The Sound of Rain von Sky- ================================================================================ Kapitel 11: Unheilkind ---------------------- Daniel zitterte am ganzen Körper und konnte nicht fassen, was hier gerade passierte. Er und Sunny hatten einen so schönen Nachmittag und jetzt… jetzt musste er sich entscheiden, ob er oder Lumis sterben sollte. Wie konnte das nur passieren? Warum nur geschah so etwas Schreckliches? Hatte er irgendetwas falsch gemacht? Gab es irgendetwas, wofür er diese Strafe verdiente? Wieso nur zwang man ihn, so eine Entscheidung zu treffen? Das war einfach nicht fair. Er hatte sich stets bemüht, gut mit anderen auszukommen und er hatte seit dem Tod seiner Mutter das Haus so gut wie nie verlassen. Er kannte Lumis nicht mal und dennoch wollte dieser ihn töten. Immer mehr Tränen sammelten sich in seinen Augen und er konnte nicht aufhörten zu schluchzen. In seiner Verzweiflung wusste er sich nicht anders zu helfen und riss das Messer telekinetisch aus Lumis’ Hand und schleuderte es weg, damit dieser es nicht zurückholen konnte. „Ich will niemanden töten“, rief er, wobei er seine Stimme kaum zusammenhalten konnte. „Und ebenso will ich auch niemandem wehtun. Warum sagt Malcolm so etwas über mich? Was habe ich denn je falsch gemacht, dass er sagt, ich würde Menschen töten? Ich habe niemals jemandem etwas getan und ich will es auch nicht. Wieso will das denn niemand verstehen und warum hasst Malcolm mich selbst nach seinem Tod so sehr, dass er mich tot sehen will? Wieso kann das nicht endlich mal aufhören?“ Völlig aufgelöst begann er zu weinen wie ein Kind und konnte sich nicht beruhigen. Hier aber begannen sich Lumis’ Gesichtszüge deutlich zu entspannen und dann geschah etwas, womit nun keiner gerechnet hatte: er legte tröstend eine Hand auf Daniels Kopf. „Entschuldige“, sagte der Nekromant und senkte den Blick. „Du brauchst nicht zu weinen. Es muss niemand sterben.“ Etwas verwirrt hob Daniel den Blick und schluchzte heftig auf, wobei er sich die Tränen wegwischte. Auch Sunny verstand nun gar nichts mehr. Bevor Lumis aber mit seiner Erklärung begann, setzte er sich und wies seinen Kater an, Orobas loszulassen. Dieser Bitte kam der graue und vernarbte Kater nach und ging von Orobas runter, der sofort zu Daniel eilte. „Entschuldigt den Schreck gerade eben. Ich wollte nur sichergehen, dass auch wirklich keine Gefahr von dir ausgeht. Ich hatte nie vorgehabt, irgendjemanden zu töten. Und wenn ich es vorgehabt hätte, dann wäre ich sicher nicht so blöd gewesen und hätte ein Messer gegen einen Konstrukteur verwendet. Das hätte doch eh nichts gebracht.“ Stimmt, jetzt wo er es sagte… Sunny erinnerte sich noch daran, dass Daniel das Messer einfach weggeschleudert hatte, um Schlimmeres zu verhindern. Wenn Lumis wusste, dass Daniel telekinetisch begabt war, dann hätte er wissen müssen, dass Waffen zwecklos waren. „Aber was wäre gewesen, wenn er dich mit dem Messer angegriffen hätte?“ „Wir Nekromanten können in unseren Körpern wieder zum Leben erwachen, solange sie noch intakt genug sind. Das heißt: hätte ich das Messer in die Brust gekriegt, hätte ich wieder aufwachen können. Nein, die Sache war einfach die, dass dieser Malcolm mir schon die ganze Zeit auf die Nerven geht und von mir verlangt hat, Daniel zu töten, weil er eine zu große Gefahr darstellt. Tja, ich hab ihm mehrmals klar gemacht, dass ich keine Menschen töte, auch wenn ich vielleicht die Macht dazu habe. Aber ich konnte seine Bedenken auch nicht ignorieren. Wenn es gestimmt hätte und Daniel wäre wirklich eine Gefahr gewesen, dann wäre es schwierig geworden. Also hab ich mich kurzerhand auf den Weg hierher gemacht und wollte ihn testen.