender Benommenheit, wie ich es schon kenne. Ich weiß augenblicklich, was los ist. Das eben war eine dieser Erinnerungen, wie Mari mir erklärt hat. Schon wieder. „Nichts“, sage ich schnell und wende den Blick von ihm ab. Meine Wangen brennen bei der Vorstellung, wie ich Ikki die ganze Zeit angestarrt haben muss. Für wie lange? Gott, hoffentlich denkt er jetzt nichts Falsches von mir! Ikki sagt nichts. Ich weiß nicht, was sich auf seiner Seite abspielt. Ich wage auch nicht, zu ihm zu sehen und es herauszufinden. Gott, das ist ja so peinlich!   Nach der Vorführung hat sich meine Nervosität verflüchtigt. Der Film war gut gewesen, lustig mit spannend-emotionaler Handlung. Ich fühle mich gut, als ich mit Ikki den Gang durchquere, der uns aus dem Kinobereich hinausführt. Wir unterhalten uns angeregt. „Es ist noch jung am Tag“, bekundet er, kaum dass wir vor dem Einkaufscenter stehen. Offen wendet er sich mir zu. „Wollen wir noch etwas unternehmen? Ich kenne einen Ort, zu dem ich dich sehr gern mitnehmen würde. Sofern du es möchtest.“ Ich werfe einen verstohlenen Blick auf mein Handy. Es ist erst kurz nach fünf, auch wenn der nächtliche Himmel und die helle Straßenbeleuchtung etwas anderes sagen. Müde bin ich nicht und wirklich gewillt, meine Zeit mit ihm jetzt schon zu beenden, ebenfalls nicht. „Na klar“, sage ich und stecke das Handy zurück. „Wieso nicht? Was schwebt dir denn vor?“ „Das verrate ich nicht. Noch nicht“, meint er geheimnisvoll und dreht sich von mir ab. „Lass dich überraschen. Komm mit, hier entlang.“ Obwohl mir unwohl ist bei seiner Geheimniskrämerei, lasse ich mir die Richtung weisen. Wir gehen einige Zeit und folgen den rege belaufenen Straßen. Derweil reden wir über den Film, besprechen die Handlung und wichtigsten Szenen und wie sie uns gefallen haben. Wir sind uns einig, dass das Idol-Thema sehr klischeebehaftet war, trotzdem packend umgesetzt. Die Schauspieler haben einen guten Job gemacht und waren für ihre Rollen top gewählt. Die Tanzchoreographien haben mich besonders beeindruckt, am meisten die letzte. Ichfühlte mich ein wenig an Step Up erinnert. Nach einiger Zeit verlassen wir den Menschenstrom und biegen auf eine ruhigere Straße ab. Ikki geht nicht auf meine Bemühungen ein, ihm unser Ziel zu entlocken. Er wiederholt lediglich, dass es eine Überraschung sei und erbittet mein Vertrauen. Dem kann ich nichts entgegensetzen. Unser Weg führt uns zu einer Art Marktplatz, wo vermehrt Passanten die Straßen beleben. Ikki führt mich durch das Zentrum voran, bis er in einen Seitengabelung lenkt. Wenige Schritte weiter stehen wir vor einem Laden, der mir nie im Leben aufgefallen wäre. Vom Gehweg aus ist nicht zu erkennen, worum es sich handelt. Das graue Gemäuer ist unauffällig, mit hoch liegenden Fenstern, und wirkt alt. Ich folge Ikki die drei Stufen hinauf und bemerke an der Wand ein Schild, nicht größer als A4, dem ich den Namen »Ham-Ham Cake« entnehme. Darunter ziert als Logo ein breites, braunes Hamstergesicht mit großen, kindlichen Leuchtaugen und rosa Donut-Ohren, wie ich vermute. ‚Eine Bäckerei‘, schlussfolgere ich. Oder eine Konditorei oder ein Süßwarengeschäft. Was könnte Ikki hier mit mir wollen? Mit dieser Frage im Kopf betreten wir das Geschäft, begleitet von einem kühlen Glockenläuten.   „Seid willkommen, verehrter Gast“, werden wir von einer Frau begrüßt, heiser und dezent rau in der Stimme. Nach etwas Suchen entdecke ich sie hinter dem kurzen Tresen: eine kleine, unscheinbare Gestalt in weißer Schürze mit schwarzem Haar, welches sie unter einem sonnengelben Haarband zu einem geraden Bobschnitt trägt. Weiche Falten auf ihrer flachen Stirn und um die schlitzigen Augen verraten ihr fortgeschrittenes Alter. Sie lächelt uns zu. „Wie darf ich zu Diensten sein?“ „Wir sind hoffentlich nicht zu spät“, eröffnet Ikki höflich und tritt zu ihr an den Tresen heran. „Wir sind hier für Ihr Spezialangebot. Steht es noch zur Verfügung?“ „Aber natürlich“, entgegnet sie freundlich, wodurch auf ihren vollen Wangen kleine Grübchen entstehen. „Unser Service gilt den ganzen Tag, bis wir schließen. Bitte warten Sie einen Moment. Mein Sohn wird Ihnen gleich alles zeigen.“ „Weißt du, wo wir sind?“, wendet sich Ikki an mich, während wir auf die Frau warten, die in einem angrenzenden Nebenraum verschwunden ist. Ich sehe zu ihm und schüttle den Kopf. „Nein.“ „Nicht, hm?“, wiederholt er abwägend. Darauf strafft er die Haltung und entspannt seine Züge zu einem nachsichtigen Lächeln. „Das dachte ich mir fast. Wie solltest du ihn auch kennen? Der Laden ist ein kleiner Geheimtipp. Du wirst gleich sehen, warum. Die wenigsten wissen, dass die Stadt so einen hat.“ Jetzt macht er mich neugierig. Was habe ich von einem Ort zu erwarten, der so unauffällig und wenig einladend wie dieser ist? Ich möchte es wissen, schon Ikki zuliebe. Wenig später kehrt die Frau in Begleitung eines jungen Mannes zurück. Er wird uns als Taka vorgestellt, ich schätze ihn nicht älter als Mitte Dreißig. Wie die Frau trägt er komplett Weiß samt Schürze, plus ein logobedrucktes Schweißband um den Kopf. Unter seiner Führung verlassen wir den engen Verkaufsraum, der neben nackten Kuchenböden und farblosem Trockengebäck nichts Großes zu bieten hat. Wir betreten denselben Raum, aus dem er gekommen war. Kaum über die Türschwelle, empfängt uns ein süßer Duft von frischen Kuchenteigen. Aus dem hinteren Bereich ist das Surren und Rattern arbeitender Maschinen zu hören. Eindeutig eine Backstube, doch bis auf Geruch und Akustik erinnert wenig daran. Alles ist viel bunter, dekorierter und erstaunlich aufgeräumt. Kein Vergleich zu dem langweiligen Verkaufsraum, der nicht die geringste Erwartung zu erwecken vermochte. Mittig der Stube, etwa so groß wie eine Zweiergarage mit hohen Decken, erkenne ich ein Buffet mit allerlei Schüsseln, Schalen, Tuben und Flaschen darauf. Entlang des ganzen Raumes zäumt eine einzige, ununterbrochene weiße Arbeitsfläche, so scheint es. An ihr erkenne ich nur eine weitere Gruppe, bestehend aus drei Jungen. Unter Plaudern und Feixen scheinen sie mir fleißig am Werkeln zu sein. Der Mann erklärt, dass er uns gleich Schürzen und Haarnetze bringen wird, derweil dürfen wir die ausliegenden Menükarten studieren. Darauf verschwindet er in einem hinteren Bereich der Stube. „Was machen wir jetzt genau?“, richte ich mich an Ikki und besehe ihn fragend. „Hier können die Kunden ihre eigenen Kuchen gestalten“, klärt er mich auf. Lächelnd setzt er fort: „Ich dachte, da wir bereits Übung darin haben, wäre es ein geeigneter Ausklang für den Tag. Und das Beste: Wir machen es nicht für die Kunden, sondern für uns.“ Seine Worte lassen mich grinsen. „Wohl wahr. Dieses Mal kann ich mich selbst vergiften“, scherze ich. „Ich fand deinen Kuchen gut. Du hast immerhin gewonnen.“ „Erinnere mich nicht daran“, winke ich ab. Neugierig greife ich die Karte, die beidseitig bedruckt und laminiert ist, und überfliege ihren Inhalt. „Bitte sehr“, unterbricht mich der Mann und reicht uns je Schürze und Haarnetz. „Haben Sie schon etwas gewählt?“ „Ich nehme, was immer die Dame sich aussucht“, antwortet Ikki und ich spüre seinen Blick auf mir. „Mh, den Ham-Ham Doppel-Mix würde ich wohl nehmen“, entscheide ich nach kurzem Bedenken und zeige mit dem Finger auf meine Wahl. Das Menü enthält je zwei Plunder- und Brandteigstücke, zwei Muffins und Donuts. „Damit kenne ich mich einigermaßen aus“, erkläre ich. „Für mich dasselbe“, ergänzt Ikki, worauf sich der Mann verneigt und abermals verschwindet. Derweil waschen wir an einem Becken die Hände und legen die Schürzen an. Er verzichtet auf das Haarnetz, ich hingegen nutze es vorsichtshalber für meine offenen Haare. Ich will nicht, dass sie mir im Weg sind und ich sie am Ende mit irgendwas vollschmiere. „Warte, ich helfe dir“, bietet sich Ikki an, da mir das Überziehen ohne Spiegel Schwierigkeiten bereitet. Mit seiner Hilfe geht es leichter und die langen Zotteln sind sicher, wenn auch wenig ansehnlich verpackt. „Woher kennst du den Laden? Warst du schon mal hier?“, frage ich später, während wir am Buffet stehen und die Auswahl an Füllungen, Überzügen und Dekorationen in Augenschein nehmen. „Ja“, antwortet er knapp. Er findet schnell, was er für seine Gebäcke verwenden will, im Gegensatz zu mir. „Erst zweimal allerdings.“ „Mit Mädchen oder mit Kento?“, hake ich nach. Er lacht kurz auf. „Ken wäre bestimmt wenig begeistert, mit mir hier sein zu dürfen. Aber es wäre eine Überlegung wert. Das nächste Mal frage ich, ob er mich begleiten mag.“ ‚Mädchen also‘, denke ich still, kremple die Ärmel zurück und trete an das Kühlfach heran, in dem Fruchterzeugnisse, Pudding und Sahne in vorgefertigten Portionsschälchen zur Verfügung stehen. Ich nehme je eines mit Kirschkonfitüre, Pudding und Sahne für meine Donuts und Eclair. Dazu erhasche ich eine Füllspritze und –tüte und kehre mit allem bepackt an meinen Platz zurück. Als Erstes sind die Eclairs dran, die ich mit einer satten Kirschunterlage versehe. Anschließend gebe ich die Sahne sorgsam in die Spritztüte und mache mich ans Füllen. Während ich handwerkle, kreisen meine Gedanken um die Frage, ob jene Mädchen auf ein Date mit Ikki hier waren. Ob eine von ihnen Hanna war? Oder waren die Besuche noch vor ihrer Zeit gewesen? „Ich wundere mich, dass du fragst“, spricht Ikki an meiner Seite, selbst mit seinem Tun beschäftigt. „Wieso?“, möchte ich wissen, ohne aufzusehen. „Ich dachte, ich hätte dir bereits davon erzählt. Eigentlich … war ich mir ziemlich sicher.“ Ich zucke zusammen. Meine Haltung verspannt sich im Reflex. Oh Mist, hatten wir bereits ein Gespräch dieser Art? Waren wir … vielleicht schon einmal hier gewesen? Oh Gott, hoffentlich nicht! Bitte lass das nicht wahr sein! Wenn das stimmt, dann … dann habe ich mich gerade so richtig ins Fettnäpfchen gesetzt. Ikkis Lachen holt mich in die Gegenwart zurück. Unter meinen zerfurchten Gedanken kann ich nicht festmachen, was los ist. Habe ich irgendeinen Witz verpasst? „Halt kurz still“, weist er mich an und legt seine Arbeit beiseite. Bevor ich weiß, was er vorhat, ergreift er mein linkes Handgelenk und führt es an sich heran. Ich realisiere unter Scham, dass ein dicker Klecks Sahne auf meinem Handrücken thront. Er entfernt sie für mich mit einem Stofftuch, wobei seine Finger warm um meine liegen. Die Berührung ist intim, irgendwie, obwohl sie so einfach ist. Ich schreibe es dem Fehlen seiner Handschuhe zu, die er sonst ausnahmslos immer trägt. Fasziniert beobachte ich sein Tun, die langen, schmalen Hände, bis die Magie viel zu schnell ihr Ende nimmt. „Sei vorsichtiger“, rät er mir an, ein amüsiertes Schmunzeln auf den Lippen. „Wir wollen deinem Freund keinen Grund zur Eifersucht geben, weil ein anderer Mann dich berührt.“ Mir liegt eine abfällige Bemerkung auf der Zunge, doch ich verkneife sie mir. „Sorry“, sage ich stattdessen, „und danke.“ Eifrig wende ich mich wieder meiner Arbeit zu. Während ich das zweite Eclair fülle, frage ich mich, ob Luka mir eine Szene machen würde, wenn er hiervon wüsste. Vielleicht, obwohl das hier kein richtiges Date ist. Theoretisch dürfte sich Luka nicht beschweren, wir führen keine innige Beziehung. Eigentlich gar keine, wobei er … Argh, Mist! Jetzt habe ich das Gefühl, als würde ich Luka betrügen. Dabei ist er nicht einmal mein richtiger Freund! Und meinem Freund würde das alles auch nicht gefallen. Oh nein, ganz gewiss nicht. Ach Mist, Mist! Verdammt! Die Eclairs sind fertig, als Nächstes sind die Donuts dran. Ich streiche den Pudding in die Spritze und setze ihn abstandsmäßig in den Ring hinein. Während ich die Masse mittels Massage in dem weichen Teig verteile, gleitet mein Blick verloren zu Ikki. Er ist mit seinem Plunder beschäftigt, gerade überstreicht er die hügelige Fläche mit einem verflüssigten Aprikosengelee. Seine Handgriffe sind präzise, trotz der Sonnenbrille, die er nach wie vor trägt. Ich frage mich, ob die verdunkelte Sicht nicht hinderlich ist. In meiner Vorstellung muss es sein wie in einem Raum, dessen Fenster von Vorhängen verdeckt werden. Mich würde das sicherlich stören, aber Ikki beschwert sich nicht. Armer Kerl, und das nur, um einer kreischenden Mädchenmeute zu entgehen. Ich empfinde Mitleid für ihn. Prüfend sehe ich mich um. Neben mir befindet sich keine Frau im Raum. Ich bin die Einzige hier. Theoretisch, wenn ich aufpasse, dann könnte er … „Sag mal“, setze ich zögerlich an. „Bereitet dir das keine Probleme?“ „Hm?“ „Na, die Sonnenbrille“, ergänze ich. Beklommen konzentriere ich meinen Blick auf meine schaffenden Hände. „Ich stelle mir das hinderlich vor, so zu arbeiten. Wäre es nicht besser für dich, wenn du sie …“ Ich kriege den Satz nicht beendet. Zwischen uns kehrt Stille ein. Während Sekunden verstreichen, wage ich nicht, ihn anzusehen. Wissend, welch gewagtes Spiel ich uns unterbreitet habe. Die Brille ist der einzige Schutz, den ich vor der Macht seiner Augen habe. Ohne sie wäre eine normale Interaktion nicht möglich, das wissen wir beide. Aber ob ich nun von dunklen Gläsern abgeschirmt werde oder seinem Blick immerzu ausweichen muss … Was macht das schon für einen Unterschied? Frust und Verzicht bleiben dieselben. Ich wünschte, es wäre anders. Wie gern würde ich wie Hanna sein und könnte ihn ansehen, wie sie ihn ansehen kann. Aber das Schicksal wollte es anders. Ich werde immer eines dieser Mädchen sein, die seinem Zauber wehrlos verfallen. Unter denen Ikki zu leiden hat. „Dieses Risiko gehe ich nicht ein“, unterbricht Ikki meine Gedanken. Seine Stimme ist fest, seine Worte ein Flüstern. „Es ist gut, wie es ist. Ich möchte nicht noch etwas Wertvolles verlieren.“ Kapitel 26: Zuckerschmaus und Funkensprung ------------------------------------------ Mein letztes Plunderstück ist mit etwas Aprikosenkonfitüre überzogen, jetzt muss es nur noch trocknen. Auch Ikki ist mit seinen Gebäckstücken fertig, wie ich mich erkundige, und wir betrachten gegenseitig unsere Werke. „Du bist gut darin“, stellt Ikki fest, was mich erfreut. „Naja, das war Teil meiner Ausbildung“, erkläre ich. „Ich habe einen Teil davon in einer Kleinbäckerei  gemacht, wo alles von Hand hergestellt wurde. Es war Teil unserer Arbeit, Gebäcke fertigzustellen. Pfannkuchen füllen, Zuckerguss zubereiten und überziehen … Wir haben auch selbst Pudding und Butterkrem hergestellt. Ich kenne noch ein paar der Dinge und wie man sie macht.“ „Das sieht man“, komplimentiert er mir lächelnd. Ich fühle mich gut bei seinem Lob. Wir melden uns bei dem Bäckersmann und er führt uns in einen Nebenraum. Dieser ist klein, mehr wie ein Zimmerchen, mit einigen gardinenverhangenen Fenstern. Wieder steht in der Mitte ein großer, hoher Holztisch, mit allerlei buntem Kram darauf. Der meiste Platz ist mit Bandrollen, Folien und verschiedenen Plastikkästchen zugestellt. Am Rand bleibt etwas Platz zum Arbeiten, es liegen endlos Scheren, Klebeband und Stifte bereit. Hier dürfen wir unsere eigenen Pakete gestalten, wird uns erklärt. Taka führt uns ein wenig herum, zeigt uns die verschiedenen Boxen und Schachteln und was uns alles zur Verfügung steht. Mir wird dezent mulmig bei dem Gedanken, jetzt auch noch basteln zu dürfen. Backwaren zu verzieren mag das Eine sein, damit habe ich Erfahrung. Aber wenn es ums Gestalten geht und etwas hübsch zu verpacken, da versage ich ganz. Ich bin kein Basteltyp, war ich nie und werde ich nie sein. Ich schmiede bereits Pläne, wie ich diese Masterquest bloß schnell heil hinter mich bringe. „Wenn Sie fertig sind, kommen Sie bitte in den Trockenraum. Ich stelle ihre Gebäcke dort ab zum Trocknen.“ Wir bedanken uns und Taka lässt uns allein. Wenig ambitioniert schleiche ich um den Tisch herum und mustere skeptisch, was mich hier erwartet. Glanzbandspulen, Geschenkpapierbögen, Schleifchen aus Stoff und Seide, vorgefertigte Schleifenblüten, Sterne in allerlei Formen und Stilen … zu viel. Was fängt man mit diesem ganzen Zeug nur an? Ein Grauen, hier komme ich niemals lebend heraus. „Am besten fangen wir mit den Boxen an“, holt mich Ikki aus meinem Unmut und ahnt gar nicht, welchen Albtraum er damit durchbrochen hat. „Schließlich müssen die Gebäcke irgendwo sicher abgelegt werden. Komm her, schauen wir uns die Größen an. Es steht alles dabei, was wir brauchen.“ Ich atme erleichtert auf und geselle mich an seine Seite. Wenigstens scheint es, als hätte Ikki mit Geschenkverpackungen ein sichereres Händchen als ich. Ich will mir nicht ausmalen, wie oft er schon dastand und irgendein Geschenk für irgendeine Frau herrichten musste. Oder halt, müsste es nicht eher umgekehrt sein, dass er mit Geschenken überhäuft wurde? Kennt er sich deswegen so gut aus? Ich lasse mir von Ikki alles zeigen und erklären, womit ich nichts anfangen kann. Wir beratschlagen uns einige Zeit, bis wir uns für eine Box entschieden haben. Wenigstens ein Anfang. Sie ist zweistöckig, wobei sich die obere Etage gut und einfach herausheben lässt. Ich denke, damit fahren wir ganz gut, selbst mit den sensiblen Sahnestücken. Er wählt eine blaue Version, ich eine violette. Wir besprechen, wie die Gestaltung aussehen soll, wobei ich beharre, dass wir nur die äußere Fassade schmücken. „Innen zählt nur, was drin ist“, erkläre ich. „Da achtet niemand auf Sticker oder anderen hübschen Krimskrams.“ Ikki befürwortet meine Meinung und so geht es ans Werk. Ich müsste mich freuen, dass ich die Hälfte Arbeit von mir gewiesen habe. Leider ändert das nichts daran, dass ich mich dennoch diesem Grauen stellen muss. Ich schnappe mir ein paar Stickerbögen und eine Rolle mit goldglitzerndem Klebeband. Von der Seite beobachte ich Ikki, wie er mit Bändern und Stickern hantiert. Trotz der Handschuhe, die er wieder trägt, ist er sehr geschickt in seinem Tun. Er kommt schnell voran, die erste Längsseite zeigt bereits ein Muster. Ich werde hinter ihm zurückfallen, wenn ich mich nicht beeile. „Du wirkst geübt“, merke ich von der Seite an, während ich mich meinem eigenen Paket zuwende. „Bei dir sieht das so einfach aus. Dekorierst du öfter solche Sachen?“ „Nicht so oft, wie du vielleicht annimmst“, spricht er vergnüglich. „Aber wenn du oft die Zeit hast, dir mit Mühe hergerichtete Dinge anzusehen, lernt man auf ganz theoretische Weise, wie es geht.“ Ich überlege, was das bedeuten könnte. Wie oft kommt es vor, dass Ikki einfach nur dasitzt und dekorierte Dinge besieht, die vor ihm stehen? Wann und wo hätte er die Gelegenheit dazu? Im Meido gewiss nicht, dort gibt es wenig Anschauungsmaterial und die Zeit hätte er zudem nicht. Zu Hause vielleicht? Meint er die Geschenke von seinen Freundinnen? Wenn ich es recht bedenke, möchte ich es lieber nicht wissen. Ich suche nach einem unverfänglichen Thema, über das wir uns unterhalten können. Mir fallen Dinge ein, die ich ihn zu Kento oder Rika fragen möchte, doch ich bin gehemmt. Ikkis Anmerkung von vorhin lässt mich vermuten, dass er diese Bäckerei schon einmal mit »mir« besucht hat. Wenn dem wirklich so ist, sitze ich gehörig in der Patsche. Er würde sich das nicht einbilden oder mich verwechseln, ausgeschlossen. Was, wenn er es bereits durchschaut hat? Wie gern würde ich es ihm sagen, einfach alles auf den Tisch legen. Aber wenn ich mich dadurch als Lügnerin entpuppe und sein Vertrauen verliere … „Ach Mist!“ Ich stoße ein lautes Fluchen aus. Zum vierten Mal schon löst sich dieses verdammte Glitzerband und will einfach nicht haften bleiben. Es fällt immer wieder herunter. Mir vergeht allmählich die Lust. „Brauchst du Hilfe? Warte, lass mich kurz machen.“ Protestlos überlasse ich Ikki das Feld und trete zur Seite. Mein Geduldsfaden war noch nie der längste, wenn es ums Basteln geht. Enttäuscht von meiner Ungeschicklichkeit beobachte ich Ikki, wie er das Massaker leichthändig behebt. Er gibt mir Tipps, wie es besser geht, doch ich nicke nur, ohne ihm richtig zuzuhören. Es ist unwahrscheinlich, dass ich mir diese Tortur so bald noch einmal gebe. Ein Abzug für meine Weiblichkeit.   Bepackt mit unseren verzierten Gebäckboxen stehen wir vorne am Tresen und werden kassiert. Stolze 1700 Yen pro Person kostet uns dieser kreative Nasch-Bastel-Spaß, was mich kurz schnappen lässt. Für sechs Gebäckstücke in einer kunterbunten Pappbox … Ich bin mir sicher, das hätte ich anderswo auch günstiger bekommen. Aber sei’s drum. Ikki wollte, dass wir eine schöne Zeit haben, und die hat eben ihren Preis. Ich schlucke mein Entsetzen hinunter und greife mutig in die Geldbörse. Die letzten Geldscheine darin abzuzählen, tut weh. „Das geht zusammen“, höre ich Ikki sagen und schnappe erneut. Mein Kopf schnellt zu ihm in die Höhe, doch bevor ich etwas sagen kann, hebt er mir einen Finger vor die Lippen. „Später“, verspricht er und übernimmt die Bezahlung. Unsere Boxen werden noch jeweils in einer Hamsterkopftüte verstaut, dann verlassen Ikki und ich dankend den Laden. „Ikki …“, mache ich meinem Unmut Luft, kaum dass wir draußen sind. Zwei Schritte von der Eingangstreppe entfernt bleibe ich stehen. „Erst das Kino, jetzt das … Du weißt, dass ich es nicht darauf beruhen lassen kann.“ „Ich weiß. Und ich möchte verhandeln.“ Fragend hebe ich die Augenbrauen und er erklärt, ohne dass ich nachhaken muss: „Du gibst mir 1000 Yen zurück, und für den Rest gestattest du mir eine letzte Bitte.“ „Kommt ganz auf die Bitte an“, entgegne ich zögerlich. Er lächelt besänftigend. „Ich begleite dich nach Hause, die gesamte Strecke bis vor die Tür. Dort setze ich dich sicher ab, außer du möchtest, dass ich noch mit rein komme. Abgemacht?“ „Wow, und das für nur 700 Yen. Was für ein überaus günstiges Angebot“, erwidere ich zu Scherzen aufgelegt. „Wie könnte ich da Nein sagen? Na schön, abgemacht.“ Wir klären das Finanzielle sofort, dann geht es an den Heimmarsch. Ikki bietet mir an, dass wir ein Taxi rufen, aber das Wetter ist mild und ich strotze vor Enthusiasmus. Ich möchte keine Minute mit ihm verschenken, weswegen ich den Fußmarsch vorschlage. Wenn ich richtig schätze, gewinne ich dadurch um die vierzig Minuten; fünfzig, wenn wir langsam gehen. Bei dem Gedanken wächst mein Bedürfnis, noch so viel Zeit wie möglich rauszuschlagen. Eine zweite Gelegenheit wie diese bietet sich mir vielleicht nie wieder.   Auf dem Weg befragt mich Ikki, wie ich den Tag empfunden habe. Ich gestehe, dass mir das Basteln einige Schwierigkeiten bereitet hat, ansonsten hat es mir gefallen. „Das freut mich“, sagt er darauf und wirkt zufrieden. „Es war genau das, was ich gebraucht habe, um den Kopf ein wenig freizubekommen“, gestehe ich mit einem Lächeln. „Du warst mein Retter in dunkler Stunde. Danke für die spontane Einladung.“ „Ich hatte Sorge, dass es etwas zu spontan sei“, offenbart er, wobei er das Lächeln erwidert. Im nächsten Moment zeichnet sich Sorge auf seinem Gesicht, als er ernst wird: „Möchtest du darüber reden?“ „Worüber?“ „Was dich bekümmert“, ergänzt er. Schweigend wende ich den Blick zur Straße ab und konzentriere meine Gedanken. Wie gern würde ich mich ihm anvertrauen; offen und ehrlich über alles reden, was mich belastet. Auf der anderen Seite möchte ich nicht zur Sprache bringen, was sich gestern alles ereignet hat. Am wenigsten diese Balkongeschichte. Wenn er wüsste, dass ich beinah … Nur daran zu denken, lässt mich … „Ist es wegen deinem Freund?“ „Was? Nein“, sage ich leise und schüttle den Kopf. Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis ich spüre, wie etwas nach meiner Hand greift. „Du kannst mit mir über alles reden“, höre ich Ikki sagen, wobei sein Griff um meine Finger fester wird. Wir bleiben stehen und tauschen einen Blick, der mir trotz seiner Sonnenbrille bis unter die Haut geht. Es ist der Start eines heftigen Tauziehwettbewerbs in meinem Kopf zwischen »es ihm sagen« und »nichts sagen«. Mein ansteigender Puls applaudiert den eifrigen Kontrahenten. Hoffnung jubelt laut, Vernunft buht im Protest. Ich bin mit alldem überfordert. Was soll ich tun? Was ist richtig? „Danke“, sage ich leise und mühe ein Lächeln herauf. Sanft erwidere ich den Händedruck. „Es hat wirklich nichts mit Luka zu tun. Es ist … wesentlich komplizierter als das.“ „Kann ich helfen?“ Ich schüttle betreten den Kopf. „Nein, ich fürchte nicht.“ „Oftmals hilft es, wenn man über seine Sorgen spricht“, redet er behutsam auf mich ein. „Vielleicht weiß ich Rat oder kann welchen für dich einholen. Ich habe viele Kontakte. Und ich bin dir noch etwas schuldig.“ „Schon gut, Ikki“, beschwichtige ich. Seine Sorge und Bemühungen rühren mich, doch die Befangenheit wiegt schwerer. „Es gibt Dinge, über die kann man nicht reden. Mit niemandem, fürchte ich. … Leider. Auch wenn ich gern würde.“ Seine Miene verliert sich irgendwo zwischen Mitgefühl und Enttäuschung. Ich bereue, diesen Ausdruck an ihm erkennen zu müssen und hasse mich dafür. Wie gern würde ich es ihm sagen – ich will, ich will! –, aber wie soll ich es verkaufen? Im Übrigen, die Welt ist hinter mir her und will mich töten, weil ich aus einer anderen Welt stamme. Und ich bin übrigens auch nicht die, die du kennst. Oh ja, klar. Das kann ich ihm ohne Weiteres offenbaren und er würde es hinnehmen. Ohne den kleinsten Verdacht. Jegliche Glaubwürdigkeit, adé. „Ich kann dich nicht zwingen“, spricht Ikki nach einiger Zeit, in der ich ihm zur Seite ausgewichen bin. „Aber du sollst wissen, dass ich immer da bin, wenn du jemandem dein Herz ausschütten magst. Nicht nur, weil ich zurückzahlen will, was du für mich getan hast. Du sollst wissen, dass du auf mich bauen kannst. Komm, gehen wir weiter. Reden wir über etwas anderes. Hm, du hast mir noch gar nicht erzählt, woher dein Interesse für Idols kommt. Was macht für dich ein Idol aus?“ Wir reden über unverfängliche Themen, während wir den Straßen heimwärts folgen. Die Gespräche machen Spaß, hinterlassen jedoch ein Gefühl der Leere und Unzufriedenheit in mir. Idole, Pop-Sternchen und was sie ausmacht … das alles sind Themen, die zwar interessant sind, über die ich aber eigentlich nicht reden mag. Mich interessieren Dinge zu Ikki, was er macht, wie es ihm geht und wie seine Sicht der Dinge ist. Am liebsten will ich ihn zu Kento befragen, wie ihre Beziehung in Wirklichkeit ist, aber kann ich das gefahrlos? Was, wenn all die Fragen, die mir gerade in den Sinn kommen, schon von meinem vorherigen Ich gestellt wurden? Wenn Ikki sich deswegen wiederholt? Er schöpft jetzt schon Verdacht, da bin ich mir nach seiner Anmerkung in der Bäckerei sicher. Aber ich will es wissen, so unbedingt. Wieso muss ich hinter meinem anderen Ich zurückstecken? Das ist nicht fair. Das hier ist meine Gelegenheit. Ich will all diese Wunder nicht ungenutzt an mir verstreichen lassen …  „Erzähl mir etwas über dich und Kento“, werfe ich ein, als mir die Gelegenheit günstig erscheint. Zuletzt sprachen wir davon, dass Ikki selbst wie ein Idol wirkt, besonders wenn man die Zahl seines Fanclubs betrachtet. Er hat es mit aufgesetztem Humor genommen, jedoch betont, dass ihm diese Erhebung nichts bedeutet. Er habe nie darum gebeten, jedenfalls nicht um das, was es heute ist. „Was möchtest du denn wissen?“, fragt er zurück. „Weiß nicht. Irgendwas. Was immer du erzählen magst.“ „Ich weiß nicht, wo ich bei ihm anfangen soll. Ich erzähle so viel über ihn, dass ich manchmal nicht weiß, wem ich schon was gesagt habe. Und dabei sind es nicht sehr viele Leute, mit denen ich über ihn rede.“ Sein Blick geht zu mir und er fragt verschmitzt: „Ken interessiert dich, hm? Darf ich fragen, warum?“ „Es geht mir nicht direkt um ihn“, widerspreche ich aufrichtig. „Wobei ich zugeben muss, dass er ein interessanter Charakter ist. Aber ich finde, dass ihr eine sehr besondere Freundschaft habt, die selten ist. Ich würde gern mehr darüber erfahren, wenn es dich nicht stört.“ „Solange es nur das ist. Ken ist ein toller Kerl“, lenkt er ein, wobei seine Stimme einen weichen Klang annimmt. „Ich verdanke ihm wirklich viel. Ohne ihn wäre ich nicht der Kerl, der ich heute bin. Er war nach einer langen Zeit der Erste, der mich wie ein normaler Mensch behandelt hat. Aber vermutlich habe ich dir das schon einmal erzählt.“ „Ich kann es immer wieder hören“, kontere ich, um bloß nicht den Faden zu verlieren. Ich will, dass er es mir erzählt. Ich will hören, was immer er mir anvertrauen mag. Ikki nickt akzeptierend, dann sieht er nach vorn, meine Hand weiterhin in seiner. „Was ich an ihm schätze, ist seine Aufrichtigkeit. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, kritisiert mich, fasst mich nicht mit Samthandschuhen an. Er widerspricht meiner Meinung und Ansichten, wenn es angemessen ist. Und er ist vor allem immer da, wenn ich ihn brauche. Sei es in guten oder schlechten Zeiten, wobei die schlechten wahrscheinlich überwiegen. Ich kann mich immer auf ihn verlassen, was es auch ist. Wenn er nicht wäre … ich wüsste nicht, wo ich heute wäre.“ Er fragt mich, ob ich mich daran erinnere, als er mir sagte, es sei Kento zu verdanken, dass er noch im Meido sei. Ich bestätige, obgleich mir diese Info neu ist. „Als das war, mit ihr … wollte ich im Meido kündigen“, erzählt er leise, wobei der Schmerz aus dieser Erinnerung klingt. „Ich habe dir das sicher schon erzählt, aber zu der Zeit dachte ich wirklich, ich könnte es nicht ertragen, weiter dort zu arbeiten. Denselben Arbeitsplatz wie sie zu teilen, sie regelmäßig zu sehen, immer wieder daran erinnert zu werden … Ich war bereit, zu kündigen, alles aufzugeben. Aber dank ihm, um Kens Willen, bin ich geblieben. Er ist ein grausamer Freund, mir so etwas zuzumuten.“ Er lächelt bitter. Ich schüttle vorsichtig den Kopf zur Abmilderung seiner Einleitung. „Bereust du es?“, möchte ich wissen und sehe ihn mitfühlend an. „Es gab eine Zeit, da habe ich es“, gesteht er. „Da habe ich meine Worte Ken gegenüber bereut und die Entscheidung, die damit einher gegangen ist. Aber irgendwann … wurde es besser. Das ist nicht gering dir zu verdanken.“ Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Mir fehlen die Erinnerungen, von denen er spricht. Bis auf die paar Flashbacks, die mich überkommen sind, habe ich nichts, um seine Worte auf irgendetwas zu beziehen. „Ich habe euch viel zu verdanken, dir und Ken. Ohne euch, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Ich hätte mich vermutlich aufgegeben.“ „Sag das nicht“, flüstere ich. Diese Dinge zu hören, schmerzt mich. Umso mehr, da ich es nicht greifen kann. Ich bin im Begriff, ihm zu sagen, dass er mir nichts zu verdanken hat. Dass es nicht meinetwegen war. Doch ich schlucke es hinunter. Ich bringe es nicht übers Herz. Er fragt mich, was ich noch wissen will, worauf ich abermals antworte, dass mir jedes Thema recht ist. Also erzählt er mir von irgendwelchen Wetten, die er in jüngeren Jahren mit Kento abgehalten hat. Und in welche Probleme sie einige davon gebracht haben. Die Stimmung lockert sich auf, wir lachen. Ich äußere ihm gegenüber, dass falls es sich jemals ergeben sollte, ich sehr gern einmal etwas mit ihnen unternehmen würde. Zu dritt, egal was. Außer Karaoke, darin bin ich schlecht. Aber ich glaube, wenn es mit ihnen ist, würde ich selbst das überleben – und genießen.   Wir biegen in die Straße, die in meine Wohngegend führt. Normal hätten wir uns an der letzten Kreuzung getrennt, aber nicht heute. Ich habe es versprochen. „So? Ein reiner Mädchenabend?“ „Ja“, bestätige ich und nicke. Gerade sprechen wir über unsere Pläne für das Wochenende und ich bin am Zug. „Allerdings muss ich zuvor diese Ausstellung hinter mich bringen. Und am nächsten Tag wieder arbeiten … Das wird ein langes Wochenende.“ „Was für eine Ausstellung willst du besuchen?“ „Eine Kunstausstellung“, seufze ich knapp. „Luka hat mich dahin eingeladen. Er wird dort als Künstler vertreten sein und ich soll ihn begleiten.“ „Wow, beeindruckend“, kommentiert er anerkennend. „Ich wusste nicht, dass er so gut ist. Dein Freund muss eine große Nummer sein. Du bist bestimmt stolz auf ihn.“ „Naja“, verwerfe ich mit einem Schulterzucken. „Beeindruckend ist es schon, aber …“ „Aber?“ „Ich fühle mich als Autor dort etwas fehl am Platz“, sage ich kleinlaut. „Alle werden über Kunst reden und Dinge auswerten und bewundern, zu denen ich vermutlich nicht viel sagen kann. Das ist in etwa, als würde man einen Hund in ein Affenhaus stellen.“ Er lacht auf hin meines Kommentars. „Heißt das, eine Kunstausstellung ist für dich wie ein Affenhaus?“ „So … so meinte ich das nicht!“, beteuere ich. Sein amüsierter Ausbruch stimmt mich verlegen. „Ich mache nur Spaß“, beschwichtigt er und fährt mit dem Finger unter seiner Brille entlang. „Ich denke, du machst dir an der Stelle zu viele Gedanken. Sind sich Malen und Schreiben denn so unähnlich? Beides ist Kunst und findet bestimmt einige Gemeinsamkeiten. Denkst du nicht, dass du dich lieber darauf konzentrieren solltest statt auf die Unterschiede?“ „Wow, du klingst gerade wie eine Figur, zu der ich aufsehe“, stoße ich aus. Leise bereue ich, nicht gegoogelt zu haben, ob diese Welt etwas mit Pokémon anfangen kann. Was, wenn ich Nyasu erwähne und ihm darauf erklären darf, was ein Mauzi und Team Rocket sind? Verwerfend schüttle ich den Kopf und lächle anschließend. „Du hast ja recht. Wahrscheinlich mache ich mich nur unnötig verrückt. Es wird bestimmt gut werden und ich kann eine ganze Menge lernen. Ich versuche, das Beste daraus zu machen. Es ist immerhin auch eine seltene Gelegenheit, darauf sollte ich stolz sein.“ Er nickt befürwortend. „So ist es richtig. Es wäre eine Vergeudung, wenn du diese Gelegenheit nicht nutzen würdest. Es ist nicht nur eine gewöhnliche Ausstellung, du wirst alles aus nächster Nähe erleben und kannst dir Informationen aus erster Hand einholen. Das ist etwas sehr Besonderes. Deinem Freund liegt vermutlich viel daran, dass er so ein wichtiges Ereignis mit dir teilen will.“ Seine Worte versetzen mir einen Stich. Betroffen sehe ich zur Seite weg und verfluche das leise Stimmchen, das mir ein schlechtes Gewissen einzureden versucht. Ausgerechnet jetzt muss ich mich fragen, ob ich Luka Unrecht tue. Wieso muss Ikki auch so viel daran setzen, ihn mir gut zu reden? „Ist alles okay?“, holt mich seine Stimme aus meinem inneren Zwiespalt zurück. „Du bist auf einmal so still.“ Steif schüttle ich den Kopf. „Nein, schon okay.“ „Hm.“ Obgleich mir der Zweifel in Ikkis Laut nicht entgangen ist, sage ich nichts. Ich will nicht an Luka denken, ich will nicht über meine Einstellung zu ihm nachgrübeln. Eigentlich will ich im Augenblick an gar nichts denken; ich will einfach nur meine Zeit mit Ikki genießen. Doch warum, verflucht, lässt mich mein Kopf mit diesen vorwurfsvollen Gedanken einfach nicht in Frieden?   Schweigen war zwischen uns eingekehrt, von dem ich nicht wusste, ob es Ikkis stillem Warten auf einen nachgeschobenen Kommentar zu unserem letzten Thema entsprang. Die Atmosphäre wurde mir zu angespannt, weswegen ich auf unsere Gebäcke zu sprechen kam. Ich wollte wissen, was Ikki mit seinen Stücken vorhatte, doch er schien sich darüber noch keine Gedanken gemacht zu haben. „Es ist nicht, dass ich kein Vertrauen in meine Fähigkeiten hege“, erzählt er, worauf er den Kopf dreht und mich spitzbübisch besieht, „aber ich würdige lieber die Bemühungen anderer um mich als meine eigenen.“ „Soll das eine Anspielung sein?“, gebe ich zurück und bemerke, wie es in meinem Bauch aufgeregt flattert. Allein die Vorstellung, dass Ikki es auf meine Gebäcke abgesehen haben könnte, genügt, um mich in ein naives Schulmädchen zurückzuversetzen. „Damit das klar ist“, füge ich rasch hinzu, „wenn, dann machen wir halbe-halbe. Gleiches Recht für beide.“ Ikki stößt ein kurzes, volles Lachen aus. „Ist das ein Angebot?“ „Na aber hallo!“, unterstreiche ich, weiche dann jedoch zur Seite aus. Verdammt, gerade komme ich mir wirklich wie ein Schulmädchen vor. Ich führe mich unmöglich auf, für meine Verhältnisse zumindest. Peinlich irgendwie. Verflucht, Ikki! Lass doch mal das arme Fangirl in mir in Ruhe! „Nun, wenn du darauf bestehst“, säuselt er lieblich, wofür ich ihm dutzend stille Flüche ausspreche. „Wie kann ich da Nein sagen? Lass sie uns später aufteilen, wenn ich dich abgesetzt habe. Wir sind ja gleich da.“ Die Straße, in die wir als Nächstes einbiegen, bestätigt seine Worte. Ich erkenne die Häuser zu den Seiten und weiß, dass wir in wenigen Minuten bei mir sind. Bedauern macht sich in mir breit, denn jetzt, da sich der Tag dem Ende neigt, denke ich, dass die Zeit einmal mehr viel zu schnell vergangen ist. Die letzten Meter sind bald hinter uns gebracht und ich spüre den Trotz in meinen Beinen sitzen, als wir vor Hausnummer 20 auf dem Gehweg stehen bleiben. Ich will den Abend nicht beenden, aber der Abschied kommt, ob ich will oder nicht. ‚Naja, du wirst ihn ja wiedersehen‘, versuche ich mich zu trösten. Morgen, wenn ich mich recht erinnere. Das ist doch was, wenn es auch nicht dasselbe sein wird wie heute. „Da wären wir“, leitet Ikki ein und dreht sich zu mir. Ich spüre seinen Blick und zwinge mich, zu ihm aufzusehen. „Soll ich noch mit rauf kommen?