The Darkest Midnight In December von Aphrodi ================================================================================ Kapitel 1: Starbucks Edition ---------------------------- Die Weihnachtsstimmung hatte sich längst breit gemacht unter den Leuten von Syracuse. Vor Wochen schon wurde der monströse, bunt geschmückte Weihnachtsbaum vor der Bank of America in einer pompösen Zeremonie erleuchtet. Ein verkleideter Santa Claus und seine Frau waren auch dort gewesen und ließen Fotos mit sich machen. Es war ein großes Spektakel gewesen, das die Festagsstimmung einläutete und den Geist von Weihnachten unter den Menschen verbreitete. Jedenfalls zu Anfang. Von der Besinnlichkeit und der Vorfreude der Menschen bekam Jordan mittlerweile nichts mehr mit. Längst hatten Hektik und Stress sich in den Köpfen breit gemacht, Geschenke mussten gekauft, Familienfeste geplant und Häuser geschmückt werden. Nach der Arbeit oder am Wochenende waren die Kaufhäuser und Läden überfüllt, Wartezeiten wurden länger und länger. Nicht jeder meisterte diese Tage gelassen und stressfrei. Der sportliche Student war ein Musterbeispiel der Spezies „gestresster, unfreundlicher Weihnachtseinkäufer“. Die letzten Tage vor Weihnachten hätte er sich liebend gerne zuhause eingeschlossen – auch zum Schutz der anderen Leute da draußen – und sich mit dem Sportkanal begnügt oder ein paar DVDs geschaut. Nicht einmal Joggen war zu dieser Zeit im Jahr attraktiv. Jordan hätte seinen Freund Angel losgeschickt, um Geschenke für seine Eltern und seinen Bruder Jaiden zu kaufen. Es hätte so schön entspannend sein können... Doch die Schichten im Starbucks waren um die Festtage herum nicht gerade beliebt bei Studenten, erst recht nicht, weil viele von ihnen zu ihren Familien quer durch die Vereinigten Staaten reisen mussten, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. New York City war nicht ganz so weit entfernt und wenn er ehrlich war, zog es ihn auch nicht dringend in diese Stadt. „Willkommen bei Starbucks, Ihre Bestellung bitte“, kam es monoton von Jordan, als der nächste Kunde das kleine Trendcafé betrat und vor der Glasvitrine zum Stehen kam. Er sah nicht einmal auf von der kleinen Kritzelei, die er aus Langeweile auf ein Notizblättchen gemalt hatte. Es war schon fast 21 Uhr und trotz des zentralen Standortes zog es nicht mehr viele Leute hinein, um sich einen Kaffee zu gönnen. Die meisten von ihnen waren in Bars abgestiegen oder ins gegenüberliegende Kino gegangen, trotzdem war es noch zu früh, um die Geräte zu säubern. Über doppelte Arbeit würde sich der Student nur noch mehr ärgern. Das Ausbleiben einer Reaktion brachte Jordan dann doch dazu, den Kopf zu heben und sein Gegenüber genauer unter die Lupe zu nehmen. Vor ihm stand ein älterer Herr, der schon sichtlich ergraut war, den Blick auf die große Karte über dem Thekenbereich gerichtet. Seine Kleidung sah eigentlich ganz ordentlich aus, dunkel gehalten und im Kontrast zu dem fülligen Vollbart, der sein Gesicht zierte. Dass der ältere Herr hier irgendwie fehl am Platz wirkte, müsste er doch selbst merken, fand Jordan. Der Fakt, dass er von ihrer Getränkeauswahl und sicher auch von dem Selfservice überfordert war, war doch schließlich Anzeichen genug. Die Kunden, die wussten, was sie wollten, bezahlten und wieder gingen waren dem Studenten eigentlich am liebsten. Hier müsste er sich jetzt sicher auch noch ein Beratungsgespräch aus dem Ärmel leiern. Nun gut, er hatte ja sonst nichts Besseres zu tun, nicht wahr? „Wenn Sie Fragen haben, Mister, nur zu.“ Hey, er versuchte wenigstens nett zu sein. Und wenn es hart auf hart kommen würde, würde er für den alten Mann einfach entscheiden. Irgendwann wollte er schließlich Feierabend machen. Dass sich der Mann etwas Ausgefallenes aussuchen würde, daran glaubte Jordan nicht im Geringsten. Er hatte zwar schon Omas gesehen, die sich für hip hielten und den Lifestyle von Teenagern lebten, aber die sahen deutlich schriller aus als der späte Kunde. „Hmm... Das klingt ja alles sehr abenteuerlich“, merkte der bärtige Mann an. Jordan fühlte sich jetzt mehr als bestätigt. „Sie können auch einfach 'nen Filterkaffee bekommen. Oder 'nen ganz einfachen Cappuccino.