“ Erleichtert atmeten Sunny und Daniel auf. Insbesondere letzterer war heilfroh und konnte sich langsam aber sicher wieder beruhigen. „Entschuldige, dass ich euch so einen Schreck eingejagt habe. Das war nicht richtig von mir und es tut mir leid.“ In Lumis’ so finster dreinblickendem Gesicht zeichneten sich Schuldgefühle ab und die ganze Situation schien auch für ihn nicht sonderlich angenehm gewesen zu sein. „Muss hart sein, einen solchen Ziehvater zu haben, was?“ Daniel wischte sich die Tränen weg und nickte. Zwar wirkte Lumis immer noch ziemlich bedrohlich und unheimlich von der Erscheinung her, aber es ließ sich dennoch erkennen, dass so eine Situation nicht fremd für ihn war und er nachfühlen konnte, was Daniel alles erleben musste. „Meine Eltern haben sich auch lieber ein normales Kind gewünscht, das nicht so sonderbar ist. Ich war auch echt geschockt, als der Kerl mich aufgefordert hat, dich umzubringen. Er schien einen ziemlich großen Groll gegen dich zu hegen und sagte auch, dass es deine Schuld ist, weil Jessica sterben musste. Details hat er aber nicht genannt und deine Mutter war auch recht verschwiegen.“ Daniel senkte den Blick und wirkte sehr niedergeschlagen. Innerlich kämpfte er mit sich, vor allem, weil er Angst hatte. Sunny wollte ihm schon sagen, dass er die Geschichte nicht unbedingt erzählen und sich damit auch nicht so quälen müsse, wenn er nicht darüber reden wollte, aber da hatte der 19-jährige schon eine Entscheidung getroffen. „Es ist wegen Tessa“, erklärte er mit ernster Stimme. Auch sein Blick hatte etwas so ernstes angenommen, dass man hätte meinen können, dass das gar nicht mehr Daniel war, sondern eine andere Person. Tief atmete er durch und sein ganzer Körper war angespannt. Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um die Geschichte zu erzählen. „Mum, also ich meine Jessica, war nicht meine richtige Mutter, sondern nur meine Ziehmutter. Meine leibliche Mutter ist Desdemona und Tessa ist meine Schwester.“ Diese Nachricht riss Sunny aus allen Wolken. Mit der Wendung hätte er jetzt nicht gerechnet. Aber so erfuhren sie allmählich die Wahrheit. Mit schwerem Herzen erzählte Daniel, dass seine Mutter Desdemona ihn in die Obhut seiner Tante gegeben hatte, als ihre psychische Erkrankung immer schlimmer wurde. „Meine leibliche Mutter hatte Angst, dass mir etwas zustoßen könnte, weil sie der festen Überzeugung war, dass Tessa mich töten will. Jessica adoptierte mich und da sie und meine Mutter eineiige Zwillinge waren, hätte niemand etwas gemerkt. Während meine leibliche Mutter immer mehr ihrem Wahnsinn verfiel und auch Tessa immer aggressiver wurde und ihr Kaninchen mit einem Hammer getötet hatte, wuchs ich ganz normal auf und bekam nichts mit. Schließlich… als da dieses Familientreffen war… da kam meine Mutter mit dem Messer und tötete meine Großeltern und meine Tante. Ich hatte mich im Kleiderschrank versteckt und die Schreie gehört.“ Wieder kamen Daniel die Tränen. Allein als wieder diese Erinnerungen zurückkamen und er sich erinnerte, wie hilflos er da war… „Ich habe nichts unternommen, um meine Mutter aufzuhalten. Obwohl ich diese Gabe habe, hatte ich nichts getan, um das zu verhindern, was passiert ist. Und Malcolm hatte vollkommen Recht. Meine Familie ist nur wegen mir gestorben, weil ich nicht in der Lage war, sie zu beschützen. Und da hört ihr es auch. Meine Mutter war eine wahnsinnige Mörderin, die meine Familie umgebracht hat und mich vielleicht auch umgebracht hätte, wenn sie mich gefunden hätte. Und ich habe nichts getan, um das zu verhindern, sondern mich einfach wie ein Feigling versteckt und sie dem Tod überlassen. Ich bin und bleibe nun mal Abschaum. Ein Monster, das man besser für den Rest seines Lebens im Keller einsperren sollte!