“ „Scherzkeks“, sage ich und spüre, wie sich ein Stich durch meine Brust zieht. Ich hätte ihn gern auf ein Getränk mit hoch genommen, aber ich erinnere mich, dass Ukyo sehr wahrscheinlich daheim wartet. Und Orion. Wie sollte ich das Ikki erklären? „Das würde zu spät. Als ob ich dann noch zum Schlafen käme.“ „An was denkst du, was ich mit dir mache, wenn du mich in deine Wohnung lässt?“, schmunzelt er süffisant. In dem Moment wird mir bewusst, wie unglücklich mein Kommentar war. „Argh nein, so war das nicht gemeint!“, wehre ich schnell ab und hebe die Hände vor den Körper. „Ich meinte nur, dass es spät wird, weil wir uns bestimmt verquatschen. Und dann bin ich zu aufgewühlt zum Schlafen und komme morgen nicht aus den Federn.“ Ikki lacht und ich verstumme. Besser nichts mehr dazu sagen, es kann nur schlimmer werden. Egal, was ich zu korrigieren versuche, aus diesem Schlamassel komme ich nicht mehr heraus. „Na gut, ich verstehe“, bringt er gezwungen unter seinem Gelächter hervor. Ikki seufzt einmal aus voller Brust, worauf er mich sanftmütig besieht. „Ich hatte heute sehr viel Spaß“, meint er und lässt mein Herz höher schlagen. „Es tat gut, wieder so viel mit dir zu lachen. Unsere Gespräche haben mir sehr gut getan.“ „Mir auch“, erwidere ich und lächle. „Danke für diese schöne Zeit.“ Ich nicke. Am Rande bemerke ich, wie Ikki meine Hand drückt. Unbewusst halte ich den Atem an, in Erwartung auf irgendwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Hinter den dunklen Brillengläsern vermute ich, dass Ikkis Blick ernster wird. „Bist du dir wirklich sicher, dass es nichts gibt, worüber du reden möchtest?“ Seine Frage schneidet tief und bringt meine Emotionen in Aufruhr. Da ist er wieder, dieser Zwiespalt, der mein drängendes Bedürfnis nach Aussprache mit Schild und Speer zu bekämpfen versucht. Ich schlucke. „Ich …“ Doch ich komme nicht zu Wort. Ich bemerke nicht, was hinter mir passiert, nur dass Ikki mich plötzlich an den Armen packt und mit einem Ruck zur Seite zieht. „Vorsicht!“ Etwas peitscht. Keinen Meter neben uns zieht etwas zischend vorbei. Dann knallt es irgendwo hinter uns. Alarmsirenen eines Autos gehen los, im selben Moment wird es dunkel um uns herum. Die Straßenlaternen, die Lichter aus den Häusern in der Nachbarschaft – alles erlischt. Die Nacht ist schwärzer, als ich sie wahrgenommen hatte. „Bist du okay?“, höre ich Ikki fragen. Seine Stimme ist das Einzige, das mich im Hier behält und vor einer Panikattacke bewahrt. Unter dem kühlen Stoff seines Mantels spüre ich seinen Herzschlag nah an meinem Ohr. Für einen kurzen Moment frage ich mich, welches Herz wohl schneller schlägt: seines oder meines? Gott, ich hätte vor Schreck schier sterben können, wenn es nicht Ikki wäre, der mich hier sicher in den Armen hält. „Was ist passiert?“, frage ich versetzt, weiterhin unfähig mich zu rühren. Von Ikkis Körper geht eine angenehme Wärme aus. Er, seine Kleidung, alles an ihm riecht so gut. Beruhigend, wenn nur die Gewissheit nicht wäre, dass gerade irgendetwas Schreckliches passiert ist. Außerhalb meiner Wahrnehmung. „Schau.“ Nur widerwillig dränge ich mich von ihm, gerade so weit, dass ich um mich blicken kann. Es ist schwer, in der Dunkelheit gescheit zu erkennen, doch mir fällt ein Flackern ins Auge. Ein Blitzen, das unregelmäßig in einiger Entfernung von der gegenüberliegenden Straßenseite kommt. Vielleicht noch halb von der Straße, wenn ich den Abstand bedenke, der zu dem schrillenden und warnblinkenden Auto in nächster Nähe besteht. „Das hätte verdammt schief gehen können“, kommentiert Ikki, was mich wieder zu ihm sehen lässt. „Einen Schlag aus so einer Leitung überlebt man nicht. Das war zu knapp. Hätte ich nur eine Sekunde zu spät reagiert …“ „Was ist passiert?“, wiederhole ich, nicht fähig die Puzzleteile zusammenzusetzen. „Das Kabel“, sagt Ikki und ich folge seinem Blick, der in Richtung der Häuser nach oben geht. „Es muss sich von dort oben gelöst haben. Seltsam, normalerweise sollten die Freileitungen gut gesichert sein … Bist du auch wirklich in Ordnung?“ „Mh“, mache ich und nicke zaghaft. „Nichts passiert, nur erschrocken.“ „Schon okay“, spricht Ikki sanft und zieht mich in seine Umarmung zurück. Seine Hand legt sich tröstend auf meinen Hinterkopf, was mich veranlasst, mich etwas näher an ihn zu schmiegen. „Es ist alles in Ordnung. Dir passiert nichts, das verspreche ich.“ Ich will ihn piesacken. In mir flammt die Frage auf, wie vielen Mädchen er das schon gesagt hat, während er sie für irgendwas in die Arme genommen hat. Doch das Bedürfnis ist gering und wird von dem Wohlgefühl übertrumpft, das Ikkis Nähe in mir auslöst. Soll er mich einfach halten und mir so den Mund verbieten, ich habe nichts dagegen. Nichts Besseres ist mir bisher in dieser Welt widerfahren und wird wohl je passieren.  Das hier, genau das, ist exakt das, was ich will und gerade brauche. Unbedacht der Umstände. Um uns herum wird es lebhaft. Ich höre Stimmen aus der Ferne, die aufgeregt durcheinander reden. Es wäre angemessen, die Umarmung jetzt zu lösen, doch ich will sie noch ein wenig länger haben. Nur wenige Sekunden, bis ich mich damit abgefunden habe, dass der Vorwand beendet ist. „Shizana?“, höre ich meinen Namen aus dem Gemenge heraus und drehe mich um. In dem Menschengewirr ist nicht viel zu erkennen, die Dutzenden Taschenlampen irritieren mich zusätzlich. Eines der Lichter hält direkt auf mich, was mich blendet. Bemüht blinzle ich gegen die Helligkeit an, um jemanden dahinter ausmachen zu können. „Ist bei dir alles okay? Die Lichter gingen plötzlich aus und jetzt liegt die ganze Nachbarschaft im …“ Endlich erkenne ich die Stimme, die eindeutig Ukyo zuzuordnen ist. Er eilt in meine Richtung und erzählt aufgeregt, doch kommt zu einem abrupten Stopp, als er wenige Meter vor mir stehen bleibt. „Ukyo-san?“ „Oh, Ikki-kun“, bemerkt Ukyo überrascht und wirkt mit einem Mal überfordert. „Ha-hallo. Du hier? Ich … ich wusste nicht, dass du … dass ihr … Ä-ähm, ahaha …“ Irritiert lege ich den Kopf schief. Worüber ist Ukyo so aufgebracht? Wusste er wirklich nicht, dass ich mit Ikki unterwegs war? Gut, ich hatte es ihm nicht erzählt, er war ja nicht zu Hause gewesen. Aber Orion wusste es und ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihm nichts gesagt hat. „Ukyo-san“, setzt Ikki neben mir an, „was machst du hier? Wohnst du etwa in der Gegend?“ Pling. Oh mein Gott! Stimmt ja, Ikki weiß gar nichts davon, dass Ukyo und ich zusammenleben. Glaube ich. Nein, jetzt bin ich mir ziemlich sicher. Oh Mist, was jetzt? Wie kommen wir da wieder heraus? „Ä-ähm, ich … also … So ein Zufall, oder? Haha“, stammelt Ukyo nervös. Er wirkt so hilflos, wie er immer wieder zu mir sieht, als hoffe er, in meinem Gesicht die Antwort auf dieses Dilemma zu finden. Zu meinem Bedauern fürchte ich, dass er vergeblich sucht. Prüfend schiele ich zu Ikki. In dem schnittigen Licht der Taschenlampe interpretiere ich seine Gesichtszüge als überrascht, vielleicht auch verwirrt. Ich glaube nicht, dass er bereits entschlüsselt hat, was wirklich hinter Ukyos Auftauchen steckt. Und ich, ich bin unschlüssig, ob ich es ihm sagen will oder nicht. „Störe ich?“, klingt Ukyos Frage vorsichtig und lenkt meine Aufmerksamkeit auf ihn zurück. „Keineswegs“, antwortet Ikki. Sein Blick richtet sich auf mich. „Ich habe sie nur nach Hause gebracht. Ich denke, ab hier kann ich dich allein lassen. Wir wollen ja, dass du ausreichend Schlaf bekommst.“ Er versieht diese Botschaft mit einem vielsagenden Zwinkern. „Wirst du allein zurechtkommen?“ „Mh“, nicke ich und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mich diese Zweideutigkeit verlegen stimmt. „Ich denke, ich habe noch Kerzen im Haus. Und mein Handy hat eine Taschenlampe.“ „Es wird sich bestimmt bald jemand darum kümmern. Ein Stromausfall wird in der Regel schnell bemerkt, keine Sorge. Sei nur vorsichtig, wenn du dich bewegst. Nicht, dass du noch stürzt oder irgendwo gegenstößt und dich dabei verletzt. Ach, und nimm das hier.“ Auffordernd hält er mir die Hamsterkopftüte entgegen, die von der Hektik einige unschöne Dellen davongetragen hat. Fragend sehe ich ihn an. „Wollten wir nicht halbe-halbe machen?“ „Es ist zu dunkel, um das jetzt zu machen. Nimm dir einfach, was du haben magst, den Rest bringst du mir morgen auf Arbeit mit. Einverstanden?“ „Na gut“, gebe ich bei und nehme die Tüte entgegen. Mir ist etwas unwohl dabei, doch ich sehe ein, dass es das Vernünftigste ist. „Dann … schätze ich, war’s das jetzt. Ich habe dir wirklich sehr für den Tag zu danken. Es hat Spaß gemacht.“ Er nickt zustimmend, worauf ein versetztes Lächeln folgt. „Sicher, dass ich dich nicht doch noch nach oben begleiten soll?“, setzt er nach, als amüsiere ihn der Gedanke. „Ich komme schon klar“, wehre ich ab, die Idee hektisch beiseite schiebend. Oh Gott, ich hätte ihn wirklich gern noch etwas länger bei mir, aber … Nein, jetzt erst recht nicht! Nicht bei dem Chaos und all den unangenehmen Umständen. Zumal ich das schlecht mit Ukyo und Orion vereinen könnte. „Ich kann sie auf ihre Wohnung begleiten“, schlägt Ukyo vor, was mich zu ihm sehen lässt. Ich bin erstaunt, dass seinem Gesicht keinerlei Regung abzuerkennen ist, die auf sein Flunkern hindeuten lässt. Plötzlich ist er wieder ganz entspannt und die höflich-nette Person, wie man ihn kennt. Wow. Ikki hebt den Blick zu ihm und es scheint, als prüfe er ihn einen Moment. „Ich bin überrascht, Ukyo-san. Neuerdings so offensiv, hm?“, spricht er ruhig, doch es wirkt dezent stichelnd auf mich. Ukyo lässt sich davon augenscheinlich nicht beirren und schüttelt verwehrend den Kopf. „Nein, wir wohnen nur im selben Haus. Ich würde sie ohnehin begleiten. Es macht also keine Umstände.“ Mir klappt die Kinnlade herunter, geistig zumindest. Zwar entspricht seine Erklärung noch immer nicht ganz der Wahrheit, kommt ihr aber schon sehr nahe. In keinem Szenario hätte ich damit gerechnet, dass er so weit gestehen würde. „Ah“, äußert Ikki akzeptierend. Überrascht, aber weit empfänglicher, als ich ihm zugetraut hätte. „Das nenne ich mal eine Neuigkeit. Davon wusste ich nichts. Nun, in dem Fall würde ich dich bitten, das zu tun. Ich möchte wirklich nicht, dass ihr etwas zustößt. Das eben war gefährlich genug gewesen.“ „Ich passe auf“, bekräftigt Ukyo mit einem Kopfnicken. Vorsichtiger sieht er zu mir. „Das eben? Was ist passiert? Warst du … in Gefahr?“ Mir wird unwohl bei seinem Blick. Unwillkürlich weiche ich zur Seite aus. „Das Kabel ist ziemlich nah an uns vorbeigezischt“, erkläre ich knapp. „Wie bitte?“ „Alles okay, Ukyo-san“, wirft Ikki beschwichtigend ein. „Es ist nichts passiert. Niemand wurde verletzt.“ „Ikki hat gute Reflexe“, nuschle ich leise. Ukyo scheint den Hinweis zu verstehen. Sein Blick richtet sich an Ikki. „Dann hast du sie beschützt? Ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich dir dafür bin. Danke vielmals.“ „Kein Grund, so förmlich zu werden, Ukyo-san“, entgegnet Ikki, eine Braue skeptisch erhoben aufgrund Ukyos tiefer Verbeugung. „Ich hatte ein eigenes Interesse daran, dass sie unversehrt bleibt. Wenn einem Mädchen in meiner Gegenwart etwas zustieße, das könnte ich mir niemals verzeihen. Ich hätte nie zugelassen, dass sie ernsthaft in Gefahr gerät.“ Durch meine Brust zieht ein Stich. Ich weiß nicht, woher die Eifersucht rührt, dass Ikki mich mit jedem anderen Mädchen gleichgesetzt hat. Was habe ich erwartet? Dieses Gefühl widerspricht allem, zu dem ich bisher gestanden hatte. Ich wollte nie das besondere Mädchen für ihn sein, nun aber offensichtlich doch? Was will ich überhaupt? Wieso kratzt mich so ein kleines Detail? Ukyo bedankt sich abermals, was Ikki weiterhin abweist. Er verabschiedet sich anschließend, förmlicher als ich gehofft hatte, und wünscht uns eine gute Nacht. Ich bitte ihn, auf seinem Heimweg vorsichtig zu sein, und verfolge sehnsüchtig, wie er auf der dunklen Straße verschwindet. „Ist dir wirklich nichts passiert? Wenn ich gewusst hätte, dass du hier draußen bist …“ „Schon gut“, weise ich Ukyos Sorge zurück und bemühe mich um ein Lächeln. „Mir geht’s gut, es ist nichts passiert. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. … Nicht schon wieder.“ Ukyo setzt zum Sprechen an, verschließt jedoch die Lippen. Nach einigen Sekunden nickt er und gestikuliert eher halbherzigen in Richtung Haus. „Gehen wir? Orion ist noch oben“, spricht er leise, zaghaft, als behage ihm etwas nicht. Ich seufze schwer und nicke dann. „Ist gut, gehen wir.“   In der Wohnung wartet bereits ein aufgebrachter Orion. Beim Flur angefangen sind in jedem Raum Kerzen aufgestellt worden, die ein wärmendes Licht in die Düsternis aussenden. Es riecht angenehm, rein von dem Wachs, der seinen eigenen Duft verströmt. Ich erkenne keine bestimmte Note heraus, was die Idee von Duftkerzen ausschließt. Egal, ich bin froh, dass wir nicht völlig im Finsteren sitzen müssen. „Was ist passiert?“, will Orion sogleich wissen, während ich in die Küche steuere, um warme Getränke für uns aufzusetzen. Blöd, wie ich schnell bemerke, denn wir haben ja keinen Strom. Aus einem süßen Cappuccino und warmes Abendessen wird wohl nichts. „An einem der Masten ist ein Kabel gerissen“, erklärt Ukyo an meiner statt. Ich bin ihm dankbar, denn ich denke nicht, dass ich sehr viel hätte erläutern können. „Das ganze Haus hat kein Licht und in den Nachbarhäusern sah es ebenfalls dunkel aus. Die Laternen an den Straßen sind ebenfalls ausgefallen. Die Sirenen stammen von einem Auto, das wohl vom Kabel getroffen wurde.“ Ich höre, wie Orion entsetzt Luft holt. „Wie konnte das passieren?“ „Ich weiß nicht“, meint Ukyo gedrückt. Als ich zu den beiden zurückkehre, ganz ohne einen Erfolg in der Küche erzielt zu haben, bemerke ich, wie er sich nachdenklich eine Hand unters Kinn legt. „Hier hat es noch nie einen Stromausfall gegeben. Überhaupt habe ich das nur einmal erlebt, als ich …“ „Das kann vorkommen“, werfe ich ein und lenke ins Wohnzimmer, ohne einen von ihnen anzusehen. Ich lasse mich auf die weichen Couchpolster sinken und hebe die beiden Tüten, die Ikki und mein Backwerk enthalten, vor mir auf die niedrige Tischplatte. Während ich mich ans Auspacken mache, erzähle ich unter lautem Papiergeraschel: „Ich habe schon den einen oder anderen Stromausfall erlebt. Normal dauert er maximal einige Stunden, aber es ist schon recht spät. Ich weiß nicht, ob sich heute noch jemand darum kümmern wird, wohlmöglich haben wir erst morgen wieder Strom. Ist ja nicht nur ein Schalter, den man umkippen muss. In der Küche geht übrigens nichts mehr, nicht mal der Herd.“ Nacheinander gesellen sich auch Orion und Ukyo zu mir. Wie üblich findet Orion seinen Platz neben mir, Ukyo uns gegenüber auf einem der Stoffhocker. „Ich hatte ein schlimmes Gefühl, kurz bevor das passiert ist“, erzählt Orion, wobei er sich die Arme um die Brust schlingt, als sei ihm kalt. „Es war, als würde gleich etwas ganz Schlimmes passieren. Ich kann es nicht genau beschreiben … Plötzlich war mir kalt und ich hatte Angst.“ „Das nennt man eine Vorahnung“, kläre ich auf. Aus großen Augen sieht er mich an. „Eine Vorahnung?“ „Ja. So etwas haben einige, kurz bevor etwas Schlimmes passiert. Sie haben ein Gefühl, das sich nicht richtig beschreiben lässt, intensiv und unbehaglich ohne ersichtlichen Auslöser. Manchmal bewahrheitet sich so ein Gefühl und irgendwo passiert wirklich etwas Schlimmes.“ „Ist ein Stromausfall denn etwas Schlimmes?“, will er wissen. „Naja“, hapere ich und wäge meine Worte ab. „An sich nicht, es ist für die meisten höchstens ein nerviger und unglücklicher Umstand. Aber … zu dem Zeitpunkt, als der Strom ausfiel, oder eher davor … Es könnte sein, dass sich deine Vorahnung auf mich bezogen hat.“ Orion wird blass um die Nase, so zumindest erscheint es mir. Auf jeden Fall wird das Entsetzen in seinen Augen deutlich, die noch etwas größer geworden sind. „Wie meinst du das?“ „Das Kabel“, sage ich zögernd. „Es hätte mich vermutlich getroffen. Aber Ikki hat mich zur Seite gezogen, gerade rechtzeitig.“ „Was?!“ „Alles okay, Orion“, will ich ihn besänftigen. Ich weiß nicht wie, aber ich will verhindern, dass er sich aufregt. „Nichts passiert, mir geht’s gut. Vielleicht hätte es mich auch gar nicht getroffen, das weiß niemand. Es ist nur sehr nah an mir vorbeigesaust.“ „Aber … ist das nicht gefährlich?“, wirft Orion ein und sieht besorgt zu Ukyo hinüber. „Was passiert, wenn einen so ein Kabel trifft? Da läuft doch Strom durch, oder nicht? Hätte sie nicht verletzt werden können?“ Ich folge seinem Blick und lese in Ukyos Gesicht, dass er sich vor einer Antwort drückt. Erst in dem Moment wird mir bewusst, was wirklich passiert ist. Es ist nicht einfach nur ein Kabel gerissen. Hätte es mich getroffen, ja, was wäre dann gewesen? Wie viel Strom fließt durch so eine Leitung? Und selbst wenn man diesen Punkt ausblendet, laut dem Geräusch, was ich gehört habe, ist es mit einer sehr hohen Geschwindigkeit an uns vorbeigeschnellt. Was, wenn der Schlag mich erwischt hätte? Ich … hätte ernsthaft verletzt werden können, oder nicht? Ausreichend, um zu sterben? ‚Oh nein‘, geht es mir durch den Kopf. Ich schlucke hart. ‚Nicht schon wieder. Das war kein Zufall, oder?‘ Was für ein blöder Ausklang für ein Traumdate. Man gönnt mir auch wirklich nichts in dieser Welt, scheint mir. „Wir müssen es Niel-sama sagen!“ „Was?“, frage ich und sehe verdutzt zu Orion. Dieser ist von der Couch aufgesprungen und baut sich an der Seite auf, von wo aus er Ukyo und mich gut im Blick hat. „Wir müssen zu ihm und es ihm sagen! Er hat gesagt, sollten seltsame Dinge um dich geschehen, soll ich zu ihm kommen und es ihm sagen. Gestern war das mit dem Balkon, heute ein Stromkabel … Findet ihr nicht, dass das verdächtig ist?“ „Es könnten immer noch Zufälle sein“, gebe ich zu bedenken und schelte mich gleichzeitig eine Närrin. Nach allem, was ich aus der Serie weiß, glaube ich nicht an Zufälle in dem Bezug. Die Welt hat es auf mich abgesehen, da besteht gar kein Zweifel. Wenn ich recht überlege, ist es sehr offensichtlich. Neben Ikki und mir war niemand sonst auf der Straße gewesen, den das Kabel hätte treffen können. Und auch gestern wurde neben mir niemand beim Balkoneinsturz gefährdet. All diese Unfälle passieren nur, wenn sie mich gezielt ereilen können, oder irre ich mich? Bilde ich mir das nur ein? Wie war das bei Ukyo und Hanna gewesen? Abwehrend schüttle ich den Kopf. Das tut jetzt auch nichts zur Sache. Viel wichtiger ist die Frage, was Niel großartig dagegen tun sollte. Hatte er irgendetwas tun können, als Ukyo denselben Albtraum durchleben musste wie ich? – Nein, hatte er nicht. Und ganz sicher würde er auch jetzt nichts tun können. „Ukyo?“, richtet sich Orion hoffnungsvoll an ihn, als erhoffte er seinen Zuspruch. „Mh“, bestätigt dieser und nickt. Es fühlt sich an, als stieße ein Dolch in meinen Rücken. „Ich stimme Orion zu. Wir sollten Niel einbeziehen.“ „Aber wieso?“, presse ich hervor. Ungläubig, dass sie diesen Weg gehen wollen. Fest sieht Ukyo mich an. „Ich glaube nicht, dass es Zufälle sind. Es fällt mir schwer, das zu glauben … Niel hat mit so etwas Erfahrung. Wir sollten ihn zumindest hinzuholen und befragen, was wir tun sollen. Es geht um deinen Schutz.“ Er senkt den Kopf und fügt etwas leiser hinzu: „Ich habe es ihm versprochen, dass ich dich beschütze.“ Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Mir fehlen die Argumente. Ebenso fehlt mir der Glaube, dass es irgendetwas bewirken würde. Wenn es die Welt ist, die mich jagt, übersteigt das Niels Fähigkeiten. Was sollte er tun können, um diese Kette an Anschlägen zu unterbinden? „Ich will das nicht“, trotze ich leise. ‚Aber ich will auch nicht sterben‘, fügt mein Kopf im Stillen hinzu. In mir entbrennt eine Debatte, dass ich Niel in diese Sache nicht hineinziehen will, aber wenn, dann ist er vermutlich der Einzige, der uns helfen kann. Auch wenn ich nicht daran glaube. Welch andere Option haben wir? „Bitte“, wirkt Orions Flehen auf mich ein und ich spüre seine kleinen Hände warm auf meinen. „Du musst es ihm sagen. Ich begleite dich auch, wenn du es möchtest. Und Ukyo hilft dir bestimmt auch. Bitte. Ich will nicht, dass dir etwas passiert …“ „Lasst uns erst darüber schlafen“, lenke ich zu einem Kompromiss ein. Ich sehe abwechselnd zu ihnen, hoffend, dass sie mich nicht weiter zu einer Entscheidung drängen werden. „Es ist schon spät und wir sind alle aufgebracht. Ich denke darüber nach, aber unternehmt bitte nichts ohne mein Einverständnis. In Ordnung?“   In einer stillen Übereinkunft wurde der Vorfall für den restlichen Abend auf Eis gelegt. Orion sorgte für Lockerung, indem er sich nach meinem Treffen mit Ikki erkundigte. Neutral berichtete ich den beiden, was wir unternommen hatten, und erzählte ein wenig von dem Film und der besonderen Bäckerei. Während ich berichtete, teilten sich Orion und ich einige der Gebäckstücke, wogegen Ukyo dankend ablehnte. Orion probierte sich an einem Donut von mir, während ich nach einem von Ikkis Plunderstücken griff. Ich tat einen vorsichtigen Bissen, nur um erleichtert festzustellen, dass der erwartete Geschmackschock ausblieb. Der blättrige Teig war schön zart, die Aprikosenkonfitüre schmeckte süß mit leicht bitterer Note und der Zuckerguss war nicht zu dick aufgetragen. Ein gelungenes Werk, ganz im Gegenteil zu dem Tortenstück beim Meido-Event, das ich im Nu verputzte. Ich ließ dem einen Windbeutel folgen, der nicht so übersüßt wie der von Kento schmeckte und ein sahniger Genuss war. Nur kurz beschlich mich der Gedanke, ob es genauso gut geworden wäre, hätten wir alles von Grund auf selbst machen müssen. Egal, es war vorzüglich und ich hoffte, dass Ikki dasselbe von meinen Gebäckstücken dachte, wenn ich sie ihm morgen mit auf Arbeit brächte. Der Abend zog sich dahin, bis Ukyo verkündete, sich früh ins Bett zu legen. Er fühlte sich müde, und das sah man ihm an, weswegen niemand Einwände erhob. Ich gönnte mir noch eine abschließende Dusche bei Kerzenschein, mehr dem Wohlbefinden wegen, bevor auch ich mich auf mein Zimmer zurückzog. Gern hätte ich mir noch eine Zigarette auf dem Balkon gegönnt, aber ein Blick durch die Fenster genügte, um mir diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Dann eben ohne Zigarette. Als ich mein Handy zum Überprüfen der Uhrzeit in die Hand nehme, bemerke ich, dass ich eine Nachricht erhalten habe. Ich öffne sie und bin verblüfft, dass sie von Ikki stammt. Er hat mir ein Foto gesendet, das einen köstlich aussehenden Cocktail in orangener Farbe zeigt, und den Text dazu: »Schade, dass du nicht hier bist. Mit dir würde er bestimmt noch besser schmecken.« Ich schmunzle einen Moment, bevor ich eine Antwort tippe: »Sieht gut aus. Bist du etwa noch unterwegs?« Ich warte geduldig auf Antwort, die wenig später folgt: »Ich habe unterwegs nach Hause einige Mädchen aus dem Club getroffen. Sie haben mich gebeten, noch etwas mit ihnen zu unternehmen.« Durch meinen Körper geht ein Ruck. Ikki ist also noch mit einigen Mädchen aus dem Fanclub unterwegs. Der Gedanke will mir nicht gefallen. Unweigerlich frage ich mich, ob er das wirklich gewollt, oder nur wieder kein Nein übers Herz gebracht hat. Ich seufze und schreibe, dass er es nicht übertreiben soll. Er will doch sicher nicht, dass er morgen mit einem Kater aufsteht. »Machst du dir Sorgen um mich?«, fragt seine nächste Nachricht unverblümt, was mein Herz einen Ticken höher schlagen lässt. Ich überlege noch nach einer Antwort, da folgt die nächste Nachricht: »Ich wünschte mir, dass du dich um mich sorgst. Ist das egoistisch von mir? Mir ist wichtig, was du über mich denkst.« »Ich denke nicht schlecht von dir«, schreibe ich zurück und lese erneut über seine Nachricht. Mich beschleicht eine Vermutung, die ich in Worte fasse: »Bist du betrunken?« Die nächste Übermittlung bestätigt meinen Verdacht: »Ein wenig.« Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Sollte ich ihn schelten, nachbohren, seinen Zustand verharmlosen? Laut Serie und Drama-CD war es nicht unüblich, dass Ikki gelegentlich trank, allem voran wenn er Kummer hatte. Wie stand es jetzt um ihn? Hatte er Kummer oder genoss er einfach nur eine gute Zeit, die vollkommen harmlos war? »Ehrlich gestanden, mache ich mir Sorgen.« »Worüber«?, will ich wissen. »Dich und Ukyo-san«, schreibt er zurück, was mich kurz stutzen lässt. »Ihr wohnt im selben Haus? Ihr versteht euch ganz gut, oder?« Huh? Wie ist diese Frage zu deuten? Er ist doch wohl nicht … eifersüchtig oder so? »Ja, aber wir sind nur Freunde«, schreibe ich und bin skeptisch, ob das wie eine Rechtfertigung klingt. »Ukyo hilft mir sehr in vielen Angelegenheiten. Ohne ihn wäre es schwerer gewesen, mich hier zurechtzufinden.« Ich sende die Nachricht mit einem unwohlen Gefühl ab. An sich habe ich die Wahrheit geschildert, aber ich habe Bedenken, dass Ikki sie falsch auffassen könnte. Vielleicht bilde ich mir auch nur etwas ein. Wohlmöglich bin ich es, die Ikkis Interesse falsch interpretiert. Kein Grund, sich so in etwas hineinzusteigern. »Ich würde dir immer helfen, sofern ich es kann«, verkündet seine nächste Nachricht, was mich unvorbereitet bei den Gefühlen packt. »Sag mir nur, was ich tun soll. Egal wann, egal was. Ich tue alles. Bau auf mich.« Mein Herz krampft sich zusammen. So schön diese Worte auch sind, sie wiegen schwer. Zu wissen, dass ich nichts getan habe, um diese Versprechen zu verdienen, ist unerträglich. Er gibt sie der falschen Person. Ich bin nicht diejenige, die irgendetwas geleistet hat. »Danke«, schreibe ich dennoch und warte einige Zeit, ob etwas zurückkommt. Nichts tut sich im Verlauf, weswegen ich das Handy sperre und schließlich zur Seite lege. Ein bleiernes Gefühl von zermürbender Traurigkeit bleibt in mir zurück. Ich bin enttäuscht, dass ich nicht ehrlich zu ihm sein kann. Ich verfluche diesen Umstand zutiefst. „Schläfst du schon?“, meldet sich Orion hinter mir zu Wort, der gerade durch die Tür in mein Zimmer tritt. Flüchtig schüttle ich den Kopf. „Nein, aber ich wollte mich gerade hinlegen. Kommst du auch?“ Er bejaht meine Frage und zusammen richten wir unsere Betten her. Wir reden noch einige Zeit über Unverfängliches, bis Orion gähnt und wenig später vollkommen ruhig geworden ist. Schwerfällig drehe ich mich auf die Seite und blicke starr in die Dunkelheit. Nach Schlafen ist mir lange nicht zumute, zu viele Dinge gehen mir im Kopf herum. Der Gedanke, dass ich zwei Tage nacheinander seltene Unfälle erlebt habe, verfolgt mich. Mir wird bewusst, wie viel Glück ich habe, jetzt noch am Leben zu sein. Zugleich beschleicht mich die Angst, was passiert, wenn es beim nächsten Mal nicht so ist. Was, wenn morgen das nächste Unheil geschieht und ich nicht wieder nur mit dem Schrecken davonkomme? Wenn ich dieses Mal wirklich sterbe? Was wird dann aus mir? Was wird aus meinem Leben, meiner Welt? War’s das dann für immer? Ich kämpfe gegen diese düsteren Gedanken an. Ich versuche an andere Dinge zu denken, an Ikki, an Ukyo, an irgendwas. Der Erfolg ist mäßig, denn wo ich auch lande, an allem haftet etwas Negatives. Nach einem Ruhepol suche ich vergebens. Schließlich strecke ich den Arm nach der Schrankablage aus und ertaste mein Handy. Kurzerhand wähle ich mich in die Nachrichten ein und öffne den Verlauf mit Ikki. Mir bleiben nur Sekunden, bis mein Verstand sich einschalten und mich abhalten würde, weswegen ich mein Bedürfnis schnell in wenige Worte fasse: »Ikki, ich war nicht ehrlich zu dir. Es gibt Dinge, über die ich reden will.« Und senden. Warten. Wenige Minuten später meldet sich mein Benachrichtigungston. Ikki hat geantwortet. »Erzähl es mir, sobald du dazu bereit bist. Egal wann. Ich werde dir zuhören.« Ich atme aus, lang und langsam. Endlich. Es fühlt sich an, als würde eine schwere Last von meiner Seele purzeln. Ich wollte unbedingt, dass Ikki weiß, dass ich ihm einige Dinge erklären muss. Jetzt weiß er es, und was es auch anrichtet, für den Moment fühlt es sich gut an. Es war richtig. Ich bin es leid, Opfer dieser Lügen und ständiger Heimlichtuerei zu sein. Zärtlich drücke ich mein Handy gegen die Brust und kuschle mich zurück unter die Decke. In Gedanken zähle ich auf, was ich Ikki gerne sagen würde. Ich wiederhole diese Sätze wieder und wieder, bis ich merke, wie die Müdigkeit mich überkommt. Dankbar übergebe ich mich ihr und versinke in willkommener Ruhe. Kapitel 27: Was ihr Schicksal nennt ----------------------------------- Nur langsam dringt die laute, rockige Musik zu mir durch. In meinem Unterbewusstsein ordne ich sie dem Weckton meines Handys zu, doch alles in mir sträubt sich, diesem Ruf Folge zu leisten. Brummig drehe ich mich auf die andere Seite und ziehe die Decke ein Stück über mich. Nur noch fünf Minuten … Das nächste Mal, dass ich wach werde, verdanke ich einem zarten Klopfen an meiner Tür. „Shizana? Bist du schon wach? Du musst aufstehen.“ „Mmh …“ Ich rühre mich kaum. Stumm flehe ich um weitere Minuten, die man mir mein warmes Bett und diesen seligen Schlaf gönnt. Es sind nur Sekunden, bis das Klopfen erneut ertönt. „Shizana?“ „Bin schon wach“, grummle ich zur Antwort und schlage die Decke zurück. Meine Lider fühlen sich schwer an, ich fröstle, aber es hilft ja nichts. Müde blinzle ich in die Dunkelheit und nehme mir die Minuten, bis ich die Augen richtig auf bekommen habe. Ich strecke mich einmal ausgiebig und gähne, bevor ich mich erhebe. Vorsichtig steige ich über das Schlaflager vor meinem Bett und tapse hinüber zum Lichtschalter. Es klickt, doch nichts tut sich. Ich versuche es zweimal mehr, mit demselben Erfolg. ‚Ach, stimmt ja‘, dämmert es mir. Da war ja etwas … der Stromausfall. Scheint, als würde er andauern. Klar, es war gestern reichlich spät passiert. Eigentlich hatte ich es nicht anders erwartet. Mithilfe Gewohnheit und blindes Tasten bewege ich mich voran. Mir fehlt jegliche Lichtquelle, draußen ist es noch duster und die Straßenlaternen sind aus. Zum Glück kenne ich die Schritte und schaffe es dennoch, mich zu orientieren. Schließlich bin ich angezogen und öffne das Fenster auf Kipp. Ein letzter Blick durch das dunkle Zimmer bestätigt mir, dass von Orion jede Spur fehlt. Sein Nachtlager ist leer. Seltsam, sollte er schon auf den Beinen sein? Der Kleine muss ein echter Frühaufsteher sein, ganz im Gegensatz zu mir. Was für ein unruhiger Geist. Ich mache mir nichts daraus und verlasse das Zimmer. Draußen empfängt mich warmes Kerzenlicht, das die Wohnung einigermaßen erkennbar erhellt. Am kleineren Küchentisch mache ich Ukyo ausfindig, den Laptop vor sich auf dem Tisch. Ich geselle mich zu ihm auf meinen Platz, was ihn sofort aufsehen lässt. „Ah, endlich. Du bist wach“, empfängt er mich lächelnd und klappt das Display herunter. Er schiebt den Laptop zur Seite und hebt eine braune Papiertüte hervor, die irgendwo zu seinen Füßen gestanden haben muss. „Wir haben noch immer keinen Strom“, beginnt er zu berichten, wobei er in die Tüte greift. „Die ganze Nachbarschaft in der Straße ist betroffen. Die Straßenlaternen sind auch aus, aber ich glaube, daran wird demnächst gearbeitet. Ich habe Handwerker auf dem Weg gesehen. Leider konnte ich uns keinen Kaffee machen, deswegen bin ich in die nächste Bäckerei gegangen und habe uns dort etwas geholt. Hier, für dich einen Cappuccino. Ich hoffe, er schmeckt und ist noch warm. Die Bäckersfrau sagt, sie wusste nicht, dass in unserer Straße der Strom ausgefallen ist.“ Stumm nehme ich den zugedeckten Becher entgegen, den er mir reicht. Er ist in Alufolie eingewickelt, was mich wundert. Heiß ist er nicht mehr, höchstens lauwarm, als ich daran nippe. Trotzdem noch besser als gar nichts. In der Zwischenzeit legt Ukyo eine kleinere Tüte vor mir ab und erhebt sich, nur um kurz darauf mit den beiden Boxen zurückzukommen, die Ikkis und meine Gebäckstücke enthalten. Er redet unaufhörlich dabei, was mich dezent überfordert. „Danke für das Frühstück“, sage ich, als Ukyo mir wieder gegenübersitzt, und wickle das belegte Baguette zurück in seine Verpackung. „Das nehme ich mit auf Arbeit. Wo ist Orion?“ „Ähm, also … Er ist nicht mehr da.“ Fragend sehe ich auf. „Wo ist er denn?“ „Also …“, beginnt er zögernd und sieht mich an. Nervös spielen seine Hände mit dem Becher, drehen ihn hin und her. „Werd bitte nicht wütend. Er sagte, ihm ist unwohl, wenn wir nichts wegen dieser Unfälle unternehmen. Er wollte unbedingt mit Niel reden und ist losgegangen, um ihn zu suchen.“ „Was?“ „Er war schon unterwegs, als ich vom Bäcker zurückkam. Er sagte, er weiß, wo sich Niel aufhält. Oh, und du sollst bitte nicht böse auf ihn sein. Er will versuchen, etwas herauszufinden, das uns weiterhilft.“ „Wieso hast du ihn nicht davon abgehalten?“, mache ich Ukyo zum Vorwurf. Betroffen zieht er die Schultern zusammen. „Ich … ich hatte keine Argumente. Außerdem … finde ich, dass er recht hat.“ „Aber wir haben doch gestern ausgemacht, dass wir das zusammen entscheiden.“ Ich seufze frustriert. Die Enttäuschung ist groß, dass Orion unser Versprechen gebrochen hat. Auch wenn ich weiß, dass es nicht in böser Absicht geschah. Nichtsdestotrotz bin ich verletzt. „Es tut mir leid“, spricht Ukyo nach einiger Zeit. „Ich wollte nicht, dass du dich hintergangen fühlst. Du hast uns gebeten, auf deine Entscheidung zu warten. Aber … versteh bitte.“ „Was soll’s“, gebe ich knapp zurück. Mir ist jetzt nicht nach Entschuldigungen zumute und noch weniger nach Diskussionen. Es ist ohnehin zu spät. Wir nehmen unser Frühstück schweigend zu uns. Als ich aufstehe, um meinen Platz zu räumen, tut es mir Ukyo gleich und folgt mir auf Abstand in die Küche. „Hast du etwas dagegen, wenn ich dich nachher zur Arbeit begleite?“ Prüfend sehe ich ihn an. „Generell nicht, aber wozu die Umstände?“ „Es ist mir lieber, wenn ich dich sicher angekommen weiß“, erklärt er leise. Mir entgeht der traurige Schatten nicht, der über seinen sonst so weichen Zügen liegt. „Nach all den Vorfällen in den letzten Tagen … Ich habe Angst, dass noch etwas passieren könnte. Und wenn ich dann wieder nicht da bin, um dich zu beschützen … Ich habe es versprochen.“ „Ukyo …“ Armer Kerl. Er wirkt so betroffen, dass ich ihn in die Arme nehmen will. Ihm sagen will, dass alles gut ist. Obwohl ich bis vor einer Minute noch böse auf ihn sein wollte, wünsche ich mir jetzt nichts sehnlicher, als dass er lächelt. Ich möchte ihn nicht so bekümmert sehen. „Ich verstehe dich“, sage ich leise und wende mich ab. Ich suche nach etwas, was ich in der Küche tun kann, doch es gibt nichts, womit ich mich ablenken könnte. „Begleite mich ruhig, ich habe nichts dagegen. Ich würde mich sogar freuen.“ Ukyo sagt nichts, ich sage nichts. Als ich zu ihm sehe, tauschen wir ein vorsichtiges Lächeln. „Ich gehe mich fertig machen“, bekunde ich und wende mich ab. Im Vorbeigehen lege ich Ukyo eine Hand an den Oberarm, danach verschwinde ich in mein Zimmer.   Geschafft. Meine Tasche für die Arbeit ist gepackt plus der, in der ich meine Sachen für heute Abend verstaut habe. Mir bleibt zu hoffen, dass meine Wahl für die Ausstellung genügen wird. Ich habe das Beste zusammengesucht, das ich zu bieten habe. Make-up, Bürste und Kontaktlinsen sind ebenfalls von der Partie. Ärgerlich, ich hätte mich gern zu Hause in aller Ruhe zurechtgemacht, aber nein. Dank Lukas tollen Plan wird mir kein Zeitfenster bleiben. Ich werde mich wohl oder übel im Meido umziehen müssen, anders geht es nicht. Na, das kann ja stressig werden. Sei’s drum. Als Nächstes muss ich die Kuchen für Ikki zusammenstellen und alles im Flur platzieren. Es ist jetzt zehn vor sieben, keine Zeit für unnütze Eitelkeit. Ich werde die letzten Handgriffe an mir im Meido vollrichten müssen. „Shizana?“ „Hier, in der Küche.“ „Es ist ein Brief für dich gekommen. Das habe ich vergessen, dir zu sagen.“ Verdutzt drehe ich mich Ukyo zu und strecke die Hand nach dem weißen Umschlag aus, den er mir entgegenhält. Seltsam, ich habe noch nie Post bekommen, seit ich in dieser Welt bin. Wer könnte mir schreiben? „Die Polizei“, verkünde ich, nachdem ich den Absender geprüft habe. Im ersten Moment bin ich verwundert und durchforste meine Erinnerungen, was ich verbrochen haben könnte. Erst als ich das Blatt entfaltet und die ersten Zeilen überflogen habe, fällt der Schrecken von mir ab und ich atme erleichtert auf. „Eine Einladung zur Zeugenaussage“, sage ich an Ukyo gewandt. „Es geht um den Unfall vor einer Woche. Ich soll nächsten Donnerstag aufs Revier kommen. Uh, das hatte ich fast vergessen …“ „Ach so“, entlässt er und übernimmt das Schreiben. „Ich war mir nicht sicher, als ich den Absender gelesen habe. Ich habe schon das Schlimmste befürchtet.