“ Ohne es selbst zu merken, betonte der Student die Einfachheit dieser Getränke noch. Erwartungsvoll – eigentlich hatte er den Finger schon bereit, um eines dieser beiden Getränke am Touchpad auszuwählen – und ungeduldig hielt er in der Bewegung inne und sah den alten Mann an. So schwer war das doch echt nicht! „Dieser... Christmas Cookie Latte, ist der lecker?“ Fast schon genervt und definitiv überrascht von dieser Frage schnaubte Jordan kurz. Seine Hand hatte längst den Filterkaffee von allein im Menü ausgewählt, denn ja, der Mann sah definitiv aus wie der Typ Filterkaffee. „Ist er, wenn man süßen Kaffee mag. Da ist ordentlich viel Sahne bei, Kekssirup drin und als Deko kommt 'ne Soße mit Keksgeschmack drauf. Und echte Keksstückchen.“ Eigentlich zählte Jordan all diese Informationen nur auf, weil er dem Mann klar machen wollte, dass das nichts für ihn war. Er sollte seinen Filterkaffee nehmen und fertig. Irgendwann musste er schließlich auch mal anfangen die Geräte zu reinigen. Wenn der Kerl jetzt auch noch nach anderen Getränken fragen würde... Jordan wollte gar nicht dran denken! „Dann nehme ich so einen. Und da gibt es verschiedene Größen, ja? Tall ist groß genug.“ „Okay, zum hier trinken oder mitnehmen?“ „Hier trinken.“ „Dann einmal Ihren Namen, bitte“, forderte Jordan höflicher als eigentlich üblich, während er schon mal nach dem Edding neben der Kasse griff. Es gehörte halt zu dem Franchise dazu, nur deshalb fragte er überhaupt. Eigentlich fand er es selbst mehr als unpassend, dass er diesen alten Herren nach seinem Namen fragte und ein bisschen unwohl fühlte er sich dank dieser Aktion auch noch. Irgendwie nahm das ziemlich viel respektvolle Distanz zu fremden, älteren Menschen. Der Mann selbst brachte auch nichts raus. Jepp, er fand es ganz sicher unhöflich. Kurz zog Jordan eine seiner fein gezupften Augenbrauen hoch und nuschelte sich ein „Nicht so wichtig...“ hervor. Seine Finger wollten fast schon Santa Claus auf den Pappbecher schreiben, doch er behielt die Kontrolle und legte den Stift erfolgreich beiseite. Das wäre dann nämlich wirklich unhöflich gewesen. Andererseits konnte er ja nichts dafür, dass der alte Mann so aussah... Nachdem Jordan den Kassiervorgang ohne weitere Probleme abgewickelt und dem Mann das Getränk hingestellt hatte, konnte er anfangen mit Putzen. Es war noch genug Zeit und letztendlich hatte dieser Kunde ihn nicht einmal zeitlich zurückgeworfen. Dennoch hatte ihn allein der Gedanken daran, verlorene Zeit wieder aufzuholen gestresst. Stress, den auch die sich in der Playlist befindlichen, sich immer wiederholenden, Weihnachtslieder nicht lindern konnten. Eher war das Gegenteil der Fall. Sie kamen ihm schon zu den Ohren raus. „Hey, Sam, sag dem Kerl, dass er jetzt gehen muss. Ich will zu machen“, merkte Jordans Kollege leise an, nachdem er die Soßenflaschen aufgefüllt und gereinigt hatte. Sam, kurz für Samford, nannten ihn eigentlich alle engeren Bekannten, ob Arbeitskollegen oder Mitspieler der College-Fußballmannschaft. Schon zu Teenagezeiten hatte Jordan das bei seinen Freunden durchgesetzt. Nur bei seinem High School Freund Angel hatte das nie funktioniert, er nannte ihn bis heute einfach Jordan. „Warum ich?“ Die Begeisterung war ihm ins Gesicht geschrieben. Leute vor die Tür setzen gehörte nicht gerade zu seinen Hobbys. Weitestgehend, weil es einfach keine Variante davon gab, in der es nicht unhöflich war. Aber er ergab sich seinem Schicksal und stellte sich der unliebsamen Aufgabe. „Tut mir Leid, aber Sie müssen jetzt gehen. Wir schließen.