“ Den letzten Satz schrie er förmlich heraus und kaum, dass seine Stimme verhallt war, zersprang eine Vase auf dem Kaminsims. Daniel sprang auf und rannte aus dem Wohnzimmer. Sofort stand Sunny auf und rief ihm nach. „Daniel, warte!“ Lumis erhob sich vom Sofa und wandte sich dem grauen Kater mit den türkisfarbenen Augen zu, der stolz da saß und Orobas nicht mal eines Blickes würdigte. „Komm schon, Eurynome. Wir sollten besser gehen.“ Damit ging der Nekromant und wurde dabei von dem grauen und vernarbten Kater begleitet. Gemeinsam verließen sie das Haus und dabei fiel dem Nekromanten auch schon der graue Mercedes nicht weit vom Haus entfernt auf. Und er spürte sofort, wer oder besser gesagt was sich in diesem Auto befand. „Ein Dream Walker“, bemerkte er und runzelte die Stirn. „Was will der denn hier?“ Doch der graue Kater schien nicht sonderlich interessiert zu sein und leckte sich desinteressiert die Vorderpfote. „Das ist nicht unsere Angelegenheit. Sehen wir lieber zu, dass wir zurück zum Hotel kommen. Es wird langsam spät und ich will mich schlafen legen.“ Doch für Lumis war es schon seltsam. Er als Nekromant und dann noch ein Dream Walker… und sie beide schienen Interesse an Daniel zu haben. Da stimmte doch etwas nicht. „Irgendetwas ist faul, Eurynome. Wenn die drei Großmächte zusammenkommen, hat das meist irgendetwas zu bedeu…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn ihm kam da gerade ein Gedanke. Was, wenn dies hier wirklich so war, wie seine Vorfahrin Sally es ihm erzählt hatte? Wenn sich die Großmächte versammelten, dann bedeutete es, dass ein weiteres „Unheilkind“ geboren wurde. So wie damals vor über 600 Jahren. Ja… jetzt so langsam ergab es einen Sinn. Eurynome… Marbas… Orobas… Es war alles ihr Werk. Das Werk jener, die man auch die Schwester des Todes nannte. „Eurynome, wenn wir zurück im Hotel sind, verlange ich ein paar Antworten von dir. Und ich hoffe für dich, dass du sie auch ehrlich beantwortest.“ Sunny war Daniel hinterher geeilt und zuerst hatte er befürchtet, dieser würde blindlings aus dem Haus stürmen, doch stattdessen hatte dieser sich im Keller verkrochen und kauerte schluchzend in einer Ecke. Wie ein kleines verängstigtes Kind, das miterleben musste, wie sich die Eltern stritten und gegenseitig schlugen. „Daniel…“ Sunny streichelte sanft seinen Kopf und versuchte, ihn zu beruhigen. Doch der 19-jährige war vollkommen aufgelöst und zitterte am ganzen Körper. „Hey Daniel, was machst du denn hier? Der Keller ist doch nicht der richtige Ort. Na komm, lass uns wieder hochgehen.“ „Lass mich!“ rief der Angesprochene und ein heftiger Ruck ging durch einen Schrank neben Sunny und schob sich zwischen sie, als der Student zurückwich. Offenbar hatte Daniel solche Angst, dass er sich komplett abschotten und isolieren wollte. Doch so leicht wollte er sich nicht abwimmeln lassen. Sein Entschluss, Daniel zu helfen, war ungebrochen und so versuchte er den Schrank weg zu schieben, allerdings war dieser schwerer als erwartet. „Daniel, jetzt lass dir doch helfen. Das, was dir passiert ist, das ist wirklich schlimm, aber wieso läufst du denn weg?“ Das Schluchzen wurde lauter und irgendwie kam sich Sunny in diesem Moment hilflos vor. Er wusste nicht, wie er Daniel diese schwere Last von der Schulter nehmen sollte, geschweige denn was er tun konnte, um ihm seine Angst zu nehmen. Ein leiser Seufzer entfuhr ihm und er senkte den Blick. „Es tut mir leid, was dir passiert ist. Aber… du hast doch keine Schuld an dieser Tragödie von damals. Du warst erst sieben!