“ „Ich auch“, gestehe ich und grinse schief. Während Ukyo liest, verschränke ich die Finger, hebe sie unter mein Kinn und wippe unruhig hin und her. „Woah, ich hatte noch nie mit der Polizei zu tun. Das ist das erste Mal, dass ich auf ein Revier muss. Ich bin echt nervös …“ „Es ist nur für eine Zeugenaussage.“ „Ja, aber trotzdem.“ Er lächelt aufmunternd, faltet das Papier zusammen und schiebt es zurück in den Umschlag. „Passt der Termin denn mit deiner Schicht im Meido? Sonst musst du dort Bescheid sagen.“ „Das weiß ich nicht aus dem Kopf, müsste ich nachschauen. Sollte aber gehen, denke ich.“ „Gut. … Möchtest du, dass ich mitkomme?“ „Zu dem Termin? Naja, wenn es bei dir passt? Mir wäre wohler, wenn ich nicht allein hin muss.“ „Ich versuche es“, verspricht er und lächelt mir zu. Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, schleichen Bedenken auf sein Gesicht. Seine Augen verlieren an Glanz, werden trüb, während ich zusehe, wie sein Lächeln verschwindet. Auf einmal wirkt er zutiefst traurig, ohne dass ich den Grund verstehe. „Ukyo?“, spreche ich ihn vorsichtig an. „Alles okay? Bedrückt dich etwas?“ „Ah! Nichts, nichts“, überstürzt er, ringt sich ein falsches Grinsen ab und dreht sich zur Seite. „Ach ja, heute kommt der Vermieter mit den Maurern. Wegen dem Balkon. Sie wollen versuchen, ihn heute zu reparieren.“ „Schaffen die das denn?“, gehe ich mit dem Thema und linse skeptisch in Richtung geschlossener Balkontür. Vor meinem geistigen Auge reflektiere ich den Schaden, der sich dahinter erstreckt. „Das wissen wir nicht. Es wird bestimmt einige Zeit dauern, mehrere Stunden auf jeden Fall.“ „Kostet uns das extra? Wegen den Bauarbeitern und Materialien und so?“ „Mh, ich denke nicht“, überlegt er laut. „Es war ja kein willkürlicher Schaden und so etwas ist für gewöhnlich abgesichert.“ „Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten könnten“, gebe ich zu bedenken. „Ich will gar nicht wissen, wie viel uns das kosten würde. Mir wird schon ganz flau, wenn ich daran denke, wie viel ich noch im Portemonnaie habe. Und bis zum nächsten Lohn dauert es bestimmt noch …“ „Ach ja! Das habe ich auch ganz vergessen.“ Ohne Vorwarnung wirbelt Ukyo herum und winkt mir, ihm zu folgen. Im Flur stoppt er am Garderobenschrank, öffnet dort eine der Schubladen und holt einen kleinen, vergriffenen Umschlag hervor. „Wie viel hast du noch? Ich wollte dir schon die ganze Zeit sagen, wo das zurückgelegte Geld liegt. Du hast auch ein eigenes Bankkonto. Warst du schon einmal bei der Bank?“ „Nein?“ Ich lasse mir erklären, wie ich Zugriff auf mein Erspartes bekomme und wo sich die nächste zuständige Bank befindet. In dem Kuvert befinden sich mehrere tausend Yen, von denen mir Ukyo einen Anteil reicht. Genug, dass ich einige Tage über die Runden kommen dürfte. „Wenn du mehr brauchst, nimm es dir heraus“, weist er mich an und geht sicher, dass ich sehe, wo er die Notscheinchen versteckt. „Du musst nicht fragen, das Geld gehört uns beiden. Leg aber am besten wieder etwas hinein, wenn du das nächste Mal Lohn bekommst. Es kann immer sein, dass man einmal schnellen Zugriff darauf braucht.“ „Okay“, bestätige ich und nicke. Erneut zähle ich das Geld in meiner Hand und falte es anschließend, um es später leichter verstauen zu können. „Danke“, wende ich mich wieder Ukyo zu, „das rettet mich. Ich hatte vergessen, dich zu fragen, und es wäre mir zugegeben ein wenig unangenehm gewesen. Aber jetzt weiß ich Bescheid und muss mir wenigstens darum keine Sorgen mehr machen. Danke nochmal, Ukyo.“ „Nicht dafür“, erwidert er mein Lächeln. Sein Blick senkt sich, schweift hinüber zu der Schublade, in die er den Umschlag gelegt hat, und bleibt daran haften. Wie vorhin glaube ich, Trübsinn an ihm zu erkennen, den ich mir nicht erklären kann. Ukyo ist ganz offensichtlich in Gedanken versunken, denn obwohl ich warte, verharrt er unbewegt in Schweigen. „Was ist denn los?“, hinterfrage ich sanft. „Du bist heute so abwesend. Gibt es etwas, worüber du reden möchtest?“ „Ah, tut mir leid!“, schreckt er hoch. Er wirkt kurz desorientiert, als habe er vergessen, bei welchem Thema wir zuletzt stehengeblieben sind. Als es ihm wieder einfällt, so meine Vermutung, lächelt er verdrossen. „Es ist nichts, wirklich. Alles in Ordnung. Ähm, wir müssen langsam los, nicht? Hol doch schon einmal deine Sachen, ich warte unten auf dich.“   Es ist hell draußen geworden, jedenfalls ausreichend, dass man trotz fehlendem Laternenlicht sehen kann. Auf der Straße begegnet uns ein Aufgebot an Werksfahrzeugen und Leuten, die über beide Seiten verteilt stehen, laut redend und planend. Elektriker und Energieversorger, wie ich den Aufdrucken an den Kleinlastern entnehme und mir Ukyo bestätigt. Scheint, als würde sich endlich jemand um die gerissene Leitung bemühen. Wobei, an sich ging das schneller, als erwartet. „Ob wir heute Abend wohl wieder Strom haben?“, frage ich an Ukyo gewandt. „Gut möglich“, vermutet er und führt uns sicher an dem Tumult vorbei. „Ich denke, das wird eine Weile dauern. Aber die Stadt ist bestimmt bemüht, dass alles wieder funktioniert, bevor es dunkel wird.“ „Mhm“, bestätige ich nickend. Ich sehe mich um, ohne es wirklich zu wollen, und verschaffe mir einen Überblick zu dem, was mir gestern größtenteils entgangen ist. Die Straße sieht aus wie gewohnt, auch der Gehweg scheint unbeschädigt. Das Auto, dessen Sirenen mich nahezu taub gemacht hatten, hat seinen Platz verlassen. Vermutlich wurde es abgeschleppt. Nichts weist auf einen Vorfall hin, der einen Menschen beinah das Leben gekostet hätte. Lustig, ich könnte es glatt unter Paranoia verbuchen, aber die Erinnerung spricht anders. „Im Nachhinein wirkt es immer so harmlos“, murmelt Ukyo leise. Fragend sehe ich auf, doch er lächelt nur. Ich forsche, ob sich auf seinem Gesicht irgendwo Missmut verborgen hält, den ich dachte, gehört zu haben. Fündig werde ich nicht, weswegen ich nichts sage und brav folge, als Ukyo strikt an allem vorbeizieht.   Auf unserem Weg versuche ich, Ukyo in ein Gespräch zu verwickeln. Orion kommt mir als Erstes in den Sinn und ich frage ihn, ob der Kleine noch etwas gesagt hat, bevor er zu Niel aufgebrochen ist. Ukyo gibt mir dieselbe Antwort wie zuvor, dass er ihn auf seinem Rückweg von der Bäckerei getroffen hat. In ihrem kurzen Gespräch habe er nur gesagt, dass ihn die vielen Unfälle beunruhigen und er so schnell es geht mit Niel darüber reden will. Erneut bittet er mich, dass ich es Orion nachsehe und legt mir ans Herz, dass er nur aus Sorge gehandelt hat. Meine Wut ist inzwischen verflogen, doch ich gestehe, dass mir Niels Hinzuziehen wenig behagt. Am wenigsten, wenn nicht ich es bin, die mit ihm spricht. Freundlich wie immer geht Ukyo auf meine Fragen und Bedenken ein, ist sonst aber sehr still. Spät fällt mir auf, wie knapp seine Antworten sind, stets aufs Thema bedacht und ohne jede Eigeninitiative. Ich versuche, mir einen Reim anhand seiner Körpersprache zu machen. Er hält Distanz zu mir, seine Haltung wirkt angespannt und Besorgnis zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Bei jeder kleinen Regung um uns sieht er auf, als erwarte er einen Überfall. Ich halte einen Meteoritenregen zwar für unwahrscheinlich, doch so oft, wie Ukyo den Himmel prüft, ist er da anderer Ansicht. „Ukyo, alles okay bei dir?“ „Hm? Ja, ich … mache mir nur Sorgen“, meint er und lächelt unbeholfen. „Entschuldige, habe ich etwas verpasst? Ich höre dir wieder zu.“ „Sicher, dass alles okay ist? Du bist so ruhig im Vergleich zu sonst.“ „Ja, alles okay.“ „Hm.“ Nachdenklich lege ich den Kopf zur Seite und mustere ihn einen Moment länger. Sein Gesicht erscheint mir auffallend blass, die Augen unterschattet und glanzlos. Seine Mimik birgt wenig Elan und mangelt an Überzeugung. Was immer es ist, Sorge allein kann nicht dahinterstecken. „Du siehst nicht gut aus“, merke ich an. „Hast du schlecht geschlafen? Du siehst aus, als gehörtest du ins Bett.“ „Eh? Wie … wie kommst du denn darauf?“ „Du bist sehr blass und siehst müde aus. Vielleicht gehst du besser nach Hause und ruhst dich ein wenig aus.“ „Nein, geht schon. Ich …“ Er zögert. „Ich bin nur seit Früh wach. Aber mir geht es gut, wirklich.“ „Wie früh?“, hake ich nach. „Vielleicht schläfst du zu wenig. Wann hast du das letzte Mal so richtig ausgeschlafen?“ „Ich …“, setzt Ukyo an, stockt jedoch. Schweigend wendet er den Blick von mir ab, was ich ihm gleichtue. „Du schläfst generell recht wenig in letzter Zeit“, stelle ich irgendwann fest, nachdem ich die letzten Tage auf Ukyos Schlafverhalten untersucht habe. „Kann das sein? Orion meinte gestern, dass du die ganze Nacht nicht zu Hause warst. Zumindest seien deine Sachen nicht da gewesen. Stimmt das?“ Er sagt nichts, was mir mehr Raum für eigene Überlegungen lässt. Streng genommen ist dieser Verdacht nicht neu. In den vergangenen Wochen habe ich mich des Öfteren gefragt, wo Ukyo so lange bleibt oder ob er schon so früh unterwegs ist. Ich habe es immer auf seine Arbeit geschoben, über die ich nichts weiß, oder dass er einen anderen Schlafrhythmus hat. Aber kann ich mir sicher sein? Woher soll ich wissen, welche Gewohnheiten für Ukyo »normal« sind? Wie viel er für gewöhnlich schläft, welche Zeiten für ihn gelten? Ich kenne ihn nicht sehr lange und dem Spiel waren solche Informationen nicht zu entnehmen gewesen. Was, wenn mir etwas Wichtiges entgangen ist? „Was weißt du schon?!“, dringen die Worte in mein Bewusstsein. Klar und deutlich klingt die dunkle Stimme in meinem Kopf. Die Missgunst und Abscheu darin erschüttern mich, nicht minder wie an jenem Abend. „Was glaubst du über ihn zu wissen? Heuchlerin, du weißt nicht das Geringste!“ Instinktiv fahren alle Mauern in mir hoch. Ich will mich an diesen Wahnsinn nicht erinnern, doch ich weiß, dass ich es muss. Etwas Entscheidendes steckt in diesem Vorwurf, nur was? Verdammt, denk nach! Was hatte mir der andere Ukyo damit sagen wollen? „Sag mal“, beginne ich nach einigem Grübeln, „an dem Abend, als das mit dem Balkon war … Da hat der andere …“ „Sieh mal“, fällt mir Ukyo ins Wort. „Da vorne, schau!“ „Was?“ „Da ist Niel!“ Verdattert folge ich seinem Fingerzeig, und tatsächlich: dort steht er. Ich erkenne ihn unweit bei der Bahnhaltestelle, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Vor ihm sitzt eine zierliche Frau, ergraut vom hohen Alter und mit Gehhilfe, mit der er sich angeregt unterhält. Dieses Bild ist so alltäglich, dass ich mein Sehvermögen anzweifle. Ukyo beschleunigt seinen Schritt, bevor ich es verhindern kann. Im selben Moment hebt die Alte ihren Arm in unsere Richtung, worauf Niel zu uns sieht. Er verbeugt sich eilig vor ihr, bedankt sich sichtlich, bevor er sich herumdreht und uns hoch winkend entgegenkommt. „Niel“, empfängt ihn Ukyo zuerst, während ich noch am Aufholen bin. „Ukyo, schön dich zu sehen“, erwidert Niel fröhlich und lächelt ihm offen ins Gesicht. Ohne das Basecap wirkt er sehr viel freundlicher, nahbar und ernüchternd gewöhnlich. Bis auf den seltsam femininen Klang seiner Stimme erinnert nichts an den skurrilen Fremden, als der er mir das erste Mal begegnet ist. „Ach, wie gut“, jauchzt er befreit. „Ich habe also doch alles richtig gemacht. Bahn fahren ist ja so aufregend! Wieso haben wir das damals nie gemacht?“ „Wieso bist du hier?“, übergeht Ukyo seine Frage. „Wo ist Orion? Er wollte zu dir.“ „Oh ja, das war er. Deswegen bin ich hier.“ Sein Blick schweift zu mir, kaum dass ich neben Ukyo herangetreten bin. Mir scheint, als husche ein flüchtiger Schatten über sein Gesicht, doch sein frohes Strahlen widerlegt diese Vermutung. „Ah, da ist sie ja! Zu dir wollte ich.“ „Zu mir?“ „Ja, ja“, bekräftigt er und nickt euphorisch. Im nächsten Moment wird er ernst. „Ich habe beunruhigende Dinge über dich gehört. Wir müssen reden, jetzt gleich.“ „Ich … bin gerade auf dem Weg zur Arbeit.“ Ratlos sehe ich zu Ukyo, der mein Ersuch nicht erwidert. Erst etwas versetzt dreht er sich mir zu und lächelt dünn. „Schon gut“, spricht er sanft. „Redet ihr, es ist bestimmt wichtig. Niel ist extra den Weg hergekommen. Er kann dich den Rest zur Arbeit begleiten, dann habt ihr ein wenig Zeit.“ „Und was ist mit dir?“ „Ich werde zurückgehen. Ich will euch nicht stören.“ „Du störst doch nicht“, protestiere ich leise. Stumm flehe ich, dass er bleibt und mich vor dieser unangenehmen Situation bewahrt. Nach dem, was zuletzt zwischen Niel und mir vorgefallen ist, möchte ich nicht mit ihm allein sein. „Wir können doch zusammen gehen, wenn’s keinen stört. Du weißt eh über alles Bescheid“, argumentiere ich, doch Ukyo schüttelt den Kopf. „Es ist besser, wenn ich gehe. Nur keine Sorge, bei ihm bist du sicher.“ Ich will widersprechen, doch Ukyo kommt mir mit einem Lächeln zuvor. Wehmütig lasse ich ihn Abschied nehmen und sehe zu, wie er sich abwendet und in entgegengesetzter Richtung entfernt. Er ist noch nicht ganz außer Sicht, da spricht Niel an meiner Seite: „Ukyo ist ein guter Mensch. Er hat sich kaum verändert in all der Zeit. Nach allem, was er durchlebt hat … Es erscheint mir wie ein Wunder. Hm, wir haben wohl nicht viel Zeit. Arbeit ist etwas Wichtiges für euch Menschen, nicht? Also dann, wo müssen wir lang?“   Ich weiß wirklich nicht, was ich von Niel halten soll. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass er ein Gott sein soll. Oder der Geisterkönig, wie auch immer. Seit wir losgelaufen sind, erzählt er ununterbrochen von seiner Anreise und jubiliert die kleinsten Dinge, die für uns Leute ganz alltäglich sind. Er wirkt wie ein Kind, das zum ersten Mal Fuß in die Welt hinter der heimischen Türschwelle gesetzt hat. Naja, so weit scheint mir das nicht hergeholt zu sein. „Es sieht so einfach aus“, erzählt er, wobei er das Reisen via Nahverkehr meint, „aber in Wahrheit ist es sehr viel komplizierter, habe ich erkannt. Erstaunlich, dass ihr Menschen das jeden Tag macht und ganz selbstverständlich damit zurechtkommt. Wirklich faszinierend. Und wie schnell man damit von einem Ort zum anderen kommt! Und es macht so viel Spaß! Ist das nicht großartig? Ihr Menschen habt so unglaubliche Ideen, wenn es darum geht, eure Welt und euer Leben interessant zu gestalten. Ich werde nicht satt, euch dabei zuzusehen, welch große Visionen ihr euch verwirklicht. Dass ich das jetzt alles aus nächster Nähe erleben darf …“ „Sag mal“, mache ich mir die Lücke zu Nutze, die er sicher unabsichtlich gelassen hat, „wo ist Orion jetzt? Sagtest du nicht, er sei bei dir gewesen?“ „Oh ja, das war er“, meint er wie beiläufig. „Es hat mich sehr überrascht. Das Geschäft war noch gar nicht geöffnet, trotzdem hatte ich Kundschaft! Doch dann war es nur Orion und er war ganz außer Atem. Er hat sofort zu erzählen begonnen: Niel-sama, Niel-sama! Ich muss mit Euch reden, es ist wichtig!“, versucht er einen Orion zu imitieren, wobei seine Stimme zu kindlich gerät. Er klingt ihm wesentlich ähnlicher, wenn er normal spricht, aber das erwähne ich nicht. „Wieso ist er nicht bei dir?“, frage ich weiter. „Ich hätte vermutet, dass er dich begleitet.“ „Na, jemand muss doch aufs Geschäft aufpassen.“ Ich falle aus allen Wolken. Orion, allein in einem Blumengeschäft! Mein Gott, der Arme. Kommt er zurecht? Weiß er denn, was zu tun ist, wenn … Ein lautes Lachen unterbricht meine wüsten Gedanken. Zu spät bemerke ich, dass mein entsetzt dreinblickendes Gesicht Niel so amüsieren muss. Na wunderbar, das habe ich von meiner lebhaften Fantasie. Wie peinlich. „Orion hat mir alles erzählt“, lenkt er auf unser ursprüngliches Thema zurück. „Ich hatte gehofft, ich würde mir zu große Sorgen machen, und dass meine Befürchtungen unbegründet seien. Aber … ich gebe zu, es fiel mir schwer, daran zu glauben. Aus dem Grund habe ich Orion zu dir geschickt. Er sollte die Lage für mich überwachen, nur um sicherzugehen. Jemand sollte an meiner statt in deiner Nähe sein, falls etwas passiert. Es war die richtige Entscheidung.“ Er macht eine Pause, in der er nachzudenken scheint. „Orion hat mir berichtet, dass du kürzlich beinah in die Tiefe gestürzt wärst. Und gestern hat dich eine Stromleitung nur knapp verfehlt. Stimmt das?“ Ich nicke verkrampft. „Ja.“ „Und diese Unfälle“, betont er, „sind binnen weniger Tage passiert. Stimmt das ebenfalls?“ Erneut nicke ich. Niel kehrt in Schweigen ein. In diesem kurzen Moment, in dem seine Züge entspannen, erkenne ich eine Reihe an Emotionen durch seine Augen ziehen. Tiefste Betroffenheit lässt das Blau seiner Augen dunkler erscheinen. Es überrascht mich. Im Spiel habe ich ihn nie als sonderlich empathisch empfunden. Eigentlich ein Widerspruch, wenn man bedenkt, was er tut oder zumindest versucht. Habe ich ihn so falsch eingeschätzt? „Es tut mir leid, zu hören, was du durchmachst“, sagt er, so zart, dass es nahezu tröstlich klingt. „Bestimmt hattest du Angst. Es ist betrüblich, welch furchtbare Dinge du durchleiden musst … Unseretwegen. Nicht nur Mari, auch ich trage eine ebenso große Verantwortung an dieser Situation. Ich muss dich um Verzeihung bitten.“ Ich senke den Kopf und weiche ihm aus. Es stimmt, was er sagt, so gern ich es bestreiten möchte. Doch dem zuzustimmen würde nichts besser machen, im Gegenteil. Also schweige ich. „Es gibt etwas, das ich dir sagen will“, führt Niel fort. „Du musst wissen, wie die Dinge funktionieren, um deine Lage besser zu verstehen.“ Mir scheint, als diene die gelassene Pause dem einzigen Zweck, dass ich aufsehe. Denn erst als sich unsere Blicke begegnen, und sich Niel meiner ungeteilten Aufmerksamkeit vergewissert hat, erzählt er: „Jedem Wesen ist ein fester Platz in einer Welt zugeteilt. Jedes Leben, das entsteht, erfüllt im Laufe der Zeit eine ihm allein zugewiesene Rolle. Ihr Menschen habt ein Wort dafür: Schicksal. Was ihr Schicksal nennt, ist das Bestreben der Welt, in weiser Voraussicht und zu jeder Zeit für innere Ordnung und ein stetes Gleichgewicht zu sorgen. Sie folgt dafür sehr strengen Regeln, die unumgänglich sind. Eine davon ist, jedes Leben, das Kraft fremden Einwirkens in eine ihm nicht zugedachte Welt eingeschleust wird, konsequent und restlos zu eliminieren. Bevor sich sein Schicksal neu geschrieben hat.“ Ich schaudere bei seinen Worten. Was bislang eine bloße Vermutung war, ist nun grausige Gewissheit. Es stimmt, dass die Welt meinen Tod will. Die Erkenntnis lähmt alles Empfinden in mir. Mehr denn je wünsche ich, dass alles nur ein Traum ist. Ein bittersüßer Traum, in dem alles Übel verschwindet, sobald ich meine Augen öffne. „Shizana“, dringt Niels sanfte Stimme in mein Bewusstsein. „Hör zu, hör mir jetzt gut zu. Du bist in noch größerer Gefahr, als wir angenommen haben. Deine Existenz war für diese Welt nie vorbestimmt und wird als eine ernstzunehmende Bedrohung angesehen. Allein dass du hier bist, verändert vieles und interferiert mit der vorgesehenen Weltenordnung. Die Welt versucht daher, dich mit allen Mitteln zu entfernen, bevor dein Einfluss zu groß und unwiderruflich wird. Ihr bleibt nur begrenzt Zeit dafür, deswegen wird sie …“ Ich höre kaum zu. Meine Gedanken driften zu dem Spiel, der Serie, die »Amnesia« bislang für mich gewesen war. Es erscheint mir absurd, dass ich sterben soll. In einer fiktiven Welt noch dazu. Was geschieht, wenn das passiert? Bin ich dann tot, so richtig? Welche Auswirkung hätte das auf meine Welt? Wäre es, als wäre ich nie geboren worden? Als hätte ich nie existiert? Würde ich aus den Erinnerungen meiner Liebsten verbannt? Und die Leute in dieser Welt – Ukyo, Ikki und die anderen – würden sie mich genauso vergessen? Ist mein Leben, meine Existenz, denn wirklich … Etwas packt mich am Handgelenk und zieht mich herum. Ich japse und erschrecke, Niels Gesicht so nah vor meinem zu sehen. „Hör mir zu“, spricht er beruhigend, aber eindringlich. „Ich weiß, was ich dir sage, ist nicht leicht zu verstehen, aber höre mir bis zum Ende zu. Ich sagte, dass die Regeln unumgänglich sind, doch das ist nicht richtig. Das Weltensystem birgt zahllose Schwachstellen. Durch sie werden Wunder ermöglicht. Dass du hier bist, ist der Beweis. Du kannst deinem Schicksal entgehen.“ Ich horche auf. Zum ersten Mal in diesem Gespräch verspüre ich so etwas wie Hoffnung in mir. Gleichzeitig werde ich misstrauisch. „Ist das nicht widersprüchlich? Warum ändert die Welt die Regeln nicht, um diese Schwachstellen zu decken?“ „Sie kann nicht“, sagt er, lässt von mir ab und setzt sich in Bewegung. Ich folge ihm eilig. „Diese Regeln stemmen die gesamte Weltenordnung. Nur eine Änderung könnte dafür sorgen, dass das Leben nicht mehr so funktioniert, wie wir es gewohnt sind. Es ist daher von Vorteil, die Regeln zu kennen und ihre Lücken richtig zu nutzen. Oh, nur keine Sorge. Ich kenne sie alle und tue es regelmäßig“, meint er schnell, lacht und zwinkert verschwörerisch in meine Richtung. „Okay, und was bedeutet das nun?“ „Es bedeutet … Nun, dafür musst du zuerst wissen, dass kein Schicksal ein Leben lang beständig ist“, kehrt er zum Ernst zurück. „Entgegen eurem Glauben wird es keinem in die Wiege gelegt, und noch weniger steht es von Geburt an fest. Ein Schicksal formt sich mit der Zeit und durchläuft, wie ihr selbst, eine ständige Entwicklung. Es ist also, hm, gleich … nur anders.“ „Verstehe ich nicht“, gestehe ich. Niel lacht verlegen. „Es ist schwieriger, die Dinge mit euren Sprachmitteln zu erklären. Ich habe die Unterschiede unterschätzt. Bitte entschuldige, ich möchte dich nicht verwirren. Was ich zu sagen versuche, dass all dies durch nur eine Regel ermöglicht wird, die über allen anderen steht. Sie lautet: »Ein neues Schicksal – gleich der Lebensform, deren Alter und Funktion – erfindet sich binnen eines Monats.« Was im Verständnis eines Menschen nichts anderes bedeutet, als dass jeder sein Schicksal binnen dieser Zeit verändern kann. Jeder, ausnahmslos. In jeder Welt. Auch du.“ „Das heißt“, setze ich nach langer Überlegung an, kappe jedoch. Niel nickt, als habe er verstanden. „Ja, ganz recht. Wenn es dir gelingt, einen Monat in dieser Welt zu bestehen und dir binnen dieser Zeit einen Platz zu schaffen, wirst du ihrer Verfolgung entgehen. Du kannst dein eigenes Schicksal bestimmen und, wie Ukyo, ein Teil dieser Welt werden.“ Ich schlucke hart. Ein Monat, das klingt so harmlos. Aber ein Monat im Visier der Welt, die alles daran setzt, mich auszuradieren, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Und ich habe noch nicht einmal die Hälfte überstanden … „Allerdings“, gibt Niel zu bedenken, „wird das nicht einfach werden. Der Welt stehen Mächte zur Verfügung, denen ein Mensch unterlegen ist. Alles kann zur Gefahr werden, aber wenn du diesen Monat überlebst …“ Er schüttelt den Kopf, als widerspräche er dem restlichen Part. „Du kannst es schaffen“, betont er und nickt bekräftigend. „Du bist immerhin nicht allein. Mari wacht über dich und wird dich nach Kräften unterstützen. Ich würde mehr für euch tun, doch ich fürchte, im Moment sind meine Mittel ein wenig begrenzt.“ Ich erwidere sein beklommenes Lächeln und wende mich dem Gehweg zu. Den Blick auf das graue Pflaster gerichtet, spüre ich die alten Zweifel wieder aufsteigen, ohne dass ich es verhindern kann. An eines wurde ich erinnert: Niel ist in seinem derzeitigen Zustand kaum göttlicher als ich. Orion hat das hoffentlich bedacht, als er Hals über Kopf losgezogen ist, um ihn zu suchen. Sicher, sein Wissen über die Welt ist wertvoll, aber wird das genügen, um mich am Leben zu halten?   Während wir weiter den Straßen folgen und ich bewusst auf Wege steuere, die möglichst wenige Passanten bieten, befrage ich ihn zu näheren Erläuterungen bezüglich seiner Anspielung auf Ukyo. Niel erklärt mir, dass er in seiner Welt als Geisterkönig gilt und es zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört, die Wünsche der Menschen zu erhören. Dann erzählt er, wie er eines Tages auf Ukyo traf und sich seinem Wunsch angenommen hat. Einem Wunsch, dessen Ausmaß er dramatisch unterschätzt hat und dessen Auswirkungen er sich im Vorfeld nicht bewusst war. Ukyo habe unter denselben Bedingungen gestanden, wie er sie mir erläutert hat. Jedoch war Ukyo nicht stark genug gewesen, und ihm selbst hatte die nötige Erfahrung gefehlt, um ihn an den Gewalten der Welt vorbeizuführen. Das hatte dazu geführt, dass Ukyo endlos Qualen litt und zahllose Tode starb. Schmerz, Angst und Verzweiflung zermürbten seinen Verstand und Niel, gebunden an Ukyos Wunsch, hatte nichts tun können, um ihn aus dieser Spirale der Hoffnungslosigkeit zu befreien. „Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, dieser Verfolgung zu entkommen“, meint Niel irgendwann, worauf ein Schatten über sein Gesicht huscht. „Du kannst den Platz eines Weltgeborenen einnehmen, indem du eine Lücke füllst. In diesem Fall findet eine Übertragung statt und deine Existenz wird von der Welt akzeptiert.“ Ich verstehe nicht auf Anhieb, was das bedeuten soll. Erst nach einigem Überlegen beschleicht mich ein Verdacht, den ich kaum zu Ende spinnen möchte. „Du meinst, indem ich jemanden an meiner Stelle …?“ Es schüttelt mich am ganzen Körper. Allein es zu denken, löst in mir jedes Widerstreben aus. Niel nickt verkrampft. Ich sehe, wie er die Stirn in Falten legt, die Augen verdüstert. „Ein abscheulich grausames System, und noch dazu furchtbar veraltet. Ich habe diese Option Ukyo gegenüber nie erwähnt, sie wäre mir nie in den Sinn gekommen. Zu meinem Bedauern kam er ganz von selbst dahinter, was sein Leid nur verschlimmerte. Er konnte sich seine Tat nicht verzeihen, und ich konnte ihn nicht von seinem Kummer erlösen. Ganz gleich, wie oft er getötet hat, das größere Verbrechen habe ich begangen. Ich war töricht und längst nicht so stark, wie ich für Ukyo hätte sein sollen.“ Mein Herz krampft sich zusammen bei seiner Erzählung. Gern will ich etwas sagen, um mein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, doch mir fehlen die Worte. „Mari ahnt nicht, was sie getan hat“, spricht Niel so leise, dass es in dem Lärm der vorbeirauschenden Autos beinah untergeht. „Genau wie ich einst. Es lag in meiner Verantwortung, sie angemessen auf diese Aufgabe vorzubereiten. Es hätte nie dazu kommen dürfen, dass sie meine Fehler wiederholt. Sie ist noch so jung und unerfahren. Es ist unverzeihlich.“ „Mari ist euch sehr wichtig“, stelle ich fest. „Orion hat mir erzählt, dass sie ursprünglich wie er war und sie sich daher schon sehr lange kennen. Ihr seid irgendwie wie eine Familie, habe ich recht?“ „Ja, so kann man es sagen. Dieser Vergleich kommt unserer Beziehung sehr nahe.“ Seine Mundwinkel heben sich, während er in Gedanken schwelgt. „Jemand wie Mari ist selten. Sie ist etwas ganz Besonderes, auch für unseresgleichen. Nach ihrem Aufstieg wurde mir ihre Ausbildung anvertraut. Ich ging dieser Aufgabe mit bestem Gewissen nach, ich begleitete sie auf ihrem Weg, jedoch … Eine der wichtigsten Lektionen konnte ich nicht vermitteln. Ich habe versagt.“ „Das denke ich nicht“, widerspreche ich prompt. „Es war nicht vorauszusehen, dass das geschehen würde. Du hättest Mari ewig lehren können, Jahrhunderte meinetwegen, das wäre kein Garant für irgendwas gewesen. Die Theorie allein wiegt niemals die Praxis auf. Man muss eigene Erfahrungen sammeln, Fehler machen, und aus diesen Dingen lernen. Häufig ist das Leben der beste Lehrmeister, manchmal sogar der einzige. »Learning by doing« sagt man bei uns. Ich denke nicht, dass du deine Sache von Grund auf schlecht gemacht hast.“ Niel schweigt, aber ich spüre seinen Blick auf mir ruhen. Als er das nächste Mal spricht, glaube ich, ein Lächeln aus seiner Stimme zu hören: „Ich habe nie an das gute Herz der Menschen gezweifelt. Danke, dass du für jemanden wie mich Verständnis zeigst.“ Ich fühle mich befangen. Die Idee, dass ein Gott sich bedankt, erscheint mir irgendwie falsch. Andererseits habe ich soeben Niel belehrt, auch nicht viel besser. Oh weh, jetzt fühle ich mich noch unbehaglicher. Anderes Thema, schnell! „Tut mir leid wegen der Ohrfeige“, sage ich und verfluche mich im selben Moment. Ausgerechnet das fällt mir ein? Oh Mädel, das war ein Eigentor. „Hm? Ach ja, das. Nur keine Sorge, ich hatte sie verdient“, reagiert er unbeschwert und lacht, entgegen meiner Erwartung. „Aber ich war erschrocken. Es hat richtig wehgetan. Aus meiner Zeit mit Ukyo weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn dir jemand ein Messer in den Bauch sticht, oder den Arm bricht, oder ins Gesicht tritt. Hm, es ist wohl etwas anderes, wenn man es am eigenen Körper zu spüren bekommt. Faszinierend, wenn auch erschreckend … Weißt du, was auch schlimm ist? Wenn ein Baum auf dich einschlägt, oder du von der Treppe stürzt, oder wenn ein Stein …“   Den restlichen Weg bin ich bemüht, Niel von sämtlichen Themen abzubringen, die in mir Fluchtinstinkte hervorrufen. Ich möchte nicht wissen, welches Leid er durch Ukyo erfahren hat und auch nicht, welche Missgeschicke ihm mit einigen Wünschen widerfahren sind. Wobei mich Letztes gelegentlich zum Schmunzeln bringt. Ganz zu schweigen von seiner Auflistung kurioser Begehren, die sich niemand vorstellen kann. Verdammt, wir lachen, dabei verstößt diese Unterhaltung gegen jede Form von Datenschutz! Aber ich glaube, da, wo Niel herkommt, interessiert das keinen. Also was soll‘s. Bald ist es geschafft und ich sehe das Meido in einiger Entfernung vor mir. Endlich. Mag sein, dass sich meine Meinung zu Niel ein wenig gebessert hat, aber seine ständigen Begeisterungsanstürme sind auf die Dauer echt anstrengend. Wie bei einem Vorschulkind, aber das ist wohl verständlich. Aus seiner Perspektive zumindest. So will ich es mir einreden. „Hier ist es“, sage ich und halte an. „Ah, ja, ich erinnere mich.“ Gemeinsam stehen wir vor dem Maid-Café und betrachten es kurzweilig. Dann wendet sich Niel mir zu. „Ich würde gern noch mit reinkommen und ein wenig bleiben, aber ich muss ins Geschäft zurück. Ich muss mich noch um eine Kundenbestellung kümmern. Magst du Blumen?“ „Ich glaube, so ziemlich jeder mag Blumen. Allerdings kaufe ich selten welche. Ich mag es nicht, wenn sie so schnell verblühen.“ „Das verstehe ich“, meint er und lächelt mild. „Man will das Schöne wahren. Aber ich sehe das anders. Ich denke, durch ihre Kurzlebigkeit wollen Blumen uns daran erinnern, wie wichtig es ist, den Moment zu leben. Jeder Moment im Leben ist kostbar und sollte geschätzt werden.“ „Wieso eigentlich ausgerechnet ein Blumengeschäft?“, möchte ich wissen. „Was bringt dich dazu? Ich meine, wie kamst du zu dieser Idee?“ „Ich habe Blumen schon immer gemocht. Sie faszinieren mich. Die vielen Farben, die verschiedenen Formen, ihre endlosen Bedeutungen. Menschen erschaffen so viel Schönes mit ihnen, überbringen mit ihrer Hilfe Botschaften und bereiten einander Freude. Ich dachte, für die Zeit, die ich hier bei den Menschen verbringe, möchte ich dasselbe tun. Ich möchte etwas tun, das ihnen Freude macht. Damit lässt sich am schönsten ein Lebensunterhalt verdienen, findest du nicht?“ Wir lächeln beide. In diesem Moment, während ich in sein verträumtes Gesicht sehe, denke ich, dass Niel durchweg guten Wesens ist. Er mag nicht ohne Fehler sein, aber das macht ihn irgendwie menschlich. Lustig, das über einen Gott zu denken. Ob er das beleidigend fände? „Du solltest gehen“, spreche ich sanft. „Orion wartet sicher schon auf dich. Der Arme verzweifelt bestimmt gerade, so ganz allein im Blumengeschäft.“ „Ah, Orion hatte ich ganz vergessen!“ Verdutzt beobachte ich, wie Niels Gesicht einen gehetzten Ausdruck annimmt. Er wirkt nahezu panisch, was irgendwie goldig ist, weil es ihn so jungenhaft erscheinen lässt. Ich muss mich zusammennehmen, nicht loszulachen.  „Bitte entschuldige mich, ich muss jetzt los. Es hat mich gefreut, mit dir zu reden. Ähm, da lang?“ Ich weise ihm die Richtung und erkläre in wenigen Sätzen, wie er zum gewünschten Bahnhof gelangt. An die Strecke, die ich zu Luka genommen habe, kann ich mich noch grob erinnern. Niel bedankt sich, entfernt sich eiligen Schrittes, nur um zurückzukommen, gerade als ich in die Seitengasse biegen will. „Ich vergaß“, ruft er im Gehen, lange bevor er bei mir steht. Sein Atem geht stoßweise, doch er gönnte sich keinen Moment zum Luftholen. „Es gibt eine Schwachstelle, die uns nützen könnte. Ich erklärte bereits, dass die Welt strengen Regeln unterliegt. Eine davon beschreibt die Unantastbarkeit des Schicksals, unabhängig der Umstände. Das bedeutet, dein bestmöglicher Schutz liegt in der Gesellschaft mit anderen. Die Welt wird nichts riskieren, wodurch ein fremdes Schicksal gefährdet würde. Aber ich muss dich warnen: die Welt ist älter als alles. Sie wird nach Wegen suchen, deswegen bleibe immerzu  wachsam. Halte Ausschau nach Zeichen. Umgib dich mit Menschen, denen du vertraust, so oft es dir möglich ist. Ich weiß nicht, ob Orion und meine Person einen Einfluss auf diesen Schild haben, aber unabhängig davon wünsche ich, dass er bei dir bleibt. Er soll mir auch künftig als Übermittler dienen für den Fall, dass wir reagieren müssen. Was da auch kommt, wir müssen alle – wie sagt ihr? – stets auf der Wut sein.“ „Du meinst »auf der Hut«?“ „Ja, ja genau!“ Er lacht und ich kann nicht anders, als zaghaft mitzumachen. „In Ordnung“, sage ich und seufze lang. „Ich versuch’s. Die paar Wochen sind zu schaffen, irgendwie. Immerhin weiß ich jetzt, woran ich bin. Danke, Niel, für die Information.“ Er nickt besänftigt. Ein letztes Mal spricht er mir Mut zu, winkt zum Abschied und hastet davon, dieses Mal ohne Wiederkehr. Hoffentlich hat er meinen Unmut im Gepäck.   Willkommene Stille empfängt mich, als ich das Meido durch den Seiteneingang betrete. Kein Waka, der mich anschreit, und auch sonst keine plötzlichen Überraschungen, denen ich mich gegenübersehe. Gut, wenigstens etwas. Gedankenverloren schlurfe ich die wenigen Schritte durch den leeren Flur hinüber zum Pausenraum. In meinem Kopf gehe ich das Gespräch mit Niel von Neuem durch, bis mir Shin begegnet, der fertig hergerichtet gerade durch die Tür tritt. „Guten Morgen, Shin.“ „Guten Morgen“, erwidert er angebunden. Er mustert mich einen Moment, bis er die zusätzliche Tasche bemerkt und verdeutlichend nickt. „Was ist das?“ „Meine Umziehklamotten“, erkläre ich. „Ich muss nach der Arbeit noch wo hin und habe keine Zeit, noch vorher nach Hause zu gehen.“ „Ah ja.“ Shin zieht die Brauen tief, als überlege er, was dieses Vorhaben sein könnte. Sonderlich zu interessieren scheint es ihn jedoch nicht, denn er lässt davon ab und geht an mir vorüber. „Beeil dich besser. In fünfzehn Minuten sollten wir vorne sein. Überlass nicht mir die ganze Arbeit.“ Ich sehe ihm über die Schulter nach und verkneife mir die Bemerkung, dass er ohnehin allein für die Küche verantwortlich ist. Aber sei’s drum, ich will wegen solchen Kleinigkeiten nicht streiten. Stattdessen beherzige ich seinen Rat und mache mich fertig, bevor Waka samt Stöckchen auf der Matte steht. Im Pausenraum steuere ich auf meinen Spind zu. Meine Tasche mit den Wechselkleidern passt gerade so hinein. Ich angle lediglich die Bürste hervor, um sie gleich griffbereit zu haben, und gehe der üblichen Routine nach. Als ich keine zehn Minuten später mit allem fertig bin, versetzt es mich beinah einen Satz zurück ins Badezimmer. Mari! Einfach so, wie aus dem Nichts, steht sie direkt vor mir. Ich bin zu perplex, um irgendein Wort herauszubekommen; ich starre sie lediglich an. „Es ist unhöflich, einfach ein Badezimmer zu betreten“, erklärt sie unaufgefordert, wobei sie betreten auf dem Fuß dreht, „sonst wäre ich gleich zu dir gekommen. War es richtig, hier zu warten?“ „Denke schon“, entgegne ich trocken. In meiner Brust herrscht ein Hochbetrieb wie auf der Baustelle. Es dauert noch einen Moment, bis ich mich gefangen habe. „Mari, was machst du hier? Du kannst doch nicht einfach hier auf Arbeit auftauchen“, flüstere ich, darauf bedacht, dass uns niemand hört. „Ich war bei Bruder und er hat gesagt, ich soll mit dir reden. Weißt du, ich muss dir etwas ganz Wichtiges sagen!“ „Also … das ist jetzt ein wenig ungünstig. Ich muss in fünf Minuten vorne sein, sonst bekomme ich Ärger.“ Besorgt sehe ich zu der Wanduhr über der Tür. „Oh, ich verstehe. Ähm, also … War Bruder schon bei dir?“ „Wenn du Niel meinst“, dränge ich, „er hat mich zur Arbeit gebracht. Ihr habt euch ganz knapp verpasst.“ „Oh, gut. Dann … hat er schon mit dir gesprochen, ich verstehe. Aber da ist eigentlich noch mehr …“ „Mari“, unterbreche ich ihre Aufregung, „wenn du es in einer Minute schaffst, höre ich dir gerne zu. Aber wenn es länger dauert, lass uns lieber ein andermal reden. Ich bekomme echt Ärger, wenn ich nicht pünktlich bin.