Klappernde Stricknadeln von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Stricknadeln ------------ Das Klappern der Stricknadeln schaffte es spielend, das ganze Haus zu erfüllen. Das lag nicht nur daran, dass es im Winter allgemein stiller zu werden schien, als ob eine dicke Schicht von Schnee und Eis die Welt unter sich zu begraben versuchte und jedes Geräusch dämpfte. Auch Cathan und Lowe, die Zwillinge – die zu ihrem eigenen Leidwesen nicht wie solche aussahen –, die das Haus normalerweise lebendig hielten, zogen es vor, still zu sein, auf der Treppe zu sitzen und dem Klappern zu lauschen. Hin und wieder kam ihr Vater Neil vorbei und reichte ihnen frisch gebackene Kekse, fast als hoffe er, dass der Zucker sie wiederbeleben könnte, da er es unheimlich fände, dass sie so ruhig waren. Nicht, dass er es sagte, vielleicht war er im Gegenteil sogar froh, sie dachten es sich einfach nur. Aber sie blieben weiterhin sitzen, Kekse essend, lauschend. Ihre Abenteuerlust war nicht fort, ihr Feuer auch im tiefsten Winter nicht erloschen, aber ihre gesamte Neugier war auf die Frage konzentriert, was ihre Mutter hinter der geschlossenen Tür ihres Schlafzimmers tat. Das war das Geheimnis, das es in diesem Jahr zu ergründen galt, da blieb keine Zeit, im nahegelegenen Park nach vergrabenen Schätzen zu suchen und sich dafür mit den Parkwächtern in ihren schicken Uniformen anzulegen. Sie kannten ihre Mutter Aludra ihr ganzes Leben, das nun schon 14 Jahre andauerte, aber noch nie hatte sie sich in ihr Zimmer eingeschlossen – und schon gar nicht, um zu stricken. Es passte einfach nicht zu ihr. „Ich wusste nicht einmal, dass sie das kann“, merkte Lowe an, nachdem er einem Pfefferkuchen in Form eines Pferdes den Kopf abgebissen hatte. Cathan war wieder einmal weniger radikal, brach lieber die einzelnen Beine ab und aß erst diese, den Kopf dabei geneigt. „Ich auch nicht, aber ich frage mich eher, warum sie das tut.“ Man fing immerhin nicht plötzlich an, wie eine Wahnsinnige zu stricken, wenn man sich vorher nie dafür interessierte. Vor allem nicht, wenn man einen derart ausgefüllten Terminkalender besaß wie eben Aludra. Zu Beginn, vor wenigen Tagen, waren sie fest davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine neue Kampftechnik handelte, aber auf jedes Nachfragen hatte Neil stets mit dem Kopf geschüttelt, ohne eine vernünftige Antwort abzuliefern. Schlagartig saß Lowe aufrecht und blickte Cathan strahlend an, wobei sogar seine braunen Augen – das einzige, was bei den Zwillingen identisch war – zu leuchten schienen. „Vielleicht ist sie schwanger! Wir kriegen noch mehr Geschwister.“ „Glaubst du?“ Doch Cathans Skepsis konnte Lowes Begeisterung wie üblich nicht mehr dämpfen. „Klar! Sie strickt bestimmt gerade Kleidung für die beiden neuen.“ „Die beiden?“ „Es werden bestimmt wieder Zwillinge“, sagte Lowe mit flammender Überzeugung, die bei jeder seiner Reden mit im Spiel war, selbst in der Schule, wenn er eine vollkommen falsche Antwort gab. Das überwand Cathans Skepsis jedenfalls nicht, stattdessen zog er sogar noch die Brauen zusammen. „Ich glaube nicht, dass eine Frau immer Zwillinge bekommt, nur weil es einmal so war. Außerdem hat sie für uns damals auch nichts gestrickt.