“ „Ich hab meine Familie im Stich gelassen, als sie mich am meisten gebraucht hat“, kam es von der anderen Seite. Daniels Stimme zitterte heftig und man konnte hören, dass er sehr unter dieser Geschichte litt. „Ich konnte niemanden retten. Nicht mal meine Mutter.“ „Du musst dir diese Vorwürfe nicht machen!“ rief Sunny und schlug mit der Faust gegen den Schrank, der sich nicht von der Stelle bewegen ließ. „Du kannst von Glück reden, dass du noch lebst und Malcolm hatte doch keine Ahnung. Nur weil er seine Freundin verloren hat, hatte er noch lange nicht das Recht, dich einzusperren und seinen ganzen Frust an dir auszulassen. Du kannst doch nichts dafür und ich werde dich auch nicht verurteilen. Warum denn auch? Wenn ich in deiner Situation gewesen wäre, dann hätte ich mich auch versteckt und Angst gehabt. Du warst damals zu klein und keiner würde dir deswegen Vorwürfe machen, weil du auch keine Schuld hast. Malcolm hat nur einen Sündenbock gebraucht, auf den er sich einschießen kann und er ist ein verdammtes Arschloch gewesen. Aber du bist kein Monster und für mich warst du auch nie eines. Und weißt du auch warum? Weil ich dich liebe, Daniel!“ Stille kehrte ein, selbst Daniels Schluchzen war nicht mehr zu hören und langsam schob sich der Schrank zur Seite und so konnte Sunny zu ihm. Verschüchtert ruhten die moosgrünen Augen, die durch die Tränen etwas gerötet waren, auf dem Studenten und waren von Angst und Schüchternheit gezeichnet. Sofort ging Sunny zu ihm und nahm ihn in den Arm. „Ich lass dich nicht alleine, Daniel. Und ich werde nicht zulassen, dass dich irgendjemand jemals wieder in einem Keller einsperrt wie ein Monster.“ Der 19-jährige erwiderte die Umarmung und man konnte fühlen, wie aufgewühlt er innerlich war. Aber gleichzeitig schien er auch erleichtert zu sein. Und so langsam aber sicher beruhigte er sich wieder. „Du… du hasst mich also nicht?“ fragte er vorsichtig und als Antwort darauf küsste Sunny ihn. „Wieso sollte ich dich denn hassen? Dafür gibt es doch keinen Grund. Na komm, lass uns wieder nach oben gehen. Hier im Keller ist es doch viel zu ungemütlich.“ Nachdem sich Daniel wieder beruhigt hatte, gingen sie wieder nach oben und als sie ins Wohnzimmer gingen, waren sie überrascht, dass Lumis nicht mehr da war. Von Orobas erfuhren sie schließlich, dass der unheimliche Gast gegangen sei, zusammen mit Eurynome. Da sie also wieder alleine waren und sie doch recht müde waren, beschlossen sie, gleich ins Bett zu gehen. Und weil ja das Fenster in Daniels Zimmer kaputt war, durfte er bei Sunny übernachten. „Erinnere mich aber morgen mal dran, dass wir uns um das Fenster kümmern müssen. Auf jeden Fall muss es erst mal irgendwie abgedichtet werden, falls es regnen sollte.“ „Darum kümmere ich mich schon“, versicherte Daniel und lächelte müde. Er sah ziemlich erschöpft aus und als sie sich ins Bett legten, kuschelte er sich an Sunny und bewies wieder mal, wie anhänglich er eigentlich war. Und Sunny hatte ja auch nicht wirklich etwas dagegen, vor allem weil dies ja auch Daniels Laune deutlich besserte. Nach der ganzen Aufregung brauchte er jetzt eben jemanden, der ihm sowohl Zärtlich streichelte er dem 19-jährigen den Kopf und merkte, dass auch er langsam aber sicher müde wurde. Die Aufregung vorhin war aber auch echt viel gewesen. „Sunny…“ Daniels Augen schauten zu ihm auf und wirkten im Moment wie die eines kleinen Welpen. Sie wirkten so unschuldig, dass es dem Studenten immer wieder ein Rätsel war, wieso sein Onkel ihm solche Dinge angetan hatte. „Es tut mir leid, dass ich so viele Probleme mache. Ich weiß, dass ich anstrengend bin. Egal was ich mache, ich mache anderen immer nur Ärger und ich verlange auch viel.