Für eine Kiste Mandarinen von Alaiya ================================================================================ [17. Türchen] ------------- Anna bildete sich ein viel zu wissen – mehr zumindest als andere Kinder. So wusste sie zum Beispiel, wenn sich andere Kinder wieder an Orten rumtrieben, wo sie eigentlich nicht sein durften. Sie wusste meistens auch, wenn es einmal wieder eine besonders blutige Straßenschlacht zwischen der Mafia und HanSec, den Likedeelern und HanSec oder alternativ ein paar Runnern und HanSec gegeben hatte. Sie bildete sich auch etwas darauf ein zu wissen, wann man sich von bestimmten Gegenden fernhalten sollte, selbst wenn dies weniger mit ihrem Informationsnetzwerk, als mit einem gewissen Gespür zu tun hatte. Aber sie wusste auch andere Dinge, zum Beispiel, wie man ein undichtes Dach flicken konnte, womit man Hühner und Kühe im Winter fütterte, wie man Geldbörsen klaute und wie man Credsticks knacken konnte. Auch wusste sie davon, dass es Kopfgelder auf allerhand toxische Magier gab, dass es Gerüchte über einen geheimen Senat in Hamburg gab und dass man sich auf HanSec nicht verlassen durfte. Und sie wusste auch, dass der „Tag des Erwachens“ von nicht-magischen Metamenschen als „Weihnachten“ gefeiert wurde und dass dies irgendwann einmal irgendeine religiöse Bedeutung gehabt haben sollte – zumindest hatte sie das einmal aufgeschnappt. Nicht dass es für sie einen Unterschied machte, immerhin gehörte sie zu den magischen, zu den erwachten Menschen, genau so wie die anderen Kinder, die mit ihr zusammen auf dem Hof von Mutter Gans wohnte. Mutter Gans hieß eigentlich Marion Drechsler – auch das wusste Anna – und war irgendwann einmal eine Runnerin gewesen. Aber sie war es nicht mehr. Anstatt dessen kümmerte sie sich um Anna und achtzehn andere Kinder und Jugendliche. Warum sie das tat, dass wusste Anna nicht, denn die Antworten, die Mutter Gans auf diese Fragen gab, waren viel zu unspezifisch. Anna hatte welche der älteren Kinder reden hören, dass es war, weil Mutter Gans einmal etwas schlimmes getan hatte und dies wieder gutmachen wollte. Aber das glaubte Anna nicht wirklich. Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht glauben. Eine Sache wusste Anna nicht: Wer ihre Eltern waren oder was ihr Nachname gewesen wäre. So lange sie denken konnte, war sie immer nur „Anna“ gewesen und sie wusste nicht, wer ihr diesen Namen gegeben hatte. Es war fast schon fünf Jahre her, dass Mutter Gans sie gefunden hatte. Damals – nicht das sie besonders viele Details erinnern konnte – war sie krank gewesen und allein und Mutter Gans hatte sie hierher gebracht, auf ihren Hof. Allerdings wusste Anna auch eins: Es waren viele, viele andere Straßenkinder in Hamburg. Sie hatte sie auf ihren Streifzügen gesehen. Und Mutter Gans nahm nur wenige von ihnen auf und nur die magisch begabten. Doch immerhin: Es waren ein paar. Zwischendurch waren es sogar über zwanzig gewesen. Nur blieben nicht alle hier und manche waren, nun, selbst für die Verhältnisse magischer Straßenkinder etwas seltsam. Da war zum Beispiel Julian, der ganze fünf Jahre älter war als Anna. Julian sprach selten, schaute meist nur grimmig in die Gegend, aber wenn er sprach war es meistens etwas unheimliches. Mutter Gans sagte, dass er Dinge sehen konnte, die sie nicht sahen, aber dennoch fand Anna es seltsam. Und dann war da noch Laura, die sich selbst eigentlich immer „Heidin“ nannte. Eigentlich hatte