“ „Ich lasse nicht zu, dass die Welt dich tötet“, platzt sie heraus. „Auch wenn ich nicht gut bin, ich versuche alles, um dir zu helfen! Ich will, dass du wieder nach Hause kommst. Ich mache alles wieder gut, versprochen!“ „Ich weiß“, sage ich und lächle bemüht. „Wir müssen unbedingt reden“, setzt sie mir nach, als ich an ihr vorbei in Richtung Garderobe gehe. „Zusammen mit Bruder und Orion. Und Ukyo, er auch. Bitte, es ist mir wirklich wichtig …“ „Wie wäre es mit Sonntag?“, überlege ich, während ich in gewohnten Handgriffen Bürste und Kleidung verstaue. Ich wende mich Mari zu, nachdem ich meinen Spind verschlossen habe. „Vorher habe ich keine Zeit. Ich muss heute den ganzen Tag arbeiten und heute Abend bin ich verabredet. Morgen geht’s direkt weiter mit Arbeit und danach bin ich bei den Mädchen zur Übernachtung. Vor Sonntag werde ich nicht richtig zu Hause sein. Allerdings weiß ich noch nicht, ab wann genau. Wäre denn Sonntagabend okay?“ „So spät erst?“ Mari lässt die Schultern fallen. „Hm, na gut. Wenn es früher nicht geht … Aber versprich mir, dass du solange sehr gut auf dich aufpasst! Ich bin zwar immer in deiner Nähe, meistens, aber ich kann nicht mit der Welt interagieren, weißt du? Also wenn dir etwas passiert, kann ich nur über andere …“ „Schon gut, ich passe auf“, sage ich schnell. Noch einmal huscht mein Blick zur Uhr. „Ich musste das Niel und Ukyo auch schon versprechen, und Orion sowieso. Außerdem bin ich bis dahin nahezu durchweg in Begleitung. Es wird schon gut gehen. Du, ich will ja nicht unhöflich sein …“ „Ja, du musst arbeiten. Ich verstehe schon“, meint sie geknickt. „Es tut mir leid, dass ich dich aufhalte. Ich werde sofort gehen.“ „Sorry, es ist leider ungünstig. Übermorgen dann, ja?“ Sie nickt und als ich mich das nächste Mal nach ihr herumdrehe, ist sie verschwunden. Verwirrt sehe ich mich um, zucke dann mit den Schultern und schnappe mir die Tüte mit dem Kuchenkarton darin. Mir bleiben noch fünf Minuten.   Zu meinem Glück ist der Weg zur Küche frei. Ich verliere keine Zeit, lade mein Gepäck auf der Arbeitsplatte ab und mache mich daran, den Kühlschrank auf ausreichend Platz durchzusuchen. „Was machst du da?“ Urplötzlich ertönt Shins Stimme in dem kleinen Raum. Ich erschrecke und fahre zusammen, wobei ich mir den Kopf mit einem lauten »Dong« anstoße. „Ich habe Kuchen dabei, der kühl gelagert werden muss. Wegen der Sahne“, erläutere ich knapp, ohne mich umzudrehen. Still fluche ich, dass Shin sich nicht ankündigen konnte. Ein Klopfen hätte genügt. „Kuchen? Wozu bringst du denn bitte Kuchen mit auf Arbeit, wenn du in einem Café arbeitest?“ „Der ist nicht für mich, sondern für Ikki.“ „Für Ikki-san?“ Ich entnehme Interesse aus seiner Frage. „Du bäckst für ihn? Seit wann das?“ „Tue ich nicht“, weise ich zurück. „Er hat sie nur bei mir vergessen. Ich sollte sie ihm zu heute mitbringen.“ „Vergessen? Du lässt ihn in deine Wohnung?“ „Also eigentlich …“ Ich hadere inmitten der Bewegung. Irgendwie verläuft dieses Gespräch in eine ganz falsche Richtung, nur warum? „Er war nicht in meiner Wohnung, sondern hat sie mir draußen gegeben“, korrigiere ich. „Ach ja?“, äußert er anzweifelnd. „Eben meintest du, er habe sie bei dir vergessen. Vergessen und gegeben sind etwas widersprüchliche Formulierungen, meinst du nicht?“ Alles klar. Da also liegt der Hase im Pfeffer. Ich atme einmal lang, bevor ich meinen Kopf aus dem Kühlschrank ziehe und zu Shin sehe. „Er hat sie mir gegeben, ich habe mich falsch ausgedrückt.“ Shin sagt nichts, er sieht mich nur an. „Was denn?“, dränge ich ihn zum Reden. Allmählich werde ich unruhig. „Wieso ist das wichtig?“ Sein Schweigen dauert an, ich ertrage es kaum. Gerade als ich etwas sagen will, liftet er das Kinn ein Stück und wird ernst. „Ich rate dir an“, spricht er eindringlich, „nicht zu viel auf seine nette Art zu geben. Er ist zu jeder nett, egal, wer es ist. Das solltest du inzwischen bemerkt haben. Interpretiere nicht zu viel hinein.“ Ich starre ihn an, sprachlos. Mir will nicht begreiflich werden, was er mir zu vermitteln versucht. Denkt er, zwischen Ikki und mir könnte etwas laufen? Bevor ich meine nächste Frage formulieren kann, wendet sich Shin zur Seite ab und dreht mir den Rücken zu. „Sieh zu, dass du hier drin fertig wirst. Wenn Waka-san hiervon Wind bekommt, habe ich damit nichts zu tun.“ Ich sehe ihm nach, wie er die Küche verlässt. Anschließend beende ich, wofür ich gekommen bin, und mache mich eilig daran, ihm zu folgen. Kapitel 28: Kurze Verschnaufpause --------------------------------- Pünktlich um Viertel vor acht eröffnet Waka die Kriegsbesprechung. Wie immer rät er uns an, „zu den Waffen zu greifen“ und „aggressiv gegen den Feind vorzugehen“. Ich empfinde seine Rede als anstrengend und bemühe mich wirklich, eine enthaltene Botschaft daraus zu entschlüsseln. Während er brüllt, überlege ich still, wie das nur werden soll, wenn ich erst wieder zu Hause bin. Sollte ich je wieder in den Spielen oder der Serie über so eine Szene stolpern, werde ich noch darüber lachen können? Eher nicht, wobei … vielleicht ja doch? Ach, ich weiß es nicht. Nachdem er geendet hat, verschwindet Shin in der Küche und ich mache mich an die letzten Vorbereitungen im Café. Waka bleibt hinter dem Tresen und kümmert sich um die Kasse und irgendwelchen Papierkram. Mir graut es davor, ganze vier Stunden mit ihm im Rücken zu arbeiten. Besser, ich erlaube mir keinen Patzer. Auf erdolchende Blicke und schroffe Zurechtweisung bin ich wahrlich nicht scharf.   Die ersten zwei Stunden ist wenig Betrieb. So wenig, dass Waka mich zu Schreibübungen verdonnert. Zumindest nehme ich an, dass dies seine Absicht ist, denn er knallt mir Kärtchen und Stifte auf den Tresen und verlangt, dass ich bestimmte Phrasen und Menüs darauf setze. Ich stelle es nicht infrage und gehe dieser Aufgabe nach, worauf es heftig Kritik hagelt. „Zu klein“, bemängelt er den Erstversuch und fordert eine Wiederholung. „Zu schief“, kritisiert er diese, „zu unsauber“ und „nicht bunt genug“ die Nächsten. Frust staut sich in mir auf mit jedem Mal, dass er das Papier zerknüllt und achtlos zur Seite wirft. „Nochmal“, verlangt er, wieder und wieder. Nochmal, nochmal. Ich scheine dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Nach einer kurzen Pause, die ich einer Kundenbedienung zu verdanken habe, erwartet er dasselbe in Lateinschrift von mir. Auch hierfür fällt kein Wort des Lobes. Ich könnte heulen vor Wut, während mir Waka zum x-ten Mal herunterbetet, dass ein Krieger in all seinen zur Verfügung stehenden Waffen versiert sein muss. Am liebsten will ich die Utensilien vom Platz fegen, stattdessen bestätige ich und verbeuge mich höflich, wie Waka mir befehligt hat. Und das nach jeder Predigt und jeder Kritik, die er an mich stellt. Ich bin zutiefst dankbar, als drei Kunden kurz nacheinander das Café betreten und mich fürs Erste von dieser Tortur entbinden. Erleichtert stelle ich bei meiner Rückkehr fest, dass Waka nicht länger hinter dem Tresen steht. Nur gut, soll er sich zur Abwechslung ruhig um Shin oder was-auch-immer kümmern. In der Zwischenzeit werde ich definitiv keinen einzigen Stift anrühren. Okay, abgesehen von dem, den ich für meine Bestellungsnotizen brauche. Aber alles andere kann er vergessen! Es kommt mir gelegen, dass einer der Herren länger braucht, um die Karte zu studieren. Ein anderer bestellt ein Frappé und eine Crêpe, was mich freut, denn beides wird von Hand zubereitet. Binnen dessen kann mich niemand belangen. „Zuerst kommt die Pflicht, und eure Pflicht ist das Schlachtfeld!“, das hat Waka selbst gesagt. Gut für mich. Während Shin in der Küche die Crêpe bedient, kümmere ich mich vorne um das Kaltgetränk. Ich bin noch nicht ganz fertig mit der Schaumgarnierung, da läutet jemand die Tischglocke. Verdammt, unfertig kann ich das Getränk nicht an seinen Tisch bringen. Unwillig löse ich mich von meiner Tätigkeit. „Vielen Dank, dass Sie gerufen haben, Herr“, sage ich höflich und verbeuge mich, bevor ich mich lächelnd neben dem Kunden positioniere. „Wie darf ich Ihnen dienlich sein?“ „Bring mir noch einen Kaffee“, fordert er schroff und schiebt mir klirrend die geleerte Porzellantasse entgegen. „Und kein Zucker dieses Mal. Nur schwarz, mehr nicht.“ Kurz überlege ich, ob ich dem Kunden zuvor Zucker in den Kaffee gegeben hatte. Für gewöhnlich tun wir das nicht, außer der Kunde verlangt es. Und selbst dann nur in seiner Gegenwart an seinem Platz. „Wie Ihr wünscht, Herr“, sage ich dennoch, verneige mich und nehme das Geschirr an mich. „Du“, reißt mich seine tiefe Stimme aus der Routine. Ich stoppe inmitten der Bewegung. „Du bist keine Japanerin. Woher kommst du?“ Verwirrt blinzle ich ihn an. Der Mann vor mir ist gestandenen Alters, vielleicht in den Fünfzigern, und trägt strenge Gesichtszüge. Er riecht stark nach Zigarettenrauch, nein, eher Zigarre. Sein kühler Blick aus fast schwarzen Augen schüchtert mich ein. „Aus Europa“, spreche ich ruhig und erinnere mich daran, zu lächeln. „Woher genau?“ „Aus Deutschland, mein Herr.“ „Deutschland, hm?“ Er lässt es abfällig klingen, gewollt oder nicht. Auf seiner von grauen Stoppeln überzogenen Wange zuckt es. „Herr, ich bringe Euch sofort Euren Kaffee“, wechsle ich auf die Arbeit zurück und lächle tapfer. „Ich bitte um einen Moment Geduld.“ Zurück am Tresen lasse ich alle Bedrückung in einem leisen Seufzer frei. Geknickt stelle ich fest, dass der Schaum vom Frappé in der Zwischenzeit gesunken ist. Super, ich fange noch einmal von vorne an. So kann ich es meinem Kunden nicht anbieten. Parallel zum Kaffee mixe ich ein zweites Eisgetränk. Ich bin bei der Verzierung, als Shin die fertige Crêpe nach vorne reicht. Die muss ich als Nächstes garnieren. Gerade jetzt läutet auch noch jemand die Tischglocke. Ich stehe dezent unter Stress. Eilig serviere ich die beiden Getränke, bitte meinen Kunden bezüglich der Speise um ein wenig Geduld und trete an den dritten Tisch für eine neue Bestellung. Diese und die mit Eis und Sahne angereichte Crêpe kaum ausgeliefert, tönt schon wieder Gebimmel durchs Café. Ich schnaufe und erzwinge ein Lächeln, als ich zu dem schroffen Herrn zurückkehre. „Haben Sie noch einen Wunsch, Herr?“, frage ich freundlich, wobei ich verwundert feststelle, dass er sein Getränk kaum angerührt hat. „Sind Sie mit Ihrem Kaffee nicht zufrieden, Herr?“ „Dein Japanisch ist recht gut“, äußert er trocken, „allerdings hört man einen Akzent heraus. Wie lange bist du schon in Japan?“ „Ähm, seit einigen Monaten“, stammle ich und ergänze ein höfliches „Herr“. Das Thema ist so abseits des Erwarteten, dass es mich ganz aus dem Konzept bringt. „Was führt dich nach Japan?“, bohrt er weiter. „Das …“ „Wie alt bist du?“ Ich stocke. Mir ist unwohl bei seinen Fragen und wie er mich ansieht. Bislang dachte ich immer, Japaner seien zurückhaltend. Dieser wohl eher nicht. „Mein Herr, Sie stellen mir sehr private Fragen“, weiche ich aus und verbeuge mich rasch, um den Schein zu wahren. „Darf ich Euch einen anderen Wunsch erfüllen?“ „Setz dich“, fordert er und klopft auf die freie Bankfläche neben ihm. „Unterhalten wir uns. Es ist gerade eh nichts los. Reden wir über dich und wo du herkommst.“ Panik bricht in mir aus. Wie soll ich mich jetzt nur verhalten? Ausgerechnet jetzt ist niemand da, der mich vor einem so aufdringlichen Kunden abschirmen könnte. Wenn doch nur Ikki da wäre, oder Toma, oder … Verdammt, wieso läutet niemand diese dämliche Glocke?! Erneut klopft er auf das Polster, doch ich rühre mich nicht vom Fleck. Als er Anstalten macht, nach meiner Hand zu greifen, weiche ich einen schnellen Schritt zurück. Seine Mimik verfinstert sich. „Ich will nur reden, Mädchen.“ „Verzeihung, Herr, ich …“ Ach Mist, welche Ausrede soll ich ihm auftischen? Jemand hilf mir! „Mein Herr, mit Verlaub“, drängt sich Wakas Stimme an mein Ohr, was mein Herz mit kleinen Purzelbäumen feiert. „Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen unsere Maid leider entziehen. Sie wird in der Küche gebraucht. Geh jetzt.“ Ich nicke zu meinem Boss hoch, verbeuge mich vor dem Kunden und verlasse eilig den Bedienungsraum. Erst als ich außer Sichtweite bin, fällt alle Anspannung von mir ab und ich lasse mich schwer seufzend gegen die Wand sinken. Schon wieder hat mich Waka aus einer misslichen Lage befreit. Das wievielte Mal nun schon? Ich ärgere mich, dass ich die Dinge nicht selbst unter Kontrolle habe, bin aber zugleich dankbar, dass er eingesprungen ist. Waka trifft irgendwie immer das richtige Timing. „Shin, brauchst du Hilfe?“, frage ich in die Küche hinein, als ich sie betrete. Ich finde ihn an der Zeile stehend, wo er, soweit ich erkenne, einige Küchlein mit Sahne verziert. „Was willst du hier? Hast du vorne nichts zu tun?“, entgegnet er abweisend. Er besieht mich vorwurfsvoll über die Schulter, was wohl bedeutet, dass er von Assistenzbedarf keine Info hat. „Es wurde ungemütlich mit einem Kunden. Waka-san hat mich hergeschickt“, erläutere ich. In wenigen Sätzen schildere ich ihm die Situation. Shin geht weiter seiner Arbeit nach, während er zuhört. Ich spüre, wie ich beim Erzählen ruhiger werde. „Du musst besser aufpassen“, meint er am Ende und dreht sich mir zu. Er legt den Spritzbeutel beiseite und lehnt gegen die Theke. „Lass dich von solchen Kunden nicht einlullen. Wie willst du dich wehren, wenn einer handgreiflich wird? Du weißt, dass du dir in so einem Fall Hilfe suchen sollst. Und wenn du zu einer Ausrede greifen musst. Notfalls sag Nein zu dem Kunden und geh einfach.“ „Ich wusste nicht, ob ich das darf“, gestehe ich kleinlaut und sehe zu Boden. „Ich wollte keinen Ärger riskieren. So etwas ist mir noch nie passiert.“ „Dann merk’s dir ab jetzt. Es gibt noch wesentlich mehr von dieser Sorte, und Schlimmere.“ Ich nicke wortlos. „Geh jetzt besser wieder nach vorn“, rät Shin mir an und wendet sich selbst wieder der Arbeit zu. „Waka-san duldet es nicht, wenn Privatgespräche die Arbeit behindern. Du bist schon viel zu lange hier hinten. Vorn dürfte sich alles wieder beruhigt haben.“ Ich gebe ihm recht und bedanke mich, dass er sich die Zeit für mich genommen hat. Wenn auch mit einem flauen Gefühl im Bauch, kehre ich ins Café zurück. Ich bin erleichtert, als ich Waka weiterhin bei dem aufdringlichen Mann entdecke. Wie es aussieht, sind beide in ein Gespräch vertieft. Naja, das wird sie zumindest von meiner Person ablenken, hoffe ich. Kurze Zeit später läutet ein anderer Kunde die Tischglocke und möchte kassiert werden. Als ich das zweite Mal an den Tisch gehe, um ihn abzuräumen, wundere ich mich, dass Waka noch immer mit dem Bedränger spricht. Was mag da nur so interessant sein? Neugierig luge ich zu ihnen hinüber und versuche, herauszuhören, worüber sie sich so angeregt unterhalten. Sonderlich flüstern tun sie nicht, weswegen ich bald in Erfahrung bringe, dass es irgendwie um Waffen geht. Nicht gerade das, was ich erwartet habe. „Sie kennen sich gut aus, dafür, dass Sie ein schlichtes Café betreiben“, lobt der Mann. Er schiebt irgendein zerschlissen wirkendes Büchlein zurück in die Jackeninnentasche. „Die Arbeit eines einfachen Cafébetreibers ist dieselbe wie die eines Heerführers“, entgegnet Waka und neigt höflich das Haupt. „Das Leben ist Krieg. Jeder Ort, an dem wir uns aufhalten, ist ein Schlachtfeld. Es gewinnt nicht, wer sich hinter den Wällen verkriecht, sondern der, der den Angriff nicht scheut. Lernen und Verstehen sind nur weitere Formen dieser Strategie.“ „Ganz mein Reden!“ … Na, wenigstens verstehen sie sich. Ihr Gespräch geht mich nichts an, also wende ich mich wieder der Arbeit zu. Ich will nicht unter Beschuss geraten.   Ehe ich mich versehe, sind vier Stunden vergangen und die Frühschicht neigt sich gen Ende. Wir können pünktlich zur Mittagspause schließen, da kein Kunde mehr im Café verweilt. „Was machst du in deiner Mittagspause?“, frage ich an Shin gewandt, während wir die letzten Putzutensilien verstauen. „Ich muss etwas erledigen, danach werde ich irgendwo etwas essen.“ Er stellt Wischmopp und Eimer hinter einen Vorhang, danach lockert er das schwarze Tuch um seinen Hals. „Was ist mit dir?“ „Ich weiß noch nicht“, sage ich und zucke die Schultern. „In den zwei Stunden, vielleicht sehe ich mich in der Nähe ein wenig um. Irgendwo werde ich auch etwas essen. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht zu weit weggehe. Mein Orientierungssinn ist echt bescheiden.“ „Denk dran, schon eine halbe Stunde früher hier zu sein. Spätestens zwanzig Minuten früher.“ „Ja, schon klar“, winke ich ab. Shin lässt mir den Vortritt, sodass ich den Pausenraum als Erste betrete. Rasch schnappe ich mir meine Alltagssachen und verschwinde im angrenzenden Badezimmer, um mich in aller Ruhe umzuziehen. Muss ja nicht sein, dass er dabei zusieht. Als ich fertig bin, ist Shin nicht mehr im Pausenraum. Es grämt mich ein wenig, dass er ohne ein Wort des Abschieds gegangen ist. Aber vielleicht hatte er es eilig, rede ich mir ein. Er sagte ja, dass er noch irgendwohin muss. Wir sehen uns eh zur zweiten Schicht wieder, also was soll‘s. Gemütlich lege ich meine Umhängetasche um die Schulter und verlasse das Meido. Ich bin noch nicht richtig die Tür raus, da fahre ich hoch und mache einen Satz zurück. „Shin!“, keuche ich aus. Obgleich er nicht wirklich versteckt steht, springt mein Herz im Galopp. Im Reflex presse ich meine Hand auf die Brust. „Mann, hast du mich erschreckt. Wolltest du nicht los?“ „Was bist du so geistesabwesend? Selbst schuld“, wirft er mir vor. Er löst die verschränkten Arme vor der Brust, stößt sich von der Wand direkt gegenüber und macht einen einzigen Schritt in meine Richtung. „Was hast du nächsten Dienstag nach der Arbeit vor?“ „Äh, nächsten Dienstag … Wieso?“ „Hast du schon etwas vor?“, wiederholt er, ohne eine Miene zu verziehen. Ich bin verwirrt. Normal wäre Shin genervt, wenn er sich meinetwegen wiederholen muss. Aber er verhält sich ganz ruhig. Zu ruhig, für meinen Geschmack. Irgendetwas kann da nicht stimmen. Ich mustere ihn eingehend, erkenne aber nichts, das meine Vorsicht bestätigt. Möglicherweise interpretiere ich zu viel in seine Frage hinein. Ich beschließe, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. „Nein“, sage ich. „Bisher noch nicht. Wieso fragst du?“ Shin zieht die Brauen tief, als sei dies nicht die Antwort, auf die er gehofft hat. Erst nach einer Pause sagt er: „Dann plane dir an dem Abend etwas Zeit ein.“ Er seufzt und fährt sich ins Haar, schüttelt den Kopf. „Wofür?“ Diesmal wird deutlich, dass er genervt ist. Er taxiert mich streng, beinahe vorwurfsvoll. „Wofür wohl?“, murrt er. „Überleg mal ganz angestrengt: Warum fragt jemand, ob man Zeit hat? Muss man dir eigentlich alles auf die Nase binden?“ Meine Verwirrung weicht der Perplexität. „Fragst du mich gerade nach ein Date?“ „Date? Ganz sicher nicht“, protestiert er betont. Shin stöhnt, rauft sich die Haare und brummelt irgendwas, das ich nicht verstehe. „Toma, dieser Idiot … Wir werden nur reden, mehr nicht. Keine Unternehmungen oder so, klar? Bilde dir nichts ein.“ „Klar“, sage ich und runzle die Stirn. „Über was denn reden? Geht das nicht auch während der Arbeit?“ „Nein“, widerspricht er. „Das ist eine private Angelegenheit, das hat auf der Arbeit nichts verloren.“ „Okay? Verrätst du mir wenigstens, worum es geht?“ Shin zögert einen Moment. „Es scheint einige Missverständnisse zwischen uns zu geben. Toma ist der Meinung … egal. Ich will diese Dinge geklärt haben, das ist alles.“ „Wirklich?“, frage ich überrascht. Insgeheim atme ich auf. Kurz habe ich befürchtet, Shin hätte Verdacht geschöpft und wollte mich zur Rede stellen. Doch so ist es nicht, Glück gehabt. „Was denn für Missverständnisse? Vielleicht können wir sie gleich jetzt bereinigen. Wollen wir nicht ...“ „Nicht jetzt“, schneidet er mir das Wort ab. Im nächsten Moment rückt er seine Haltung zurecht und räuspert sich verhalten. „Tut mir leid, das sollte nicht so harsch rüberkommen. Aber genau darum geht es. Können wir das wann anders bereden? Ich muss jetzt wirklich los.“ „Na schön“, gebe ich bei und lächle. Ich bin erleichtert, dass sich sein Anliegen als harmlos erwiesen hat. „Eine Frage nur noch. Was hat das mit Toma zu tun?“ „Was denkst du, auf wessen Mist das gewachsen ist?“ Shin stößt einen abfälligen Laut aus. „Dieser Kerl muss sich einfach überall reinhängen. Großer Bruder, vonwegen. Er nervt gewaltig.“ „Er meint’s sicher nur gut“, sage ich und lache. „Na gut, von mir aus. Wenn du mich so lieb bittest, kann ich schlecht Nein sagen. Ich halte mir den Dienstag nach der Arbeit frei. Vielleicht können wir irgendwo essen, während wir reden. Sofern das zeitlich bei dir passt, mit der Schule und so. Oh, oder würde das schon als Date zählen?“ „Du findest das wohl witzig.“ „Schon“, schmunzle ich. Shin stöhnt einmal lang, dann dreht er sich um und entfernt sich. „Vergiss nicht, abzuschließen. Bis später.“ „Shin, ich freue mich auf unser Date!“, rufe ich ihm nach und kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Ich wette, dass Shin mit den Augen rollt, aber das musste jetzt sein. Nachdem er außer Sicht ist, zücke ich mein Handy hervor. Es ist kurz vor halb eins, in gut einer Stunde muss ich zurück im Café sein. Ich sollte mir irgendwo etwas zu essen suchen. Vielleicht wenn ich schnell bin, reicht die Zeit noch für einen kleinen Stadtbummel.   Auf meinem Weg zu dem Einkaufscenter, in dem ich schon öfter gewesen bin, komme ich an verschiedenen Imbissbuden vorbei. Mein Ursprungsplan sah vor, mich im Center nach einem Café oder Ähnlichem umzusehen, doch spontan entscheide ich mich anders. Ich stoppe vor einem Geschäft, aus dem ein herrlich deftiger Duft strömt. Ein Werbeaufsteller auf dem Gehweg bewirbt verschiedene Donburi-Gerichten, einzeln oder im Menü. Allem voran steht Gyûdon, das mit besonders attraktiven Mittagspreisen lockt. Ich überlege. Eine Reisschüssel mit Rindfleischstreifen on top klingt für mich wenig attraktiv, ich bin eher der Geflügeltyp. Allerdings scheint es sehr beliebt zu sein, es bietet mehr Variationen als jedes andere Gericht auf dem Werbeaufsteller. Die Preise sind ebenfalls erschwinglich, jede Medium- bis Large-Portion liegt um die 500 bis 600 Yen. Davon abgesehen … jetzt bin ich schon in Japan, warum die Gelegenheit nicht nutzen? Das Takoyaki hatte auch nicht geschadet, es war sogar ganz gut gewesen. Ich beschließe, es einfach zu riskieren.   Später spaziere ich gemütlich auf meinem Rückweg zum Café. Das Gyûdon war seinem Preis angemessen, ich bin satt und recht zufrieden nach meiner kleinen Schlendertour durch das Einkaufscenter. Es tat gut, ein wenig durch die Geschäfte zu bummeln, wenn ich mir am Ende auch nichts gekauft habe. Mich hätte das eine oder andere Buch gereizt, ein Schreibblock oder wenigstens einer der süßen Schlüsselanhänger, doch die Vernunft obsiegte. Ich kenne meine Ausgaben kaum, ich kann sie schlecht kalkulieren, dafür bin ich zu kurz in dieser Welt. Wer weiß, wofür ich das Geld noch brauchen werde? Lieber kein Risiko eingehen, Verzicht ist mir nicht neu. Ich bin früher beim Meido, als mir lieb ist. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es erst zehn vor halb zwei ist. Dank meiner Frühschicht weiß ich, dass nicht viel an Vorbereitung zu tun ist, und sehr lange zum Umziehen brauche ich auch nicht. Vielleicht hätte ich mir doch ein Buch kaufen sollen … Naja, was soll’s. Kurzerhand hole ich das rote Päckchen aus meiner Manteltasche hervor und zünde mir eine Zigarette an. Mit dem ersten Zug lehne ich mich gegen die Hausmauer neben dem Personaleingang und lege den Kopf in den Nacken. Ich denke an heute Abend, versuche mir auszumalen, wie die Ausstellung verlaufen wird. Bislang hat sich Luka nicht gemeldet, hoffentlich geht alles glatt. Ich mache mir Sorgen um Rika. Eigentlich sollte ich ganz andere Probleme haben, bedenke ich Niels Offenbarungen heute Morgen. Einen Monat soll ich durchhalten … Hm, eigentlich lächerlich, und doch klingt es falsch in meinen Ohren, diese Dauer mit einem »nur« zu versehen. Ein Monat kann so elendig lang sein, wenn dir der Tod mit jedem Schritt an der Hacke klebt. Gleichzeitig bleibt es eine kurze Zeit. Zu kurz, um mich an das Hier zu gewöhnen, mich zu entfalten. Was, wenn ich diese Frist überstanden habe? Und was, wenn nicht? Ich seufze laut und stoße mich von der Wand weg. Dieses ewige Gedankenchaos macht mich noch wahnsinnig. Um ihm zu entgehen, bewege ich mich ein wenig in der Gasse auf und ab. Ich schlurfe nach vorn an die Straße und lasse meinen Blick durch die nähere Umgebung schweifen. Die vielen Leute zu beobachten, wie sie ihren eigenen Wegen nachgehen, hält meinen Kopf beschäftigt und vermag mich zu beruhigen. Es gibt mir ein geringes Gefühl von Normalität zurück. Während ich ziellos die Gestalten überfliege, bleiben meine Augen schließlich auf zwei von ihnen haften. Sie laufen nebeneinander und sind, dank der kurzen Entfernung, für mich gut zu erkennen. Mist! Auf einmal ist es mir peinlich, dass ich hier stehe und rauche, und kürze den Rest des Stummels mit einem langen, tiefen Zug. „Hallo ihr zwei“, begrüße ich sie, als Ikki und Hanna in Hörweite sind. Hanna ist die Erste, die lächelt, worauf Ikki spricht: „Welch angenehmes Empfangskomitee. Hallo, Shizana. Wie war die Frühschicht?“ „Ganz okay“, fasse ich kurz, wobei ich abwechselnd zwischen ihnen hin und her sehe. „Recht ruhig, denke ich. Ein Kunde war etwas seltsam, aber Waka-san hatte ihn im Griff. Ihr habt nichts verpasst.“ „Warst du die ganze Pause hier?“ Ich schüttle auf Hannas Frage den Kopf. „Nein. Ich war ein wenig in der Gegend unterwegs und habe mir ein Gyûdon gegönnt. Nicht ganz meins, aber es war okay.“ „Unterhaltet euch ruhig noch ein wenig“, wirft Ikki ein, „ich gehe derweil vor und ziehe mich um. Danach habt ihr die Garderobe für euch. Wir wollen nicht, dass uns Waka-san beim Trödeln erwischt, hm?“ Schweigend verfolge ich, wie Ikki an uns vorbei in das Gebäude tritt. Erst als er verschwunden ist, wende ich mich wieder Hanna zu, die noch immer in Richtung Tür sieht. „Jetzt, da er es sagt, seid ihr nicht ein wenig spät dran? Im Vergleich zu sonst“, rege ich an. „Mh.“ Sie nickt und wendet das Gesicht zu mir. „Ikki-san musste einen Umweg machen, deswegen sind wir erst verspätet losgegangen.“ „Hat er dich etwa von zu Hause abgeholt?“ Erneut nickt sie und ich kommentiere lächelnd: „Na, das ist doch was?“ Im Fazit heißt das, dass sie den ganzen Weg zusammen gelaufen sind. Das freut mich, gerade wenn ich ihre Situation bedenke. Gleichzeitig beneide ich Hanna ein wenig, das lässt sich nicht leugnen. Allerdings … so wirklich glücklich wirkten sie nicht. Irre ich mich, oder habe ich sie nicht einmal miteinander reden gesehen, seit ich sie entdeckt habe? Sie hatten auch etwas distanziert beieinandergestanden, das könnte auch höfliche Gründe gehabt haben … Nein, das halte ich für unwahrscheinlich. Ich frage Hanna, was sie den Vormittag gemacht hat, und lasse sie ein wenig über ihr Studium reden. Sie erzählt ganz von selbst, dass sie eigentlich ihre Wohnung hatte aufräumen wollen für den anstehenden Mädchenabend, bis ihr Ikki mit seinen SMS dazwischengefunkt hat. „Aber es ist doch gut, dass ihr wieder ein wenig Zeit miteinander verbringt“, kommentiere ich, nachdem ich in Erfahrung gebracht habe, dass meine Vermutung richtig war. „Also privat, meine ich. Euer Verhältnis ist immer noch recht angespannt, hm?“ Sie nickt wortlos. „Auf Arbeit merkt man euch das nicht an. Aber das ist auch normal, denke ich. Ihr seid ja noch gar nicht so lange auseinander.“ „Ich glaube …“, setzt sie nach einem Zögern an, wird jedoch unterbrochen, als wir beim Pausenraum ankommen. Zu unser beider Überraschung steht die Tür offen. Ich klopfe vorbeugend und spähe in den Raum hinein. Es wäre peinlich, wenn wir Ikki mitten beim Umziehen erwischen würden. „Ihr könnt reinkommen“, höre ich ihn von irgendwo sagen und entdecke ihn bei den Spinden. „Ich bin fertig.“ „Wir beeilen uns“, sage ich und trete vor Hanna ein. „Viel muss nicht gemacht werden. Shin und ich haben schon das Meiste vorbereitet.“ „Gut. Seid pünktlich vorne, sonst wird Waka-san nur wieder wütend.“ Ich beobachte genau, wie Ikki den Raum verlässt. Er und Hanna tauschen keinen einzigen Blick. Kaum dass die Tür geschlossen ist, geht sie an ihren Spind und beginnt, ihre Sachen zu verstauen. Sie macht nicht den Eindruck auf mich, als wolle sie ihren Satz von vorhin beenden, deswegen tue ich es ihr gleich. Es war ohnehin nicht das schönste Thema für sie, ich will darauf nicht herumreiten.   „Darf ich dich etwas fragen?“, regt sie irgendwann an, als wir gemeinsam im Badezimmer stehen. Ich besehe sie aufmerksam durch den Spiegel, die Hände an den Bändern meiner Maid-Haube. Hanna ist längst mit allem fertig, nur ich bekomme diese blöden Schleifen nicht in den Griff. „Hm? Sicher.“ „Du und Ikki-san …“, beginnt sie, worauf sie zögert. „Stimmt es, dass ihr euch trefft?“ Ich stoppe inmitten der Bewegung. Eingehend studiere ich ihr Gesicht und versuche zu erraten, welche Gefühle dieses Thema in ihr wachruft. „Wie kommst du darauf?“, hinterfrage ich ruhig. „Ikki-san hat es mir erzählt, auf unserem Weg hierher.“ „Hat er?“ „Naja, nicht ganz“, gesteht sie und lächelt vorsichtig. „Er hat von jemand gesprochen, und dadurch bin ich auf dich gekommen. Er sagte nicht, dass das falsch ist … Oder liege ich falsch?“ „Nein“, bekenne ich unbetont. Plötzlich fühle ich mich ertappt, beinahe schuldig, als habe ich jemanden hintergangen. Nicht jemand, sondern sie, Hanna. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. „Ist schon okay“, verspricht sie. Die Sänfte darin vermag mich ein wenig zu beruhigen. „Ich bin nicht verletzt. Ich freue mich für Ikki-san. Ihr scheint euch gut zu verstehen.“ „Mh, ich denke schon.“ „Ich glaube, es geht ihm besser, seit ihr Freunde seid. … Bitte entschuldige, wenn das unhöflich ist, aber darf ich dich fragen, was du von Ikki-san hältst?“ Wa-wa-was? Wo kommt diese Frage auf einmal her? Ich durchforste mein Hirn nach den richtigen Worten. „Er ist nett“, sage ich sofort. Im Nachklang erscheint mir das zu allgemein und nichtssagend, also versuche ich es erneut. „Ich finde ihn witzig und mag seine Art. Ich denke, dass er sehr gefühlvoll ist, und Gefühle für ihn eine sehr große Rolle spielen. Deswegen leidet er schnell und … er steht nicht immer dazu. Er hat seine Fehler, wie wir alle, aber insgesamt denke ich, dass er eine prima Person ist.“ Hanna ist still. Dann, nach einiger Zeit, lächelt sie warmherzig. „Du hast recht. Ich sehe das genauso. Ich freue mich, dass du so über Ikki-san denkst.“ Ich erwidere das Lächeln und wende mich wieder meinen Bändern zu. Still bedauere ich, dass ich ihr nicht alles sagen kann, das würde nur zu schwierigen Fragen führen. Es gibt so viel, das ich nicht wissen dürfte, und es ist das Beste, wenn sie davon auch nichts weiß. „Sei bitte vorsichtig“, flüstert sie an meiner Seite. Ihr Spiegelbild wirkt bekümmert. „Ikki-san, er hat … Die Gerüchte um seine Augen sind wahr. Hast du davon gehört?“ „Mh.“ Ich nicke. „Nicht nur das, ich bin selbst schon in den Genuss gekommen.“ „Genuss?“ „Naja, nicht wirklich.“ Ich seufze leise. „Keine Sorge, ich bin vorgewarnt. Und ich denke, wir sind alle nicht besonders scharf auf gewisse Unfälle. Ich passe auf“, lächle ich aufmunternd in den Spiegel. Es scheint sie ein wenig aufzubauen.   Gerade noch rechtzeitig finden sich Hanna und ich vorne im Café ein. Kaum dort, klackt die Tür vom Personaleingang. Vor dem Tresen beziehen wir brav Stellung und lassen Wakas übliche Motivationsrede über uns ergehen. Ich lasse das meiste an mir vorbeiziehen, stimme in das abschließende „Der Kunde ist der Feind!“ mit ein und trete dankbar ab. „Denkt daran, Freitags-Spezialtechnik ab 18 Uhr! Ich will Erfolge sehen!“, brüllt Waka uns nach. Gemeint ist der Spieleabend mit den Gästen, inklusive Doppeldecker. Die Freude in mir bleibt aus, aber vielleicht gibt sich das noch. Mit dem Öffnen der Pforten werden wir sogleich von weiblicher Kundschaft überrannt. Ich zähle acht Mädchen in einer Gruppe, alle im Studentenalter, und zwei weitere, die sich abseits einen Tisch suchen. Hanna ist schneller als ich und bedient das Duo, während sich Ikki gelassen wie immer der größeren Gruppe annimmt. Ich beobachte fasziniert, wie er das Gespräch durch all das laute Chaos leitet, und fluche zugleich, weil mir dieser Fanclub einfach auf die Nerven geht. Es dauert nicht lange, bis Hanna zurück ist, und ich helfe ihr bei den Getränken. Kaum dass sie wieder auf dem Flur ist, trifft auch Ikki ein und legt eine lange Liste an Bestellungen vor mir auf der Theke ab. Ich bewundere die makellose Handschrift, die von sauberen Strichen und eleganten Schwüngen geprägt ist. Nach einer kurzen Absprache übernehme ich die Kaffeegetränke, während Ikki die bestellten Warmspeisen an die Küche trägt. Er vollendet die Schaumverzierungen, liefert die Tabletts aus und ist retour, bevor ich die drei Eisbecher vollendet habe. Er übernimmt den Streudekor und bittet mich, in der Küche nach den Crêpes zu sehen. Als ich mit den beiden Tellern zurückkehre, lässt er den Gruppentisch gerade hinter sich. Hanna hat derweil den ersten Herren in der Bedienung und Ikki nimmt mir die einzige Arbeit ab unter der Begründung, ein Butler-Menü müsse von Butlerhand hergerichtet werden. So geht es die meiste Zeit. Hanna und ich wechseln uns mit der Bewirtung männlicher Kundschaft ab, während Ikki pausenlos auf Achse ist. Er bedient, unterhält die Damen, und tut er das nicht, ist er entweder in der Küche oder hilft am Tresen aus. Ich erfasse keinen Moment, in dem er nicht in Bewegung ist, und das macht mich fast nervöser als die observierenden Blicke, die von der lauernden Mädchengruppe unentwegt ausgehen. „Schon gut“, sage ich, als er das nächste Mal bei mir am Abwasch steht und nach dem Geschirrtuch greift. „Du musst das nicht machen. Ich komme schon klar, gönn dir lieber ’ne Pause. Du bist nur am Herumwirbeln, du kippst mir noch um!“ „So schnell passiert das nicht“, meint er unbeschwert. „Ich bin eben gern in Bewegung, so vergeht die Zeit schneller.“ „Ja, aber man verausgabt sich auch schneller“, kontere ich. Prüfend mustere ich ihn von der Seite. „Im Ernst, hol auch mal Luft. Wie lange willst du so weitermachen? Mach eine Pause. Hanna dürfte gleich wieder vorn sein, dann könntest du gehen. Im Moment bietet es sich an.“ Ich nicke ins Café hinein, zur Hälfte mit Gästen besetzt. Alle versorgt und zufrieden. „Hast du deine schon gemacht?“ „Vorhin, als Shin gekommen ist. Hanna ist direkt nach mir gegangen“, erkläre ich. „Ach so“, meint er und ich glaube sofort, dass er es nicht mitbekommen hat. „Hm, dann bleibe wohl nur noch ich übrig. Wenn Hanna zurück ist, seid ihr immer noch zu zweit hier vorne. Ich denke, das dürfte in Ordnung gehen.“ „Natürlich tut es das.“ Ich lasse das Wasser ab und wechsle die Seite, um das trockene Geschirr einzusortieren. „Mach vorsichtig“, höre ich ihn sagen. Leise nur, aber eingehend genug, dass ich in der Bewegung stoppe. „Nimm nicht zu viel auf einmal. Du könntest stolpern und das Geschirr aus der Hand verlieren. Das wäre gefährlich.“ „Ich arbeite nicht anders als sonst“, sage ich und besehe ihn anzweifelnd. Unwillkürlich achte ich dennoch darauf, was meine Hände tun. „Ikki, was ist los? Die ganze Zeit versuchst du, mir Arbeit abzunehmen. Bin ich zu langsam?“ „Was? Nein. Ich … wirklich?“ Er wirkt überrascht. „Hm. Scheint, als wäre ich heute nicht gut darin, es zu verbergen. Die Wahrheit ist, ich mache mir Sorgen.“ „Sorgen? Worüber?“ „Um dich“, spricht er gedämpft und tritt näher heran. „Wegen gestern. Die ganze Zeit frage ich mich, ob es dir gut geht. Ich bekomme dieses Bild einfach nicht aus dem Kopf. Ich male mir aus, was gewesen wäre, wenn ich nicht …“ „Mir geht es gut“, sage ich schnell. Ich konzentriere mich auf das Pik-Symbol, um Ikkis Blick zu entgehen. Was ist das eigentlich, ein Tattoo? „Schau, ich bin quietschfidel und wohlauf. Hör bitte auf, dir irgendwas auszumalen. Das ist ja Folter.“ „Ja, es ist Folter“, haucht er gequält. Ich bemerke, wie sich sein Ausdruck verdüstert. „Ich tue das nicht willkürlich, aber ich denke daran, was wäre, wenn ich dich gestern verloren hätte. Der Gedanke macht mir Angst.“ „Braucht es nicht“, sage ich und zeige mein tapferstes Lächeln. Ich kämpfe das Verlangen hinunter, ihn zu umarmen. Ihn an mich zu ziehen und zu beweisen, dass es nicht nur gesagt ist. Aber das geht nicht. „Alles ist gut. Ich bin froh, dass niemand verletzt wurde. Danke dafür. Und nun lass uns das Unschöne vergessen und lieber das Schöne in Erinnerung behalten. Apropos, ich habe deine Kuchen in den Kühlschrank gelegt. Vergiss nicht, sie mitzunehmen. Die sind alle für dich!