“ Oh Mann, dachte Sunny und ließ einen leisen Seufzer vernehmen. Offenbar kommt er einfach nicht von diesem Denken los. Na dann will ich es ihm ein für alle Male klar machen. „Du machst mir doch keine Probleme. Und wenn, dann hätte ich es doch schon längst gesagt. Und was verlangst du denn überhaupt? Doch nur, dass du geliebt wirst und das ist doch nicht zu viel verlangt. Und ich habe dir doch gesagt, dass ich dich liebe. Es ist nichts falsch daran, jemanden zu lieben und so langsam musst du auch mal lernen, dich öfter durchzusetzen, so wie gestern. Da hast du mir doch auch klar zu verstehen gegeben, was du empfindest. Oder etwa nicht?“ Das stimmte zwar, aber Daniel wurde immer noch von seinen Unsicherheiten beherrscht und er fühlte sich hilflos. In all den Jahren hatte Malcolm ihm eingetrichtert, dass er ein Monster sei, das man für immer wegsperren oder am besten gleich töten sollte. Er war immer nur der wertlose Abschaum gewesen, der seine eigene Familie einfach dem Tod überlassen hatte. Diese jahrelangen Misshandlungen und Erniedrigungen hatten sehr tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen und es würde lange dauern, bis er das alles vollständig verarbeitet hatte. Das war auch Sunny klar, aber er wollte Daniel zeigen, dass er für ihn da war und ihm beistand. „Mir ist so, als wäre er immer noch da“, murmelte der 19-jährige leise, während er sich dicht an den Studenten herankuschelte. „Es ist noch alles so präsent, so als würde er wieder zurückkommen und ausrasten, weil er gesehen hat, wie ich meine Kräfte einsetze, obwohl er es mir streng verboten hat.“ „Vielleicht hilft es, wenn wir morgen sein Grab besuchen. Dann kannst du ihm alles sagen, was du ihm schon immer mal sagen wolltest und kannst auf die Weise damit besser abschließen. Das Schöne ist ja, dass er sowieso keine Widerworte mehr geben kann. Und wenn dieser Lumis schon mit den Toten quatschen kann, vielleicht haben wir ja Glück und mein Onkel kann uns auch hören. Dann kann ich ihm bei Zeiten auch sagen, dass er seinen Aufenthalt in der Hölle genießen soll. Aber lass dich jetzt nicht entmutigen. Es läuft doch alles super, oder nicht? Ich muss zwar morgen wieder zur Uni, aber ich habe ja noch zum Glück einen recht kurzen Tag. Das heißt, wir können gerne in die Stadt gehen und irgendetwas unternehmen. Du musst ja sowieso noch ein Konto eröffnen, damit du auch über deinen eigenen Lohn verfügen kannst. Ich kann dir aber auch in bar auszahlen, damit du dir schon mal ein paar Sachen kaufen kannst. Dann hast du auch mal endlich eigene Sachen, die du vielleicht schon immer mal haben wolltest.“ Ja, das war eine tolle Idee, nur gab es ein Problem: Daniel wusste nicht einmal, was er denn alles haben wollte. Er hatte ja gelernt, genügsam und enthaltsam zu leben. Sein wertvollster Besitz waren seine Murmeln, die Orobas ihm geschenkt hatte. Nun gut, er brauchte vielleicht noch ein paar Klamotten, weil seine jetzigen schon ziemlich abgenutzt waren. Aber ansonsten war er doch schon glücklich genug, dass er hier in der Villa bleiben durfte und sogar ein eigenes Zimmer hatte. „Ich weiß gar nicht, was ich mit so viel Geld anfangen soll“, gab der 19-jährige zu. „Außer neuen Klamotten und vielleicht ein paar Möbeln brauche ich doch nichts.“ Doch Sunny schüttelte nur den Kopf und erklärte „Du hast eben halt keine Vorstellung, was man sich alles kaufen kann. Glaub mir: wenn du erst mal in der Stadt bist und siehst, was es dort alles zu kaufen gibt, dann kommst du schon noch auf Ideen. Du warst halt viel zu selten draußen, das ist alles.