“ Zum Glück wirkte der alte Mann nicht wirklich schlecht gelaunt durch die Nachricht, im Gegenteil sogar. Jordan schaute in ein lächelndes Gesicht und für einen Moment wirkte der Opi ja doch ganz niedlich. „Hat wirklich lecker geschmeckt dieser Keks-Kaffee.“ „Freut mich“, sagte Jordan knapp, aber sein Kopf dachte Bloß kein Smalltalk! Schnell floh er wieder hinter die Theke, nachdem er dem Open-Schild den Strom abgedreht hatte. Der alte Mann brauchte immerhin auch nicht lange, um sich seinen Mantel über den dunkelblauen Pullunder zu ziehen und seinen Hut aufzusetzen. Mit ein paar netten Worten verabschiedete er sich noch. ~ Auch am nächsten Tag musste Jordan die Spätschicht im Downtown-Starbucks übernehmen. Er hatte gar nicht mehr viel über den gestrigen Tag nachgedacht, das machte er eigentlich nie, wenn es sich nicht um etwas Weltbewegendes oder seine sportliche Leistung handelte. Ein alter Mann im Starbucks, der einen Christmas Cookie Latte trank, war dann doch nicht wichtig genug in Jordans Welt. Naja, bis jetzt jedenfalls, denn als der Student den Laden betrat, dachte er für einen Moment, er sähe nicht recht. Der alte Mann war wieder da. Na, dem musste es ja wirklich geschmeckt haben... „Pfefferminz“, merkte der alte Mann an, als Jordan an ihm vorbei ging, und deutete zufrieden auf seinen roten Pappbecher. Offenbar meinte er den Peppermint Mocha. Jordan konnte darüber nur müde lächeln, tat aber wenigstens so, als ob ihn das irgendwie interessieren würde und zog die Mundwinkel gequält noch ein wenig höher. Es gab noch einen Weihnachtskaffee, den er noch nicht probiert hatte und es war noch ein Tag bis Weihnachten. Wie wahrscheinlich war es, dass der alte Mann auch morgen wieder da sein würde? Bei dem Gedanken schüttelte er den Kopf. Konnte ihm doch egal sein, ob der wieder auftauchte. Und wenn er ihr ganzes Sortiment durchprobierte, das musste ihn auch nicht interessieren. Der bärtige Alte hatte scheinbar seinen kurzfristigen Jungbrunnen in Starbucks-Kaffees gefunden. Äh, Glückwunsch? Eigentlich versuchte er nur diese Schicht hinter sich zu bringen und die Vorfreude auf später half dabei ganz gut. Angel hatte schon begonnen Fladenbrot zu backen, als Jordan das Haus verließ und wenn er in ein paar Stunden wieder zurück wäre, würden die Cevapcici auch schon auf ihn warten. Mit gutem, kroatischen Essen konnte man ihn einfach immer glücklich machen. Und je mehr Angel übte, desto mehr kamen seine Kochkünste an die von Jordans Mutter heran. Doch nicht nur der Gedanke an das heutige Abendessen lenkten den Studenten von der Arbeit ab. Irgendwie kam es ihm so vor, als würde der komische Alte ihn beobachten. Bildete er sich das ein? Oder guckte der Mann doch auffällig oft zu ihm? Jordan versuchte es irgendwie zu ignorieren und mied jeden weiteren Blick in seine Richtung. „Mann, der Kerl sitzt hier jetzt schon seit Stunden. Und nachbestellt hat er auch nichts“, merkte Luke mit leisem Ton an und schielte in Richtung des bärtigen Mannes. Scheinbar war er auch schon vor Jordans Schicht eine ganz schön lange Zeit hier gewesen. Jedenfalls länger als es für ihre Kunden sonst üblich war. Dabei sah er gar nicht wie ein Obdachloser aus, der sich so lange wie möglich vor der eisigen Kälte dort draußen schützen wollte. Und er hatte auch nichts bei sich außer ein dickes, altes Buch. Vielleicht hatte er einen anderen Ort, von dem er diese Tage floh? Ein Altenheim wäre möglich. Unter Umständen musste er einfach mal raus unter Leute zu dieser Zeit des Jahres. Wer weiß, ob seine Familie überhaupt- Okay, genug! Krieg jetzt bloß kein Mitleid! „Vielleicht hat er auch einen Angel zuhause sitzen, von dem er einfach mal weg muss“, merkte Jordan mit einem Schulterzucken an. Er wollte einfach nur seine Arbeit machen, die letzten Arbeitsstunden bis Weihnachten über die Zeit bekommen und dann ein paar Tage vollkommen stressfrei zuhause bei seiner Familie verbringen. Der Abend auf der Arbeit endete fast identisch wie am Tag zuvor. Jordan musste den alten Mann hinaus bitten, der noch bis