Anna sie immer gemocht, wenngleich Laura immer schon etwas – nun – rebellisch gewesen war. Sie hatte sich mit Straßengangs herumgetrieben und immer davon geredet, dass sie bei den Likedeelern einsteigen wollte. Mutter Gans hatte davon nichts hören wolle – wenngleich es nicht so war, als hätten sie wirklich eine Wahl. Doch im Sommer war etwas passiert. Laura war verschwunden und Mutter Gans hatte Shadowrunner anheuern müssen, um sie zurückzuholen. Die Runner hatten Laura nach vier Tagen gefunden – bei den Wattsuchern am äußersten Rand von Wildost. Mutter Gans hatte ihre Kinder oft vor den Wattsuchern gewarnt und es gab ohnehin genug Gründe sich von Wildost fern zu halten. Aber offenbar war Laura auch gar nicht dort gewesen, sondern hatte im blauen Klotz Pech mit den Snatchern gehabt – zumindest hatte sie das gesagt. Jedenfalls war Laura seither komisch. Sie starrte manchmal stundenlang einfach in die Luft oder sagte komische Dinger. Manchmal fing sie auch an zu schreien. Anna wusste, dass sich Mutter Gans Sorgen um sie machte. Sie hatte den anderen Kindern gesagt, sie sollten vorsichtig mit Laura sein. Zu den Dingen, die Anna wusste – nicht zuletzt, weil Mutter Gans sie davor gewarnt hatte – gehörte auch, dass die Wattsucher toxische Magier brauchten, weil es so viele toxische Geister in Wildost gab. Jedenfalls sorgte sich Mutter Gans nun sehr um Laura und verbrachte viel Zeit damit, sich um sie zu kümmern. Es war ein Dienstag Mitten im Dezember und es hatte über Nacht geschneit – doch dank der Nähe zur Stadt war der Schnee gräulich und matschig und gar nicht so, wie man ihn in Trids sehen konnte. Aber Anna kannte das schon, sie lebte hier immerhin schon seit ein paar Jahren. Sie hatte einmal gehört, dass es in manchen Gegenden in der Russischen Republik noch sauberen, weißen Schnee gab. Zumindest war es kalt, als sie morgens aus dem alten Gebäude, in dem sie schliefen, zum Hauptgebäude hinüberging. Das Hauptgebäude des Hofes war ein altes und recht geräumiges Fachwerkhaus, das direkt an der Scheune lag. Das Leben auf dem Bauernhof begann für gewöhnlich früh, doch vor dem frühen Aufstehen blieb sie heute verschont – immerhin war Ted mit dem Füttern der Tiere dran und es war Winter. Im Winter gab es weniger auf dem Hof zu tun, als im Sommer. Anna fand Mutter Gans in der Küche, sowie auch Julian, Leon, Margret, Ted und Heidin. Während die anderen am Tisch saßen, hockte Ted, ein Orkjunge im selben Alter wie Anna, auf der Fensterbank und spielte auf einem Commlink, die AR-Brille auf der Nase. Entsprechend sah er nicht auf, als Anna in den Raum kam. „Morgen“, kam es derweil monoton von Julian, Leon und Magret, während Heidin nur auf ihr Brot starrte. Anna lief es kalt den Rücken herunter. Da war wieder dieses „etwas“ mit Heidin los. „Etwas spät auf, hmm?“, meinte Mutter Gans, die an der Spüle stand und einige Teller stapelte. Anne zuckte mit den Schultern. „Ich muss Winterschlaf machen“, erwiderte sie frech und setzte sich an den Tisch, wo noch ein unbenutzter Teller zu finden war. Mutter Gans drehte sich zu ihr um und lächelte matt. „Na, dafür hast du eindeutig zu wenig Fettpolster angesammelt.