Raphael von Isfet ================================================================================ Kapitel 1: One Shot ------------------- Raphael Dieser Morgen war hell und freundlich. Der Himmel erstrahlte in Azur und faserte nahe dem Horizont in Bernstein und Rubin aus. Direkt über ihrem Haus, umrahmt von kahlen Ästen, zog das V eines Gänseschwarms gen Norden und erfüllte die Luft mit stetigem Schnattern. Frühling war im Verzug und der Gedanke zauberte ein mildes Lächeln auf Miriams Gesicht, denn er war ihre liebste Jahreszeit. Sie fröstelte ein wenig als sie vor die Tür trat, um in den Briefkasten zu sehen. Frost bedeckte wie ein weißer Teppich Wiese und Bäume rund herum. Ein unerwartet lautes Knistern erschreckte sie so sehr, dass sie einen kleinen Hüpfer nach hinten machte. Unter ihrer rechten Socke lugte ein weißes Stück Papier hervor. Sie bückte sich und hob es vorsichtig auf. Es war ungefähr so groß wie ihre Handfläche und wegen der Kälte leicht angefroren. Ein einziges Wort stand darauf, in einer krakeligen Kinderhandschrift geschrieben. An einigen Stellen verblassten Teile der Buchstaben und zogen ein paar Schlieren hinter sich her, wie Flugzeuge am Himmel. Hallo Miriam drehte den Zettel herum, doch die Rückseite war unbeschrieben. Ratlos betrachtete sie ihn eine Weile. Was sollte sie damit anfangen? Von wem war er? Und warum? Schließlich verschwand sie nach drinnen, fügte ihr eigenes Hallo? hinzu und als sie zurückkehrte, legte sie den Zettel wieder an den Platz, an dem sie ihn gefunden hatte. Dann schloss sie die Haustüre hinter sich und dachte nur noch einmal über ihn nach, als ihr im Laufe des Tages auffiel, dass er nicht mehr da war. Auch der nächste Morgen war hell und freundlich, als sie an den Briefkasten trat. Miriam gönnte sich einen Moment und atmete den Duft von nassem Holz ein, während sie dem Ächzen des Waldes lauschte, der sich um ihr Haus herumwand. Seit sie hierher gezogen waren konnte sie leichter entspannen und den Stress der Arbeit schneller hinter sich lassen. Immer wenn sie aus der Redaktion zurückkehrte, kam es ihr vor, als hätte sie einen schweren, dreckigen Mantel abgestreift, der sich ihr tagtäglich ungewollt um die Schultern schlang, sobald sie sich in ihren kleinen VW setzte. Sie trat an den Briefkasten und erneut erklang ein lautes Knistern. Neugierig hob sie einen weiteren eiskalten Zettel vom Boden auf und erkannte die gleiche Schrift wie zuvor. Wie geht es dir Dir? Das durchgestrichene dir brachte sie zum Schmunzeln. Da schien sich jemand besonders viel Mühe zu geben. Miriam wusste noch immer nicht, ob sie sich Sorgen machen sollte. Für den Moment war sie bloß neugierig und ein kleines bisschen belustigt. Vermutlich war es nur ein Kinderstreich. Sie antwortete mit: Mir geht es gut. Und Dir? Dann hörte sie von drinnen ihre kleine Tochter nach ihr schreien und begab sich hastig ins Haus. Der Anblick des unordentlich durchgestrichenen Wortes drängte sich immer wieder in ihren Kopf, bis Erik ihr abends von seiner Gehaltserhöhung erzählte und sie damit erfolgreich ablenkte. Der Morgen darauf war in tiefes Grau getaucht. Das unscheinbare Blatt nahe der Türschwelle fing diesmal sofort ihre Aufmerksamkeit ein. Sie pflückte es behutsam von der borstigen Fußmatte und las. Die Antwort ließ sie die Stirn runzeln und