Ladenschluss dort geblieben war. Dass den das ganze Sitzen nicht gelangweilt hatte, war fast schon beeindruckend. Er hatte die ganze Zeit gelesen. Allein der Gedanke daran langweilte Jordan schon zu Tode, ernsthaft, er hätte wahrlich besseres zu tun gehabt. Aber wahrscheinlich änderte sich das mit dem Alter und später würde er selbst seine Zeit irgendwo absitzen und – Nein, lesen würde er nicht. Aber stundenlang vor dem Fernseher sitzen und sich den Sportkanal ansehen, das traute er sich selbst als altem Mann noch zu. Jetzt jedoch war er noch jung und der alte Mann gegangen, die Cevapcici und Angel warteten auf ihn und er hatte noch einen Laden zu wischen. Für diesen Augenblick war sein von Weihnachten verdrängter Elan tatsächlich wieder da. Motiviert wischte Jordan den Boden und kümmerte sich darum, dass die Spülmaschine von innen blitzte wie eine Weihnachtskugel. Der Putzeifer hatte sich gelohnt, denn Jordan und sein Kollege waren ganze 15 Minuten früher draußen als sonst, schlossen noch die Tür ab und traten dann beide in verschiedene Richtungen ihren Heimweg an. Vom Starbucks bis zu ihm nach Hause waren es nur knapp 20 Gehminuten durch Downtown, weshalb er besonders bei Spätschichten oft zu Fuß nach Hause ging. Die Zeit, die er auf Bus und Bahn wartete und die Zeit, die er zum Gehen brauchte, glichen sich schon fast komplett aus. Und so ein bisschen frische Winterluft am Abend tat auch gut. Mit Kopfhörern auf dem Kopf und Musik in den Ohren ging Jordan durch die spärlich belebten Straßen. Irgendwie hatte er ein komisches Gefühl, konnte sich aber selbst nicht erklären, woran das lag. Er hatte keine Angst, ganz und gar nicht. Er war zwar mit seinen 1,76 m Körpergröße nicht besonders furchteinflößend, allerdings war er durch sein ständiges Verlangen nach Sport und jahrelangem, harten Training stärker und schneller als viele andere. Sein Selbstbewusstsein hatte darunter auch nicht gerade gelitten, er würde es sogar mit einem Sumoringer aufnehmen, wenn es sein musste. Als Jordan jedoch an der nächsten Ampel anhalten musste und unwissend den Kopf zur Seite drehte, durchfuhr ihn ein Schreck vom Feinsten. „Nicht Ihr Ernst! Hören Sie auf mich zu verfolgen!“, fuhr er den alten Mann an, viel energischer als er das eigentlich geplant hatte und absolut uncool. Als hätte das hier ihn jetzt wirklich erschreckt, pah! Zeuge waren allerdings seine Kopfhörer, die durch die schreckhafte, hektische Bewegung von seinem Kopf gerutscht waren. Vom bärtigen Alten kam kein Wort. Alles, was Jordan von ihm bekam, war ein fast schon belustigt wirkendes Lächeln. Na toll, jetzt lachte der Opa ihn auch noch aus oder was? Machte ihm Spaß, nachts irgendwelche Leute zu verfolgen und sie zu erschrecken, hm?! Mit einer Hand fuhr sich der Student aufgebracht durch seine dunkelbraunen Haare und nutzte die erstbeste Gelegenheit, um bei Grün schnellen Schrittes die Straßenseite zu wechseln. Bloß nicht weiter provozieren lassen. Ein Vulkanausbruch war nämlich gar nichts gegen den Halbkroaten, wenn er die Beherrschung verlor. Und ein Ausbruch von ihm war sehr viel Wahrscheinlicher als ein Yellowstone-Desaster. Seine beschleunigte Atmung pustete immer wieder kleine, weiße Wölkchen in die Luft. Kurz drehte sich Jordan um und bereute es im nächsten Moment schon wieder. Eigentlich wollte er nur gucken, wie weit er den alten Mann abgehängt hatte, doch der Anblick zwang ihn, stehen zu bleiben. Offenbar hatte der Bärtige irgendein Problem, jedenfalls hielt er sich das Bein und war nicht viel weiter gekommen als bis über die Straße. „Ich bin viel zu nett, echt...“, murmelte Jordan, überbrückte die hart erarbeiteten Meter bis zur Ampel und sah den Mann fast schon ein wenig skeptisch an. Irgendwas mit dem Kerl war doch nicht normal. Vielleicht war er ja sogar geistig nicht ganz richtig und gehörte in Pflege. Der musste doch irgendwo ausgebrochen sein. „Kommen Sie mal her...