“ Jedenfalls gab es in ihrer Garderobe, auch der Kleinkindergarderobe, nichts Selbstgestricktes und auch auf Bildern waren sie stets nur mit gekaufter Kleidung zu sehen. Man sollte doch meinen, jemand wäre so stolz auf seine Arbeit, dass es davon mindestens ein Bild gab. Lowe stopfte sich den Rest des Pfefferkuchens in den Mund, damit er sich ungestört das braune Haar raufen konnte. Cathan kannte diese Geste inzwischen sehr gut als stummer Ausdruck der Verzweiflung, die er nur bei ihm anwandte, sonst nie. Nicht einmal in der Schule, wenn ein Lehrer ihn seufzend darauf hinwies, dass die Antwort Dämonen seien verantwortlich für die Ermordung Kennedys falsch bliebe, egal wie überzeugt er davon sei. Vielleicht tat er das Cathan gegenüber aber auch nur deswegen, weil er sich von niemand anderem zum Verzweifeln bringen ließ – Lehrer menschlicher Schulen lagen für ihn prinzipiell falsch, wenn es um Geschichte ging –, was nur ein Zeichen dafür war, wie nah sie sich standen. „Jetzt ist sie auch älter“, sagte Lowe schließlich triumphierend, als wäre es das beste Argument, das er sich je hatte einfallen lassen. „Wenn man älter wird, wird man sesshaft und so ein Zeug. Denk doch nur an Timothys Oma. Die hat früher jeden Dämon umgehauen und heute backt sie leckere Kuchen.“ Cathan überlegte, einzuwenden, dass Mrs. Griffin immerhin auch älter war als Aludra – und diese es für unhöflich befinden könnte, mit einer Großmutter verglichen zu werden –, aber er wusste schon, dass Lowe das einfach abwehren würde – besonders weil dieser es als Ehre empfände, mit einer derart guten Jägerin wie Mrs. Griffin verglichen zu werden –, also ließ er es bleiben und wählte ein anderes Thema, um darauf etwas zu erwidern: „Wenn sie alt genug wäre, um sesshaft zu werden, bekäme sie aber keine Kinder mehr. Dann wären langsam die Wechseljahre dran.“ Und außerdem konnte er sich auch nicht vorstellen, dass Aludra jemals sesshaft werden könnte. Dafür war sie einfach zu energiegeladen und kämpferisch. Sie gab das Jagen sicher erst dann auf, wenn man sie beerdigte – und zwar als Feuerbestattung, sonst käme sie einfach von den Toten zurück, um weiter zu jagen. Aber damit ließ sie sich hoffentlich noch lange Zeit. Sehr lange. Geschlagen lehnte Lowe sich mit dem Rücken wieder gegen die Treppenstufen hinter sich und sank ein wenig tiefer. „Dann weiß ich es auch nicht. Vielleicht ist sie einfach unerklärlich.“ Er vollführte einige Handzeichen, die wohl nichts weiter bedeuten sollten, dann hob er die Schultern ein wenig. „Aber irgendetwas muss sie ja stricken, sonst könnten wir dieses Klappern nicht die ganze Zeit hören.“ Eine Bewegung aus dem Augenwinkel, lenkte Cathans Aufmerksamkeit auf Neil, der wenige Schritte entfernt in der Tür stand und sie beide schmunzelnd beobachtete. Ihr Vater war ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern und einem markanten Gesicht, das besonders dann eindrucksvoll wirkte, wenn er ernst schaute. Im Moment schmunzelte er aber eher amüsiert. „Warum wartet ihr beiden nicht einfach ab, bis sie fertig ist? Ihr werdet noch früh genug erfahren, was sie da gerade macht.“ Lowe sprang bereits auf und stellte sich breitbeinig vor seinen Vater, die Hände in die Hüften gestemmt. „Warum sagst du uns es nicht einfach? Du weißt es doch schon!“ Doch statt einer offenen Antwort, hob er die Schultern, seine Lippen zuckten, als wäre er kurz davor, zu lachen. „Wartet lieber, ihr werdet es wirklich bald sehen.“ Lowe kniff ein Auge zusammen, um ihn einen übertrieben skeptischen Blick zuzuwerfen, der Neil nun doch noch zum Lachen brachte. Er fuhr seinem Sohn durch das Haar, ehe er sich umdrehte und wieder davonging, ohne noch etwas zu sagen. „Wir haben wohl wirklich nur die Möglichkeit, zu warten“, schloss Cathan daraus. Schnaubend verschränkte Lowe die Arme vor der Brust. „Das ist so ungerecht!