löste einen Stich Besorgnis in ihrem Inneren aus. Mein Name ist Raphael. Und Deiner? Kein Wort darüber, wie es ihm ging. In einer Konversation, die praktisch nur aus Small-Talk bestand, fiel es auf wie die einzige fehlende Seite in einem Buch. Ich bin Miriam. Du hast meine Frage nicht beantwortet, Raphael. Geht es Dir gut? Sie biss sich auf die Unterlippe, bevor sie den Zettel ablegte und sich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ihrem Tagesablauf widmete. Schließlich bekam sie in der Redaktion eine besonders interessante Story zugeteilt und ihre Freude darüber begrub alle anderen Sorgen. Beim Abendessen waren sie ausgelassen. Sonja hatte im Kindergarten ein wunderhübsches Bild gemalt, mit Mama, Papa und sich selbst darauf. Miriam drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. „Du bist eine kleine Künstlerin. Ich bin so stolz auf dich, Schatz.“ Sonjas Lachen war Glockengeläut an einem Feiertag. Erik strahlte sie ebenfalls an. „Zeig Mama das andere Blatt“, schlug er vor und streichelte seiner Tochter durch das sonnenblonde Haar. Sie grinste und hielt Miriam ein liniertes Blatt hin, auf dem sie in Großbuchstaben Mama, Papa und Sonja geschrieben hatte. Die Buchstaben sahen so unbeholfen und klobig aus, wie es bei einer Vierjährigen zu erwarten war. Aber sie erinnerten Miriam sofort an eine andere krakelige Schrift und sie stockte, bevor sie Sonja in ihre Arme schloss und mit überschwänglich viel Lob übergoss. Viel später, als sie beide in ihrem Ehebett lagen und Eriks flacher werdender Atem den Raum mit Geborgenheit füllte, sagte Miriam: „Ich bekomme Briefe von einem Unbekannten.“ Eine vielsagende Stille folgte, bis Erik seinen Schock überwunden zu haben schien. „Was?“ Miriam grinste schelmisch und erklärte es ihm. Er grunzte und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Mach dir keine Sorgen. Das wird schon nichts Schlimmes sein. Aber es wäre schön, wenn du mir sowas in Zukunft früher erzählst.“ Es dauerte diesmal sehr lange, bis Erik wieder tiefer atmete. Danach blieb sie noch eine ganze Weile wach und grübelte. Dicke, schwarze Gewitterwolken grollten in der Ferne, als sie morgens vor die Tür trat und einen weiteren Zettel vorfand. Wind und Wetter hatten ihn halb unter die Fußmatte getragen, wo er glücklicherweise stecken geblieben war. Ich glaub, du bist sehr net, Miriam. Aber du wilst gar nicht wissen, wie es mir geht. Leb wol. In ihrem Inneren herrschte Winter, nachdem sie die schwer lesbaren Sätze entziffert hatte. Sie wirkten sehr hastig geschrieben, als hätte Raphael sie schnell hinter sich bringen wollen. Oder als wäre er sehr aufgewühlt gewesen. Miriam strich mit einem Finger über die Fehler in dem Text und fragte sich, warum er so schroff, so verletzt reagierte. Raphael, ich meine es ehrlich. Ich möchte wirklich wissen, ob es Dir gut geht. Und warum Du mir schreibst. Brauchst Du vielleicht Hilfe? Es war ihr egal, ob es sich um einen Scherz handelte oder nicht. Etwas an Raphaels Verhalten bereitete ihr Kopfschmerzen. Die Sache mit den Zetteln, die er auf die Fußmatte legte anstatt in den Briefkasten, wo sie vor Wind und Kälte geschützt wären. Seine Anklage, dass sie sich gar nicht ernsthaft für ihn interessieren würde. Dass das Papier immer schon halb gefroren war, wenn sie es entdeckte, egal wie früh sie herunterkam. Und dann war da noch die Frage, wo er wohl herkommen könnte. Immerhin lag ihr kleines Haus ein paar Kilometer von der Stadt entfernt. Es gab nur wenige direkte Nachbarn und selbst die waren in allen Ecken des Waldes verstreut. Aber am wichtigsten war, wieso er ihr schrieb. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er damit erreichen wollte. Doch wenn er ein Kind war, das Hilfe bei ihr suchte, dann würde er sie bekommen. An diesem Tag schrieb Miriam ihre Artikel in Rekordzeit. Ihre Kollegen starrten sie nur mit offenem Mund an, als sie frühzeitig ins Büro ihres Chefs preschte und ihm die fertigen Texte präsentierte. Danach recherchierte sie, bis tief in die Nacht hinein und gab schließlich frustriert auf. Raphaels Vorname allein reichte nicht aus, um mit Sicherheit festzustellen, wer er war. Alles, was sie schließlich vorzuweisen hatte, waren zwei Raphaels, die in den letzten vier Jahren an der städtischen Grundschule registriert worden waren. Sie schlief schlecht. Der nächste Morgen war wieder hell und freundlich. Aber zum ersten Mal seit vier Tagen entdeckte sie kein kleines Stück Papier vor ihrer Haustür. Kopfschüttelnd schloss sie die Tür und vergaß zum ersten Mal seit ihrem Einzug, die Post aus dem Briefkasten zu holen. Ihre Recherche blieb weitgehend erfolglos, da sich herausstellte, dass einer der beiden Raphaels vor einem Jahr von der Schule abgemeldet und der Andere mit seiner Familie scheinbar frühzeitig in die Osterferien aufgebrochen war. Allerdings fand sie heraus, dass die Mutter des ersten Raphael ein paar Jahre zuvor Selbstmord begangen hatte. Es gab Gerüchte, ihr Mann hätte sie misshandelt, man hatte aber keine Beweise gefunden. Sie stürzte sich auf die Informationen, doch letztendlich offenbarte sich, dass Vater und Sohn umgezogen waren und keine neue Adresse hinterlassen hatten. Es musste nicht heißen, dass sie weit weg gezogen waren. Aber es brachte sie dennoch in eine Sackgasse. Die Tage danach zogen träge ins Land. Miriam selbst fühlte sich schwerfällig, als würde sie ständig durch Teer gehen. Es kamen keine Zettel mehr und schließlich sah sie ein, dass auch keine weiteren mehr kommen würden. Und plötzlich stand Ostern vor der Tür und entfachte in ihr eine Idee. Spät abends, als Sonja und Erik bereits schliefen, schlich sie zum Fronteingang. Behutsam stellte sie ein kleines Körbchen, mit Eiern und Schokohasen gefüllt, auf die braune Matte. Mitten hinein steckte sie einen kleinen Zettel mit den Worten Frohe Ostern, Raphael. Danach stahl sie sich ins Innere davon, um auf einem der Fensterbretter des Wohnzimmers Platz zu nehmen. Von dort aus konnte sie den Eingangsbereich ihres Hauses genau beobachten. Vielleicht, nur vielleicht, würde ihn das Körbchen anlocken. Er war ein Kind. Kinder liebten Geschenke. Eine ungewisse Zeit später schreckte sie auf, als sie eine Bewegung auf dem Rasen bemerkte. Der Himmel war ein nachtschwarzes Tuch, der Morgen noch fern. Die kleine Gestalt eines Jungen war vor dem Korb stehen geblieben. Dann zuckte er heftig zusammen, hob den Arm und klingelte panisch. Miriam sprang erschrocken auf. Warum tat er das? Es war mitten in der Nacht! Sie marschierte zur Haustür, atmete tief durch und zwang sich sie vorsichtig zu öffnen, um das Kind nicht zu verschrecken. Augenblicklich hatte sie einen Arm voll Raphael. Sein Griff schnürte ihr die Luft ab, sein Kopf presste sich in ihren Bauch und seine Hände zitterten an ihrem Rücken. Und dann hörte sie ein Grollen wie von einem besonders großen, wilden Tier. Aus der Finsternis kam ein Bär von einem Mann gestürmt. Sein Gesicht war wutverzerrt, die Zähne gebleckt. In der rechten Hand umklammerte er eine zerbrochene Flasche. „Das ist mein Sohn!