“ Das stimmte. Anna war alles in allem ziemlich hager. Nicht so abgemagert wie früher, als sie noch auf der Straße lebte, aber so ganz wollte ihr Körper kein Fett ansetzen. „Ich arbeite dran“, erwiderte sie und nahm sich Brot, ehe sie es mit Butter bestrich. „Na, wenn du immer zu spät kommst, dann ist für dich irgendwann nichts mehr zu essen übrig“, scherzte Mutter Gans. Mutter Gans war, wie auch Anna, ein Mensch und man sah ihr ihr Alter an. Sie hatte sichtbare Falten im Gesicht und ihre Haut war gegerbt. Ihr von grauen Strähnen durchzogenes braunes Haar hatte sie zu einem Zopf zurückgebunden. „Dann hole ich mir woanders etwas“, erwiderte Anna unbesorgt. „Und wo?“, fragte Leon, der selbst noch am Essen war. „In der Stadt“, sagte Anna. „Irgendwo finde ich schon was.“ „Wunderbar“, meinte Mutter Gans. „Wenn du schon dahin unterwegs bist, kannst du vielleicht ein paar Besorgungen für mich machen.“ Anna wurde hellhörig. Wie viele der Kinder mochte sie es, Besorgungen zu machen. Nicht nur, dass sie dass Gefühl mochte, Verantwortung zu haben, manchmal brachte es auch Möglichkeiten mit sich, interessante Leute kennen zu lernen. „Was soll ich tun?“ „Ich habe ein wenig Obst und Gewürze bei Egan bestellt und ich brauche noch jemanden, der die Sachen für mich abholt“, erwiderte die alte Schamanin. Anna kannte Egan schon. Egan war ein menschlicher Mann, ebenfalls schon etwas älter, der im blauen Klotz alle möglichen Waren anbot: Echte Lebensmittel, Kleidung und was ihm sonst noch so in die Hände viel. „Natürlich“, antworte sie. „Kann ich machen.“ „Ich komme mit!“, meldete sich Margret, ein etwas älteres Mädchen von 16 Jahren mit braunen Locken und Sommersprossen, die sich noch immer hielten, zu Wort. „Gut“, meinte Mutter Gans. „Ted, du gehst auch.“ Ted, der eigentlich Fabian hieß, sah zu ihr hinüber. „Was?“ Die alte Schamanin seufzte. „Ja, genau das.“ Zwei Stunden später kam Anna zusammen mit den anderen Kindern am Blauen Klotz an. Sie musste zugeben, dass sie ganz froh war, dass sie nicht alleine hier war. Zum einen weil Henry, ein Elfenjunge vom Bauernhof, Autofahren konnte und vor allem auch alt genug war, um es zu dürfen, selbst wenn sein Führerschein genau wie seine SIN gefälscht war, zum anderen weil der Blaue Klotz zwar irgendwie cool war, aber es ihr doch nie ganz so wohl dabei war, hier allein unterwegs zu sein. Letzten Endes gab es einen Grund, warum Mutter Gans ihnen verbot, allein dorthin zu gehen – auch wenn sich einige der älteren Kinder nicht immer daran hielten. Immerhin waren hier einige sehr schattige Gestalten unterwegs. Nicht nur dass in einigen der verlassenen Wohnungen Prostituierte ihre Dienste anboten, es gab hier auch einige nicht ganz vertrauenswürdige Schattenärzte, Drogendealer und Tätowierer, die sich wenig um Vorschriften kümmerten. Von Snatchern, die sich hier herumtrieben, gar nicht erst anzufangen. Doch Snatcher sahen es meistens auf Leute ab, die allein unterwegs waren, weshalb sich Anna zusammen mit den anderen drei wesentlich besser fühlte. Dennoch war sie froh, dass Egan seinen Laden nur im zweiten Stockwerk des Gebäudes hatte, so dass sie nicht weiter durch den Basar irren mussten. Natürlich, es war durchaus auch interessant sich hier umzusehen und umzuhören, da man doch immer wieder neue Gerüchte hören konnte und Anna es auch irgendwie spannend fand, sich die Schattengewächse, die sich herumtrieben, genauer anzusehen. Immerhin hatte der Blaue Klotz auch viel Kundschaft von Shadowrunnern, da es einer der Orte war, wo man verlässlich neue Waffen und vielleicht auch etwas „speziellere“ Munition bekommen konnte. Verquer war nur irgendwie, dass zwischen Drogendealern, Prostituierten und Waffenhändlern es auch ganz normale Lebensmittelgeschäfte