“ Das Klappern hörte erst kurz vor Weihnachten auf, aber selbst als Aludra sich endlich wieder zu ihrer Familie gesellte, bekamen Cathan und Lowe keine Antwort. Im Gegenteil, sie tat so, als wäre nie etwas gewesen und ignorierte auch jede einzelne Frage in diese Richtung. Neil dagegen blieb bei seiner Antwort, dass sie warten sollten, bis es soweit war. Der Dezember verging ohne jede Antwort und während Lowe schnell das Interesse an diesem Rätsel verlor und doch lieber das Eis auf dem See des Parks auftauen wollte, um unterseeische Schätze zu suchen, blieb Cathan weiterhin interessiert daran, was Aludra da hinter geschlossenen Türen wohl getan haben mochte. Schließlich brach der Weihnachtsabend an und damit auch die Bescherung. Nach dem üblichen Festessen – das aus bestellter Pizza bestand, weil keiner von ihnen wirklich zu kochen verstand – machte Lowe sich direkt über seine Geschenke her, während Cathan ein wenig sorgsamer damit begann, seine eigenen auszupacken. Im Großen und Ganzen bekamen sie ohnehin stets dasselbe, da sie immer ähnliche Wunschzettel besaßen, die sich manchmal sogar nur in der Farbwahl für bestimmte Gegenstände unterschieden. Jedenfalls war es früher so gewesen, inzwischen wurde die Schere größer, aber sie teilten sich immer noch genug Interessen. Obwohl Cathan alles bekam, was er sich gewünscht hatte – ein großes Lexikon über Pflanzen, edel aussehende Gärtnerhandschuhe, neue Pflanzensamen, die er im Frühling im Garten säen könnte, dieselben Inline-Skates wie Lowe, nur in blau statt rot – war er dennoch enttäuscht, denn unter all diesen Geschenken, auch unter Lowes nicht, war etwas gewesen, das gestrickt worden war. Inzwischen war er fast schon der Überzeugung, dass es sich doch nicht um Geschenke für sie beide handelte und Lowe mit seiner Aussage, dass Aludra für neue Kinder strickte, doch stimmte. Doch nachdem sie beide alles ausgepackt hatten, stand Neil unvermittelt auf und kehrte mit zwei weiteren Geschenken zurück. „Ihr wolltet doch unbedingt wissen, was ich im Schlafzimmer getan habe“, erklärte Aludra dazu, während Neil ihnen beiden je eines der Päckchen reichte. „Jetzt habt ihr endlich die Gelegenheit dazu, es herauszufinden.“ Cathan und Lowe betrachteten ihre Geschenke von allen Seiten, statt sie direkt auszupacken. Er spürte an der Nachgiebigkeit sofort, dass es sich um etwas aus Stoff handeln musste. Aufregung ergriff von ihm Besitz, als er sich vorstellte, dass er gleich endlich am Ziel war und dieses Mysterium aufklären könnte. Voller Ungeduld war es diesmal, der Papier aufriss – und im Inneren einen sorgsam zusammengefalteten Schal vorfand. Er war blau, wie ein Sommerhimmel an einem klaren Tag, an dem er endlos zu reichen schien und man glaubte, hineinfallen zu müssen, wenn man nur wagte, einen kleinen Sprung zu machen. Die Maschen waren nicht gleichmäßig und zeugten von einem Amateur, der aber dennoch sein Bestes gegeben und allerlei Liebe hineingelegt hatte. Ohne etwas zu sagen, legte er sich den Schal um den Hals, hielt aber weiterhin die Enden fest, um die Gefühle in sich aufnehmen zu können. Als er aufblickte, bemerkte er, dass Lowe sich einen roten Schal umgelegt hatte und dabei leise zu summen schien, als wäre er gerade besonders glücklich über dieses Geschenk. „In meiner Familie“, begann Aludra, „ist es Tradition, den Kindern zu Weihnachten einen selbstgestrickten Schal zu schenken, wenn sie alt genug werden, um Abteracht zu besuchen.“ Lowe schien regelrecht alarmiert zu sein, als er das hörte. „Abteracht! Dann dürfen wir endlich?“ „Ab Januar“, bestätigte Neil. „Wir haben eure Abmeldung an der alten Schule bereits eingereicht.“ Mitten im Schuljahr auf eine andere Schule zu wechseln mochte für manche ungewöhnlich erscheinen, aber dieses erste halbe Jahr, das auch dringend nötig war, diente hauptsächlich dafür, den neuen Schülern ein Grundlagenwissen über Dämonen und Kämpfe zu vermitteln und sie auch sportlich zu schulen, ehe es dann ab September um den vollen Ernst ging. Obwohl es für Cathan und Lowe eigentlich längst klar gewesen war, dass sie diesem Pfad folgen würden, hatten ihre Eltern bislang kein Wort mehr darüber verloren, was sie nun umso mehr überraschte. „Ist das nicht großartig, Cath?