“ „Hm, Geschenke für mich?“, raunt Ikki und lächelt. Endlich. „Ich fühle mich geschmeichelt. Und, wie sind sie?“ „Sehr gut“, sage ich grinsend. „Du solltest sie unbedingt bei Kerzenlicht probieren! Da schmecken sie gleich besser.“ „Wirklich?“ Er lacht. „Na, dann werde ich das ausprobieren. Gleich heute nach der Arbeit. Etwas Süßes bei Kerzenschein zu vernaschen, klingt sehr romantisch.“ „Und überhaupt nicht zweideutig“, stimme ich ein. „Und nun ab mit dir in die Pause! Die nächsten fünfzehn Minuten will ich dich hier nicht mehr sehen.“ „Verstanden“, kapituliert er im Scherz. „Lass mich eben erst nachsehen, ob Hanna schon fertig ist. Danach siehst du mich nicht mehr, versprochen.“ Ich nicke zufrieden und verfolge, wie er im Durchgang verschwindet. Kaum außer Sicht, bemerke ich Shin, der neben dem Rahmen gelehnt steht. Unsere Blicke begegnen sich einen Moment, dann dreht er sich ab und ist verschwunden. In mir bleibt ein Gefühl zurück, als sei ich bei etwas ertappt worden. Der Gedanke scheint albern, also verwerfe ich ihn und wende mich wieder der Arbeit zu. Kapitel 29: Die Kunstausstellung -------------------------------- Die Stunden ziehen vorüber und ehe ich mich versehe, läutet Waka das wöchentliche Abendevent ein. Das Café ist gut besucht, einige der Kunden scheinen extra fürs gemeinsame Spielen gekommen zu sein. Mir begegnen so viele fremde Gesichter, wie seit dem Nikolaus-Event nicht mehr. „Geben wir unser Bestes“, zwinkert Ikki mir zu und gesellt sich an einen der Tische, der bis auf den letzten Platz mit jungen Frauen besetzt ist. Eine weitere Traube gesellt sich hinzu, kaum dass er Platz genommen hat, und versperrt mir fast jegliche Sicht. „Was wünscht Ihr zu trinken, Herrin?“, erkundigt sich Waka bei den Damen und beginnt zu notieren. Er verzieht keine Miene dabei, verbeugt sich im Anschluss und verschwindet als gleich hinter der Theke. Während der Spiele hilft er in der Bedienung aus. Ich tue das Gleiche bei einem Trio von Herren, eher Jungen in meinem Alter, nebendran empfiehlt Hanna eine Auswahl an Spielen. Auf einem Tablett balanciere ich die bestellten Getränke, jedes in doppelter Ausführung, und verteile sie an meine Kunden. „Magst du mit uns spielen?“, fragt einer von ihnen, optisch der Jüngste, und lächelt aus strahlend blauen Augen erwartungsvoll zu mir hoch. „Ich wäre sehr erfreut“, entgegne ich freundlich und lächle aufgesetzt. „Wünschen Sie, dass ich Ihnen die Spiele-Karte bringe, Herr?“ „Entscheide du“, sagt sein Nebenmann, ein dicklicher Bub mit grüner Rundrahmbrille und fleckigen Wangen. Auf seinem farblosen Shirt grient ein schwarzer Manga-Katzenkopf. „Woher kommst du?“, fragt der Dritte. Sein Haar leuchtet in einem Rot, das mich unweigerlich an Pumuckel erinnert. Die strubbelige Frisur tut ihr Übriges. „Aus Deutschland“, sage ich. Rotschopfs Augen werden groß. „Deutschland, echt? Wow!“ „In Deutschland machen sie gute Schokolade“, grinst Neko-Boy über das runde Gesicht. „Kennst du Daifugō?“, fragt der Jüngste an mich. Ich nicke. „Ja, Herr.“ Ich erinnere mich, Ikki am vergangenen Spielabend bei einer Runde zugesehen zu haben. Auch auf Shins Geburtstagsfeier wurde es kurz gespielt. Toma und Sawa hatten es mir zu erklären versucht, leider ist nicht viel davon hängengeblieben. „Aber nicht sehr gut“, räume ich ein. „Ich habe noch nicht alle Regeln verstanden.“ „Das ist kein Problem“, grinst der Jüngste mich an. „Wir erklären es dir. Komm, setz dich dazu.“ Die Regeln sind einfach. Ein Kartendeck wird unter den Spielern der Reihe nach ausgeteilt. Gelegt wird eine Zahlenfolge ab drei oder mindestens zwei gleichwertige Karten. Ist beides nicht möglich, geht jede beliebige Karte. Der nächste Spieler versucht diesen Zug zu überbieten, indem er die nächsthöhere Zahl oder eine höherwertige Straße in gleicher Menge legt. Die Zwei überbietet das Ass und der Joker darf als jede beliebige Karte eingesetzt werden. Kann nicht überboten werden, wird ausgesetzt und der Nächste versucht sein Glück. Ein freiwilliges Aussetzen ist jederzeit möglich, auch wenn man legen könnte. Haben alle gepasst, beginnt ein neuer Spielzug. Ziel ist es, als Erster alle Karten loszuwerden. Um dies zu erleichtern, vor allem in Hinblick auf die Zeit, legen wir als Sonderregelung fest, dass Straßen symbolisch gemischt sein dürfen. „Ich fange an“, verkündet Rotschopf und legt ein Duo Sechsen. Der Jüngste beantwortet es mit einer Duo-Sieben und sieht zu mir. Ich zögere. Mein Blatt ist gut. Ich habe ein Duo Damen und ein Duo-Ass vorzuweisen. Die Damen könnte ich auch für eine lange Straße verwenden, aber eine kurze tut es vielleicht auch. Ich entscheide mich für die Damen und zwinge Neko-Boy in einen Pass. Jetzt kämpfen nur noch Rotschopf und ich: seine Könige schlagen meine Damen, ich kontere mit Doppel-Ass und er triumphiert mit einem Duo Zweien. Somit geht dieser Zug an ihn. Rotschopf entlässt einen witzelnden Kommentar, legt ein Ass, ich eine Zwei nach Jungsters Pass und eröffne neu mit Duo-Fünf. Die Straße halte ich mir sicher, doch das Spiel verläuft nicht, wie ich es gern hätte. Die nächsten Runden setze ich aus, bis Neko-Boy als Erstes sein Blatt geleert hat. Ab da spielen wir klein, jeder je eine Karte. Und obwohl ich meine wertvolle Straße Unwillens aufgeben muss, bin doch ich es, die als Zweites keine Karte mehr hält. Mir wird gratuliert und ich lächle, verblüfft, dass andere noch schlechter spielen als ich. „Noch eine Runde?“, fragt Rotschopf und grinst mich an. Er scheint wenig zerknirscht über seinen immerhin-noch-Platz Drei. „Ich muss zuerst die verehrten Kunden bedienen“, sage ich und lächle, mich meiner eigentlichen Rolle ermahnend. Rotschopf grinst über das ganze Gesicht. Neko-Boy neben ihm hebt die Hand. „Wann machen wir das Foto?“ „Ich bringe Ihnen gleich die Kamera, Herr“, antworte ich höflich. Der Gedanke widerstrebt mir, doch so war es ausgemacht: der Gewinner bekommt ein Foto mit der Maid. Meine geringe Begeisterung hat wenig mit Neko-Boy zu tun, ich bin einfach nur kamerascheu. Jede Linse ist mein geschworener Feind. Ich durchstreife einmal das Café und trete an jeden Tisch, der mir nach wartender Bedienung aussieht. Zwei Herren bestellen etwas zu trinken, zwei Damen etwas zu essen. Auf meinem Weg zur Küche sehe ich Hanna, wie sie eine Art Hütchen-Spiel mit zwei Herren, einer Dame und einem Kind spielt. Ikki ist ebenfalls in ein Kartenspiel involviert, ein anderes als Daifugō. Es liegt ein verdeckter Kreis vor ihm ausgebreitet, in dessen Mitte zwei unordentlich aufgedeckte Stapel sind. Ich bin gewillt, mich dazuzustellen und eine Weile zuzusehen, aber bei dem Durcheinander an plappernder und quiekender Frauen will ich meine Trommelfelle lieber schonen. Die Arbeit geht außerdem vor. Shin hilft mir, einige Bestellungen zu verteilen, im Anschluss kehre ich zu meinen Kunden zurück. Ich gestatte Neko-Boy, einen Arm um meine Schulter zu legen, während der Jüngste das Foto schießt. Auf Wunsch versehe ich es mit einer persönlichen Botschaft und schreibe möglichst hübsch in Deutsch darauf: »Gut gespielt, Meister Miki-dono!« Dahinter male ich ein Herz und setze noch meinen Namen darunter. Ich erkläre nicht, dass Meister und –dono eine unnötige Doppelung sind, die sich im normalen Japanischgebrauch gegenseitig ausschließen würden. Wunsch ist eben Wunsch. „Sōshi ist dai-hinmin, er fängt an“, flötet Rotschopf fröhlich, nachdem ihr Jüngster alle Karten verteilt hat. Er, Sōshi, lächelt sanftmütig, ordnet kurz seine Hand, bevor er mit einem Duo Dreien eröffnet.   In dieser zweiten Runde ist mein Blatt vielversprechen, doch ich kann es nicht spielen, wie ich es gern möchte. Nach nur vier Zügen habe ich meine besten Karten verbraucht und bin zum Passen verdammt. In der Zwischenzeit macht Rotschopf den Ausstieg, welchem Neko-Boy Miki wenig später folgt. Sōshi und ich spielen noch je eine Karte, dann hat auch er es geschafft und übertrumpft mich mit Abstand. In meiner Hand bleiben vier Karten zurück. Damit bin ich Verlierer. „Na, wie läuft es hier?“, höre ich Ikki hinter mir sagen. Allein seine Stimme vermag mich ein wenig zu trösten. „Amüsieren sich die Herren mit unserer Maid?“ „Nicht so gut“, seufze ich leise und nehme den wüst liegenden Stapel vom Tisch. „Meine Herren spielen hervorragend. Ich habe bis jetzt jede Runde verloren.“ „Oh, ist das so?“ „Sie ist in dieser Runde dai-hinmin!“, verkündet Rotschopf voll Frohsinn. „Aber davor war sie immerhin Zweite. So schlecht ist sie gar nicht, dafür dass sie zum ersten Mal spielt.“ „Hei-kun“, stutzt Sōshi ihren Wüstling zurecht, ohne die Stimme zu erheben. Neko-Boy präsentiert Ikki stolz seine Errungenschaft. „Gestatten die Herren, dass Ihre Maid kurz ihrer Verpflichtung nachkommt. Ich übernehme derweil das Mischen der Karten, wenn keine Einwände bestehen. Ich gehe doch recht in der Annahme, es ist eine Anzahl an Spielen gemäß der Anzahl der Herren erwünscht?“ Mir ist nicht ganz klar, was Ikki vorhat. Doch ich widerspreche ihm nicht, lächle und täusche meinen Dank vor, worauf ich die geleerten Gläser entferne. Aus einem Seitenblick beobachte ich, wie Ikki geübt die Karten mischt und dabei die Jungs unterhält. Er setzt sich nicht, auch nicht, als ich zu ihnen zurückkehre. Er zwinkert mir zu, weist mir zu sitzen und teilt an meiner statt die Karten aus. Urgh, kein gutes Blatt. Auf meiner Hand halte ich drei Duos, die problemlos überboten werden können. Dazu eine Zwei. Mit etwas Glück bekomme ich zwei Straßen ausgelegt, wofür ich allerdings zwei Paare opfern müsste. Das kann nicht gut ausgehen. „Dai-hinmin fängt an“, erinnert mich Rotschopf, den die anderen Hei-kun nennen. Ich grübele kurz und entscheide mich für meinen einzigen Trumpf: eine Straße Drei bis Sechs. Zu meiner Enttäuschung ergibt sich daraus kein Vorsprung. Sōshi legt eine Straße, die meine übertrifft und von Miki noch überboten wird. Endend auf Ass gibt es nichts Höheres, weswegen er eine neue Straße beginnt, die Hei-kun problemlos überdecken kann. Ich studiere meine Karten und überlege angestrengt. Theoretisch könnte ich eine Straße legen, die nur von der Top-Drei-Formation geschlagen werden kann. Doch damit würde ich zwei Duos auflösen, der Rest ist absolut unbrauchbar. Wagen oder nicht? Im Falle der Führung könnte ich direkt die nächste Straße legen, danach ein Duo und dann … „Pass“, flüstert mir Ikki ins Ohr. Ich nicke, senke mein Blatt und sehe nach vorn. „Pass.“ In diesem Moment ist das Spiel ganze sechs Runden im Voraus entschieden.   Ich kann es nicht fassen, als ich als Erste meine letzte Karte aufs Feld werfe. Den Pik-Buben. Die Jungs halten je noch eine Karte auf der Hand, wobei Hei-kun und Sōshi gleichwertig sind. Mikis Karte ist die schwächste, womit er Rundenletzter ist. Ich freue mich aufrichtig über meinen ersten und einzigen Sieg, und zeige es, indem ich über das ganze Gesicht strahle. „Gut gespielt.“ Jemand klatscht gemächlichen in die Hände, dicht hinter mir stehend. Diese butterweiche Stimme erkenne ich sofort. „Das war inspirierend! Wie nicht anders von meiner Freundin zu erwarten. Ich bin stolz auf dich.“ Ich wende mich um und bin überrascht, tatsächlich Luka zu sehen. Weit vor der vereinbarten Zeit, wie mir ein Blick Richtung Wanduhr verrät. Wie üblich prollt der üppige Pelz um seine Schultern, doch unter dem offenen Mantel erwartet mich ein vollkommen fremdes Bild. Ein Anzug, wie ich anhand von Kragen und Stoff vermute. Schwarz mit pastellgrünem Hemd darunter, das seine Augen betont. Ordentlich polierte Schuhe dazu. Und, Moment, was ist das für ein Duft? Ein Herrenparfum? Es riecht unglaublich angenehm … Wie gebannt starre ich ihn an. Luka ist attraktiv, soweit keine Neuigkeit. Aber in dieser Aufmachung strapaziert er wirklich jedes Maß an Erträglichem. Unmöglich, mich dem zu verschließen. Auf einmal wird mir ganz bange, wie ich diesen Abend nur überstehen soll. Die ganze Zeit an der Seite dieses Mannes … Wie?! Lukas Augen fangen mich ein. Dann, ehe ich reagieren kann, legt er eine Hand an meinen Rücken und haucht einen Kuss auf meine Wange. Ich glühe auf. „Luka! Nicht vor den Gästen“, flüstere ich fiepsend und dränge ihn bestimmt zurück. Prüfend schicke ich meinen Blick durch die Runde. Sōshi, Hei-kun, das halbe Café sieht zu uns her. Verdammt, das muss an Lukas Aufmachung liegen. Dieser dämliche Prollmantel! „Du bist zu früh dran“, sage ich gefasster und halte Ausschau nach Waka. Sollte er spitzkriegen, was hier abläuft, wird er das ganz sicher nicht gutheißen. Und wo steckt eigentlich Ikki? War er nicht eben noch bei mir? „Was machst du schon hier? Es ist erst …“ „Ich weiß“, unterbricht er und zeigt sich kein bisschen beeindruckt von all dem Getuschel, das er zu verschulden hat. „Ich konnte nicht warten, dich endlich zu sehen. Wo ist euer Geschäftsführer? Ich will mit ihm sprechen.“ „Ich könnte ihn holen“, bietet sich Ikki an, worauf Luka dankend nickt. Ich habe nicht gesehen, woher er so plötzlich gekommen ist.  Wie viel hat Ikki von dem ganzen Theater wohl mitbekommen? Ikki verneigt sich und verschwindet sogleich im hinteren Personalbereich. Derweil  führe ich Luka an einen freien Tisch und biete ihm etwas zu trinken an. Er lehnt ab, und ich gehe wieder meiner Arbeit nach. Hier kann ich ohnehin nichts mehr tun.   Wenig später sind Luka und Waka in dessen Büro verschwunden. Schnell wurde klar, dass es bei Lukas Anliegen um mich geht, was mir einen frostigen Blick meines Bosses einbrachte. „Privatgespräche haben auf dem Schlachtfeld nichts verloren! Wie oft muss ich das noch wiederholen?“, sollte er mir wohl sagen. Ich seufze ermüdet. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigt sich Ikki an meiner Seite. Auf seiner Hand balanciert er ein Tablett leerer Gläser und Teller. Ich nicke. „Ich fürchte nur, Waka-san wird gleich nicht so gut auf mich zu sprechen sein. Mir graut es davor, wenn die beiden herauskommen.“ „Es machte den Anschein, als wollte dein Freund dich abholen. Aber ist es nicht etwas zu früh dafür? Einige der Gäste kommen extra für den Spielabend hierher. Waka-san wird dich nur ungerne gehen lassen.“ „Ich weiß“, sage ich und stöhne gequält. „Ah, wenn er sich doch nur einmal an einen Plan halten würde!“ Ikki lacht leise. „Sie sind schon ziemlich lange da hinten. Komm, nutzen wir die Zeit für ein Spiel. Ich habe den Damen dort drüben ein paar Pfeile versprochen. Möchtest du dich zu uns gesellen?“   Ich nehme sein Angebot an und finde mich bei besagter Gruppe ein. Ikki hat das Dartbrett angebracht und wirft einige Pfeile, jeder ein Treffer und jeder ein Anblick. Es regnet Applaus und die Damen jubeln verzückt. Der Aufruhr zieht weitere Schaulustige an, und bald wagen sich einige Herren an die Herausforderung. Doch erst ihr Bemühen macht deutlich, auf welch hohem Niveau Ikki spielt. Er könnte in der Profiliga sein, dagegen findet nicht einmal die Hälfte aller anderen Pfeile ihren Weg an das kreisrunde Brett. In einer Runde von Frauen lasse ich mir von Ikki erklären, was es beim Dart zu beachten gibt. Er zeigt uns die beste Positionierung, das Halten des Pfeils, die Anpeilung des Ziels und schließlich den Abwurf. – Treffer! Als ich es selber versuche, merke ich, dass es gar nicht so einfach ist, wie es bei ihm den Anschein macht. Beim dritten Anlauf treffe ich, wenn auch nur den äußersten Rand. Egal, es macht mich wahnsinnig stolz! Und der Jubel um mich herum tut sein Übriges.   Es muss eine gute halbe Stunde vergangen sein, bis ich Waka in nächster Nähe bemerke. Luka steht bei ihm, beide unterhalten sich noch. Als ich dem Blick meines Bosses begegne, nickt er mich zu sich herüber, und ich entschuldige mich bei den anwesenden Gästen. „Geh dich umziehen“, weist Waka mich an. Alles an ihm wirkt übellaunig. „Du bist von deinen Pflichten entbunden. Mine wird deinen Posten besetzen.“ Bitte?! Er hat Mine gerufen, um mich früher gehen zu lassen? Das kann nicht sein Ernst sein! Ich will protestieren, da wendet er sich ab. Wie verwurzelt sehe ich ihm nach und versuche zu verstehen, was in seinem Büro passiert sein mag. Was mochte Luka ihm erzählt haben? Wie hat er es geschafft, dass Waka mich Widerwillens entlässt? „Hier“, holt mich Luka aus meiner Starre. Seiner Ansprache folgt ein knisterndes Bündel, das er mir in die Arme drückt. „Rika lässt dich grüßen. Sie bittet dich, das heute Abend zu tragen. Sie hat viel Zeit und Mühe dafür investiert.“ Böse funkle ich ihn an. Zu gern würde ich ihm sagen, dass sein Benehmen unterste Kanone ist. Da hilft auch sein gutes Aussehen nichts. Doch was sollte es bringen? Luka scheint es ohnehin nicht zu kümmern, und Diskutieren bringt jetzt auch nichts mehr. Ich füge mich also und rede mir ein, dass ich es ausschließlich für die Gäste tue. Nicht für ihn, auf keinen Fall!   Im leeren Pausenraum entwirre ich das Plastikbündel. Es handelt sich um ein Kostüm, feinsäuberlich in mehrere Lagen Schutzfolie gewickelt. Die Farbgebung sticht mir zuerst ins Auge: schwarz-lila. Na immerhin hat Rika meinen Geschmack getroffen. Ich vergeude keine Zeit und tauche in den Stoff hinein. Das Kleid wird am Rücken durch einen Reißverschluss gehalten, der bis zu der Taille reicht. Vorne ist ein Korsett eingenäht, das mit weiteren Haken am Rücken fixiert wird. Ich verrenke mich nach Leibeskräften, doch den obersten Haken kriege ich nicht zu fassen. Ich werde Hilfe brauchen, also lasse ich es und werfe den Rock aus, der in mehreren Lagen bis zu den Knöcheln fällt. Die fächernden Ärmel aus schwarzer Spitze reichen bis zu den Ellen und werden durch beiliegende Stulpen ergänzt. Alles passt farblich zusammen. In einer separaten Tüte finde ich Plateaus, die mich an meine alte Gothic-Zeit erinnern. Es bereitet mir größtes Vergnügen, in die hohen Stiefel zu schlüpfen, die mich gute zehn Zentimeter anheben. Dann entdecke ich noch ein Halsband, einen Haarreif mit Spitze und ein Täschchen, in das kaum ein Sandwich passt. Ich nehme an, all das soll irgendwie Verwendung finden, nur wie? „Bist du fertig?“, fragt Luka durch die Tür und tritt herein, ohne anzuklopfen. Er betrachtet mich einen langen Moment, fordert eine Drehung. Dann klatscht er in die Hände. „Hervorragend! Oh, was für eine meisterhafte Arbeit! Rika hat sich wieder selbst übertroffen. Diese Farben, die Stoffe, der Schnitt … Ganz meine kleine Schwester! Du siehst hinreißend aus. Welch Inspiration!“ „Danke“, sage ich und streiche das Korsett glatt. Obwohl es aus Polyester besteht, ist es sehr weich und schmiegt sich wunderbar an. „Aber ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Kannst du mir vielleicht den letzten Haken schließen? Ich komme nicht ran.“ Verdeutlichend drehe ich Luka den Rücken zu, bis er versteht. Er behebt das Problem in wenigen Handgriffen, überraschend geübt. Dann tritt er zurück und wird still. Ich bemerke, wie er mich konzentriert ansieht, als ich mich ihm zuwende. „Stimmt etwas nicht?“ „Hm? Nein.“ Er schüttelt abwehrend den Kopf. „Nein, alles bestens. Bist du dann soweit?“ „Gib mir noch fünf Minuten“, sage ich und gehe an meinen Spind. Dort hole ich meine Tasche hervor. „Ich muss noch schnell Haare machen und Make Up auftragen. Ich beeile mich, versprochen.“ „In Ordnung, ich warte draußen. Man wird schon noch einen Moment ohne mich auskommen.“ Dann verlässt Luka den Raum. Ich suche alles Nötige zusammen und mache mich im angrenzenden Badezimmer ans Werk.   Wie ein Flüchtiger schleiche ich aus dem Meido. Ich luge um jede Ecke, halte die Luft an und raffe den Rock, nur um mit knisternden Tüten durch den Personalflur zu stöckeln. Mein Timing stimmt zum Glück und ich erreiche den Ausgang, ohne entdeckt worden zu sein. Ich entdecke Luka unweit vom Meido. Hinter ihm parkt ein nachtblauer Jaguar gleich neben dem Straßenhand. Ich schlussfolgere, dass es wohl seiner ist. Ein sehr hübsches Auto, wie ich zugeben muss. Sicher kein Unterklassegefährt. Wenn ich es recht bedenke, muss es Luka gehören. „Steig bitte ein“, fordert auf und hilft mir hinein, kaum dass ich in Sichtweite gerate. Drinnen erwartet mich schwarzes Leder, das seinen typischen Duft verströmt. Der Innenraum ist sehr geräumig, alles wirkt gepflegt und modern. Das Emblem der silbernen Raubkatze im Sprung lässt meinen Blick am Lenkrad verweilen. Während ich es betrachte, werden mir einige Dinge von Neuem bewusst. Ich bin auf dem Weg zu einer Ausstellung. Mit Luka und Rika. Es geht um Kunst. Ich habe dort nichts verloren. Was zur Hölle mache ich hier? „Schnall dich bitte an“, weist Luka an und startet den Motor. Sein Ton ist der einer schnurrenden Katze. Dann setzt sich der Wagen sanft in Bewegung. „Ich hoffe, es wird dir gefallen. Es wurde viel Aufwand betrieben, es ist erstaunlich! Ich kann es kaum erwarten, dir alles zu zeigen. Rika wartet vor Ort auf uns.“ „Du warst wohl schon dort?“ „Kurz, ja“, bestätigt er. „Oh, aber es ist großartig! Das Ambiente, die Aufmachung, die vielen Leute … Der Direktor hat sich viel Mühe gegeben. Du wirst ihn heute Abend kennenlernen. Ich freue mich darauf, dich ihm vorzustellen.“ Ich kaue nervös an meiner Unterlippe. „Wäre es nicht besser gewesen, wenn ich ein Taxi genommen hätte? Es ist bestimmt unhöflich, die Veranstaltung einfach so zu verlassen.“ Luka sieht mich an. Kurz nur, aber mit so viel Entsetzen, dass ich mich mies fühle. „Was redest du da?“, entgegnet er vorwurfsvoll und sieht wieder nach vorn. „Ich vertraue meine Freundin doch nicht einem Fremden zu so später Stunde an. Wer weiß, an was du geraten könntest! Mir ist viel wohler, wenn ich dich persönlich ans Ziel bringe. So weiß ich, dass es dir gut geht und dir nichts geschieht. Jeder Mann sähe das an meiner Stelle genauso. Dafür hat jeder Verständnis.“ Ich lasse meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Vermutlich hat er recht. Und vermutlich bin ich sogar dankbar für seine Ansicht. „Danke“, sage ich. „Aber das rechtfertigt trotzdem noch nicht, dass du zu früh warst!“ Luka lacht neben mir. „Ich konnte es eben nicht länger erwarten“, meint er. „Rika hat so ein Geheimnis um ihre Arbeit gemacht. Ich wollte der Erste sein, der es an dir zu Gesicht bekommt. Findest du das verwerflich?“ „Nein“, sage ich. „Es ist immerhin die Arbeit deiner Schwester. Das verstehe ich.“ „Darum geht es mir nicht.“ Luka wird still, als dächte er nach. „Es ist Rikas Arbeit, aber du bist meine Freundin. Ganz egal, was es ist: Ich möchte immer der Erste an deiner Seite sein. Es muss nicht immer ein Kleid sein.“ Ich sehe ihn an und prüfe ihn eingehend. Luka macht nicht den Anschein, dass er lügt. Ich mustere die glatten Gesichtszüge, seine Augen, die fest auf die Straße gerichtet. Ich würde ihm glauben, wäre da nicht … Ich rufe mir ins Bewusstsein, warum ich  noch zweifle. Die Warnungen von Orion und Mari. Die Sache mit dem Buch. Die handgeschriebenen Zettel in seiner Wohnung. Selbst im Spiel konnte man Luka nicht trauen. Er ist gefährlich. Alles spricht gegen ihn. Und doch will ich ihm glauben. Ich will ihm vertrauen, dass er nichts im Schilde führt. Dass nichts davon stimmt, was andere sagen. Er würde mir niemals schaden, warum sollte er auch? Ich bereue diese Gedanken zutiefst. Warum müssen die Dinge nur so kompliziert sein?   Nach etwa zwanzigminütiger Fahrt biegt Luka auf eine Abzweigung, die zu einem abgelegenen Grundstück führt. Noch auf der Straße bemerke ich den plötzlichen Andrang. Überall stehen Autos, kleinere und größere Menschengruppen scharen und laufen an ihnen entlang. Die meisten sind auffallend gekleidet, mehrere vornehm, andere prächtig. Ich bekomme nicht genug, all die Damen zu bestaunen, die ihre hochwertigen  Kimono und aufwendige Kleider zur Schau tragen. Weniger Abwechslung bieten die Herren, was die Vielfalt unter den Damen umso deutlicher macht. Wir parken recht nah bei dem hell erleuchteten Haus, das ich lieber als Anwesen bezeichne. Eigentlich hatte ich mir die Suche nach einem Stellplatz komplizierter vorgestellt, doch ein Reservierungsschild direkt vor meiner Nase erinnert mich daran, dass ich mir absolut keine Vorstellung zu dem Bevorstehenden mache. „Onii-sama!“ Ich höre Rika, bevor ich sie erkenne. Ich muss zweimal hinsehen, um sicherzugehen, dass sie es ist. „Willkommen zurück. Ich hoffe, eure Fahr verlief unkompliziert. Man erwartet dich bereits. Guten Abend, Shizana-san.“ Ich nicke erwidernd, dann verbeuge ich mich eilig. Rikas Anblick verwirrt mich. Statt pompöser Hüte und üppiger Röcke trägt sie heute ein Kleid, das eher schlicht wirkt. In gerader Linie fließt es ihren Körper hinab, betont schemenhaft ihre Hüften. Keine Auffälligkeiten daran. Farblich scheint es auf Luka abgestimmt. Unglaublich, wie Grün diesen Geschwistern schmeichelt. Und schon bin wieder ich es, die hier nicht ins Bild passt. „ Hattest du Schwierigkeiten, die Kleider anzulegen? Ich muss sagen, es steht dir wirklich ausgezeichnet. Viel besser als erwartet. Entspricht denn alles deiner Zufriedenheit?“ „Oh ja, es ist wundervoll!“, antwortet Luka an meiner Stelle. Er umfasst Rikas Hände und küsst sie ehrfürchtig. „Eine vollkommene Arbeit von dir. Keiner kommt dem gleich. Danke, Rika, dass du mir diese Freude gemacht hast. Ich habe die beste Schwester der Welt.“ Rika wirkt wenig beherzt, ihren Bruder zurückzuweisen. Jedoch ist es süß, wie sie versucht, eine verlorene Strähne hinter ihr Ohr zu streichen. Wo keine ist. Ihr Haar trägt sie nach oben gesteckt. Am Ende erlaubt Luka, dass ich mich persönlich bedanke. Meine Worte scheinen Rika nicht zu genügen. Sie überprüft lieber selbst, ob alles korrekt sitzt.  Ihre fachkundigen Hände zupfen und richten an mir, bis sie gänzlich zufrieden ist. Alles soll perfekt sein für ihren Bruder. „Wollen wir reingehen?“, eröffnet Luka und fasst meine Hand. „Drinnen ist es wärmer. Und sie servieren Champagner und Häppchen. Ich muss dich zuerst dem Direktor vorstellen. Danach sollten wir …“ „Verzeih, verehrter Bruder“, erhebt Rika höflich und stellt sich an meine Seite. „Ich weiß, dies ist ein wichtiger Tag für dich, und ich bin wirklich untröstlich. Aber würde es dir etwas ausmachen, ohne uns vorzugehen? Ich brauche Shizana-san für noch einen Moment. Unter Frauen.“ Ich bin irritiert, nicht minder ist es Luka. Er nickt nur zaghaft lässt meine Hand los. In diesem Moment hören wir einen Mann rufen: „Da sind Sie ja!“ Ich sehe fragend auf den kleinwüchsigen Mann, der schwitzend und keuchend vor uns zum Stehen kommt. Luka stellt ihn mir als Oni-dono vor, Kunsthändler von Rang und Namen, Hausherr und Veranstalter der heutigen Ausstellung. Faktisch unser Gastgeber. Und wie Rika flüsternd ergänzt, zudem ein sehr guter Kunde, der schon viele Bildern von Luka erstanden hat. Der Direktor tupft seine glänzende Stirn. „Ach, wie gut, dass ich Sie gefunden habe. Ich störe ja nur ungern – die Damen.“ Er nickt einmal gehetzt, und Rika und ich verbeugen uns höflich. „Aber Sie ahnen ja nicht, was heute los ist! Luka-san, im oberen Stock warten einige Gäste auf Sie. Sie wollen den Künstler unbedingt kennenlernen. Ich muss Sie bitten, mich zu begleiten. Jetzt gleich, bitte.“ Die Geschwister tauschen einen Blick. Dann tritt Luka nach vorn an die Seite des Mannes. „Aber natürlich, dafür habe ich größtes Verständnis, Oni-dono. Gehen wir, lassen wir die Damen und Herren nicht warten. Im Übrigen bewundere ich, was Sie hier errichtet haben. Sagen Sie, wie viele Leute nehmen an dieser Herrlichkeit teil? Wenn ich mich nicht täusche, ist Heika-san vor Ort? Ich bin sicher, sie am Empfang gesehen zu haben. Wie haben Sie …“ „Shizana-san“, höre ich Rika sagen, schon strauchle ich hinter ihr her. Ich weiß nicht, wann der Austausch erfolgt ist, aber plötzlich sehe ich mich auf die Rückbank von Lukas Wagen bugsiert. Rika drängt sich neben mich. Die Tür fällt hinter ihr zu. „Wir haben nicht viel Zeit“, erklärt sie und wühlt in ihrer Handtasche. Noch so ein winziges Teil. „Mein Bruder ist ein geübter Redner, aber er hat berufliche Pflichten zu erfüllen. Unsere Aufgabe ist es, ihn zu unterstützen. Das verstehst du doch sicher? Halt bitte still. Schließ die Augen. Wir haben nur einen Versuch“, weist sie mich an. Ich bin noch ganz überrumpelt, lasse sie jedoch gewähren. Etwas Kühles trifft mein Gesicht, fährt feucht die Konturen entlang. Ich schaudere im ersten Moment, dann folgt ein Gefühl, als würde ein Schwamm über meine Haut fahren. Make Up? Ich halte still, so gut ich kann. Rikas Finger werkeln an meinen Augen. Auf Anweisung öffne ich sie und erdulde, dass sie mit Maskara und Stiften meine Lider bestreicht. Ein Lippenstift folgt, dann fährt sie mit weichem Brush abschließend über Stirn, Wangen und Kinn. Ein letztes Mal besieht sie mich kritisch. „So, fertig“, beschließt sie. An einem feuchten Kosmetiktuch reinigt sie ihre Hände. Es duftet rosig. „Bitte, nimm den an dich. Trag ihn immer dann neu auf, wenn du etwas gegessen oder getrunken hast. Überprüfe dein Aussehen bitte mehrmals während des Abends und komm zu mir, wenn es etwas zu richten gibt. Ich weiß, dass mein Bruder sehr nachsichtig mit deinem Äußeren ist, aber heute Abend können wir das nicht dulden. Er wird dich vielen wichtigen Leuten vorstellen. Es ist von großer Bedeutung, welchen Eindruck sie von dir gewinnen. Du bist immerhin die Freundin eines begabten Künstlers. Also bitte, enttäusche meinen Bruder nicht.“ Ich nicke und packe den Lippenstift in meine Tasche hinein. Rika ordnet noch einige Strähnen meines Haars, korrigiert mein Pony. Dann packt sie zusammen. „Rika-san, darf ich dich etwas fragen?“ „Aber sicher“, meint sie und hält für mich inne. Nervös streiche ich meinen Rock glatt. „Hat Luka-san schon einmal ein Mädchen zu so einem wichtigen Anlass mitgenommen?“ Rika betrachtet mich einige Zeit „Nein. Du bist die Erste.“ Dann lächelt sie. „Dass du den heutigen Anlass mit ihm teilst, bedeutet meinem Bruder sehr viel. Shizana-san, es ist mir ein Anliegen, dass du ihn heute Abend begleitest. Ich werde euch nicht im Wege stehen. Bitte genieße eure gemeinsame Zeit. Ich wünsche dir einen schönen Aufenthalt.“   Luka und der Direktor stehen noch beim Empfang, als wir zurückkehren. Mein neuer Glanz wird sofort bemerkt und des Lobes befunden, wovon ein Großteil an Rika geht. Ich räume ein, dass sie es verdient. In meiner Handtasche ruht der kleine Spiegel, den sie mir für den restlichen Abend anvertraut hat. Nachdem unsere Namen in einer Liste vermerkt und unsere Mäntel entfernt sind, machen wir uns auf ins Getümmel. Vorbei an etlichen Leuten, dicht beieinander gedrängt und angeregt plaudernd. Irgendwo spielt leise Musik, die kaum zu verstehen ist. Die Luft ist reich an aufdringlichen Düften, von denen einige unangenehm in der Nase stechen. Eine elegant uniformierte Kellnerin verteilt Gläser auf einem Tablett an jeden vorbeigehenden Gast. Ich vermute Champagner darin. Es ist das erste Mal, dass ich dieses spritzige Getränk zu schmecken bekomme. Erinnert mich etwas an Sekt, nur nicht so aufdringlich. Intensiver allerdings, fruchtiger. „Bitte hier entlang. Verzeihung, Verzeihung. Entschuldigen Sie bitte.“ Die Stimme des Direktors dient uns als Lotse. Er ist wirklich flink. Dank seiner Größe findet er jede Lücke zwischen den Menschentrauben, und führt uns zügig voran. Ich halte an Lukas Hand und vertraue, dass sie mich führt. In dieser Menge an Leuten möchte ich ungern verlorengehen. Vermutlich fände ich Luka nie mehr wieder. Dieses Haus ist riesig! Ich habe kaum Zeit, ich vielen Kunstwerke zu bestaunen, die überall an den Wänden zieren. Gelegentlich fällt mir eines ins Auge, und immer scheint es dasselbe Thema zu sein: möglichst süße und aufwendig designte Figuren der unterschiedlichsten Settings und Farben. Ich entdecke unzählige Maids, Prinzessinnen und Kämpferinnen. Selbst die männlichen Figuren, wesentlich rarer vertreten, könnten perfekt als Idols oder Otome-Boys dienen. Ich fühle ich mich mehr auf einer AniManga-Convention, denn auf einer Ausstellung. So hatte ich es nicht erwartet. Wir gehen auf die zweite Etage, an mehreren geöffneten Räumen vorbei. In jedem tummeln sich Gäste, die bewundern und plaudern. Am Ende des Gangs befindet sich ein längerer Saal, den wir betreten. Mittig scharen sich Grüppchen um einzelne Tische. Ringsum sind die Wände mit unzähligen Bildern behangen, jedes gerahmt. Auch hier fällt mir auf, dass Shoujo das Thema zu sein scheint. Wie viele Magical Girls mögen das sein? Dort drüben sehe ich eine Priesterin, gleich nebendran eine Gijinka mit plüschigen Tierohren und Schweif. Eine Blondine in weißem Mini-Kimono erregt meine Aufmerksamkeit. Ist das Jeanne, die Kamikaze-Diebin? Diese Augen, der Stil … Die Ähnlichkeit ist verblüffend! „Hier ist er“, verkündet Oni-dono und wir kommen zum Stehen. Ich mache fast einen Sprung, als ich das Gemälde entdecke, das Mari posend zur Schau stellt. Vor aller Augen, und in beeindruckender Größe. Älter, aber immer noch eindeutig sie. Ich bin so überwältigt wie damals, als Luka sie mir zum ersten Mal zeigte. Und genauso verstehe ich nicht, wie es überhaupt möglich ist. Ich versinke so in Gedanken, dass ich nichts anderes mitbekomme. „Wenn ich vorstellen darf“, höre ich Luka nur deswegen sagen, weil er aus heiteren Himmels meine Hand hebt. Irritiert sehe ich auf und erkenne erst jetzt, dass eine Traube von Leuten sich um uns versammelt hat. Luka haucht einen Kuss auf meine Finger. „Shizana-san, meine Freundin und Muse. Meine Inspiration. Ihr verdanke ich, dass manche der Bilder heute das sind, was Sie hier vor sich sehen. Sie ist meine strengste Kritikerin, in vielerlei Hinsicht. Ihr entgeht einfach nichts.“ Er lächelt mich an. Sein Druck um meine Finger ist zärtlich. Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Ich verneige mich tief, wie es die Etikette verlangt. Dann stellt mir Luka jeden der Herrschaften im Einzelnen vor. Ein Sponsor, ein Händler und zwei Interessenten, wie sich herausstellt. Die Dame ist eine Agentin. Ihr Interesse an mir ist kurzweilig. Verständlich, hier geht es auch nicht um mich, sondern um Luka. Bald sind sie so sehr in Fachthemen verstrickt, dass es mir schwerfällt, den Gesprächen zu folgen. Irgendwann lächle ich nur noch und hoffe, dass es genügt. In kürzester Zeit wächst die Zuhörerschaft. Ich weiß nicht, ob es Lukas Charme oder sein ausführliches Reden ist, das all diese Leute anzieht. Das Gedränge wird so dicht, dass ich meinen Platz an seiner Seite verliere. Ich versuche erst gar nicht, sie zurückzuerobern. Das wäre nicht höflich. Also warte und beobachte ich, während ich an meinem Champagner nippe. Nach zwanzig Minuten wird der Aufruhr nicht kleiner. Mein Glas ist irgendwann leer. Wie es aussieht, kann das hier noch länger gehen. Kein Ende der Gespräche in Sicht. Also gestatte ich mir, mich ein kleinwenig umzusehen. Das ist doch der Sinn einer Ausstellung? Welch eine Schande, dass ich erst jetzt daran denke. Zwischen all den kreativen Kunstwerken erregt eines ganz besonders meine Aufmerksamkeit. Ich bleibe vor dem Bild eines Mädchens stehen und betrachte sie eingehend. Könnte das nicht Miaka aus Fushigi Yuugi sein? In einer ähnlichen Tracht, mit derselben Frisur wie auf dem Cover des Artbooks, das ich besitze. Fehlt nur ein rot glühendes Zeichen auf ihrer Stirn, und sie könnte Suzaku beschwören. Der Stil ähnelt sehr … Ein Zufall? „You Okuda“, sagt eine ältere Frau an meiner Seite. Ich sehe zu ihr und bemerke auf Anhieb, dass sie wohlhabend ist. Der viele Schmuck verrät es. Er wirkt wie ein starker Kontrast zu dem traditionellen Kimono mit dem aufwendigen Obi an ihrem Rücken. Andererseits, was weiß ich schon vom Wert eines Kimono? Wohlmöglich war er teurer, als er aussieht. Sie rümpft sich und rückt die breite, schwarzumrandete Brille zurecht. „Seine Strichführung ist unverkennbar. Welch eine Verschwendung, diese Kunst nur in Büchern zu verwenden. Finden Sie nicht auch?“ Ich nicke und sehe mich um. Niemand sonst steht vor diesem Kunstwerk, und da fällt mir auf: Wo ist meine Gruppe Geblieben? Eben haben sie noch dort drüben gestanden. Wo sind sie nur hin? „Gehört das Bild zu einer Mangareihe?“, frage ich höflich. Parallel suche ich den Saal nach einem bekannten Gesicht ab. Die Dame rümpft sich erneut. „Sie sind also nicht mit seiner Arbeit vertraut. Interessant. Ihnen  hätte ich zugetraut, in diesen Gefilden unterwegs zu sein.“ Gefilde? Was soll das bitte heißen? „Suchen Sie jemanden, Kindchen?“ „Ähm, ja“, raufe ich mich zurecht. Sie muss mich als unhöflich empfinden. „Ich bin in Begleitung hier. Vielleicht kennen Sie ihn, Luka-san.  Er ist ausstellender Künstler hier. Diese Bilder stammen von ihm.