gab oder Läden, in denen man einfache Kleidung, Möbel oder sonstige alltägliche Dinge besorgen konnte. So eben auch der Laden von Egan, in dem es immer Lebensmittel - sowohl Soyfood, als auch das teure, echte Essen gab - und Kleidung gab. Meistens fand man hier auch Bücher, echte Bücher und keine AR-Dateien. Anna wusste das, weil Mutter Gans ab und an solche kaufte. Anna selbst mochte den Geruch der Seiten, fand es aber unangenehm die meist schweren Papierbände lange beim Lesen zu heben. Da war ein Buch, dass sich im AR anzeigen ließ doch weit angenehmer. Zugegebener Maßen hieß das nicht, dass es bei Egan nicht auch ab und an Drogen oder Waffen zu kaufen gab, doch zumindest hielt er sich aus dem Chiphandel heraus und Anna war sich sicher, dass das einer der Gründe war, warum Mutter Gans ihn schätzte. Nun und vielleicht gab es andere Gründe, denn Anna hatte gehört, dass Egan vor zehn Jahren selbst noch Runner gewesen war, ehe er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Aber eigentlich war das im Moment egal - immerhin war Anna nur da um Lebensmittel zu holen. Mutter Gans hatte es ihr erlaubt den Credstick mit der Bezahlung zu tragen und das war nicht wenig. Immerhin wollte Mutter Gans echtes Obst haben und das war nicht billig und in den Schatten nicht so leicht zu beschaffen. Außerdem hatte sie auch echtes Kakaopulver bestellt - ebenfalls nicht leicht zu bekommen. "Ah, da seid ihr ja", begrüßte Egan sie, als er sie näher kommen sah. Sein Laden war - wie die meisten Läden hier - irgendwann einmal eine Wohnung gewesen, vor deren Wohnungstür nun aber Kisten mit Lebensmitteln lagen und ein Ständer mit Kleidung hing. Auch an der ehemaligen Wohnungstür war ein wenig etwas geändert worden, da sie mit fremdländischen Malereien geschmückt war, die sich um den Schriftzug "Egans Allerlei" rankten. Unter dem Schriftzug stand dasselbe noch einmal in russischer Schrift und irgendeiner arabischen Schrift, die Anna nicht genau kannte. Sie hatte ihn auch nie danach gefragt. Egan war ein stämmiger Mann um die 50. Sein Haar war dunkelgrau und kurz und er trug einen recht vollen Bart. Sein linkes Auge war durch ein Cyberimplantat ersetzt doch sein rechtes echtes Auge war dunkelbraun, fast schwarz, und glänzte, als er die Jungendlichen näher kommen sah. "Wir sind hier um die Sachen für Mutter Gans abzuholen", sagte Anna stolz, noch bevor es eins der anderen Kinder tun konnte. Sie holte den Papierzettel heraus, den Mutter Gans ihr gegeben hatte, damit sie überprüfen konnten, ob auch alles da war, was sie bestellt hatte. "Kommt rein", meinte Egan und zeigte auf die Tür. Die meisten Produkte, die sich vor dem Laden fanden, waren eher billige Lebensmittel – Dinge, die, wenn gestohlen, kein zu großer Verlust waren. Also folgten die Kinder ihm in den Laden, der viel mehr wie ein Lager aussah, da sich hier Kisten stapelten. Er hatte jedoch einen kleinen Tisch in einer hinteren Ecke unter dem Anna erkennen konnte, wofür sie hergekommen waren: Eine Kiste Mandarinen, zwei Packen mit Kakaopulver, ein paar Gewürze und ein Sack mit Reis. „Das sind die Sachen, die Marion bestellt hat“, meinte Egan und zeigte darauf. „Ich nehme an, sie hat euch das Geld mitgegeben?“ Anna nickte und griff in die Tasche ihres beigen Mantels. Doch mit Schrecken stellte sie fest, dass sie dort zwar ein gebrauchtes Taschentuch fand, aber weder den Credstick, noch ihr Commlink. Mit leichter Panik griff sie in die andere Tasche – doch auch da: Nichts. Die Innentasche, doch ebenfalls Fehlanzeige. „Was ist?