“ Lowes begeisterte Stimme, die plötzlich den ganzen Raum einzunehmen schien, wirkte geradezu magisch auf Cathan. Alles in diesem Raum schien gerade strahlender, selbst die Flammen der Kerzen am Baum brannten heller, als wäre Lowes Begeisterung schon genug, um seine Fähigkeiten zu aktivieren. Das Lächeln seiner Eltern wirkte in diesem Licht noch sanfter und schöner als es ohnehin schon war, genau wie Lowes Strahlen. Der Anblick dieser einträchtig vereinten Familie, brannte sich tief in Cathans Gedächtnis, auf dass er niemals wieder vergaß, wie glücklich sie alle in diesem Moment gewesen waren. Jahre später dachte Cathan immer noch an jenes Weihnachtsfest. Die Wärme, die ihn damals erfüllt hatte, kehrte jedes Mal wieder, sobald er sich jenen Abend ins Gedächtnis rief. So auch in diesem Jahr, kurz nach dem vierzehnten Geburtstag seines eigenen Sohnes. Kieran ähnelte Aludra sehr. Das schwarze Haar schien denselben Farbton zu besitzen, doch während es bei ihr schulterlang, mit einer in die Stirn fallenden Strähne gewesen war, hielt er seines im Nacken stets kurz geschnitten, ließ es aber über sein linkes Auge fallen, als wolle er sich dahinter verstecken. Seine braunen, fast immer niedergeschlagenen Augen waren wesentlich dunkler als ihre braun-goldenen. Doch ihre feinen Gesichtszüge, das spitz zulaufende Kinn, die zierliche Statur, all das hatten sie gemein – und wann immer Cathan seinen Sohn betrachtete, musste er daher unweigerlich an seine Mutter denken, die lange vor Kierans Geburt, kurz nach jenem Weihnachten damals, in Ausübung ihrer Pflicht verschwunden war. Als er Kieran deswegen an diesem 24. Dezember das letzte Geschenk überreichte, kam es ihm vor, als gäbe er es eigentlich an Aludra. Sein Sohn musterte das Päckchen von allen Seiten, statt es zu öffnen, scheinbar verwirrt darüber, was genau er damit nun eigentlich machen sollte. „Ist das wirklich für mich?“ Sein Blick huschte zu einem kleinen Stapel Bücher hinüber, der das Hauptgeschenk darstellte. Da Cathan, genau wie seine Eltern damals, dieses eine Geschenk erst nach der üblichen Bescherung, hervorgeholt hatte, empfand er es als verständlich, dass Kieran, der ohnehin immer bescheiden und anspruchslos war, nicht so recht wusste, was es damit auf sich hatte. Erst auf ein sanftes Ermutigen von Cathan, entfernte er vorsichtig das Geschenkpapier, um einen grauen Schal ans Tageslicht zu bringen, den er nun ersatzweise verwirrt mustern konnte. Seit Kieran mit vier Jahren das erste Mal Kräfte gezeigt hatte, die ein Dämonenjäger gebrauchen konnte, hatte Cathan das Stricken gelernt, um selbst einen Schal zu stricken, genau wie seine Mutter damals. Allerdings hatte er glücklicherweise zwar ihre Liebe zu Pflanzen geerbt, aber nicht ihr vollkommenes Unvermögen, was das Handwerk anging, so dass sein Schal an Kieran wesentlich hübscher aussah, als der von Aludra an ihn – aber die Liebe war dieselbe. Lowe hatte für seine Söhne ebenfalls Schals gestrickt, um die Tradition aufrecht zu erhalten, aber das Ergebnis war bescheiden gewesen, obwohl Cathan versucht hatte, seinem Zwilling bestmöglichst beizustehen. Lowe war eben wesentlich besser darin, sozial zu sein, statt handwerklich. Kieran schlang sich den Schal nach Cathans Ermunterung um seinen Hals, auch wenn er dabei immer noch äußerst verwirrt dreinblickte. „In unserer Familie“, begann Cathan, „ist es Tradition, den Kindern zu Weihnachten einen selbstgestrickten Schal zu schenken, wenn sie alt genug werden, um Abteracht zu besuchen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)