“ Ich verweise in entsprechende Richtung. „Oh, ich kenne ihn“, sagt sie. „Jedes Bild ein Klischee, jedoch begabt. Ein junger Mann mit dem Auge fürs Detail. Stets eine saubere Strichführung, starke Farben … Sagen Sie, sind Sie seine Agentin oder seine Freundin?“  „Freundin“, sage ich verblüfft. „Dann nehme ich an, sind Sie ebenfalls in Künstlerkreisen vertreten?“ „Nicht direkt“, entgegne ich zögern. Ihr abschätzender Blick lässt mich ergänzen: „Ich bin Autorin.“ „Ach. So?“ Sie geht ohne ein weiteres Wort. Mich lässt sie einfach so stehen. Jedes Interesse an mir scheint verflogen. Ich bin verwirrt. Nur langsam wird mir bewusst, was hier passiert ist. Die Erkenntnis macht mich wütend. Seit Ewigkeiten wurde ich nicht mehr so sehr beleidigt! Ich stampfe förmlich aus dem Saal. Für jetzt muss ich Luka finden.   Nach einer Stunde gebe ich meine Suche auf. Dieses Haus ist einfach zu groß und menschengefüllt, um eine einzelne Person ausfindig zu machen. Zum ersten Mal wünschte ich, Luka würde seinen verfluchten Mantel tragen. Mit ihm wäre er leicht zu erkennen. Tut er aber nicht, verdammt. Ich kehre an den Ort zurück, wo ich ihn verloren habe. Falls Luka bereits nach mir sucht, wird dies sein erster Ansatzpunkt sein. Das ist nur naheliegend. Ich vertraue darauf, dass er genauso denkt. An einem der Stehtische reserviere ich mir einen Platz mit Sicht auf die Tür. Ich lege meine Tasche vor mir ab und nehme das Handy zur Hand. Keine neue Nachricht. Seit meiner Nachricht an Luka, dass ich ihn suche, hat er nur einmal versucht, mich anzurufen. Das liegt zwanzig Minuten zurück. Erreicht habe ich ihn seitdem nicht mehr. Unruhig nippe ich an einem neuen Getränk. Ich schelte mich selbst dafür, meine einzige Bezugsperson aus den Augen gelassen zu haben. Eine tolle Begleitung bin ich, von einer Freundin ganz zu schweigen. Luka muss enttäuscht von mir sein. Ich wäre es an seiner Stelle. Vielleicht sollte ich jemanden um Hilfe bitten. Luka ist einer der ausstellender Künstler, irgendjemand muss ihn gesehen haben. Immerhin weiß ich, dass er nicht mehr bei der Gruppe von vorhin ist. Ich war dieser Agentin begegnet, doch wo sie Luka gelassen hatte, hatte sie mir nicht sagen können. Wenn sie es nicht wusste, wer dann? Nein, das bringt mich nicht weiter. Ich muss es anders angehen. Ich sende Luka eine Nachricht mit meinem Standpunkt. Dann lege ich das Handy zur Seite und beobachte die Tür.  Früher oder später wird er dort auftauchen und nach mir suchen. Ich muss nur warten. Champagner trinken und warten.   Zehn Minuten vergehen, bis ich Rika entdecke. Mir fällt ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, und ich winke, damit sie mich schneller bemerkt. „Rika-san, Gott sei Dank“, seufze ich und mache ihr Platz. „Ich bin wirklich so froh, dich zu sehen. Wo ist Luka-san?“ „Wir haben deine Nachricht erhalten“, erklärt sie und stellt ihr Glas vor sich ab. „Mein werter Bruder lässt sich entschuldigen. Er wäre gern persönlich zu dir gekommen, jedoch nimmt ihn ein wichtiges Interessentengespräch in Anspruch. Das verstehst du doch sicher?“ „Sicher“, sage ich. Rika ruft eine vorbeigehende Serviererin zu uns, die mein leeres Glas durch ein Frisches ersetzt. „Es tut mir leid, dass ich ihn verloren habe. Ich habe kurz nicht aufgepasst.“ „Das kann passieren“, entgegnet sie verständnisvoller, als ich erwartet hätte. Sie lächelt sogar ein wenig. „Shizana-san, dies ist dein erstes Mal auf einer Veranstaltung wie dieser, nicht wahr? Es bedarf etwas Übung, jemanden in dieser Menschenansammlung nicht zu verlieren. Wenn man noch dazu die Begleitung von jemand wie meinen geliebten Bruder ist … Früher oder später wird man beiseite gedrängt. Es ist schier unmöglich, den Überblick zu behalten.“ „Also ist das normal?“, frage ich hoffnungsvoll. „Wenn man sich nicht durchzusetzen weiß“, sagt sie. Es versetzt mir einen Schlag ins Genick. „Aber mach dir nichts draus. Bislang war immer ich es, die meinen werten Bruder begleitet hat. Doch ich bin zuversichtlich, je mehr Gelegenheit er bekommt, desto besser wird mein Bruder lernen, auf seine Begleitung zu achten. Sei bitte nachsichtig mit ihm.“ Nachsichtig, ich mit ihm? Das muss sie im Scherz meinen. Ich bin es, die ihren Job hier vergeigt hat. Ich hätte mit etwas mehr Vorwurf gerechnet. Wobei …? „Natürlich wäre es das Einfachste für meinen Bruder, wenn er mehr Zeit mit seiner Freundin verbringen könnte“, redet Rika weiter. Dann spricht sie eindringlich. „Shizana-san. Denkst du nicht auch, dass es an der Zeit wäre, in eurer Beziehung den nächsten Schritt zu tun?“ „Welchen nächsten Schritt?“, frage ich. Mir ist nicht wohl bei ihrem Blick. „Liebende sollten ab einem gewissen Punkt in ihrer Beziehung darüber nachdenken, ihren Alltag zu einen“, erklärt sie. Wie beiläufig nimmt sie ihr Glas in die Hand. „Wie du sicherlich weißt, verfügt mein Bruder über ein akzeptables Apartment. Es bietet ausreichend Platz für zwei Personen und alles, was sie benötigen. Wäre es nicht leichter, die Bürde der Kosten miteinander zu teilen? Seien wir ehrlich, dein Verdienst in diesem Café kann dir unmöglich auf Dauer einen Lebensunterhalt sichern. Mein Bruder würde dich unterstützen, im Gegenzug bräuchte er sich nicht länger zu sorgen, wenn er das nächste Mal beruflich die Stadt verlässt. Ich sehe nichts, was dem entgegenstünde.“ Ich sehe sie an, als sei ich vom Blitz getroffen. „Zusammenziehen, Luka und ich? Das wäre viel zu früh! Wir sind doch erst …“ „Zwei Monate zusammen“, ergänzt sie. Beiläufig nippt sie an ihrem Champagner. „Nicht wahr? Es sind schon zwei Monate. Findest du nicht, dass es genug Zeit ist?“  „Nein“, widerspreche ich gefasst. „In dieser Zeit hatten wir nur wenige Dates. Wir haben uns ein paarmal gesehen, waren zusammen unterwegs – das war’s. Ich würde nicht sagen, dass wir uns gut genug kennen. Wir haben uns ja noch nicht einmal richtig ge…!“ Ich stoppe mich im letzten Moment und presse die Lippen zusammen. Meine Ohren beginnen zu glühen. Bestimmt weiß Rika ohnehin bestens Bescheid, dennoch möchte ich mir diese Blöße nicht geben. Diese Themen gehen sie nun wirklich nichts an. Sie besieht mich in aller Ruhe, studiert mein Gesicht. „Ich verstehe deine Argumente nicht“, sagt sie schließlich und spricht sehr betont. Plötzlich wirkt das Gespräch recht unterkühlt. „Sag, gelten dieselben Bedingungen für deine derzeitige Wohnsituation? Mit diesem Landstreicher, Ukyo. Ich muss sagen, dein Verhältnis zu ihm schickt sich nicht sonderlich.“ Mir schleicht der Schock in alle Glieder. Mein Rücken fühlt sich unangenehm steif an. Wie kann es sein, dass Rika das weiß? Und wenn dem so ist, wie steht es um Luka? Im Meido wusste es niemand, mit Ausnahme von Waka, das weiß ich gewiss. Selbst Ikki schien überrascht, Ukyo vor meinem Haus zu sehen. Wieso muss ausgerechnet Rika es sein, die uns ertappt? „Wenn ich dir einen wohlmeinenden Rat geben darf“, fährt sie indes fort, „dieser Mann tut niemandem wohl. Er ist für nichts und niemanden gut. Vertrau mir, er übt einen schlechten Einfluss auf die aus, denen er nah kommt. Wir wollen doch nicht, dass er noch eine Beziehung zerstört?“ Beziehung zerstört, wovon spricht sie da nur? Hält sie Ukyo für das Aus zwischen Ikki und Hanna verantwortlich? Das ist doch absurd! Mir schießt das Blut in die Ohren. In meinen Schläfen pulsiert es. Meine Wangen brennen so heiß, dass Eis keine Linderung brächte. Ich will explodieren, ihr so richtig die Meinung geigen, doch mit Wut erreiche ich gar nichts. Ich ermahne mich, ruhig zu bleiben. Erst als sich mein Pulsschlag normalisiert, spreche ich deutlich: „Zum Ersten: Ukyo ist kein Landstreicher, er ist Fotograf. Zum Zweiten: Er ist nicht irgendwer, sondern mein bester Freund in dieser Welt, dem ich mein Leben verdanke. Im wörtlichen Sinne. Mehrfach. Und mit der Trennung von Hanna und Ikki hat er nichts zu tun. Ich bin mir sicher, dass du das weißt. Du bist doch mit Ikki-san vertraut, oder nicht?“ Rika sagt nichts. Ihre Mimik wirkt finster, doch sie erhebt kein einziges Wort. Ich kann förmlich spüren, wie frostig unser Verhältnis mit einem Mal ist. „Du wirst meinen Rat demnach nicht befolgen?“, fragt sie. „Ich werde mich nicht dafür rechtfertigen“, sage ich. „Und mein Bruder?“ Ich ziehe die Luft ein und überlege mir meine nächsten Worte genau. „Mit Verlaub, Rika-san. Das ist eine Sache zwischen Luka und mir.“ Kapitel 30: Ein bisschen zu viel -------------------------------- Ich frage mich, wie wahrscheinlich dieses Szenario ist: Rika und ich auf der Damentoilette, sie vor mir stehend, ihr Gesicht dicht vor meinem. Zu dicht! Ihre langen Finger werkeln kundig an meinen Haaren, meiner Kleidung, meinem Mund. Absolut absurd! Sie verliert kein Wort zu viel dabei. Seit unserem Gespräch in der großen Kunsthalle ist unser Verhältnis deutlich heruntergekühlt. Ich weiche ihren Augen aus, die bis in mein Inneres zu dringen versuchen. Zumindest erscheint es mir so. Hätte dieses verdammte Gespräch nur nie stattgefunden! Ihre Worte wollen mir nicht aus dem Kopf. Ich und Luka zusammenziehen … Und was sie da über Ukyo gesagt hat. Ich weiß nicht, ob ich ihr das jemals verzeihen werde. Ihn der Trennung von Ikki und Hanna zu bezichtigen … Wie kommt sie nur auf eine so abstruse Idee?! Rika klappt das Make-up-Döschen zu und tritt von mir zurück. Schnell sammelt sie all ihr Verschönerungswerkzeug ein und verstaut es in ihrer winzigen Tasche. Ich frage mich, ob Magie dahintersteckt. Wie kann man so viel Zeug auf so wenig Raum verstauen? „Gehen wir“, bestimmt sie und sieht mich abwartend an. Mir scheint, dass sie nicht willens ist, mich nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Ich nicke stumm und verkneife den Drang, mir an die Haare zu fassen. Ein Blick in den großen, goldumrahmten Kunstspiegel vor mir zeigt, dass Rika einmal mehr ganze Arbeit geleistet hat. Nicht ein Härchen steht unfolgsam ab, meine Haut und Augen strahlen so frisch wie just poliert. Da ist doch Hexerei im Spiel! Wieso kann ich nicht dasselbe bewirken, wenn ich Hand an mich lege? Ich verfluche mein perfektes Spiegelbild, straffe den Rücken und murmel ein leises Danke, als ich an Rika vorbei durch die Tür trete.   „Wir sollten zurückkehren“, meint Rika neben mir, ihren Blick auf ihr Mobiltelefon gerichtet. Die ganze Zeit, die wir schweigend nebeneinander durch die Ausstellungsflure gestreift sind, hat sie nicht einmal ihre Aufmerksamkeit auf eines der Bilder gerichtet. „Mein verehrter Bruder ist von seinen Verpflichtungen entbunden. Er erwartet uns bereits.“ Ich sehe sie prüfend an, doch ihre Miene zeigt keine Regung. Galant verstaut sie das Handy und geht voran, darauf vertrauend, dass ich ihr folge. Sie weiß, dass ich keine Wahl habe. Unter meinem Korsett knurrt mein Magen. Erst da wird mir bewusst, dass ich seit dem Mittag nichts mehr gegessen habe. Das Gyûdon hatte seinen Zweck erfüllt, doch länger vorhalten konnte es nicht. Ich muss etwas essen, und das bald. Wenn nicht, könnte das böse enden. Ich werde launisch bei Hunger. Einen weiteren Zwist mit den Geschwistern kann ich mir wahrlich nicht leisten. Wenn ich wenigstens kurz eine rauchen könnte … Bald erreichen wir jenen Saal, in welchem ich Luka aus dem Blick verloren hatte. Noch bevor ich ihn entdecke, steht er wie aus dem Nichts vor uns und umfasst meine Hände. „Welch ein Glück, du bist unversehrt“, seufzt er und zieht mich an sich. Er umarmt mich so fest, dass ich kaum Luft bekomme. „Es tut mir so leid, ich hätte dich keine Sekunde aus den Augen lassen dürfen. Ich verspreche, von nun an achtsamer zu sein. Ich weiche nicht mehr von deiner Seite, und ich lasse niemanden mehr zwischen uns kommen. Ein zweites Mal verliere ich dich nicht. Ich habe mir solche Sorgen gemacht …“ „Schon gut“, spricht Rika an meiner Stelle. „Dich trifft keine Schuld, verehrter Bruder. Beim ersten Mal ist zu erwarten, dass ein solcher Zwischenfall für Beunruhigung sorgt. Aber Shizana-san hat sich richtig verhalten. Es war leicht, sie ausfindig zu machen und in Geleit zu nehmen.“ Ich zweifle an ihren Worten, die mich besser darstellen, als es der Wahrheit entspricht. Schließlich war ich es, die nicht aufgepasst und sich leichtsinnig entfernt hatte. Wieso kritisiert sie es nicht? Hatte sich unser Verhältnis nicht jüngst unterkühlt? Luka schiebt mich ein Stück zurück, um zu ihr zu sehen. „Danke, Rika. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Ich bin ein furchtbarer Freund …“ „Das stimmt doch nicht, verehrter Bruder“, weist sie lächelnd zurück. „Nehmt euch einen Moment Zeit für euch. Ich bin gleich zurück.“ Rika deutet eine Verbeugung, schon ist sie unter den Leuten verschwunden. „Ich bin wirklich untröstlich“, spricht Luka zu mir. Sein Blick ist gequält, als ich zu ihm sehe. „Wie kann ich das nur je wieder gutmachen? Ich habe versprochen, die ganze Zeit an deiner Seite zu sein. Ich wollte, dass dies ein schöner Abend für dich wird. Eine unvergessliche Erfahrung, die wir als Paar teilen. Ich habe auf ganzer Linie versagt.“ Ich frage mich still, ob er wohl recht hat. Schüttle dann aber den Kopf. „Nein. Wenn, dann habe ich versagt. Es ist dein Abend, und ich bin deine Begleitung. Ich hätte mich nicht blindlings entfernen sollen“, widerspreche ich. „Gefällt es dir wenigstens hier?“, fragt er weicher und lächelt sanftmütig. „Ich hätte dich gern selbst ein wenig umhergeführt und dir alles gezeigt. Hast du schon etwas Interessantes gefunden? Du musst mir alles erzählen, was ich verpasst habe.“ Rika kehrt mit Getränken zurück, gerade als ich Luka von meiner verzweifelten Suche nach ihm berichte. Kein Champagner dieses Mal, trotzdem rieche ich Alkohol. Ich schmecke eine minzige Note, der eine fruchtige Süße folgt. Ich bin so in meiner Erzählung vertieft, dass ich kaum merke, wie ich das Glas mehr und mehr leere, während die Geschwister mir interessiert lauschen. Bald scharen wir um einen der Tische, plaudern und lachen, eine weitere Trinkrunde vor uns.   Mir ist überhaupt nicht wohl, als ich mich auf eine der freistehenden Terrassenbänke sinken lasse. Kalter Stahl brennt durch meinen Stoff, so kommt es mir vor. Mein Kopf fühlt sich an wie auf Eis serviert, als kühler Wind meine glühenden Wangen streift. Ich fühle mich elend und weiß, dass ich es übertrieben habe. Das war zu viel Alkohol auf nüchternem Magen, vielleicht generell einfach zu viel. Hätte ich doch nur die Finger von dem letzten Shot gelassen … Luka stützt mich von der Seite. Selbst als ich längst sitze, lässt er nur zögerlich von mir ab. „Warte hier einen Moment, ich werde Rika suchen“, meint er zu mir. Zärtlich streicht er mir über das Haar. „Die frische Luft wird dir guttun. Ich bin sofort wieder da.“ Ich seufze wohltuend, als mir endlich bewusst wird, dass ich unter freiem Himmel bin. Hier draußen ist es wesentlich ruhiger als irgendwo sonst in dem riesigen Haus. Zum ersten Mal habe ich etwas Freiraum und einen Moment für mich. Ich lehne zurück und strecke die Beine weit aus, das Gewicht der Plateaus von mir stoßend. Wie spät es wohl ist? Wir müssen seit Stunden auf dieser Veranstaltung sein. Ich merke, wie ich allmählich müde werde. Oder ist das der Alkohol? Ich hebe das winzige Täschchen auf meinen Schoß und suche mein Handy hervor. Auf dem Display erkenne ich zwei neue Nachrichten. Die Erste stammt von Ukyo. Er erkundigt sich darin, ob alles okay sei. Ich bestätige dies und gehe in die zweite Nachricht hinein. Sie ist von Ikki. »Und, wie ist die Ausstellung? Hast du Spaß? Ich wünschte, ich könnte dort sein«, schreibt er. Ikki. Für einen Moment sehe ich ihn vor mir. Er würde sich wunderbar auf solch einer Veranstaltung machen. Bestimmt wäre sie lustiger, wenn er dabei wäre. Aber wäre das klug bei den vielen Frauen, die hier unterwegs sind? Könnte er sich da amüsieren? Wieso habe ich das Gefühl, ihn zu vermissen? Ich antworte ihm, dass alles okay sei und ich ihm alles erzähle, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Kaum dass ich meine Nachricht versendet habe, kehrt Luka an meine Seite zurück – mit Rika im Gepäck. „Es ist vielleicht besser, wenn ihr jetzt geht“, meint Rika, nachdem sie mich kurzweilig betrachtet hat. „Shizana-san sieht äußerst erschöpft aus. Solch eine Veranstaltung kann sehr anstrengend sein für jemanden, der sie nicht gewohnt ist. Nur keine Sorge, ich kümmere mich um alles vor Ort.“ „Danke, Rika“, nickt Luka ihr zu. Dann setzt er sich neben mich und nimmt meine kühlen Hände wärmend in seine. „Sie hat recht, lass uns gehen. Du musst müde sein.“ „Nur ’n wenig erschöpft“, nuschle ich und unterdrücke ein Gähnen. „Ich würd‘ jetz‘ so gern eine rauchen. Oder zumin’est was essen.“ „Das ist keine so schlechte Idee“, merkt Rika an. „Ihr solltet auf dem Weg nach draußen beim Buffet kurz Halt machen. Soweit ich es weiß, hat Shizana-san noch nichts Nahrhaftes zu sich genommen, seit wir hier sind.“ „Ist das wahr?“, fragt Luka schockiert, dann spricht er mitfühlend. „Kein Wunder, dass du so erschöpft bist. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Warum hast du mir nichts gesagt, Dummchen?“ Ich lasse mir aufhelfen und an Lukas Hand durch einige Flure führen. Im Erdgeschoss kehren wir in einen Saal, der von Menschen geradezu überfüllt ist. Schnell wird klar, weshalb: Sämtliche Tische, ringsum des Raumes, sind mit Speisen aufgebahrt. Ich sehe Platten, Schüsseln, mehrstöckige Etageren … alles mit einer Auswahl an Leckereien versehen, die ich auf den ersten Blick kaum alle erfassen kann. Luka flüstert mir zu, dass es okay ist, wenn ich mich bediene. Ich darf so viel essen, wie ich mag. Dann führt er mich an den Tischen vorbei, sodass ich einen ersten Eindruck gewinnen kann. Ich bewaffne mich mit Tablett und Geschirr. Mein Magen jubiliert so laut, dass mir fast egal ist, was ich auf den Teller lege. Ich versuche, verschiedene Dinge zu wählen, von kleinen Schnittchen zu gebackenen Röllchen und einem Schälchen voll Pudding. Lukas Auswahl fällt bescheidener aus, und gemeinsam suchen wir einen freien Tisch, der keine Sitzgelegenheit bietet. Egal. Ich bin so hungrig, dass ich die kunstvoll drapierten Leckereien einfach nur verschlingen will.   Später stehen wir im Foyer und warten, dass uns unsere Mäntel gereicht werden. In meiner Hand halte ich das unzähligste Glas Champagner, das man mir zur Überbrückung der Zeit serviert hat. Ich habe kaum daran genippt. Der Shot, den ich mir beim Verlassen des Speisesaals aufdrücken ließ, hat meinen gerade abbauenden Pegel schon wieder immens steigen lassen. Wenn ich nur einen weiteren Schluck Alkohol nehme, das garantiere ich, kotze ich in den nächstverfügbaren Kübel. Ich feiere den Moment, als wir endlich das Haus verlassen. Die kühle Nachtluft fängt mich auf und vertreibt den zunehmenden Nebel in meinem Kopf. Es fällt mir schwer, die vielen Stufen sicher zu nehmen, ohne mir auf wankenden Plateausohlen das Genick zu brechen. „Es ist alles erledigt“, höre ich Rika von irgendwoher sagen, mehr durch Watte gepresst denn klar in meinem Ohr. Ich hebe den Kopf und sehe sie neben uns stehen, die Konturen ein wenig verschwommen, wie im Fokus verstellt. „Die wichtigsten Personen sind über deine Abwesenheit informiert. Eurer Abreise steht nichts im Wege.“ „Ich danke dir, Rika.“ „Nicht doch“, weist sie zurück und richtet ihren Blick auf mich. „Es war ein langer Abend für sie. Sie sollte sich ausruhen.“ „Was ist mit dir? Lass mich dich zu Hause absetzen.“ „Nicht nötig“, lehnt sie ab. „Ich habe bereits jemanden, der meine Heimreise absichert. Du brauchst dich um mich nicht zu sorgen.“ „Wen hast du gefragt?“ „Eine gute Freundin. Sie wird jeden Moment hier sein.“ Ich beobachte aus glasiger Sicht, wie Luka Rikas Hände an seine Lippen führt. Er bedankt sich für all ihre Mühen und belobigt, dass sie die tollste Schwester der Welt sei. Ich blende ihr Liebesspiel aus, selbst betrunken ist dieses Gesülze kaum zu ertragen. Erst als ich Rikas Hände um meine spüre, sehe ich zu ihr auf. „Denk über mein Angebot nach“, raunt sie mir zu, süßlich und starr wie gefrorenes Eis. Ihr goldener Blick versagt mir zu atmen. „Worüber sprecht ihr?“ „Nichts von Belang.“ Rika lächelt mir zu, dann lässt sie mich los und enthebt ihren Bann. „Ich bin ohne Sorge, dass ihr gut aufeinander Acht geben werdet. Ich wünsche euch noch viel Spaß heute Abend, und eine sichere Fahrt.“   Luka öffnet die Tür und ich lasse mich auf den Beifahrersitz gleiten. Die Geschwister reden noch kurz, in der Zeit fällt mir ein, dass ich Ukyo Bescheid geben sollte. Ich hole mein Handy hervor und verfasse eine Nachricht, die ihn über meinen Aufbruch in Kenntnis setzt. Kaum dass ich es wieder verstaut habe, steigt Luka in den Wagen. „Schnall dich bitte an“, weist er mich an und startet den Motor. Ich komme dem nach und atme innerlich auf, als wir endlich vom Parkplatz zurücksetzen. „Du kannst die Augen ruhig schließen“, meint er, als wir das Grundstück der Ausstellung verlassen haben. „Ruh dich aus. Wenn du müde bist, schlaf ein wenig, bis wir angekommen sind. Ich wecke dich dann.“ Ich grummle widerstrebend, drehe mich aber halb auf die Seite und bette mich in den stützenden Gurt. Meine Wangen glühen vom Alkohol, und mein Kopf fühlt sich schwer an. Ein paar Minuten können nicht schaden. Ich seufze wohlig gegen duftendes Leder, im nächsten Moment trägt mich das sanfte Wiegen der Straßen davon.   Als Luka mich weckt, stehen wir längst. Ich reibe meine Augen, trocken und trüb von den Kontaktlinsen. Dankbar lasse ich mir von Luka aus dem Sitz helfen, strecke meine Glieder durch. Frierend an der frischen Abendluft lasse ich meinen Blick schweifen, bis die Erkenntnis schleichend mein Bewusstsein erreicht: „Hier wohn‘ ich nicht.“ „Ich weiß“, sagt Luka und wirft den Kofferraum zu. „Du übernachtest bei mir. Ich kann dich in deinem Zustand nicht alleine lassen. Das wäre unverantwortlich als dein Freund.“ „Wieso?“, frage ich bedröppelt. Luka ergreift meine Hand und führt mich behutsam, auf meinen wackeligen Gang Rücksicht nehmend, hinüber zum Wohnhaus. „Wenn dir bei dir zu Hause etwas zustieße, könnte ich mir das nicht verzeihen“, erklärt er beim Aufschließen der Haustür. „Ich trage schließlich Verantwortung für dich. Und es ist nicht gering meine Schuld, dass du in diesem schlechten Zustand bist.“ Da hat er nicht ganz unrecht. Gemeinsam betreten wir den Fahrstuhl, und Luka lässt mich als Erstes in die Wohnung hinein. In einer höflichen Geste hebt er mir den Mantel von den Schultern, doch für mich fühlt es sich an, als würde ich meines Schutzes beraubt. „Du kannst dich ganz wie zu Hause fühlen“, erklärt er und weist mich höflich ins Wohnzimmer. „Was immer du brauchst, sag es mir nur. Sofern ich es ermöglichen kann, soll es dir an nichts fehlen. Möchtest du etwas trinken?“ „Limo?“, sage ich. „Oder Wasser geht auch. Nur nichts … Alkoholisches mehr.“ „Das hätte ich dir ohnehin verweigert“, erwidert er streng. Etwas zerstreut bleibt er neben mir stehen, bis er hinüber zur Couch geht und einige Kissen sortiert. „Bitte entschuldige die Unordnung. Hier, setz dich her. Ruh dich ein wenig aus. Ich hole uns derweil etwas zu trinken.“ „Nur keine Umstände“, rufe ich ihm nach. Mein wabernder Blick streift durch den Raum, die vielen Kunstwerke und Fotos entlang, welche ich bereits kenne. Es scheint mir erst gestern gewesen zu sein, dass ich in diesem Raum saß. Auf exakt diesem Platz. Erst neulich als Luka mich fragte, ob ich mit ihm auf eine Ausstellung gehe. Eben jene, von der wir soeben gekommen sind. Schon seltsam … Luka kehrt wenig später zurück und reicht mir ein Glas mit Orangenlimo darin. Ich bedanke mich und weiche unnötig zurück, als er sich an meine Seite gesellt. In dem beklommenen Schweigen frage ich mich, was ich hier mache. Ich sollte jetzt zu Hause sein, bei Ukyo und … Ukyo, oh mein Gott! Er weiß noch gar nichts hiervon. Ich muss ihm Bescheid sagen, jetzt gleich! Ich hab’s ihm versprochen! Ich lege mir gerade einen Satz bereit, um mich für die Toilette davonzustehlen, als mir Luka zuvorkommt. „Danke für heute“, meint er sanft und nimmt meine Hand. „Ich kann kaum in Worte fassen, was es mir bedeutet, dass du heute bei mir warst. Und auch wenn der Abend nicht so verlaufen ist, wie ich ihn geplant hatte, so hoffe ich doch, dass du  deine Zeit genießen konntest.“ „Es war sehr interessant“, sage ich ehrlich. „Etwas seltsam zum Teil, nich‘ so ganz wie erwartet. Aber doch int‘ressant. Ich hätte dir nur nich‘ verlor‘ngehen dürf’n … Aber ich bereue auf jeden Fall nicht, mitgekommen zu sein!“ „Da bin ich erleichtert“, lächelt er. „Wie war’s bei dir?“, frage ich und sehe ihn an. „Wir haben uns ja ’ne Zeitlang nich‘ geseh’n. Hat sich etwas Gutes ergeben?“ Er lächelt durch mein Interesse ermutigt. „In der Tat. Ich hatte ein vielversprechendes Gespräch mit einem neuen Sponsor. Er ist möglicherweise an einer Zusammenarbeit interessiert. Die Details werden wir morgen besprechen, nach der Auktion.“ „Das freut mich“, sage ich. „Dann werde ich dir morgen auf jed’n Fall ganz fest die Daum‘n drücken! ‘s ist sicher nich‘ leicht, sich gegen so viel Konkurrenz durchzusetzen. Als Künstler hat man’s wirklich nich‘ leicht.“ „Das weißt du am besten“, erwidert er mild. Zärtlich streicht sein Daumen über meine Finger. „Ich kann mich glücklich schätzen. Niemand scheint mein Innerstes besser zu verstehen als du. Rika ausgenommen.“ „Ja, Rika ausgenommen“, brumme ich und sehe zur Seite. Ich verkneife mir zudem zu erwähnen, dass ich seine Meinung bezweifle. „Abwarten.“ Etwas kitzelt mein Ohr und ich fahre erschrocken herum. Es verschlägt mir den Atem, als ich Lukas Gesicht direkt vor meinem sehe. Uns trennt vielleicht eine Nasenlänge. Grüne Augen fangen mich ein, besehen mich wachsam. Ich halte die Luft an und zucke zusammen, als ich aus dem Seitenblickwinkel bemerke, wie Luka die Hand hebt. „Ich richte das Bad für dich her“, höre ich ihn leise sagen. Ich spüre, wie er sich von meiner Seite entfernt, und als ich die Augen wieder öffne – wann hatte ich sie geschlossen? – ist er nicht mehr bei mir. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich verstehe nicht, was da gerade passiert ist. Was wäre als Nächstes gekommen, wenn Luka nicht … Nein, so etwas will ich nicht denken! Vehement schüttle ich den Kopf. Meine Wangen glühen unter meinen zitternden Händen. Das muss der Alkohol sein. Ja, genau! Das ist die Erklärung für alles. Warum sonst sollte ich zulassen, dass ich jetzt hier bin? In Lukas Wohnung. Im Begriff, bei ihm zu übernachten. Nichts hat sich an meinem Standpunkt geändert. Da fällt mir wieder ein, was ich eigentlich vorhatte. Jetzt bietet sich mir die Gelegenheit! Wo war mein Handy noch gleich? … Richtig, in meiner Tasche, im Flur. Bei der Gelegenheit könnte ich mich auch gleich meiner Stiefel entledigen. Wieso hat Luka mich nicht längst darauf hingewiesen? Ich verhalte mich unhöflich, in allen Punkten einfach unmöglich.   „Das Bad wäre dann fertig. Ich habe dir ein sauberes Handtuch bereitgelegt und wenn du kurz mitkommst, erkläre ich dir … Wo bist du?“ „Komme“, rufe ich und eile zu ihm. Luka besieht mich verwirrt, erst fragend, dann sichtlich verdutzt. „Was ist?“, hake ich nach. „Du bist … so klein.“ „Hey!“, empöre ich mich und plustere die Backen. „Ich bin nich‘ klein, ich bin normalgroß! Und ich bin auch nich‘ geschrumpft, ich trag‘ nur keine Schuhe mehr.“ „Ach, stimmt ja“, erkennt er und lacht. „Tut mir leid, die letzten Stunden haben wohl einen falschen Eindruck auf mich hinterlassen. Aber wenn ich es sagen darf, du gefällst mir so besser.“ Luka macht einen Schritt auf mich zu, fasst meine Hüften und zieht mich zu sich heran. Ich spüre sein Gesicht an meinem Schopf. „Viel Besser“, flüstert er in mein Haar. Im ersten Reflex will ich mich wehren, mich mit ganzer Kraft gegen ihn stemmen. Aber etwas an Luka hält mich zurück. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Zwinge mich, ruhiger zu werden. Und da wird es mir klar: Es ist sein Duft. Nachklänge des Abends haften an Luka, einem Gemisch aus Parfum, Champagner und Rauch. Nie wieder werde ich diese Kombination mit etwas anderem verbinden als diesem Abend, den wir gemeinsam auf der Ausstellung verbracht haben. Trotz aller Unannehmlichkeiten wünsche ich mir, mich immer daran zu erinnern. Selbst dann noch, wenn ich eines Tages in meine Welt zurückgekehrt sein mag. Ich strecke meine Nase diesen Gerüchen entgegen, folge der Fährte auf warmer Haut. Ich suche auf ihr nach etwas Bekanntem, einer bestimmten Note gezeichnet von Opium und Farbe. Es ist ein Duft, den ich ganz unverkennbar Luka zuordne. Einer, der nur zu ihm gehören kann. Und der mir, irgendwann und irgendwie, doch sehr vertraut geworden ist. Dieser Gedanke rüttelt mich auf, und Panik steigt in mir hoch. Ich presse die Hände nach vorn und erringe mir Abstand. „Ich … sollte ins Bad“, stammle ich, ohne ihn anzusehen. Auf einmal fühle ich mich schrecklich befangen. Luka wirkt irritiert, doch er sieht davon ab, mir unangenehme Fragen zu stellen. Stattdessen führt er mich ins Badezimmer, wo er mir alles zeigt und erklärt. Ich folge dem brav, ohne richtig zuzuhören. „Ich habe dir etwas zum Anziehen herausgesucht“, fügt er seinen Unterweisungen an, was mich aufhorchen lässt. „Es sollte dir passen. Wenn du sonst etwas brauchst, ruf nach mir.“ „Was ist mit meinen Klamotten?“ „Ich ging nicht davon aus, dass du an etwas gedacht hast, das sich zum Übernachten eignet“, erklärt er. „Dass du über Nacht bleibst, war so nicht geplant. Selbst ich habe damit nicht gerechnet. Es ist eine unerwartete Fügung. Aber solltest du doch, das würde bedeuten …“ Luka besieht mich aus leuchtenden Augen. In meine Wangen schleicht sich ein Kribbeln. Ich weiche ihm aus und drehe das Gesicht zur Seite. Natürlich hatte ich eine solche Entwicklung nicht in Erwägung gezogen, wie könnte ich auch? Ich will etwas sagen, doch bringe kein Wort heraus. Luka lächelt versöhnlich, bevor er das Zimmer verlässt. Er legt mir ans Herz, dass ich mir Zeit nehmen kann. Schon bleibe ich allein zurück.  Verloren stehe ich da, unschlüssig, was ich tun soll. Der Gedanke, mich jetzt zu entkleiden, mich in Lukas Wohnung zu duschen … Aber habe ich groß eine Wahl? Luka wird seine Meinung nicht ändern, und ich will mich nicht stinkend in fremde Betten begeben. Seufzend ergebe ich mich meinem Schicksal und beginne, mich aus den Stoffen zu schälen. – Bis ich vor einer Herausforderung stehe. „Ähm … Luka?“, rufe ich schüchtern, halb aus dem Türrahmen gelehnt. Mein Gesicht glüht gleichermaßen vor Wut und Scham. „Ich … brauch‘ deine Hilfe. Ich krieg‘ dieses verdammte Kleid nicht auf.“ Es dauert nicht lang, da sehe ich Luka aus dem Wohnzimmer eilen. Seinem fragenden Blick weiche ich aus, indem ich mich kommentarlos herumdrehe. Es genügt, damit Luka meine Misslage erkennt. „Halt kurz still“, schmunzelt er sanft, und ich will am liebsten im Boden versinken. Nur einen Atemzug später spüre ich, wie das Korsett seine Beengung verliert. Schließlich löst sich das straffe Gefühl um meinen Bauch und ich wage, zum ersten Mal seit unzähligen Stunden, frei durchzuatmen. „Danke“, seufze ich und drehe mich zu Luka herum. Ich halte an meinem Kleid, das locker auf meinen Schultern liegt. „Keine Ursache.“ Luka sieht mir nicht ins Gesicht. Er wirkt irgendwie nachdenklich auf mich, doch wieso? „Ich … gehe dann mal“, sage ich gepresst, als ich endlich verstehe. Noch einmal bedanke ich mich, schon flüchte ich mich ins Bad. Von drinnen lehne ich gegen die Tür und zwinge mich, mich zu beruhigen. In meinem Kopf drehen sich die Gedanken. Was ist nur mit mir los? Seit wann reagiere ich derart auf Luka? Das ist doch absurd. Ich kann das auf keinen Fall zulassen! Ich werfe einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Dann beginne ich, mich zu entkleiden. Ich fühle mich mir auf einmal so fremd.   Nach meiner Dusche fühle ich mich ein klein wenig klarer. Ich habe mich meines Restalkohols zudem entledigt, was zwar nicht schön, dafür umso notwendiger war. Im Großen und Ganzen kann man das als einen Fortschritt verbuchen? „Luka, wo sind meine Sachen? Ich brauch‘ meine Brille. Ich kann schlecht mit Kontaktlinsen schlafen“, rufe ich in den Flur. Auf nackten Füßen tapse ich hinüber ins Wohnzimmer, wo ich Luka vermute. Meine Hände liegen am Saum des weißen Hemdes, das er mir geliehen hat. Es reicht mir bis knapp über den Hintern. Ich werde aufpassen müssen, nicht meine Rückseite zu zeigen, von Sitzen oder Bücken ganz zu schweigen. Von Behaglichkeit kann wahrlich keine Rede sein. „Ich habe deine Tasche ins Schlafzimmer gestellt“, ruft er zurück. „Sekunde, ich hole sie dir.“ Im Durchgang zum Wohnzimmer laufen wir uns entgegen. Luka kommt vor mir zum Stehen, betrachtet mich eingehend. „Das … ist wirklich bezaubernd.“ Anzweifelnd hebe ich eine Braue. „Was bitte ist daran bezaubernd?“ „Dieser Anblick ist wirklich sehr … inspirierend. Wahrhaft, jetzt siehst du aus wie meine Freundin.“ Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, frage aber auch nicht. Ich will es vermutlich nicht wissen. Dennoch ist es mir peinlich, und ich weiche seiner Musterung aus. Luka räuspert sich verlegen. „Also … ach ja, deine Tasche. Ich hole sie dir. Oder willst du mitkommen? Nein, ich hole sie dir. Sag mir, was du brauchst.“ „Meine Brille. Und mein Döschen für die Kontaktlinsen. Ach, und meine Bürste. Warte, lass mich einfach mitkommen. Das geht schneller.“ Außerdem ist mir der Gedanke unangenehm, dass er in meinen Sachen wühlt. Gemeinsam gehen wir ins Schlafzimmer und ich raufe meine Sachen zusammen. Ich vermeide, einen Blick auf das Bett zu werfen, in dem ich vermutlich schlafen werde. Allein der Gedanke bringt meinen Herzschlag ins Stolpern. Zurück im Badezimmer tausche ich meine Kontaktlinsen aus. Endlich erkenne ich mich wieder im Spiegel, und vermisse gleichzeitig das perfekte Trugbild, das Rika mit ein wenig Make-up geschaffen hatte. Geistesabwesend bürste ich mein Haar, noch feucht von der Wäsche. Ich streiche es durch, wieder und wieder, und frage mich bei jedem Mal, was ich hier nur mache. „Sag mal“, stehe ich wenig später wieder vor Luka. In der etwas beengten, dafür hell erleuchteten Küche bereitet er Tee zum Ausklang des Abends. „Hast du nicht noch etwas anderes zum Anziehen da? Eine Hose, zum Beispiel? Das Hemd ist doch etwas … kurz.“ Luka hält für einen Moment inne, dreht sich mir zu und mustert mich im Gesamten. „Hm, sicher“, meint er, eine Hand nachdenklich an seinem Kinn. „Aber ich bezweifle, dass dir eine davon passt.“ „Ach, komm schon“, flehe ich. „Du wirst doch wohl irgendwas dahaben? Eine Jogginghose vielleicht? Oder irgendwas anderes, in dem man bequem schlafen kann? Ich weiß nicht, wie man diese schlabberigen Dinger nennt.“ Luka besieht mich anzweifelnd. „Tut mir leid.“ „Ach, komm schon!“, werde ich quengelig. „Du musst doch irgendetwas im Schrank haben! Rennst du etwa immer in strengen Hosen herum? Wie steht es um ’nen Pyjama? Oder wenigstens einen langen Pullover? Irgendetwas in dieser Art?“ Er schüttelt entschuldigend den Kopf und ich seufze entkräftet. „In was schläfst du überhaupt?“, entkommt es mir. Schlagartig schießen mir allerlei Vorstellungen in den Kopf. „Es ist süß, wie du dich genierst“, meint er und zieht mich an sich. Ich spüre, wie er einen Kuss auf meine Haare platziert. „Aber das brauchst du nicht. Ich verspreche, ich werde nichts tun. Ich versuche nichts, worum du mich nicht bittest.“ Er bietet mir dennoch an, etwas zu suchen, das ich mir überwerfen oder umbinden kann. Dankend nehme ich die Tasse Tee entgegen, die er mir reicht. Er duftet herrlich nach Zitrone und Kräutern. „Was kann ich noch tun, damit du dich wohler um mich herum fühlst?“ Gemeinsam lümmeln wir uns auf die runde Couch im Wohnbereich. Luka reicht mir eine Decke, die ich mir um den ganzen Körper wickle. Sie fühlt sich angenehm weich an. Der Tee wärmt meine ausgekühlten Hände. „Erzähl mir irgendwas“, sage ich und puste gegen den Rand meiner Tasse. Luka lacht neben mir. „Irgendwas? Ich wüsste nicht, was dich nicht langweilt.“ „Dann erzähl mir etwas aus deiner Kindheit.“ Lukas Ausdruck wird finster. „Da gibt es nichts zu erzählen. Nichts, das erfreulich wäre in irgendeinem Belang.“ Ach, stimmt. Da war ja was … Still nenne ich mich einen Trampel und beiße mir auf die Lippe. „Ist okay. Dann … erzähl mir, wie du zur Kunst kamst. Wann hat das angefangen? Was hat dich dazu gebracht, dass du Maler wurdest?“ Dieses Thema scheint Luka eher zu behagen. Anfangs noch zögerlich beginnt er zu erzählen. Er berichtet von anfänglichen Freuden, seinen jüngsten Erfolgen, und wie das Malen mehr und mehr Teil von ihm wurde. Ein sehr wichtiger, untrennbarer Teil seines Lebens. Ähnlich wie bei mir das Schreiben. Ich höre ihm zu und trinke an meinem Tee, der seine beruhigende Wirkung auf mich verübt.   