“, fragte Margret mit leicht gereiztem Unterton. Anna sah zu ihr auf. „Der Credstick ist weg. Mein Commlink auch.“ „Hast du es zuhause vergessen?“, fragte Henry genervt. Heftig schüttelte Anna den Kopf und merkte, dass Tränen in ihren Augen brannten. „Nein. Ich hatte das Commlink auf der Fahrt noch. Und ich hatte es mit de m Credstick zusammen in die Tasche gesteckt.“ „In welche Tasche?“, fragte Henry nun. Anna sah ihn mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung an und klopfte auf ihre rechte Manteltasche. „Wieso hast du es nicht in die Innentasche gesteckt?“, fuhr Ted sie nun an. „Weil ich normaler Weise...“ Anna brach ab und sah ihn an. Eigentlich merkte sie so etwas. Sie hatte so viel Zeit auf der Straße verbracht, dass sie normaler Weise auf diese Dinge achtete. Sie zog die Unterlippe hoch. Egan seufzte. „Soll ich Marion anrufen?“ Anna sah nicht ihn, sondern die beiden älteren Kinder an, schüttelte aber den Kopf. „Nein“, sagte Margret schließlich und schüttelte ebenfalls den Kopf. „Nein. Wir schauen selbst, was wir machen können.“ Am Ende saßen die vier Kinder im Treppenhaus des ehemaligen Mehrfamilienhauses. Auch hier herrschte ein buntes Gedränge, da die Aufzüge im Blauen Klotz größtenteils seit Jahrzehnten nicht mehr funktionierten und die funktionierenden Fahrstühle nur gegen Geld zu benutzen waren. Im Treppenhaus drängten sich Leute die Treppen rauf und runter, während ein paar Menschen sich in Ecken gelegt hatten und offenbar schliefen – vielleicht teilweise auch im Drogenrausch. Auch auf den Stufen saßen Leute. Ein Teil von ihnen verkaufte Dinge, ein anderer Teil ruhte sich aus oder aß, während sich die Leute, die rauf oder runter wollte zumindest größtenteils bemühten, nicht auf die Sitzenden und Liegenden draufzutreten. „Und jetzt?“, schnarrte Ted und verschränkte seine Arme. „Ich weiß auch nicht!“, erwiderte Anna defensiv. „Wieso warst du so unvorsichtig?“, fragte der junge Ork weiter. „Weil ich sowas normaler Weise merke!“, maulte sie. „Ich war vorsichtig, echt! Die haben mir auch mein Comm geklaut, verdammt!“ „Jetzt kommt mal wieder runter!“, mischte sich Margret ein. „Euer Gezicke bringt auch nichts!“ „Aber es ist ihre Schuld! Und wir werden alle Schelte bekommen!“, erwiderte Ted und zeigte dabei auf Anna. „Ist es nicht!“, meinte Anna. „Ich habe das Zeug nicht genommen!“ Henry seufzte. „Seid einfach ruhig. Wir sollten zurückfahren. Wir haben ja eh kein Geld, um etwas zu kaufen. Also... Ja...“ Noch einmal seufzte er. „Wir sollten einfach zurück.“ Anna stand auf. „Nein!“ „Was willst du denn noch machen?“, fragte Ted sauer. „Ich kriege das Geld zurück!“, erwiderte Anna und versuchte dabei entschlossener und zuversichtlicher zu klingen, als sie sich eigentlich fühlte. Margret sah sie an. „Und wie hast du das vor? Den Taschendieb wirst du nicht finden.“ Anstatt zu antworten starrte Anna sie nur störrisch an. „Schau mal, hier sind ein paar hundert, wenn nicht sogar ein paar tausend Leute im Gebäude“, meinte Henry als müsse er ihr erklären, dass eins und eins zwei sind. „Und wir wissen nicht mal, ob der Taschendieb noch im Gebäude ist.“ „Na und?“ Anna drehte sich um. „Ich versuch's trotzdem!