“ Ja, da hat er wohl Recht, dachte sich Daniel und er merkte, wie ihm so langsam aber sicher die Augen zufielen. Er ließ es einfach zu. Diese angenehme Wärme zu spüren und den beruhigenden Rhythmus von Sunnys schlagendem Herzen zu lauschen, ließ ihn all diese schrecklichen Dinge wieder vergessen, die ihm widerfahren waren und er fühlte sich seit langem wieder geborgen und sicher. Und so fiel er recht schnell in einen sehr tiefen Schlaf. Es war dunkel. Die schwarzen Nachtwolken hatten selbst die Sterne am Himmel verschluckt und selbst der Mond blieb in dieser Nacht verborgen. Der Wind wehte leicht und es war spürbar kühl geworden. Aber das hielt Lumis nicht davon ab, nachts auf den Friedhof zu gehen. Wieso denn auch nicht? Er hatte es schon als kleiner Junge getan und für ihn waren sie sein zweites Zuhause, so bizarr das auch für normale Menschen klingen mochte. Aber der Tod gehörte nun mal zu ihm dazu. Von Eurynome hatte er schon des Öfteren Legenden über die Entstehung der Nekromanten gehört. Dass Babys, beziehungsweise Embryos kurzzeitig an der Schwelle zu Leben und Tod standen und in diesem Augenblick diese Kraft erlangt hatten, weil sie sich an das Leben klammerten. Ob diese Geschichten wahr waren, ließ sich schwer sagen, denn Eurynome sagte nicht immer die Wahrheit, nur wenn ihm danach war. Geschickt kletterte er über das Tor und suchte sich einen geeigneten Platz. Zwar waren die Toten immer für ein Gespräch zu haben, doch das interessierte ihn jetzt nicht. Er hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Irgendwo musste nämlich jemand begraben liegen, der vielleicht mehr wusste. Also begann er der Reihe nach den Friedhof absuchen, mit nichts als einer Taschenlampe bewaffnet. Wirklich sicher, wo er hier suchen musste, war er sich nicht. Darum blieb er beim Grab eines alten Mannes stehen, der vor über 25 Jahren gestorben war. Er blieb vor seinem Grab stehen und las den Namen: William Taylor. „Mr. Taylor, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich das Grab von Elyssia Wyatt finde?“ „Elyssia Wyatt?“ hörte er eine Stimme in seinem Kopf flüstern. „Da musst du nach rechts. Wenn du das Grab von Jebediah Conwood erreichst, der 1933 gestorben ist, musst du noch ein paar Schritte nach links und du bist da.“ Lumis bedankte sich für die Auskunft und folgte den Wegweisern. Ein weiterer Grund, warum er lieber mit Toten, als mit Menschen redete. Die Toten waren bei weitem hilfsbereiter und freundlicher. Naja, die meisten jedenfalls. Allmählich wurde es deutlich kühler und überall waren unheimliche Geräusche zu hören, die einem Menschen einen Schauer über den Rücken jagen konnten. Viele hätten Angst bekommen und die Flucht ergriffen, doch Lumis war in der Hinsicht vollkommen schmerzfrei, denn nachts trieb sich sowieso kaum jemand hier rum. Außer vielleicht irgendwelche Hardcore-Gothics, die eine Sitzung an den Gräbern halten wollten. Aber zum Glück traf es ja nicht unbedingt auf ihn zu. Nachdem Lumis das Grab von Jebediah Conwood erreicht hatte, wandte er sich nach links und suchte die Gräber weiter ab. Und tatsächlich konnte er nach ein paar Schritten das Grab von Elyssia Wyatt ausmachen. Die Gute war Anno 1910 verstorben. Soweit er richtig gehört hatte, war die Wyatt-Familie ein uralter Seer-Clan, wo seit Generationen dieser besondere siebte Sinn weitervererbt wurde. Neben Stephen und Jonah Wyatt, war Elyssias siebter Sinn der mächtigste gewesen. Womöglich konnte sie ihm ja weiterhelfen, denn Eurynome hatte mal wieder einfach einen Abgang gemacht, ohne ihm seine Fragen zu beantworten. „Guten Abend, Mrs. Wyatt“, grüßte er und zündete ein Grablicht an. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass die Toten bei weitem redseliger wurden und auch deutlich gnädiger gestimmt waren, wenn man ihnen etwas ans Grab legte. Und nach dem Zustand dieses Grabes zu urteilen, war schon lange niemand mehr ihr Grab besuchen gegangen. „Na so was. Ein Nekromant kommt mich besuchen?“ Die Stimme klang sehr jung. Offenbar war Elyssia recht jung gewesen, als sie verstarb. Vielleicht war sie 20 Jahre alt… „Das ist ja eine Überraschung. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“ Nachdem er das angezündete Grablicht hingestellt hatte, kam er auf sein Anliegen zu sprechen. „Es geht um einen Konstrukteur, der in Somnia lebt. Sein Name ist Daniel Ronove und er ist der Sohn von Desdemona Ronove. Ich bin hier, weil sein Ziehvater verlangt hat, dass ich ihn töten soll und es ist auch noch ein Dream Walker in der Nähe. Mich beschleicht ein seltsames Gefühl, dass sich die drei Großmächte hier versammelt haben. Vor allem, weil ich die Seele meiner Vorfahrin in mir trage, die zudem eine Scyomantin ist. Sie gilt als die Stärkste ihrer Art und Tessa Ronove war ebenfalls eine Dream Walker. Nun will ich wissen, ob es ein Zeichen sein kann.“ Es dauerte etwas, bis die Stimme antwortete. Manchmal kam es auch vor, dass sie gar nicht antworteten. Das kam ganz darauf an, ob die Toten überhaupt gewillt waren zu sprechen. Das konnte auch schon mal vorkommen. Aber er hoffte, dass Elyssia in Redelaune war. Und tatsächlich antwortete sie „In der Tat, das ist ein Zeichen. Ein Kind, das mit beiden Gaben gesegnet werden sollte, verlor eine Hälfte, als es sich selbst zu trennen begann. Und um zusammenzufügen, was zusammengehört, um die Ordnung zu gewährleisten, braucht es einen Nekromanten. Und das, was daraus geboren wird, bezeichnen die Menschen als Unheilkind. Es ist weder Nekromant, noch Dream Walker, noch Konstrukteur.“ „Und warum passiert das? Steckt ein tieferer Sinn dahinter, dass sich bald noch ein solches Kind zeigt?“ „Es ist der Kreislauf der Dinge“, erklärte die Stimme ihm. „Wenn sich die Zeit eines solchen Höchstbegabten dem Ende zuneigt, oder er selbst sein Ende beschließt, dann wird ein neues Unheilkind geboren. Und dieses erhält die Kraft der Nekromantie, der Telekinese und der Telepathie. Es verkörpert damit den Schnittpunkt all dieser Kräfte und seine Existenz gewährleistet den Fortbestand dieser Kräfte. Das heißt damit, die Existenz eines Unheilkindes ist unbedingt notwendig, damit diese Kraft nicht ausstirbt.“ Soso… ein Unheilkind also. Ein nicht gerade schmeichelhafter Titel, aber nun ergab das alles einen Sinn. „Verstehe“, murmelte Lumis und nickte. Auch wenn er vielleicht erst 17 Jahre alt war, so verstand er die ganzen Zusammenhänge sehr gut. Er hatte ja nicht umsonst einen IQ von 128. Daniel war das nächste Unheilkind in der Reihenfolge und das war vorherbestimmt gewesen. „Aber warum ausgerechnet Daniel?“ „Weil die Basis für die Voraussetzungen eines neuen Unheilkindes festgelegt sind. Es muss ein Konstrukteur sein, sonst funktioniert es nicht.“ Und das hieß also, dass es schon sehr bald geschehen würde. Darum hatte Josephine also Marbas, Orobas und auch Eurynome losgeschickt. So langsam fügten sich die Puzzleteile zusammen. Fragte sich nur, inwieweit Orobas und Eurynome darüber Bescheid wussten und ob der Dream Walker Kenntnisse über diese Entwicklung hatte. „Tja, so wie es aussieht, werde ich wohl noch eine Weile in Somnia bleiben müssen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)