“, grölte er im vollen Lauf. „Meiner, hörst du, du Bitch! Lass deine dreckigen Pfoten von ihm!“ Miriam starrte ihn mit offenem Mund an. Sie hätte sich vielleicht gar nicht gerührt, hätte sie nicht das bebende Bündel in ihren Armen vor Angst wimmern gehört. Sie zerrte den Jungen herein und versuchte die Tür ins Schloss zu werfen. Ein lautes Splittern erklang. Dann ein Jaulen, das sich in wildes Kreischen verwandelte. Der Fuß des Mannes steckte im Türrahmen, grotesk verformt und zusammengepresst. Miriam schubste Raphael weiter in den Flur hinein und presste sich mit aller Kraft gegen die Tür. Aber sie war zu leicht. Zentimeter um Zentimeter verlor sie an Boden, während der Mann auf der anderen Seite hysterisch Obszönitäten und Drohungen ausspie. Er würde sie töten, wenn er sie bekam, fauchte er. Er würde seinen Sohn töten, wenn er ihn bekam. Miriam keuchte verzweifelt auf und drückte fester und wurde doch weiter zurückgeschoben. Ein irre grinsendes Gesicht drückte sich durch den entstehenden Spalt. „Das Balg wird mich nicht verlassen. Er wird mich nicht verlassen! Er gehört mir! Ich kann mit ihm machen, was ich will! Hörst du, Balg, du gehörst mir!“ Er lachte gurgelnd, der Wahn tief in seinen schwarzen Augen. Plötzlich hallte lautes Getrampel im Flur hinter ihr wider. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Erik mit bleichem Gesicht auf sie zu gerannt kam, ein langes Küchenmesser in der Hand. Ohne zu zögern stocherte er blind durch den Schlitz und mit einem Schmerzensschrei knallte die Tür ins Schloss. Draußen röhrte Raphaels Vater wie wild. Im nächsten Moment wackelte die Tür unter seinem Ansturm. „Ich ruf die Polizei“, murmelte Erik und zückte sein Handy. Hinter ihm kauerte Raphael mit über dem Kopf verschränkten Armen und wimmerte leise. Da wo er nicht von Stoff bedeckt war, konnte Miriam etliche blaue Flecken und Blutergüsse erkennen. Sie war auf der Stelle bei ihm und drückte ihn an sich. Er hickste und hielt sich fest, als wäre sie sein Anker. „Alles wird gut, Raphael. Alles wird gut“, flüsterte sie eindringlich, die tierischen Schreie von draußen ignorierend. „Nein, wird es nicht“, antwortete die zitternde Stimme des Jungen. „Es ist allen egal und ich muss zu ihm zurück.“ Sein verzweifelter Ton brach ihr das Herz. „Diesmal nicht“, sagte sie bestimmt und zwang ihn, sie anzusehen. „Diesmal hast du mich.“ Ihm liefen die Augen über mit Tränen und sie umarmte ihn wieder. Neben ihr kauerte sich Erik hin. Er schaute sie an und sie konnte sehen, wie er eins und eins zusammenzählte. Dann nickte er ihr zu und verschwand in Sonjas Zimmer. Miriam hielt den kleinen, fremden Jungen feste. Sie dachte an ihre eigene Tochter und fragte sich, wie man einem Kind so etwas antun konnte. Sie dachte an all die Leute, die das Offensichtliche ignoriert haben mussten und dann dachte sie, dass sie den perfekten Job hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)