“ Und weil sie sich nicht weiter mit ihnen streiten wollte – aber auch, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte – sprang sie die Treppe hinunter und rann zum Erdgeschoss hinab. Dort angekommen drängte sie sich durch die Menge und sah sich um, da sich sicher sein wollte, dass die anderen nicht direkt hinter ihr waren, dann drängte sie sich in einen der Räume, die mehr wie ein kleiner Basar, in dem Waren auf dem Boden ausgebreitet waren, und von dort auf den Flur durch die Tür auf der anderen Seite des Raums. Irgendwo hier waren Toiletten, wie sie wusste und genau da wollte sie hin. Dankbarer Weise – oder vielleicht auch nicht – fand sie die Toiletten und schloss sich in einer der Kabinen ein. Der Geruch hier war übelkeitserregend, eine Mischung nach Exkrementen, Erbrochenem, Sythalkohl und einigen Sachen, die sie nicht zuordnen konnte. Aber sie versuchte es zu ignorieren, während sie sich auf die Kloschüssel setzte und versuchte sich zu konzentrieren. Sie brauchte ein paar Minuten, aber irgendwie schaffte sie es am Ende, sich in den richtigen Geisteszustand zu versetzen. Sie merkte, wie sich ihre astrale Gestalt von ihrem physischen Körper löste und der Astralraum wurde sichtbar. Was sie nun sah, waren Auren und entsprechende Spuren von Emotionen. Sie begann sich umzusehen, doch alles hier wirkte wie eine wilde Mischung von Ahnungen. Sie war noch nicht besonders gut darin, sich im Astralraum zu bewegen. Zwar hatte sie gelernt, sich von ihrem Fleischkörper zu lösen, doch verwirrte sie der Astralraum. Wenn sie nicht aufpasste, spürte sie die Gefühle anderer Leute. Und so war es auch jetzt: Da waren Emotionen. So viele Emotionen. Freude. Trauer. Angst. Wut. Hoffnung. Es war, als würde sie von den Emotionen hin und her gewiegt, kaum dass sie sich auch nur aus dem astralen Gegenstück der Toilette heraus war. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Sie versuchte eine astrale Signatur zu finden, die sich siegessicher anfühlte, halt irgendwie wie jemand, der gerade etwas gewonnen hatte. Doch genau das war ein Problem: Hier waren so viele Leute, die sich auf so eine gemeine Art freuten. Leute, die einen guten, ungerechten Handel abgeschlossen hatten. So viele Taschendiebe. Eigentlich wusste sie es doch. Hier waren so viele Taschendiebe. Dennoch versuchte sie, irgendeinen Hinweis zu finden, obwohl sie merkte, wie sie immer mehr der Gefühle in sie selbst vordrangen. Es war, als würde sie sich selbst darin verlieren. Und beinahe zu spät, merkte sie, dass sie kaum noch in Kontrolle über ihre eigene astrale Gestalt war. Sie versuchte umzukehren, sie versuchte ihren Körper wieder zu finden, doch der Astralraum schien mehr und mehr zu verschwimmen. So viele Emotionen... Doch da war auch ihr Körper, wie ein Feuer. Sie stürzte sich drauf und kam wieder zu sich, nur um von plötzlicher Übelkeit übermannt zu werden. Irgendwie schaffte sie es, sich zu Boden gleiten zu lassen, ehe sie sich in die dreckige Toilettenschüssel übergab. „Anna?“, hörte sie Margrets Stimme von draußen. „Anna, bist du hier?“ Sie würgte noch immer, brauchte etwas, ehe sie etwas sagen konnte. Schließlich schaffte sie es, zwischen zwei Würgeanfällen, „Ich bin hier“, zu keuchen. Die Tür öffnete sich. Das alte Schloss war keine Herausforderung für Margret. Es gab bei leichtem Rütteln bereits nach. „Was hast du gemacht?“, fragte sie und versuchte Anna auf die Beine zu ziehen, ehe sie bemerkte, dass diese noch immer würgte. „Was zur Hölle hast du gemacht?“, wiederholte sie mit einer Mischung aus Sorge und Wut in der Stimme. „Ich habe versucht“ – noch ein Würgen – „mich im Astralraum umzusehen.