Irgendwann bin ich weggenickt. Ich merke es erst, als ein sanftes Ruckeln an meiner Schulter mich weckt. „Hey“, säuselt Lukas Stimme an meinem Ohr. „Wollen wir nicht langsam zu Bett? Es ist schon spät. Du bist vollkommen erschöpft.“ Schwerfällig weiche ich von Lukas Seite, setze mich auf und blinzle gegen das Licht. Ich gähne und reibe meine Augen, die müde und schwer sind. Mir ist plötzlich so kalt. Wieso hatte ich nicht einfach weiterschlafen können? Gemütlich und warm an Luka gekuschelt … „Na komm“, meint Luka zärtlich, richtet sich auf und reicht mir die Hand. Blind taste ich nach meiner Brille, die nicht mehr sitzt, wo sie eigentlich sollte. Erst als ich sie habe, lasse ich mir aufhelfen und erlaube, dass Luka mir die flauschige Decke um meine Schultern legt. An der Hand führt er mich ins Nebenzimmer, direkt an das Bett heran. Ohne sein Zutun lasse ich mich fallen, mir die Kuscheldecke entfernen und durch eine schwerere Zudecke ersetzen. Zufrieden seufzend grabe ich mich in die Kissen hinein. Ich bin so müde, dass ich nur noch schlafen will. „Falls du in der Nacht irgendetwas brauchst, ich bin direkt nebenan“, flüstert Luka über mir sanft. „Ich lasse die Tür einen Spalt offen. Ruf nach mir, wenn etwas ist. Egal, was es ist. In Ordnung?“ „Mhh“, murmle ich schläfrig. Entfernt spüre ich, wie jemand zart über mein Haar streicht. „Schlaf gut, schöner Engel.“ Luka wartet noch einen Moment, erst dann höre ich, wie seine Schritte sich leise entfernen. Es wird still. Ich wechsle die Seite und lausche noch einige Zeit, bis ich eingeschlafen bin. Es ist ein tiefer, ruhiger Schlaf. Und ich beginne, zu träumen …   In meinem Traum befinden sich Luka und ich noch auf der Ausstellung. Nein, keine Ausstellung. Eine Gala? Ein Ball? Alles um uns herum wirkt wesentlich edler. Rote, schwere Vorhänge vor hohen Fenstern, vom Boden bis zur Decke reichend. Große, schlichte Gemälde an tapezierten Wänden. Kronleuchter, die über uns schweben. Die ihre diffusen Lichter tanzend über uns werfen, sie über das weite Parkett verteilen. Niemand tanzt hier außer uns. Wir sind die Letzten, die geblieben sind. Dicht beieinander, Schritt bei Schritt, wiegen wir uns zum seichten Takt der Musik. Ein Streichquartett von irgendwoher. Die Arme umeinander gelegt, den Blick ineinander verschränkt. Wir schweben dahin, verlieren kein Wort. Zeit hat keine Bedeutung für uns. Plötzlich hält Luka an, unterbricht unsere Balz. Sein Halt um meine Hand wird fester, die andere um meine Hüfte bestimmt. „Ich liebe dich“, haucht er erregt und zieht mich an sich heran. Zieht mich in einen Kuss, der mir den Atem raubt. Mir wird ganz schwindelig von dem, wie die Welt sich um uns dreht. „Lass uns gehen“, flüstert er an meine Lippen, seine Worte ein süßes Versprechen. Ich lasse mich von ihm von der Tanzfläche führen, in einen Raum, der ganz verdunkelt ist. Durch ein offenes Fenster spielt warmer Wind mit dünnen, durchscheinenden Gardinen. Luka wirft die Tür hinter uns zu, drängt mich tiefer ins Zimmer hinein. Hungrige Küsse fallen über mich her, nehmen mich ganz in Beschlag. Ich ersehne seine Lippen wie ein Dürstender den Regen. Im Rausch unserer Leidenschaft gehen die Kleider zu Boden. Nackte Leiber liebkosen einander, heizen sich auf. Sinken auf weiches Polster. Auf einmal wird mir bewusst, was ich hier tue. Doch ich bin nicht imstande, es zu beenden. Es fühlt sich zu gut an, und ist doch so falsch. Verzweifelt klammere ich an Luka, flüstere seinen Namen mit bebender Stimme. Ich wünsche, mich an seiner Schulter für immer zu verstecken. „Ich bin ja da“, flüstert er leise, doch diese Stimme ist nicht länger die seine. Verwirrt dränge ich mich zurück und halte den Mann vor mir, dessen blaue Augen so gar nicht die von Luka sind. Weißsilbernes Haar fällt um das wohl schönste Gesicht, das ich kenne. Ikkis sanftes Lächeln fängt mich ein, seine Hand fährt zärtlich und warm über meine tränenbenetzte Wange. Ich vergrabe mich in sie hinein. Ich weine, ohne zu wissen, warum. Ikki beugt sich über mich, hält mein Gesicht zwischen den Händen und küsst mich sanft. Jede seiner Berührungen vermag mich ein Stück mehr zu trösten. Ich spüre, wie ich allmählich ruhiger werde. Als ich ihm das nächste Mal begegne, ist sein Blick voll Verständnis und Liebe. Ich weiß, dass es keinen Grund für Zweifel gibt. Ich gebe mich seinem nächsten Kuss ganz hin, genieße die leisen Funken in mir, die er zu einem Feuer entfacht. Ich fühle die aufsteigende Hitze in mir, mein Herz erwartungsvoll rasen. Ikki löst sich von mir, entfernt sich nicht weit. Gespannt verfolge ich, wie er sich über mir positioniert. „Bereit?“, lächelt er mir auffordernd entgegen. Seine Nase in Berührung mit meiner. Ich lächle zurück. Kurz frage ich mich, ob es die Kraft seiner Augen ist, die mich keine Gegenwehr verspüren lässt? Oder bin tatsächlich ich es, die diesem Verlangen unterliegt? Die diesen Mann begehrt, ganz und gar. In dem vollen Bewusstsein, dass es nicht recht ist? Magie ja oder nein, Vernunft hin oder her. Das alles spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich umschließe seinen Nacken und lasse es geschehen. Kapitel 31: Herz gegen Verstand ------------------------------- Der Duft frisch gebrühten Kaffees, der durch die offene Tür in das Zimmer strömt, kitzelt mich aus meinem Schlaf. Ich bleibe noch einige Zeit liegen, bis ich vernehme, wie es irgendwo klappert und klirrt. Klingt nach Geschirr. Müde grummle ich, drehe mich herum und ziehe die Decke über mich. Stille kehrt ein, dann geht das Geklimper von Neuem los. Langsam setze ich mich auf, reibe meine Augen und gähne in die Hand. Ich blinzle verschlafen ins Nichts. Wie spät ist es? Nur langsam nehme ich mein Umfeld wahr. Das vollständig möblierte Zimmer. Die vielen Farben an den Wänden, vor dem Fenster, sogar auf dem Boden und auf der mir aufliegenden Bettdecke. Das hier ist definitiv nicht mein Zimmer, und gerade kehren meine Erinnerungen an den letzten Abend zurück. Ich finde keine Uhr, keinen Wecker in der Nähe, und mein Handy scheine ich auch nicht in greifbarer Nähe zu haben. Während ich überlege, wo ich es zuletzt gesehen habe, steige ich aus dem Bett – und werde von einem Laster in meinem Kopf überrollt. Argh, Mist! Damit hätte ich rechnen müssen … Eine Hand an meiner Stirn, suche ich das kleine Zimmer nach meinen Sachen ab. Meine Tasche mit den Umziehkleidern ist bald gefunden. Ich angle sie hervor und beginne, Hose voran, mich anzuziehen. Wo sind eigentlich meine Klamotten von gestern? Das Kleid von Rika? Habe ich sie im Badezimmer gelassen? Die Brille auf der Nase richte ich das Bett. Ich gucke, wo ich Unordnung verbreitet habe, und beräume sie. Von meinem Handy fehlt weiterhin jegliche Spur. Ach stimmt ja, kommt es mir in den Sinn. Ich hatte es zuletzt in der Hand, als ich Ukyo geschrieben habe. Das war im Flur gewesen. Ich hatte es anschließend zurück in die kleine Tasche gelegt, die vorne am Kleiderhaken hängt. Dumm, wieso hatte ich es nicht mit mir genommen? Ein letztes Mal sehe ich mich in dem Zimmer um. Erst jetzt fällt mir auf, dass es kaum Dinge beherbergt. Keine Bücher, keine Blöcke und Stifte, nicht einmal einen Tisch; nur einen Nachtschrank neben dem Bett. In den Regalen stehen einige Skulpturen und Pflanzen, sonst nichts. Alles Deko, nichts zur Beschäftigung, keine Zerstreuung. Luka kommt offenbar nur zum Schlafen hierher. So lebt also ein vielbeschäftigter Künstler. Wieso stimmt mich das traurig? Ich ignoriere das schmerzhafte Ziehen in meiner Brust, umfasse meine Tasche fester und ziehe die Tür hinter mir zu.   Im Flur vor der Küche kommt mir Luka entgegen, in den Händen ein blumenbemaltes Holztischgestell, auf dem ich Kaffee, Geschirr und einige Gläser und Körbe erkenne. Er bremst, als er mich sieht, und schaut überrascht. „Du bist schon wach?“ „Ich wusste nicht, wie spät es ist.“ „Es ist erst … Kurz nach sieben dürfte es mittlerweile wohl sein. Wie schade, ich wollte dich gerade wecken kommen.“ Er wirkt enttäuscht, während er das sagt. „Tut mir leid“, sage ich schuldbewusst und schiebe die Schultern nach vorn. Fragend nicke ich in Richtung seiner Fracht. „Was ist das?“ „Frühstück“, seufzt er unglücklich. „Ich wollte dich überraschen. Ich hatte gehofft, ein Frühstück am Bett würde unseren Tag inspirieren. Daraus wird jetzt wohl nichts.“ Ich versichere Luka, dass es mir leidtut und ich nie vorhatte, seine Pläne zu kreuzen. Leider kann ich die Situation nicht mehr ändern. Wir einigen uns, das Frühstück ins Wohnzimmer zu verlegen, was das Problem zwar löst, Luka jedoch wenig zu trösten vermag. Kurzerhand schaffe ich etwas Platz auf dem Wohnzimmertisch und Luka breitet sein Gedeck darauf aus. Ich bin verblüfft, als ich bemerke, wie viele Dinge er darauf verteilt. „Ich war nicht sicher, was du bevorzugst“, erklärt er, als er sich neben mir auf die Couch setzt. „Sind Brötchen okay? Ich habe auch Croissants gekauft. Und hier habe ich … Marmelade, Honig und etwas Käse. Brauchst du noch etwas? Habe ich etwas Wichtiges vergessen?“ „Nein, das ist vollkommen okay so“, versichere ich. Neugierig greife ich nach dem Marmeladenglas und überprüfe die Sorte. Erdbeere. Nicht ganz mein Geschmack, aber ich kann damit leben. Ich bedanke mich und ergattere ein Brötchen. „Wow, die sind ja noch warm. Aufgebacken oder vom Bäcker?“ „Vom Bäcker“, meint Luka und schenkt uns Kaffee ein. „Frühstückst du immer so?“ „Nein“, gesteht er und lächelt ein wenig. „Ich finde selten Zeit dafür. Um ehrlich zu sein, ich musste Rika um Rat fragen, wo ich um die Zeit etwas organisiert bekomme. Sie gab mir erst die Idee und hat ein Geschäft empfohlen, in dem ich frische Brötchen bekomme.“ „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, murre ich und kann meinen Verdruss nicht verbergen. Während ich mein Brötchen bestreiche, kommt mir ein Gedanke. „Wieso musstest du sie erst fragen? Gehst du nicht einkaufen?“ „Selten“, meint er. „Ich esse meist außer Haus. Oder Rika bringt mir etwas Gekochtes vorbei. Sie ist eine wirklich großartige Köchin, meine kleine Schwester. Alles, was ich abseits des Alltäglichen benötige, organisiere ich spontan auf meinen Wegen. Sofern ich daran denke.“ Er lacht und ich vermute, dass ihm auffallen muss, wie chaotisch das klingt. „Ich schätze, du bist da etwas organisierter als ich.“ „Nicht wirklich“, sage ich. „Vielleicht was die Einkäufe betrifft, aber sonst … Ich frühstücke normalerweise auch nicht.“ – Außer mit Ukyo, wie ich in Gedanken ergänze. „Das wusste ich nicht. Aber ist es nicht schön so? Gemeinsam zu zweit, in aller Ruhe. Ich gebe zu, ich genieße es sehr.“ Ich sehe Luka aufrichtig lächeln und kann nicht anders, als es zu erwidern. Wie mir diese Welt zeigt, hat es tatsächlich was an sich, wenn man nicht allein ist. Ich fange an, mich daran zu gewöhnen. Wir nehmen unser Frühstück beim zwanglosen Plaudern ein. Die Stimmung ist gut und ich fühle mich rundum zufrieden, als wir gemeinsam den Tisch abräumen. Nach dem Essen ziehe ich mich ins Bad zurück, nicht ohne mir vorher mein Handy zu angeln. Enttäuscht stelle ich fest, dass ich keine neuen Nachrichten habe. Ich frage mich, wie es ihnen wohl geht – Ukyo, Orion und Ikki. Ob irgendwer Groll gegen mich hegt? Ich erledige meine Hygiene, stelle mein Aussehen wieder her und kehre anschließend ins Wohnzimmer zurück. Dort besprechen Luka und ich den weiteren Plan: Ich muss nach Hause und mich für meine Schicht im Meido richten, er hat noch Terminen nachzugehen. Wir beschließen, demnächst aufzubrechen, sodass uns genug Zeit für unsere Vorhaben bleibt. Ein letztes Mal kontrolliere ich, ob ich all meine Dinge habe. Rikas Leihsachen verbleiben bei Luka, bis klar ist, was mit ihnen werden soll. Ich bin ein wenig traurig darüber, denn auch wenn sie immer noch Rika gehören, sind sie mir doch auf nostalgische Weise ans Herz gewachsen. Luka führt mich zum Auto und ohne viel Erklärung fahren wir los. Während der Fahrt erscheint mir Luka ganz der Alte: Er redet und schwärmt, ohne an Stoff zu verlieren. Mir derweil dröhnt der Schädel, als wolle er bersten. Sobald ich zu Hause bin, muss ich zu allererst eine Tablette nehmen. Ich überstehe den Tag sonst nicht. Keine halbe Stunde später halten wir vor meinem Haus. Ich fühle mich seltsam, als ich aus dem Wagen steige. Nachdenklich mustere ich den Wohnblock und frage mich, was dieser Abend in mir verändert hat. Fühle ich mich anders Luka gegenüber? Hat unsere Beziehung Fortschritte gemacht? Ich weiß es nicht zu sagen. „Ich wünsche dir heute Abend viel Spaß“, sagt Luka neben mir. Sacht zieht er mich an sich und setzt einen Kuss auf meinen Kopf. „Rede bitte nicht allzu schlecht über deinen Freund. Ich habe einen guten Ruf zu verlieren“, scherzt er. Fragend sehe ich hoch. Wovon redet er da? „Mal sehen“, meine ich neckend, als es mir klar ist. Natürlich, der Mädchenabend. „Bisschen lästern gehört aber dazu, da musst du wohl durch. Aber ich versuche, nicht allzu fies zu sein.“ „Erzähl mir morgen, wie es war.“ „In Ordnung.“ Luka drückt meine Hand und lächelt mich an. Dann kehrt er zum Wagen zurück und startet den schnurrenden Motor. Ich warte, bis der nachtblaue Jaguar aus meiner Sicht ist, bevor auch ich mich abwende.   „Ich bin wieder da“, rufe ich in den Flur, als ich die Wohnung betrete. Ich habe die Tür kaum geschlossen, da wirft sich mir Orion um den Hals. „Willkommen zurück! Zum Glück, ich habe mir Sorgen um dich gemacht!“ Lächelnd tätschle ich über den kurzen Rücken. Ich suche den Flur nach einer weiteren Person ab, doch nichts passiert. „Ist Ukyo nicht da?“ „Er ist schon früh losgegangen“, erklärt Orion und lässt von mir ab. „Er sagte, er hat noch etwas zu erledigen. Er hat seine Tasche mitgenommen.“ „Viel beschäftigt wie immer“, murmle ich leise. Ich bin zugegeben enttäuscht, dass er nicht da ist. Bei allem, was mir aus meinem Gespräch mit Rika noch nachhängt, hätte ich ihn wirklich zu gern gesehen. „Und, wie war euer Abend? Habt ihr ordentlich auf den Putz gehauen ohne mich?“ Orion und ich gehen ins Wohnzimmer, wo er zu berichten beginnt. Er erzählt, dass Ukyo und er auswärts gegessen haben. Sie wären lange spazieren gewesen und hätten sich viel unterhalten: über mich, über Niel, und über Ukyos Vergangenheit. Ukyo hat ihm einige Dinge zu sich erklärt und dabei sehr bekümmert gewirkt. Aber Orion versteht ihn nun besser. „Ukyo tut mir so leid. Er hat es wirklich nicht leicht“, meint Orion abschließend und senkt traurig den Kopf. Ich nicke zustimmend. „Ja, er hat schon ein schweres Los gezogen. Wir können uns nicht ausmalen, wie es ihm innerlich geht.“ „Wie war es bei dir?“, wechselt Orion auf mich. Aufmerksam rückt er nach vorn, bis auf den Rand seines Platzes. „Wieso bist du gestern nicht mehr nach Hause gekommen? Wir haben uns Sorgen gemacht! Hat Luka dich etwa gezwungen, bei ihm zu bleiben?“ Abmildernd schüttle ich den Kopf. „Nein, er hat mich nicht gezwungen. Ich hatte etwas zu viel getrunken, das ist alles. Er hat es nur gut gemeint. Wirklich, es ist alles in Ordnung“, lächle ich. „Hat er … irgendetwas versucht?“ „Nein. Wobei, schon komisch, wenn ich so darüber nachdenke. Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen … Aber es ist nichts passiert. Er scheint doch ein ganz anständiger Kerl zu sein.“ „Meinst du?“ „Ich weiß nicht“, zweifle ich und fahre durch mein offenes Haar. Still lasse ich den vergangenen Abend und den Morgen Revue passieren. Es stimmt, dass Luka nichts versucht hat, aber warum eigentlich nicht? Nicht dass ich darauf aus wäre, aber welch anderes Interesse hat er an mir, an dieser Beziehung, wenn es Sex nicht zu sein scheint? Bin ich ihm nicht sexy genug? Will er, dass ich den ersten Schritt tue? Ist er nur schüchtern? Vielleicht ist er auch mehr der platonische Typ, aber das glaube ich nicht. „Und du?“, stört Orion meine Gedanken. „Magst du ihn jetzt lieber als vorher?“ „Ich weiß nicht“, sage ich und spüre, wie meine Wangen glühen. Ich schüttle den Kopf und seufze verzweifelt, lasse mich schwer gegen die Couchlehne fallen. „Ich weiß nicht mehr, was ich noch denken soll.“ Orion bittet mich, ihm von meinem Erlebten zu erzählen. Ich beginne mit meiner gestrigen Schicht im Meido, wie das Spieleevent verlief, und wie Luka weit vor der Zeit im Café aufgetaucht war. Ich beschreibe bestmöglich meine Eindrücke von der Ausstellung, dem großen Haus, der wunderschönen Aufmachung, den unterschiedlichen Leuten. Ich erzähle von Rika, wie fürsorgend sie sich verhielt, und ich beschreibe so viele Kunstwerke wie möglich, an die ich mich noch erinnern kann. „Urgs“, macht Orion, als ich geendet habe. „Das klingt ja alles furchtbar.“ „Findest du?“, frage ich und blinzle verblüfft. „Ja! Ich meine … Was ist das bitte für Kunst? Ich dachte, Luka sei ein ernsthafter Künstler? Und was ist mit dieser Tante? Wie kann sie dich so abwertig behandeln, nur weil du schreibst und nicht malst? Wenn ich dagewesen wäre, ich hätte ihr so richtig ordentlich die Meinung gegeigt!“ Ich schmunzle bei Orions Aufruhr. „Und was Rika angeht“, fährt er tobend fort. „Ich meine, was soll das? Bist du ihre Schwester? Für mich klingt das so, als hätte sie dich die ganze Zeit bevormundet. Wieso muss sie sich überall einmischen? Du kommst auch prima allein zurecht!“ „Aber so war es nicht“, widerspreche ich ruhig. „Na ja, sie hat sich schon eingemischt. Aber ich bin ihr auch dankbar zum Teil. Dank ihr sah ich nicht wie ein Dorftrottel neben ihnen aus. Und im Gegensatz zu ihr bin ich sehr ungelenk, was mein Äußeres betrifft. Und immerhin, sie hat mich in dem ganzen Chaos gefunden.“ „Ich finde nicht, dass das genügt, damit du sie in Schutz nimmst“, beharrt Orion. Er plustert die Backen und verschränkt protestierend die Arme. Ich kehre in mich. Eine Sache habe ich Orion nicht erzählt, die ihn vermutlich bestätigen würde: Rikas Drohung. Dass sie von meinem Zusammenleben mit Ukyo weiß, dass sie schlecht über ihn geredet hat, und dass sie will, dass ich mit Luka zusammenziehe. Sie hat es nicht direkt gesagt, aber wenn ich so überlege, haben ihre letzten Worte nach einer Warnung geklungen. Was, wenn ich auf ihren Vorschlag nicht eingehe? Wird sie mich dann an Luka verraten? Wird sie aggressiv gegen mich vorgehen? Oder würde sie gar zu Ukyo gehen, irgendwelchen Blödsinn erzählen, der einen Keil zwischen uns treibt? „Ist alles in Ordnung?“, klingt Orions Stimme besorgt. Ich lächle bemüht. „Ja. Ich bin nur noch etwas erschöpft. Der Abend war sehr anstrengend gewesen.“ Ich erinnere mich, dass ich eine Tablette gegen den Kater nehmen wollte, und komme dem nach. Anschließend ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück und überlege, was ich noch tun will. Viel Zeit bleibt ohnehin nicht, bis ich auf Schicht muss. Es reicht, um einige Sachen zu packen und ein Brot für die Pause zu schmieren. Motiviert bin ich nicht im Geringsten. Verstohlen linse ich zu meinem Bett. Ich zögere kurz, dann gehe ich hinüber und greife unter das Kissen. – Ein Glück, es ist noch da. Erleichtert angle ich das kleine Notizbuch hervor und schlage es an einer beliebigen Stelle auf. Ich durchblättere die Seiten, ohne die Zeilen zu lesen. Dabei macht sich Kummer in mir breit. Wieso hat dieses Buch in Lukas Kunstzimmer gelegen? War es richtig gewesen, es einfach so zu entwenden? … Ob er es wohl schon bemerkt hat? Oder war es nicht wichtig genug, um danach zu schauen? An einer Stelle im Text sticht mir Ikkis Name ins Auge. Ich streiche über die Zeichen, seufze schwer, und lege das Buch in sein Versteck zurück. Vielleicht sollte ich ihm ein Besseres suchen.   Orion begleitet mich auf Schritt und Tritt, während ich durch die Wohnung streife. Wir reden über die Arbeit und den bevorstehenden Abend, den ich mit den Mädels verbringe. „Bist du aufgeregt?“, möchte er wissen. „Schon“, gebe ich beiläufig zurück. Bislang hatte ich es tunlichst vermieden, darüber nachzudenken. „Mine bereitet mir etwas Sorge. Unser Verhältnis scheint nicht gerade das Beste zu sein. Ach ja, übrigens: Mari kommt morgen Abend vorbei.“ Ich berichte von ihrem gestrigen Erscheinen im Meido. Sie hat darauf bestanden, dass wir alle anwesend sein sollen. Ich trage Orion daher auf, Ukyo und Niel über ihr Anliegen in Kenntnis zu setzen. Nur für den Fall, dass Mari es nicht längst selbst getan hat. Wenig später befinden wir uns auf meinem Weg zur Arbeit. Es war nicht nötig gewesen, Orion um Begleitung zu bitten; er war bereits angezogen, bevor ich ihn fragen konnte. Offensichtlich hat Niel mich nicht als Einzige eindringlich geimpft. Das war zu erwarten gewesen. „Ihr werdet bestimmt über Jungs schwärmen. Und über andere Mädchen lästern. Oder oh, warte, ich weiß! Bestimmt flechtet ihr euch gegenseitig die Haare und erzählt euch eure schlimmsten Erlebnisse mit Jungs!“ „Als ob“, weise ich lachend zurück. Orion ist so enthusiastisch beim Thema, dass ich nicht anders kann, als sein Fiebern zu teilen. Je länger wir reden, je arger wir blödeln, desto mehr freue ich mich auf den bevorstehenden Abend. Auch wenn die Vorstellung, die ganze Zeit Mine um mich zu haben, mir weiterhin Bauchschmerzen bereitet. „Da vorn ist es schon“, meint Orion und zeigt über die Straße. Das weiße Schild des „Meido no Hitsuji“ auf rotem Backstein ist auf diese Distanz bereits gut zu erkennen. Wir halten bei der Ampel und warten auf Grün. Ich bin mit meinen Gedanken bereits im Café, als ich vertraute Stimmen vernehme. Wenige Meter von mir diskutieren sie hitzig: „Nein, der Vater kann gar nicht der Mörder sein. Er war zu der Zeit bei seiner Tochter, oder nicht? Wie soll er den Mord da begangen haben?“ „Du denkst, wie immer, zu engstirnig.“ „Gar nicht wahr! Aber, hmm, wenn ich es recht bedenke, bei allen anderen macht es noch weniger Sinn. Ich meine, dieser Typ war ein Riese! Wie sollte ein anderer … Oh, warte! Käme nicht auch noch die Nanny infrage? Ich wüsste zwar noch nicht, wie sie’s gemacht hat …“ „Junge, Toma! Lies einfach das Buch und hör auf, uns zu nerven!“ Ich lehne mich blinzelnd nach vorn, da entdecke ich sie: Shin, Toma und Hanna, die ebenfalls warten. Worüber auch immer sie reden, sie scheinen mich nicht zu bemerken. Nur Hanna, die sich weniger involviert gelegentlich umsieht, erkennt mich schließlich zwischen den Leuten. Sie lächelt und deutet eine Verbeugung an. Die Ampel schaltet auf Grün, und alles um mich setzt sich in Bewegung. Ich will mich dem Menschenstrom anschließen, da spüre ich, wie etwas warm meine Hand umfasst. Fragend sehe ich zu Orion hinunter, der zögernd verharrt. Ich erkenne, als ich seinem scheuen Blick folge, dass es wegen Hanna ist. Gerade sieht sie zu uns zurück und scheint sich zu wundern, warum ich noch stehe. Ich weiß, ich müsste zu ihnen aufholen. Doch ich bringe es nicht fertig, Orion gewaltsam mit mir zu ziehen. Also warte ich, lasse die Ampel auf Rot springen, und erwidere den klammernden Händedruck. „Alles okay?“, frage ich flüsternd. Prüfend sehe ich zu Orion hinab, der starr gen Boden stiert. Unter der dunklen Öhrchenkapuze ist sein zaghaftes Nicken kaum zu erkennen. „Möchtest du lieber nach Hause?“, unterbreite ich sanft. „Mir wird schon nichts mehr passieren. Das Meido ist gleich da drüben, und es sind überall Menschen um mich herum.“ Orion schüttelt den Kopf und umfasst meine Hand fester. „Ist schon okay. Ich habe es Niel-sama versprochen. Und ich habe es dir versprochen.“ „Willst du sie sehen?“ Vorsichtig schielt Orion zu mir hoch. Ich sehe ihm an, dass er mit sich ringt. Ich wende mich ihm gänzlich zu und schließe beide Hände um seine. „Ist schon okay, du brauchst keine Angst zu haben. Wenn es das ist, was du willst, dann finde ich einen Weg, damit du mit ihr reden kannst. Das verspreche ich dir. Aber jetzt geh besser nach Hause, ich komme die paar Meter schon zurecht. Hast du noch Ukyos Schlüssel?“ Ich gebe ihm meinen, als er verneint. Ich vertraue darauf, dass er zu Hause sein wird, wenn ich morgen vom Mädchenabend zurückkomme. Vorsorglich erinnere ich ihn daran, nicht dass ich am Ende vor verschlossener Tür stehe. Als die Ampel das nächste Mal grün ist, überquere ich endlich die Straße. Ich winke Orion ein letztes Mal zu, dann blicke ich nur noch auf das, was vor mir liegt.   „Da bist du ja endlich“, nimmt mich Toma vor dem Meido in Empfang. Er, Hanna und Shin stehen gesammelt vorm Eingang. „Wer war der Junge? Dein kleiner Bruder?“ „Nicht wirklich“, sage ich kopfschüttelnd. „Wobei, so etwas in der Art irgendwie schon. Sorry, ihr hättet nicht warten müssen.“ „Habe ich’s nicht gesagt? Auf sie zu warten war vollkommen unnötig“, kommentiert Shin von der Seite und stößt sich von der Wand ab, gegen welche er lehnte. „Können wir dann reingehen? Wir haben genug Zeit hier draußen vertrödelt.“ „Shin, sei nicht so unhöflich. Hatten wir das Thema nicht neulich?“ Shin wirft erst Toma, dann mir einen unfreundlichen Blick zu. „Immerhin habe ich nicht vergessen, dass sie ganz allein und ohne Familie nach Japan gekommen ist. Du wirst langsam nachlässig, Toma“, schließt er, damit betritt er den Flur. Wir anderen folgen ihm versetzt. Hanna und ich gehen zum Umziehen in den Waschraum, während die Jungs in der Umkleide verbleiben. Ihre fortwährende Diskussion ist bis durch die Tür zu hören. Um mich geht es dabei längst nicht mehr. Auf Hannas Nachfrage erzähle ich von der Ausstellung. Ich halte mich allgemein, für mehr reicht die Zeit nicht. Ein Blick auf die Uhr im Pausenraum verrät, dass wir uns langsam im Café sammeln sollten. „Guten Morgen, Kento“, werfe ich in die Küche hinein, als ich Shin dahin folge. Ich überblicke sie flüchtig. „Ist Ikki noch gar nicht da?“ „Guten Morgen. Bedaure, aber nach Ikkyu suchst du vergebens.“ „Wo ist er?“, fragt Shin an meiner Stelle. „Seid ihr nicht zusammen gekommen? Sonst sehe ich euch immer gemeinsam auf und von Schicht gehen, sofern gegeben.“ „Meistens“, sagt Kento, „aber nicht immer. Ikkyu hat mich heute Morgen gebeten, nicht auf ihn zu warten. Er hatte noch eine dringende Verabredung mit Rika.“ Mein Herz durchzieht ein Stich bei diesem Namen. „Dann muss es wichtig sein. Ihre Interaktionen im Café sind seltener geworden im Verhältnis zu damals“, überlegt Shin. „Darüber bin ich nicht im Bilde. Möglicherweise“, gibt Kento schulterzuckend zurück. „Ich gehe dann mal nach vorne“, sage ich und bin bemüht, mir meinen Unmut nicht anmerken zu lassen. Auf meinem Weg ins Café höre ich Toma und Hanna noch in der Umkleide reden. Von Mine und Sawa ist nichts zu sehen, Ikki ist offensichtlich nicht da. Waka ist mir bislang nicht begegnet, aber das muss nichts heißen. Besser, ich trödle nicht länger und suche mir etwas zu tun. Als ich den Personaleingang passiere, höre ich, wie die Tür neben mir aufgeht. Ich stoppe und sehe Ikki, der gerade den Flur betritt. Er scheint mich nicht zu bemerken, seine Aufmerksamkeit ist ganz auf die Person hinter der Türschwelle gerichtet. „Ich will dir danken, Rika, dass du die Zeit für mich gefunden hast“, spricht er. „Nicht doch, Ikki-sama“, weist Rika lieblich zurück. Der säuselnde Klang ihrer Stimme lässt mich erschauern. „Es lag ganz in meinem Sinne, und war mir zudem ein äußerst großes Vergnügen. – Guten Morgen, Shizana-san.“ Ich nicke gezwungen, als die Aufmerksamkeit beider plötzlich auf mir liegt. Unter dem Vorwand der Arbeit ergreife ich höflich die Flucht und höre bald nur noch entfernt, wie sich Ikki von Rika verabschiedet.   Nach und nach füllt sich das Café mit meinen Kollegen. Toma hilft mir mit der Theke, Hanna spricht in der Umkleide mit Mine, die vor wenigen Minuten eingetroffen ist. Ikki vermute ich in der Küche bei Kento. Nur von Sawa fehlt weiterhin jede Spur. „Sawa ist spät dran“, sage ich, den Blick sorgenvoll zur Uhr gewandt. „Wenn sie nicht bald auftaucht, wird sie sich verspäten. Waka wird das sicher nicht gutheißen.“ „Man muss ihr immerhin zugutehalten, dass es lange her ist, dass sie zu spät kam“, meint Toma neben mir. „Als sie hier angefangen hat, war das fast schon die Regel. Du weißt ja selbst, wie viel Ärger sie deswegen schon hatte. Dass sie noch hier abeiten darf, liegt sicher nur daran, dass Waka-san ungern neue Leute einstellt. Sie sollte es trotzdem besser nicht herausfordern.“ „Warum geht sie nicht einfach etwas früher los?“ Toma schüttelt den Kopf. „Du kennst sie“, seufzt er gequält. „Sawa ist einfach schrecklich unorganisiert. Wäre ihr Kopf nicht an ihrem Hals festgewachsen, ich wette, sie würde selbst den noch vergessen.“ Wir lachen. Kurz darauf erscheint Waka im Café und trommelt den Rest der Besatzung zusammen. Ich entdecke Ikki, der neben Mine den Raum betritt. Ihr gemeinsamer Anblick versetzt mir einen weiteren Stich. Ich halte mich entschieden an Toma, der als eine Art Trennwand zu Ikki fungiert. Ich bilde mir ein, mich dadurch geschützt zu fühlen, und bemerke zugleich, wie feige das ist. Still hasse ich mich dafür. Waka erteilt seine Befehle wie immer, anschließend werden wir Zeuge, wie er das Feuer eröffnet. Auf Sawa, die zwanzig Minuten verspätet auf Arbeit erscheint. An sich immer noch pünktlich, wir öffnen erst in fünf Minuten. Für Waka nichtsdestotrotz ein Kapitalverbrechen. „Wer zu spät zur Besprechung erscheint, überlässt seine Kameraden dem Feind!“, so seine Worte. Wir stehen bereits in der Bedienung, da höre ich noch, wie Waka im Pausenbereich seine Rüge an Sawa erteilt. Als sie endlich das Café betritt, eile ich an ihre Seite. „Alles okay?“, frage ich besorgt. Sawa wirkt schrecklich mitgenommen, völlig aus der Puste, und ihr Pferdeschwanz hängt etwas schief. „Ich dachte, diesmal ist es soweit. Ich habe wirklich gedacht, gleich prügelt er mich mit seinem Holzstock windelweich. Ich sag’s dir, ich habe mich schon in allen Grün- und Blautönen da rauskommen sehen …“ „Was war denn überhaupt los? Warum bist du zu spät gekommen?“ „Ach, das Übliche mal wieder“, seufzt sie betont. „Ich habe mich beim Bummeln ein wenig in der Zeit verloren, und dann habe ich die Bahn verpasst. Ich wollte eine Abkürzung nehmen, aber diese Idioten haben die Straße gesperrt. Am Ende bin ich einen Umweg gelaufen, und weil ich schon so spät dran war, bin ich bei Rot über die Ampel. Weißt du, sonst ist da nie Polizei, wenn du sie brauchst. Und ausgerechnet heute haben die mich festgehalten und um die zehnmal ermahnt! Aaah, heute ist einfach nicht mein Tag!“ Ich lächle mitfühlend. Hanna gesellt sich zu uns und begrüßt ihre Freundin, danach geht sie in die Küche, um eine Bestellung abzugeben. „Egal“, wendet sich Sawa mir zu. „Was viel wichtiger ist: Wie war es bei dir? Wie war’s auf der Ausstellung? Du musst mir wirklich alles erzählen!“ „Was, jetzt?“, frage ich unsicher. Ein Rundblick durch das Café lässt mich zweifeln, ob das der richtige Zeitpunkt für die Art Gespräch ist. „Ach, komm schon!“, drängelt sie weiter. „Wann, wenn nicht jetzt? Ich habe den ganzen Abend mit dir gefiebert! Wie wäre das, wir könnten uns zur Putzarbeit abstellen lassen? Dann stört sich niemand daran, wenn wir reden.“ „Erst zu spät kommen, und dann nicht arbeiten“, höre ich Toma neben uns sagen. Im Vorbeigehen drückt er Sawa ein leeres Tablett in die Hand und stellt sich selbst hinter den Tresen, wo er in einigen Schränken wühlt. „Tut wenigstens so, als wärt ihr beschäftigt. Wenn Waka-san brüllt, vertreibt das nur wieder die Gäste. Ich muss von irgendwas meine Miete bezahlen.“ Toma holt mehrere Gedecke hervor und bahrt sie ordentlich vor sich auf. „Und mein Studium.“ „Hast ja recht. Sorry“, gibt Sawa kleinlaut zurück. „Aber kannst du es mir wirklich verübeln? Sie war gestern immerhin auf einer Kunstausstellung! Weißt schon, zu so einer ganz gehobenen Sache! Das kann man nicht mit einem Besuch im Museum vergleichen. Du hast da doch bestimmt einige ganz schräge Vögel gesehen, stimmt’s? Und wie war’s mit Luka? Hat er sich zur Abwechslung benommen?“ „Sawa …“ „Biiitteee“, fleht sie an Toma wie mich. „Lass sie doch erzählen! Ich muss es wissen, biiitteee!“ Ich setze zu einer Antwort an, als Ikki plötzlich hinter uns auftaucht. „Na, was ist denn hier los? Sawa-chan, du siehst aus, als würdest du jeden Moment vor Neugier platzen. Dürfte man sich euch anschließen?“ Ich halte meine Worte zurück. Nicht nur wegen Ikki, sondern auch wegen Mine, die direkt hinter ihm folgt. Unsere Blicke begegnen sich kurz und ich bilde mir ein, mehr Ablehnung denn je in ihnen zu erkennen. Ob sie mir sauer ist, weil Waka sie gestern in meine Schicht gerufen hat? Auch Sawa hat ihren Eifer verloren. Sie wendet sich Mine zu, grüßt sie überschwänglich, dann zieht sie mich aus dem Kreise der Jungs in eine Ecke zu sich. Wir unterhalten uns flüsternd. „Ich werde Waka-san fragen, ob er uns abziehen kann. Ah, das ist vielleicht nicht meine beste Idee … Waka-san wird sicher nicht Ja sagen, wenn ich ihn frage …“ „Ich kann ihn fragen“, biete ich an. „Aber wollen wir nicht lieber bis zur Pause warten? Wir können auch später noch reden, wenn wir zu Hanna gehen.“ „Und vor Mine über Luka reden? Du weißt, ich habe nichts gegen sie, aber Mine …“ Sawa sucht nach den richtigen Worten. „Sagen wir, sie wird mein Interesse nicht teilen. Und ich will wirklich wissen, was da gestern noch los war. Erinnerst du dich noch an unser Telefonat? Du warst dir nicht einmal sicher gewesen, ob du dort überhaupt hin willst. Und mit Luka bist du dir auch immer noch unsicher, habe ich recht?“ Damit trifft Sawa ins Schwarze. Ich sehe ein, dass ich genauso jemanden zum Reden brauche, wie sie ihre Neugier befriedigen will. Und wem neben Ukyo könnte ich mich besser anvertrauen als ihr? Ich willige ein, mit Waka zu sprechen, und verschwinde im Personalbereich. Bevor ich Wakas Bürozimmer erreiche, hält mich eine Stimme zurück. „Warte. Hast du einen kurzen Moment für mich?“ Mir rutscht das Herz in die Hose. Ikki ist mir gefolgt. Mir ist nicht recht wohl dabei, mit ihm alleine zu sein. Dass er mit Rika zusammen war, will mir nicht aus dem Kopf. Was hat sie ihm erzählt? Ist es richtig, mich ihm jetzt zu stellen? Nichtsdestotrotz drehe ich mich herum. Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl. Ich bringe alle Mühe auf, ein unbefangenes Lächeln zu zaubern. „Klar. Was gibt’s?“ Ikki kommt auf mich zu. Bevor ich mich versehe, hält er mich in den Armen. Im Reflex halte ich still, wage kaum, zu atmen. Ich verstehe nicht ganz, was hier geschieht. „Ich musste das tun“, höre ich ihn flüstern, nah bei meinem Ohr. Seine Arme umschließen mich fester, halten mich an ihn, als könnte ich zu Staub zerfallen. Und alles wird still. Irgendwann ist der Zauber vorbei. Langsam, wenn nicht zögernd, gibt Ikki mich frei. Ich fühle mich seltsam verlassen, als seine an mir hinterlassene Wärme ihm folgt. Warum ist das nur so? Was hatte diese Aktion zu bedeuten? Ich suche nach Antworten in Ikkis Gesicht. Doch er lächelt mich an, als sei nichts gewesen. „Ich muss wieder nach vorn. Toma wird sicher etwas Unterstützung brauchen. Wir reden später.“ Damit hebt er die Hand, dreht sich herum und ist schon nicht mehr bei mir. Verwirrt sehe ich ihm nach. Zu spät bemerke ich, dass er beim Durchgang zu jemanden spricht. Als er außer Sicht ist, betritt stattdessen Mine den Flur und entdeckt mich im nächsten Moment. Ich weiß ihren Blick nicht zu deuten, dafür sind wir zu weit entfernt, spüre jedoch, dass er ein Zögern zu lang auf mir ruht. Mine dreht sich herum und biegt in die Küche. Erst da dämmert es mir, warum ich ursprünglich hier stehe. Ich wende mich der Tür hinter mir zu, hebe den Arm und atme tief durch, ehe ich klopfe.   „Da hast du ja echt was erlebt“, meint Sawa und gibt mir den Lappen zurück. Ich mache ihn frisch und reiche ihn ihr erneut, damit sie weiter die hochhängenden Schränke abwischen kann. Inzwischen habe ich Sawa alles erzählt, was es zu der gestrigen Ausstellung zu berichten gibt. Es war einfach gewesen, Waka zu überzeugen, Sawa und mich eine Weile putzen zu lassen. Nur solange es ruhig ist, das war seine Bedingung. Ich hatte mit etwas mehr Widerstand gerechnet, aber vermutlich hat ihn die Rüge an Sawa doch sehr ermüdet. „Ich kann mir das regelrecht vorstellen, wie Rika an dir herumpfuscht. Aber dass da nicht mehr gelaufen ist … Ganz ehrlich, ich hätte Luka nicht als jemanden eingeschätzt, der sich so lange Zeit lässt“, meint Sawa weiter. „Weiß auch nicht“, sage ich und zucke die Schultern. „Gerade wenn ich bedenke, wie das alles zwischen euch angefangen hat“, ergänzt sie. „Aber ist doch gut für dich, oder? Bei all den zweifelhaften Dingen, die Luka betreffen, solltest du dich zu keinen voreiligen Schritten verleiten lassen. Auch wegen der anderen Sache.“ „Welcher anderen Sache?“ „Oh, ach ja. Das wollte ich dich noch fragen.