“ Sie versuchte sich auf das Atmen zu konzentrieren, doch der Gestank hier half nicht gegen ihre Übelkeit. „Bist du wahnsinnig?“, fragte Margret aufgebracht. „Du weißt, dass du damit noch nicht gut bist! Und außerdem... Hier? Hier sind so viele Menschen und du... Das war total dumm!“ Das wusste Anna, doch sie sagte nichts. Stattdessen hievte sie sich auf die Beine, als sie halbwegs sicher war, dass sie sich erst einmal nicht mehr übergeben würde. Energisch klopfte Margret ihre Kleidung ab. „Jetzt komm, lass uns nach Hause zurückfahren. Ich bin mir sicher, wenn wir es erklären, wird Marion das verstehen“, meinte Margret. Anna verzog den Mund. Sie wollte das nicht. Sie wollte Mutter Gans nicht enttäuschen. Immerhin hatte sie doch unbedingt helfen wollen. Doch eigentlich wusste sie auch, dass es nicht möglich sein würde, das Geld zu bekommen. Vor allem für sie. „Nein“, sagte sie dennoch und schüttelte den Kopf. „Wir... Irgendetwas müssen wir doch machen.“ „Was denn?“, fragte Margret mit einem Seufzen. „Na ja“, meinte Anna und überlegte. „Ich... Ich weiß nicht“, gab sie schließlich zu. Margret schüttelte den Kopf. „Lass uns zurückfahren, ja?“ Noch immer wollte Anna nicht, doch was blieb ihr für eine Wahl? „Okay“, sagte sie schließlich kleinlaut. „Du hast Glück gehabt“, sagte Mutter Gans mit düsterer Miene, nachdem sie Anna untersucht hatte. „Was machst du auch für einen Unsinn?“ Anna zog einen Schmollmund, sagte aber nichts. Nach Margret hatte Henry ihr auch auf dem halben Heimweg etwas darüber erzählt, dass sie leichtsinnig war. Ted hatte sie nur ausgelacht. Als ob es ihm anders gegangen wäre. Es war ja nicht so, als hätte er nicht auch schon Sachen verloren und einmal war er sogar beinahe entführt worden, weil er sich zu lang allein in Harburg rumgetrieben hatte. „Zumindest scheint dir nichts schlimmeres passiert zu sein“, meinte die alte Schamanin dann und sah sie an. „Aber was hast du geglaubt, dass du so machen kannst?“ Anna zuckte mit den Schultern. „Na ja, schneller suchen oder so.“ „Wie willst du jemanden finden, von dem du weder das Aussehen, noch die Astrale Signatur kennst?“, seufzte Mutter Gans. Erneutes Schulterzucken von Anna. „Ich dachte, ich finde halt irgendetwas heraus.“ Sie seufzte und starrte auf die eigenen Knie. Für eine Weile schwieg die alte Frau, dann strich sie Anna durchs Haar. „Versprich mir nur eins: Sei in Zukunft vorsichtiger.“ „Ja“, murmelte das Mädchen. Dann platzte es aus ihr heraus: „Das mit dem Geld tut mir leid!“ Ein mildes Lächeln umspielte den Mund der Schamanin. „Sei auch damit in Zukunft vorsichtiger. Du weißt, dass man in solchen Gegenden vorsichtig sein muss.“ „Ja“, erwiderte Anna. Eigentlich hatte sie mit mehr Ärger damit gerechnet. „Was ist jetzt mit dem Obst?“ „Ich habe mit Egan gesprochen“, meinte Mutter Gans. „Er bringt die Sachen morgen vorbei.“ „Aber das Geld...“, meinte Anna. „Ist nicht immer das wichtigste“, erwiderte Mutter Gans mit einem Lächeln. „Aber ab übermorgen übernimmst du den Stalldienst. Für eine Woche.“ Das war mehr als verdient, fand Anna und beschwerte sich nicht. Am Ende blieb das Gefühl, dass sie mehr hätte tun müssen. Das Ärgernis selbst so wenig tun zu können. Das Ärgernis, nur ein Kind zu sein. Und der Wunsch, irgendwann mehr tun zu können. Doch zumindest eine Sache konnte sie tun – das versprach sie sich: Vorsichtiger sein. Und mehr, viel mehr zu lernen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)