“ Sawa sieht prüfend um sich, dann beugt sie sich zu mir hinab und flüstert mir zu. „Mir ist da so ein Gerücht zu Ohren gekommen. Stimmt es, dass du dich mit Ikki-san triffst?“ Ich spüre, wie meine Ohren heiß werden. „Wo hast du das denn her?“ „Hanna-chan hat’s mir erzählt. Und, sag schon, stimmt es?“ „Es stimmt“, gestehe ich kleinlaut. „Oha“, stößt Sawa aus und schaut überrascht. „Du fährst also zweigleisig? Alle Achtung, das nenne ich mutig. Ich nehme an, Luka weiß nichts davon?“ „Ich fahre nicht zweigleisig“, wehre ich ab. „Und nein, Luka weiß nichts davon. Es ist auch nicht so, wie du es gerade darstellst. Wir treffen uns nur als Kollegen.“ „Nur als Kollegen, so so. Ich habe da etwas anderes gehört“, grinst sie. Im nächsten Moment wird sie ernst. „Aber das musst du mir erklären. Warum ausgerechnet Ikki-san? Ich weiß, er sieht gut aus … Aber du weißt doch bestimmt, was man über ihn sagt?“ „Und?“ „Ich meine ja nur. Mich würde das skeptisch machen. Sein gesamtes Verhalten Frauen gegenüber … Und dann ist da ja auch noch diese Sache mit Hanna-chan. Wusstest du, dass die beiden ein Paar waren? Sie haben sich vor erst zwei Monaten getrennt.“ „Ja, das weiß ich.“ „Macht dich das nicht verrückt? Wer sagt, dass er dich nicht nur benutzt, um über Hanna hinwegzukommen?“ „Das denke ich nicht“, sage ich und schüttle entschieden den Kopf. „Zutrauen würde ich’s ihm.“ Sawa besieht mich nachdenklich, fast schon besorgt. Ich spüre Widerwillen in mir aufsteigen, diesen Blick zu ertragen. „Zwischen Ikki und mir läuft nichts“, sage ich, als müsse ich Sawa beschwichtigen. „Unsere Treffen sind rein platonisch. Ikki weiß, dass ich einen Freund habe. Jeder hier weiß das. Wir verbringen nur gelegentlich Zeit miteinander und reden, das ist alles.“ „Bist du sicher?“ „Ja“, sage ich und zweifle, ob das womöglich gelogen ist. „Hm. Na wenn du meinst.“ Sawa wendet sich wieder dem Putzen zu. „Ich verstehe jedenfalls deinen Männergeschmack nicht. Sie sehen zwar beide ganz gut aus, ohne Frage … Aber ich könnte Typen wie denen nie über den Weg trauen.“ „Und auf welche Art Typen stehst du? Gut aussehen dürfen sie ja schon einmal nicht“, necke ich sie. „Blödsinn, das habe ich nie gesagt.“ „Komm schon, jetzt will ich’s wissen! Angenommen, du müsstest jemanden von der Arbeit als Favoriten bestimmen: Wer wäre das und warum?“ „Also das wäre …“, beginnt sie, bremst sich jedoch. Ich glaube zu erkennen, dass Sawas Gesicht im Profil etwas Farbe gewinnt. „Darauf falle ich nicht herein! Es reicht schon, dass Mine mich aufzieht. Das will ich nicht von noch jemanden haben.“ „Womit zieht sie dich denn auf?“ „Nein, vergiss es.“ „So schlimm?“ „Eigentlich nicht, aber … Aaah, vergiss es einfach! Okay? Übrigens, Mine weiß nichts von dem, was wir vorhin besprochen haben.“ Ich muss überlegen, was Sawa meint. „Du meinst diese Ikki-Sache?“ „Genau“, nickt sie. „Ich dachte, das sei vielleicht besser. Vorerst zumindest. Sie kann dich so schon kaum ausstehen, und Ikki-san hat sie schon drei Mal abblitzen lassen, soweit sie’s mir erzählt hat. Sie wäre bestimmt nicht erfreut, zu erfahren, dass er sich lieber mit dir trifft. Mine ist da sehr … eigen, möchte ich sagen.“ Da mag sie wohl recht haben. Gleichzeitig löst es in mir ein zutiefst unbehagliches Gefühl aus. Es ist, als sei es bereits ein Vergehen, wenn ich Ikki abseits der Arbeit treffe. Warum wird daraus so eine große Sache gemacht? Nur weil er diese ach-so-liebestollen Augen hat und ich in einer unfreiwilligen Beziehung feststecke? Wo ist das einem von uns fair gegenüber? Aber ich sehe ein, dass es besser ist, darüber zu schweigen. Auch wenn Mine längst nicht so schlimm ist wie Rika, so will ich sie doch nicht zum Feind haben. Ob wir jemals noch Freunde werden, wage ich immer mehr zu bezweifeln. Kapitel 32: Konfrontation mit der Vergangenheit ----------------------------------------------- Die Ruhe im Café währt nicht lang. Sawa und ich sind nicht ganz fertig mit unserer Arbeit, als Toma uns zurück in die Bedienung zitiert. Zum Glück kommt er Waka zuvor, ich hätte mich ungern seinem Gebrüll ausgesetzt. Wir kehren unverzüglich auf das Schlachtfeld zurück, und tatsächlich: Die Tische haben sich zum Großteil gefüllt. Unter den Gästen befinden sich mehrere Gruppen, die meisten aus Mädchen und Frauen bestehend. Ikki und Toma geben beide ihr Bestes, die zahlreichen Damen flux zu bedienen, und zeigen sich dabei so charmant wie gewohnt. Hanna eilt wie ein Wiesel von Tisch zu Tisch, Mine hat sich zu einer Herrenrunde gesellt. Ich sehe von hier, wie sie die jungen Männer mit ihrer lieblichen Darstellung bezirzt, und mich überkommt das alte Neidgefühl. Ich schüttle es von mir, schnappe mir Block und Tablett und stürze mich in das Getümmel. Ich nehme ein älteres Paar in Empfang und geleite sie an einen Platz. Nachdem ich ihre Bestellung notiert habe, begegne ich Hanna, die mich um Unterstützung für Toma bittet. Sie selbst eilt Richtung Küche davon, weswegen ich Toma aufsuche, der just einer zehnköpfigen Tischreihe voll Mädchen den Rücken zudreht. „Kannst du für mich bitte die Getränke übernehmen? Ich habe so viel zu richten“, erläutert er knapp. Ich nicke und begleite ihn hinter den Tresen, wo wir die lange Bestellliste durchgehen. Punkt für Punkt bereite ich Kaffee und Drinks, verziere Tassen und Gläser und halte im Anschluss Ausschau nach Ikki, der Toma beim Austragen der schweren Tabletts helfen soll. Fasziniert beobachte ich, wie scheinbar leicht sie die Meute an quietschenden Mädels bedienen, als würden sie nie etwas anderes tun. Ihnen zuzusehen, motiviert mich. Mit neuer Energie kehre ich zu meiner eigenen Arbeit zurück.   So vergehen zwei Stunden im Flug. Das Café wird gut besucht, es bleibt keine Zeit für lange Gespräche. Ich meine, dass heute besonders viel los ist, obwohl ich das nach vergangenem Samstag kaum beurteilen kann. Meine erste Wochenendschicht wurde durch das Nikolaus-Event getrübt, doch eines erscheint mir definitiv anders: Mir fällt auf, dass der Hauptteil meiner Arbeit darin besteht, neue Gäste zu empfangen, sie an einen Platz zu geleiten, die erste Bestellung entgegenzunehmen, und dann hinter den Tresen zu treten und zu warten. Warten, weil die Kunden bestimmen, wer sie ab da an bedient. Und das bin in der Regel nicht ich, die ausländische Maid. Die meisten Besucher haben bereits ihren Favoriten, der Rest scheint mich bestmöglich zu meiden. Ich will nicht behaupten, dass sie es böswillig täten. Man begegnet mir überaus freundlich, manch einer mit einer zurückhaltenden Neugier. Zum Favoriten macht mich das lange nicht. Genau darum geht es jedoch, und das gibt mir das Gefühl, irgendwie nutzlos zu sein. Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen. Dennoch fällt es mir schwer, darüberzustehen. Es kränkt mich zutiefst, meine Kollegen zu sehen, die kaum Zeit zum Luftholen haben, während ich sie mit weiterer Arbeit belaste. Nichtsdestotrotz lächle ich, bemüht mir meinen Unmut nicht anmerken zu lassen. Entsprechend überrascht bin ich, als Sawa plötzlich vor mir steht und breit über das ganze Gesicht grinst. „Hey, Träumerin! Da ist ein Gast an Tisch fünf, der nach dir fragt. Er will ausschließlich von dir bedient werden.“ Ich blinzle sie ungläubig an. Es ist das erste Mal, dass jemand, der nicht Ukyo ist, ausdrücklich nach mir verlangt. Sawa weist zu einem Tisch, doch die Person daran ist mir nicht bekannt. Ich danke ihr und trete vor. Entgegen meiner gelassenen Haltung bin ich überwältigt und auch ein wenig nervös. Ich freue mich, einen Kunden zu haben. Selbst mein Gang ist etwas beschwingt. „Willkommen zurück, Herr“, grüße ich höflich und verbeuge mich in vornehmlicher Maid-Manier. „Meinen ergebensten Dank, dass Ihr nach mir verlangt habt. Wie darf ich Ihnen bedienlich sein?“ „Ich werde mich nie daran gewöhnen, so angesprochen zu werden“, meint er mit einem Lächeln und räuspert sich leise. Es erregt meine Aufmerksamkeit und ich mustere ihn neugierig. Der Mann wirkt um die dreißig und typisch japanisch. Er trägt einen mittelständigen Anzug und sieht gepflegt aus. Braune Augen begegnen mir hinter einem schwarzen Brillengestell aus einem freundlichen Gesicht. Sein dunkles Haar liegt etwas unordentlich, sonst erkenne ich nichts Auffälliges an ihm. Trotzdem kommt er mir seltsam vertraut vor. Seine Stimme, kühl im Klang und von einem leisen Kratzen begleitet … Woher kenne ich sie? Während ich überlege, beginnen meine Gedanken auf einmal schwindelerregend zu kreiseln … Ich sehe diesen Mann mir gegenübersitzen. Legere Kleidung, rasiert, die schwarzen Haare ein wenig zaus. Vor sich einen aufgeschlagenen Laptop und mehrere verteilte Papiere. Er streicht sich unaufhörlich über das kurze Kinn. „Also dieser Satz, ich weiß nicht …“ Plötzlich sehe ich ihn in einer Szene zwischen Luka und Ikki stehen, augenscheinlich mit ihnen diskutierend. Es muss im Meido sein, Ikki trägt seine elegante Butler-Uniform. Was sie reden, verstehe ich nicht, doch der Fremde sieht ein wenig bedrängt aus. Eine weitere kurze Szene folgt. Dieses Mal steht der Mann mir dicht gegenüber. Ich kann seine schmalen, offenen Augen im sanften Braun deutlich hinter der Brille erkennen. Er lächelt mir zurückhaltend entgegen, unterhalb meines Sichtfeldes vermute ich Köpfe eines bunten Blumenstraußes. „Herzlichen Glückwunsch“, spricht er heiser. „Geht es dir gut?“, holt mich dieselbe Stimme ins Jetzt zurück. Meine Gedanken kreisen noch immer und mir ist flau. Ich fühle mich wie nach einer wilden Karussellfahrt, die abrupt gestoppt wurde. Meine Knie zittern verborgen unter dem langen Kimonostoff. „Du siehst nicht gut aus. Kannst du dich einen Moment setzen, oder bekommst du dann Ärger?“ Ich merke kaum, wie ich mich gegen die Tischkante lehne. Meine Beine drohen mich nicht zu halten. Als der Schwindel langsam verklingt, erinnere ich mich daran, wo ich bin und zwinge mich zu einem Lächeln. Indes dringen weitere Bilder in mein Bewusstsein. Da steht der Fremde mit einer schlichten Geschenktasche vor mir im Raum, und reicht sie mir. Darin befinden sich eine kleine Sektflasche und ein wenig Süßkram. Dann sehe ich ihn mir gegenüber vor einem Tisch sitzen, einen Stift in der Hand, den er sich wieder und wieder gedankenversunken gegen die Schläfe tippt. Ich sehe ihn, wie er sich zwischen Ukyo und mich schiebt, wobei Ukyo diesen schattenunterlaufenen Blick trägt. Ich sehe den Mann, wie er mit mir lacht, während es um irgendwas mit Hanna, Kochen und einem Missgeschick geht … „Entschuldigung“, keuche ich aus. Als ich aufsehe, bemerke ich denselben nachdenklichen Ausdruck, wie ich ihn etliche Male in den unzähligen Erinnerungsfetzen gesehen habe. Ich weiß, dass der Fremde sich räuspern wird, bevor er es tut. „War das wieder Deutsch?“, fragt er und lächelt amüsiert. Augenblicklich werden meine Wangen heiß. „V-verzeihen Sie, Herr“, korrigiere ich und falle in eine ungeschickte Verbeugung vor. Der Fremde räuspert sich verhalten. „Ich weiß, du musst diese Rolle spielen, aber … Wirst du Ärger bekommen, wenn du mich bei meinem Namen nennst, statt mich mit ‚Herr‘ anzusprechen? Hilft es, wenn ich es ausdrücklich wünsche?“ Ich richte mich vorsichtig auf und wage, mein Gegenüber noch einmal ausgiebig zu mustern. Es steht außer Frage, ich kenne diesen Mann. Doch woher? Würde er aus der Serie stammen, wüsste ich das. Ich weiß alles über »Amnesia«, was es zu wissen gibt. Folglich muss er ein normaler Bewohner der Stadt sein, aber was haben wir dann miteinander zu schaffen? Welche Verbindung besteht zwischen uns? Ein einfacher Stammgast scheint er mir nicht zu sein … „Wenn du es mit Namen tust“, flüstere ich und lasse mich auf seinen vertrauten Umgangston ein. Ich liege richtig damit, denn der Fremde lächelt zur Antwort. „Mako“, meint er und räuspert sich. „Ich meine, bitte nenne mich Mako.“ Ich lasse mir seinen Namen durch den Kopf gehen. Er klingelt nichts bei mir. Ich schüttle den Gedanken ab und nicke in meiner Rolle. „Wie Ihr wünscht, Herr.“ Er räuspert sich erneut, greift nach der Karte und blättert darin. „Habt Ihr bereits einen Wunsch, Mako-dono?“, erkundige ich mich. „Einen Kaffee, schwarz“, räuspert er sich. „Vielleicht gönne ich mir dazu ein kleines Stück Kuchen, ausnahmsweise.“ „Wenn ich Euch in diesem Fall eine Empfehlung aussprechen darf: Unser Maid’s Coffee Set enthält ein Heißgetränk und ein Stück Kuchen nach Wahl.“ „Oh, richtig. Dann nehme ich das“, nickt er, schlägt die Karte zu und legt sie beiseite. „Habt ihr heute wieder diesen leckeren Cheesecake? Ansonsten hätte ich gern etwas mit viel Schokolade. Ich brauche wirklich ganz dringend etwas Süßes“, schmunzelt er schief. Ich nicke lächelnd und mache mir Notizen. „Aber natürlich, Mako-dono. Ganz wie Ihr wünscht.“ „Ich habe dich wirklich lange nicht gesehen“, wechselt er überraschend das Thema. Ich sehe hoch. „Deswegen dachte ich, ich schaue hier mal vorbei. Ich dachte mir schon, dass du noch hier arbeitest. Ich hätte anrufen sollen, aber ich habe es zugegeben in all der Arbeit vergessen … Du kennst das ja.“ „Ist nicht schlimm“, sage ich ruhig. „Bei uns im Meido war in letzter Zeit auch sehr viel los. Ich freue mich, dass du vorbeischaust.“ „Wie geht es mit deiner Arbeit voran?“ „Besser“, erwidere ich. „Eine Weile war es sehr anstrengend, aber ich habe mich inzwischen an alles gewöhnt. Ich habe wirklich sehr liebe Kollegen, die sehr geduldig mit mir sind. Und auch die Kunden sind alle sehr freundlich. Die Karte kenne ich inzwischen auswendig und –“ „Ich meinte eigentlich nicht deine Arbeit im Café“, schmunzelt er. „Wie geht es mit deiner anderen Arbeit voran? Wie weit bist du mit deinem Manuskript?“ Manuskript? … Oh, Shit! „Nicht so gut“, gebe ich kleinlaut zurück. In meinen Schläfen pulsiert es. Hatte Orion nicht mal erwähnt, dass ich nebenher schreibe? Wer ist dieser Mann? Mein Verleger? Ein Auftraggeber? Nur ein anderer Autorenkollege? Hatte Orion sonst noch irgendetwas gesagt? Ich erinnere mich nicht, verdammt! „Wir sollten uns mal in Ruhe zusammensetzen“, meint Mako. „Vielleicht kann ich dir helfen. Ich will mich allgemein wieder mehr um dich kümmern, sofern du einverstanden bist?“ „Sehr gern“, sage ich freundlich. In Wahrheit werde ich panisch. „Ich bringe Ihnen sofort Ihren Kaffee, Mako-dono. Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.“ Ich verbeuge mich und verlasse nahezu fluchtartig das Café. Im Personalflur lehne ich gegen eine Wand und atme tief durch. In meinem Kopf türmen sich Fragen. Befinde ich mich jetzt in Schwierigkeiten? Vielleicht habe ich ein geschäftliches Abkommen verletzt, oder habe eine Deadline versäumt, was weiß ich? Wie kann ich das am ehesten herausfinden? Ich zwinge mich, zur Ruhe zu kommen. Zu allererst hat Makos Bestellung für mich Vorrang. Ich bin hier auf Schicht. Waka bringt mich um, wenn ich mich nicht um meine Gäste kümmere. Ich schaue kurz in der Küche vorbei, ordere ein Stück Käsekuchen bei Kento, kehre nach vorne zurück und bereite den Kaffee. Den gebrachten Kuchen dekoriere ich mit Schokogussschrift. Nachdem ich die Bestellung serviert habe, informiere ich Hanna, mich kurz im Pausenraum zu verziehen. Dort hole ich mein Handy hervor und verfasse eine Nachricht an Ukyo: »Hilfe! Hier ist ein Mako, der mich kennt! Wer ist das?« Ich habe keine Zeit, auf eine Antwort zu warten. Mine stürzt in den Raum und scheltet, dass es für eine Pause zu früh ist. „Außerdem bist du zuletzt dran!“, fügt sie hinzu und ich wette, hätte in diesem Moment nicht Ikki gerufen, sie hätte mich zu Tode gestarrt. Ich darf leben und so schnell Mine gekommen war, ist sie schon wieder verschwunden. Unglücklich, dass Ukyo nicht geantwortet hat, verstaue ich mein Handy in meinem Spind. Ich beeile mich, Mine nach vorne zu folgen.   Der übrige Nachmittag verläuft ereignislos. Mir bleibt keine Zeit, mich privat mit diesem Mako zu unterhalten, das würde Waka nicht dulden. Aus der Distanz beobachte ich, wie er eifrig an seinem Laptop hantiert. Arbeit, vermute ich und lasse ihn machen. Wir wechseln noch einige Worte, als ich ihn zum Abschied geleite, und nehme ihm bei der Tür das Versprechen ab, die Tage von ihm zu hören. Ich verpasse zu fragen, worum es gehen wird, und sehe ihn mit gemischten Gefühlen seiner Wege ziehen. Hoffentlich kann mir Ukyo mehr über diese Person erzählen. Ich erwäge für einen Moment, Ikki zu befragen. Hatte ich ihn nicht in einer dieser Erinnerungsfetzen bei diesem Fremden gesehen? Doch wie kann ich das Thema am besten anbringen, ohne Verdacht zu erregen? Im Gegensatz zu Ukyo weiß Ikki nichts von meiner Situation. Am Ende ist es vielleicht gut, dass ich keine Gelegenheit finde, ihn kurz zu mir an die Seite zu ziehen. Mich befallen keine löchernden Fragen zu dieser Mako-Person. Ich schlussfolgere daraus, dass es niemandem neu ist, dass er mich auf Arbeit besucht. Vielleicht weiß sogar jeder mit Ausnahme von mir, in welchem Bezug ich zu diesem Mann stehe. Ich schaffe es unbeschadet bis zu meiner Pause, die ich allein vor der Tür des Hintereingangs verbringe. Wo ist Mari, wenn man sie braucht? Wieso hat mich keiner gewarnt, worauf ich mich einlasse, wenn ich dieses Leben übernehme? Nicht, dass ich je eine Wahl gehabt hätte … Ich bin überrascht, Ukyo zu entdecken, als ich ins Café zurückkehre. Er scheint mich erwartet zu haben, denn er bemerkt mich sofort und winkt mich an seinen Tisch. „Ich habe deine Nachricht erhalten“, eröffnet er flüsternd und hebt verdeutlichend sein Telefon hoch. „Ich habe dich nicht erreicht, also bin ich gekommen. Tut mir leid, dass es nicht schneller ging.“ „Ich darf dich hier nicht boxen“, mahne ich ihn. „Aber erinnere mich daran, wenn wir wieder zu Hause sind.“ „Schon verstanden“, lächelt er beschwichtigend. Dann wird er ernst. „Mako, hast du geschrieben? Mist, das habe ich ganz vergessen, dir zu sagen …“ „Wer ist das?“ „Kimura Makoto-san, du nennst ihn Mako. Er ist dein Agent.“ „Mein …Agent?“ Ukyo nickt. „Als du hier angekommen bist, zum ersten Mal“, flüstert er umsichtig, „da hast du dir ständig Sorgen gemacht, wie du hier leben sollst. Du hattest Sorgen wegen dem Geld, für die Miete und das alles. Du hast dich entschieden geweigert, dass alles auf mir lastet. Also haben wir gemeinsam  nach Möglichkeiten gesucht, wie du dein eigenes Geld verdienen kannst. Und neben dem Meido haben wir schließlich herausgefunden, dass du mit dem Schreiben noch ein wenig dazuverdienen kannst. Du hattest zuerst deine Zweifel, aber dann hast du dich doch auf einige Stellen beworben. Du hast mit verschiedenen Verlagen und Redaktionen gesprochen, aber das war nicht sehr einfach wegen deiner Herkunft und so … Nur eine Agentur hat schließlich Interesse gezeigt, und Makoto-san ist ein Angestellter davon. Er vermittelt zwischen verschiedenen Auftraggebern und dir, und er hilft dir bei deinen Texten. Ihr habt in der Vergangenheit oft zusammengearbeitet. Ich glaube, er schreibt selbst auch hin und wieder. Aber das wusstest du besser als ich.“ „Wirklich?“ Ich muss erst begreifen, was das bedeutet. „Das heißt, ich habe zwei Jobs? Verdammt, das wusste ich nicht … Habe ich vielleicht irgendeine Deadline verpasst?“ „Sprich am besten mit ihm, sobald du kannst“, rät er mir an. Ukyo zieht schuldbewusst die Schultern nach oben. „Ich hätte es dir früher sagen sollen, aber ich habe daran gar nicht gedacht. Alles war so hektisch und durcheinander … Leider weiß ich nicht, was ihr zuletzt vereinbart hattet.“ „Ist schon gut.“ Am Rande bemerke ich Toma, der mir heimlich zu einem wartenden Gast deutet. „Ich muss jetzt weiterarbeiten.“ „Oh, ja klar. Heute ist recht viel los im Vergleich zu sonst. Ich störe dich auch nicht länger, ich wollte dir nur schnell die Information geben. … Eins noch: Ist heute nicht euer Mädchenabend?“ „Ja.“ „Dann wünsche ich dir viel Spaß. Freunde dich ein wenig mit den anderen an, ja?“ „Ich versuch’s“, sage ich. Ich geleite Ukyo zur Tür und erinnere ihn, morgen zu Hause zu sein. Kaum dass er verschwunden ist, kreuzt Toma meinen Weg. „Ukyo-san scheint einen Narren an dir gefressen zu haben“, meint er im Scherz. „Der ist nur freundlich zu jedem“, kommentiert Mine von der Seite. Sie ist gerade dabei, einen freien Tisch abzuräumen. „Was habe ich dir getan?“, murre ich unwirsch. Ich kann nicht verbergen, dass mich ihr Einwurf verletzt hat. Mine zuckt ungerührt mit den Schultern. „Das habe ich schon gesagt.“ Ohne noch etwas zu ergänzen, zieht sie an mir vorbei.   „Mine“, suche ich das Gespräch, nachdem ich meinen nächsten Gast fertig bedient habe. Hinter der Theke richtet sie einen kunstvollen Eisbecher her. „Stör mich nicht“, weist sie mich ab. „Ich habe dir schon so oft gesagt, was ich von dir halte.“ „Ich wollte mich nur bedanken“, sage ich ruhig. Es fällt mir schwer. „Für gestern. Es lag nicht in meiner Absicht, vorzeitig von der Arbeit zu gehen. Danke, dass du –“ „Und doch hast du’s getan“, fällt sie mir schnippisch ins Wort. „Das lag nicht in meiner Hand“, bleibe ich gefasst. Ich zwinge mich, auf meinen Ton und meine Worte zu achten. „Luka hat … ein ziemliches Durchsetzungsvermögen. Ich weiß nicht, was er zu Waka-san gesagt hat –“ „Du brauchst dich gar nicht so einzuschleimen“, tut sie es erneut. Sie beendet ihr Kunstwerk, legt die Tuben beiseite und dreht sich mir zu. Provokant beugt sie sich vor. „Die anderen fallen vielleicht auf dich herein, aber ich durchschaue dich ganz genau. Du denkst, indem du zu allen so nett tust, kriegst du jeden dazu, dich zu mögen, nicht wahr? Du tust immer ach-so-hilflos, weil du ja erst kürzlich nach Japan gekommen bist und so weiter. Aber eigentlich genießt du es richtig, wie dich jeder behandelt. Du genießt es, dass jeder dir jede noch so dumme Dummheit verzeiht. Ist es nicht so? Gib es doch zu!“ Ich atme tief durch. „Mine, das stimmt nicht.“ „Was solltest du auch anderes sagen?“, seufzt sie gespielt. Sie wendet sich von mir ab und ihrem malerischen Eisbecher zu, den sie auf ein Tablett stellt. „Wie dem auch sei, mich beeindruckst du jedenfalls nicht. Ich verstehe nur nicht, was Ikki-san und Luka-san an dir finden. Du bist ja nicht einmal hübsch … Na ja, früher oder später werden sie das Interesse verlieren. Eine Ausländerin, die mit jedem Typen herumflirtet, wird ziemlich schnell langweilig.“ Sie macht eine Pause, als würde sie nachdenken. „Ich frage mich ja, was Waka-san davon hält. Vielleicht haben sich die Regeln inzwischen geändert …? Ich denke, ich sollte ihn fragen. Das würde die Arbeit so viel lustiger machen!“ Ich sehe Mine fassungslos nach, wie sie bestens gelaunt summend an mir vorbeizieht. Sawa und Hanna sind derweil zu uns gestoßen und flankieren mich beidseitig. „Nimm dir Mine nicht so zu Herzen. Warte, ich rede mit ihr“, spricht Sawa mir zu und eilt davon, nicht ohne mir aufmunternd in die Seite zu stoßen. „Was sie gesagt hat, war wirklich gemein“, meint Hanna gedämpft. Zum ersten Mal glaube ich, so etwas wie Ärger in ihrer Stimme zu hören. „Mine-chan ist eigentlich nett, sie zeigt es nur nicht immer. Ich denke, es fällt ihr schwer, neue Freundschaften zu schließen.“ „War das zwischen euch auch so … extrem kompliziert zu Beginn?“, frage ich. „Nicht so wie bei dir“, gesteht sie. Ich seufze. „Ich glaube, sie kann mich wirklich nicht leiden. Ich weiß noch nicht einmal, was ich ihr getan habe. So langsam weiß ich nicht mehr weiter …“ „Sie muss dich einfach noch etwas mehr kennenlernen“, meint sie überzeugt. Hanna gelingt es, von irgendwoher ein Lächeln zu zaubern. „Ich bin mir sicher, wenn ihr noch etwas mehr Zeit miteinander verbringt, wird es sich bessern. Ich finde, dass du eine nette Person bist, Shizana-san. Es ist nicht gerecht, wie Mine-chan zu dir ist … Aber bitte lass dich davon nicht entmutigen.“ „Ich versuch’s“, sage ich, überzeugt bin ich jedoch nicht. Mine hasst mich, so viel steht fest. Ich bezweifle, dass sich ihre Meinung ändern lässt. Und ehrlich gestanden, ich bin mir nicht sicher, ob sie in einigen Punkten womöglich recht hat …   Zwei Stunden vor Ladenschluss ruft uns Waka zusammen. Militärisch wie je lobt er unseren unermüdlichen Einsatz und verkündet, die Hälfte des Trupps von seiner Pflicht zu entbinden. Wer vorzeitig geht, sollen wir unter uns selbst ausmachen. „Ich denke, ich habe es mir von uns allem am meisten verdient, als Erste zu gehen“, meldet sich Mine sofort. Von ihrem Standpunkt überzeugt reckt sie das Kinn. „Schließlich war ich immerzu vorbildlich, und ich habe mehr als so manch anderer von uns gearbeitet.“ Ich weiß, dass sie vorrangig mich damit meint. „Ich bleibe“, sage ich daher. Mir scheint, dass ich keine andere Wahl habe, obwohl ich durchaus erschöpft bin. „Ich würde gern gehen. Ich muss mich noch auf einen Test vorbereiten“, wendet Shin sich an Kento. „Kento-san, darf ich dir die Küche überlassen?“ „Mich stört’s nicht“, meint dieser. „Ich habe keine weiteren Arbeiten für heute. Geh nur, aber räum bitte vorher deine Seite der Küche auf.“ Shin nickt einverstanden. „Ich möchte auch so gern geh’n“, stöhnt Sawa neben mir. „Ich kann den Abend mit euch Mädels kaum noch erwarten! Es gibt noch so viel vorzubereiten: Chips, Sodas, Zeitschriften, Make-Up …“ „Hältst du das für eine gute Idee?“, wirft Toma ein. Er besieht Sawa mit Sorge. „Nachdem du heute zu spät warst, solltest du besser guten Willen zeigen. Es könnte dein Minuskonto ein wenig aufbessern, wenn du noch bleibst.“ Sawa lässt die Schultern nach vorn fallen und seufzt gequält. Sie räumt ein, dass er wohl recht hat, blickt jedoch drein wie sieben Tage Regenwetter. „Ikki-san?“, treibt Toma an. „Ich kann die Damen unmöglich allein lassen“, betont Ikki und hebt die Arme in eine Geste, als ließe es sich nicht vermeiden. „Du hast gute Arbeit geleistet, Toma. Geh du ruhig früher nach Hause.“ „Bist du sicher?“ „Nur keine Sorge, ich bin in guter Gesellschaft. Nicht wahr, Ken?“ Ikki legt eine Hand an die Schulter des Freundes und grinst schelmisch. „Nicht, dass du viel von meiner Anwesenheit hättest“, erwidert Kento ungerührt. Toma nickt verstehend. „Na gut, dann werde ich gehen. Hanna, was ist mit dir? Eine von euch darf noch gehen. Möchtest du gern Feierabend machen?“ „Ich würde gern noch einige Dinge erledigen. Für später“, meint sie vorsichtig. Ihr fragender Blick streift Sawa und mich. „Hach, ich bin ja so eine blöde Kuh! Wäre ich nicht so blöd, würden nicht andere den ganzen Spaß haben“, ärgert sie sich. Für den Moment schließt sich die Gruppe zusammen, Sawa zu tadeln, wobei es nicht jeder im Scherz meint. Am Ende sind Hanna, Mine, Toma und Shin in der Umkleide verschwunden. Ich verabschiede mich von den Mädels, die ich später noch sehen werde, und wünsche den Jungs ein schönes Restwochenende. Sawa ist zutiefst niedergeschlagen, und ich vermag sie nicht wirklich zu trösten. Wenigstens sieht sie in mir ihre einzige Hoffnung, die übrige Schicht so irgendwie zu überstehen. Ikki, den sie als „größten Idioten“ betitelt, und Kento als „schrecklichster Langweiler“, stehen dagegen nicht zur Debatte. Ihrer Ansicht nach bilden sie das schlimmste Duo der Welt und sind als solches nicht zu ertragen. Ob mir ihre Gunst demnach immer noch schmeichelt, ich bin nicht sicher.   Die restlichen Stunden vergehen vergleichsweise schleppend. Obwohl ich durchgehend zu tun habe, sehe ich häufig zur Uhr. Ich fiebere dem Feierabend entgegen, nicht zuletzt wegen Sawa, die mir in jeder Pause ungewohnt schrill in den Ohren liegt. Aufgeregt und hellauf begeistert erzählt sie von vergangenen Übernachtungen, und was sie und die Mädels nicht alles gemacht haben. „Ich wette, das wird ganz toll!“, sagt sie immer wieder. „Und lass dich von Mine nicht entmutigen. Das wird ein Abend, den wir so bald nicht vergessen werden! Glaub mir, wir werden noch lange davon erzählen!“ Ich lächle jedes Mal und zweifle im Stillen, ob der Mädchenabend wirklich das wird, wie sie ihn erhofft. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, schweift mein Blick hinüber zu Ikki. Ich gebe zu, ich liebe es sehr, ihn in der Rolle des zuvorkommenden Butlers zu sehen. Die Uniform steht ihm gut, er ist zudem überaus charismatisch und charmant in jeder Geste. Die Damen wissen es wie immer zu schätzen. Sie werden nicht müde, ihn zu sich zu rufen und in größter Bemühung, begleitet von Gackern und Kichern, bei Leine zu halten. Ich verspüre keine Eifersucht, während ich sie beobachte. Nur Mitleid, irgendwie. Endlich verhängt Waka das Urteil, dass unser Sieg nah ist. Dennoch leert sich das Schlachtfeld nur langsam. Wie gehabt ist es an Ikki, die letzten Damen persönlich zur Tür zu geleiten, als es an der Zeit ist, das Café zu schließen. Sawa und ich haben derweil begonnen, Gläser und Teller zu spülen, Tische und Tabletts sind längst alle gereinigt. „Ich helf‘ dir beim Wischen“, biete ich an, während Sawa und ich den Flur räumen. „Das kann ich nicht annehmen“, verneint sie. „Schon vergessen? Du hast beim Nikolaus-Event gewonnen. Jeder, der mit dir Schicht hat, übernimmt die Putzarbeit.“ „Ach, komm! Das war doch ’ne Spaßsache.“ „Ich nehme das aber sehr ernst“, erhebt sie. „Abmachung ist Abmachung. Es liegt in meiner Ehre, mich daran zu halten!“ Ich seufze geschlagen. „Dann lass mich wenigstens Eimer und Wasser holen. Du kannst ja derweil die übrigen Stühle hochstellen.“ Sawa salutiert militärisch, ich hingegen wende mich ab. Im Pausenraum suche ich die Utensilien zusammen, mache einen Abstecher zum Waschraum und befülle den Eimer mit Wasser. Als ich in den Pausenbereich zurückkehre, entdecke ich Ikki, der bei seinem Spind steht. Im zweiten Moment erkenne ich das Handy in seiner Hand, die andere hält er zur Faust geballt gegen den Schrank. Ich frage mich, ob etwas passiert ist. „Ikki? Ist alles in Ordnung?“, spreche ich ihn vorsichtig an. Ikki sieht auf. Als er mich entdeckt hat, kehrt sein übliches Lächeln um seine Lippen zurück. „Hast du mich so schnell vermisst? Ich komme gleich wieder nach vorn, Sekunde.“ „Stress dich nicht“, sage ich. Unschlüssig stehe ich da und überlege, ob ich ihn erneut ansprechen soll. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ihn etwas bedrückt. Vielleicht hat er eine schlechte Nachricht erhalten? Oder ihm gehen schon wieder irgendwelche Mädchen auf den Geist? Was immer es ist, ich denke nicht, dass ich mich einmischen sollte. Ich harre noch einen Moment, doch da Ikki nichts sagt und bereits seine Sachen verstaut, wende ich mich zum Gehen. „Warte“, höre ich ihn rufen. Meine Hand verharrt auf dem Türknauf. Ich drehe mich um. Ikki ist kurz darauf bei mir und legt stumm seine Hände auf meine, drückt sie nachdrücklich nach unten. Gelenkt lasse ich Eimer und Wischer neben mir sinken und mich in seine Arme ziehen. Es wird still um uns herum. „Doch nicht alles okay?“, flüstere ich, nachdem einige Zeit kein Wort zwischen uns gefallen ist. Schwerer denn je ruht Ikkis Kopf an meiner Schulter, so zumindest kommt es mir vor. Sein Atem geht langsam und tief, beinah als würde er schlafen. Ich zögere erst, hebe dann doch meine Arme und beginne, ihm tröstend über den Rücken zu streicheln. „… Nein“, antwortet er schließlich. Seine Umarmung wird fester, kurz darauf spüre ich, wie Ikki langsam den Kopf hebt. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Es ist, als hätte ich mich heute nicht im Griff“, knirscht er verbittert. Seine sonst klare Stimme klingt ein wenig erstickt. Er drängt sich zurück und sucht meinen Blick. „Kannst du es mir nachsehen?“ Ich weiche ihm aus und nicke verkrampft. Zum Sprechen bin ich nicht imstande. „Ich suche selber nach einer Erklärung“, spricht er gepresst. „Den ganzen Tag denke ich über nichts anderes nach. Es macht mich fertig.“ Ich schlucke gegen den anwachsenden Kloß in meinem Hals. Nicht sicher, was ich antworten soll, fasse ich seine Hand und drücke sie sanft durch die samtenen Handschuhe. „Zwing dich nicht“, sage ich. Es klingt etwas kratzig, also räuspere ich mich, ehe ich fortfahre. „Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich bin da. Selbst wenn ich nichs tun kann, manchmal hilft es, einfach zu reden. Kento ist auch noch da, falls es dir eher hilft.“ „Nein, es ist gut so. Du bist vollkommen richtig“, gibt Ikki leise zurück. Auf seine traurigen Züge schleicht sich ein Lächeln. „Das ist es, was ich an dir schätze. Dieses Bedingungslose an dir. Selbst jemandem wie mir gegenüber …“ Er entzieht sich meiner Berührung und umfasst meine Hände stattdessen. Innig verweben unsere Finger ineinander. Wir stehen da und sagen kein Wort. Mit jeder stillen Sekunde wird der Wunsch in mir lauter, ihm in die Augen zu sehen. Er wird so drängend und quälend, dass ich schreien will, wie unrecht es ist. Wieso ist es mir nicht vergönnt, wie Hanna zu sein? Wieso gelingt es mir nicht, genug Willen zu haben, um dieser Magie entgegenzutreten? Mehr ist es doch nicht? Warum kann ich nicht stark sein, wenn Ikki es am dringendsten braucht? Ich fühle mich nutzlos, so ungemein schwach, und feige obendrein. Das Risiko ist einfach zu hoch. Es würde alle verletzen … „Ich denke, ich weiß, was es ist“, dringt Ikki hervor. Seine Stimme zittert ein wenig dabei. „Doch allein der Gedanke bereitet mir Angst.“ Ich verliere seine Hände um meine Finger, stattdessen umfassen sie warm mein Gesicht. Im Reflex zucke ich vor der Berührung zurück, und als mir die kritische Lage bewusst wird, versuche ich, mich ihr ganz zu entziehen. „Ich habe dir ein Versprechen gegeben“, flüstert er ruhig. Seine vertraute Stimme wirkt auf mich ein. „Es tut mir leid. Ich fürchte, ich kann es nicht halten … Wirst du mir verzeihen, wenn ich es ein einziges Mal breche?“ ‚Welches Versprechen?‘, bäumt sich die Frage mir auf. Unwillkürlich schaue ich hoch und suche nach Antwort. In diesem Moment wird alles still. Ich sehe nichts außer ihm. Nichts neben diesen bezaubernden Augen … Langsam und zwanglos hebt Ikki mein Kinn. Oder bin ich es, die sich ihm entgegen reckt? Ich kann es nicht sagen. Etwas zieht mich magisch an. Eine süße Stimme flüstert mir zu, meine Augen zu schließen. Ich möchte es tun. Es gibt keinen Grund, sich dagegen zu wehren. Ich will mich ergeben, will an nichts denken, will mich nur auf diesen zarten Wellen verlieren … „Ikkyu“, höre ich eine Stimme entfernt. Plötzlich klärt meine Sicht. Mein Verstand katapultiert sich zurück und ich schnappe erschrocken nach Luft. „Ikkyu, du wirst vorne gebraucht. Würdest du bitte beenden, was immer du hier hinten …“ Kentos Stimme verstummt und ich zweifle für einen Moment, ob das hier die Realität ist. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich elendig langsam. Nichtsdestotrotz genügt es, dass ich mir einiger Dinge bewusst werde. Es erscheint mir wahrscheinlich, dass Kento gerade mitten im Raum steht. Meinungslos auf das Geschehen blickend. Allein die Vorstellung lässt meine Wangen glühen. Einerseits stehe ich geschützt mit dem Rücken zu ihm, andererseits macht das nichts besser. Meine Statur dürfte selbst von hinten schwer zu verkennen sein. Und was hier geschehen ist, oder beinah geschehen wäre, ist zu offensichtlich … Verdammt! Ikki seufzt hörbar genervt. „Ken … kann das nicht warten?“ „Bedaure. Ich fürchte, das kann es nicht. Waka-san möchte –“ „Ikki-kun!“, donnert es just durch den Flur. „Wo bleibt der Bericht?!“ Ikki seufzt einmal lang und betont. Er drückt meine Finger in einer wehmütigen Geste. „Entschuldige mich“, raunt er mir zu, dann weicht er von mir zurück. Während er sich mit Kento aus dem Raum entfernt, höre ich, wie die beiden den Gang entlang laut diskutieren. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich warte darauf, dass das Poltern verebbt, doch das will es nicht tun. ‚Reiß dich zusammen!‘, schelte ich mich. Ich schlage meinen Kopf gegen die nächstbeste Wand, gerade so, dass ich es spüre. ‚Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen! Du hast einen Freund! Was sollte das eben? Los jetzt, komm wieder zu dir!‘ Mein Herzschlag wird ruhiger, die Hitze kühlt allmählich ab. Obwohl der Zauber langsam an Wirkung verliert, fühle ich mich noch immer benebelt. Ich versuche, mich gegen die Bilder zu stemmen, die allesamt Ikki zum Motiv haben. Sie zeigen, was soeben passiert ist, und was zudem hätte geschehen können. Zu allem Überfluss höre ich seine Stimme aus jenem Traum zu mir flüstern: „Ich liebe dich.“   „Was hat da so lange gedauert?“, nimmt mich Sawa in Empfang. Derweil hat sie das Café gekehrt und wartet seit keine-Ahnung-wie-ewig auf mich. Ihr anklagender Blick brennt sich in mich hinein. Ich weiche ihr aus und stelle das Wischzeug stumm neben ihr ab. Hinter uns höre ich das unermüdliche Klappern, das nach eifrigen Fingern auf einem Taschenrechner klingt. Gelegentlich raschelt Papier dazu. Ich wünsche, nur schleunigst hier rauszukommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)