“, forderte Jordan, der sich prompt den Arm des Mannes um die Schulter legte, um ihn zu stützen. „Da vorn ist 'ne Bank, da gehen wir jetzt erst mal hin. Schaffen Sie das?“ „Gleich... Es geht gleich wieder“, meinte der alte Mann angestrengt und mit leicht verzerrter Stimme. Wirklich überzeugend fand Jordan das in diesem Moment nicht. Langsam und Behutsam führte er den Mann zu der erwähnten Bank und ließ ihn sich vorsichtig hinsetzen. Was tat man in so einem Moment? Einen Krankenwagen rufen? Ja, wahrscheinlich eine gute Idee. Aber wenn er wirklich nur mal kurz eine Pause einlegen musste? Der Sportler wusste nicht, was in dem Alter normal war und was nicht. Aber alte Leute hatten ja nicht umsonst oftmals einen Gehwagen dabei, auf dem sie sich ausruhen konnten, wenn sie mussten oder? „Sicher, dass es gleich wieder geht? Sicher, dass Sie keinen Arzt brauchen?“ „Ja, mach dir keine Gedanken.“ „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen nicht so aus, als ob Sie allein nach Hause kommen. Meinen Sie nicht, dass Sie nicht schon vermisst werden? Es ist schließlich spät und-“ Irgendwie versuchte Jordan sich zu erklären, doch der bärtige Mann hob die Hand und winkte ab. Der Sportler konnte daraufhin nur die Augenbrauen hochziehen. Er wollte nach Hause. Verdammt, es war spät und es gab Cevapcici! Aber nicht einmal er konnte diesen alten Mann hier so alleine auf einer Bank sitzen lassen. Begleitet von einem tiefen Seufzer nahm er schließlich neben dem Alten Platz. Für einen Moment schwiegen sei beide. „Die Welt hat sich in den letzten Jahren so sehr verändert, dass es mir schwer fällt, da noch mitzuhalten. Es gibt... Handys, Laptops und 3D-Filme. Oft denke ich, dass ich komplett den Halt verliere. Alles entwickelt sich so rasant. Manchmal versuche ich noch hinterher zu laufen, mich anzupassen. Aber... ich mache mir nur selbst etwas vor.“ Jordan konnte ein Stirnrunzeln nicht vermeiden. Er war nie besonders gut in solchen Gesprächen, er war einfach nicht Angel. Wäre der hier, würde er ihm wahrscheinlich den Rücken tätscheln und dem alten Mann Mut machen. Am Ende würde er ihn noch nach Hause einladen und ihm ein heißes Getränk anbieten. Oh Gott, zum Glück war er nicht Angel... Er nahm ganz sicher keinen Fremden mit nach Hause. Und eine aufbauende Rede halten war auch nicht sein Stil. „Der Christmas Cookie Latte hat Ihnen doch geschmeckt. Oder haben Sie sich das auch nur vorgemacht?“, fragte Jordan und verschränkte die Arme vor der Brust – ein bisschen kalt wurde ihm so ohne Bewegung jetzt doch. „Hm? Nein, der war wirklich lecker.“ „Das will ich auch hoffen, immerhin hab ich ihn gemacht.“ Die Worte klangen so ernst, dass Jordan sich eines seiner spitzbübischen Grinsen nicht verkneifen konnte. Auch der alte Mann musste schmunzeln als wäre es ansteckend. „Ich glaube, Sie sind auf dem richtigen Weg. Sie müssen nicht leben wie die jungen Leute heutzutage. Die können gar nicht mehr ohne all das und ich bin da sicher keine Ausnahme. Aber Sie probieren neue Dinge aus und das hält Sie jung. Einfach rausgehen und was draus machen. Spaß haben. Sie können trinken und essen...und tragen was Sie wollen. Und wenn Sie etwas brauchen, was Ihnen ein wenig Halt gibt, gucken Sie sich ein Spiel an. Football, Baseball, Basketball oder am besten Fußball. Das ist was für jedermann und das wird sich auch nicht so schnell ändern.“ Der Mann lächelte leicht. Doch trotzdem wirkte er nicht wirklich glücklicher. Und wieder fühlte sich Jordan bestärkt darin, dass er einfach nicht für aufbauende Reden geschaffen war. „Das klingt nett, aber... Was machst du gerne? Was bereitet dir Freude?“ Auf diese Frage war Jordan ganz und gar nicht vorbereitet. Einen Moment lang musste er wirklich überlegen, obwohl es eigentlich wie aus der Pistole geschossen aus ihm herausplatzen müsste. „Fußball spielen. Sport allgemein, aber Fußball steht über allem“, antwortete der Student immer noch ein wenig verdutzt. Was der Mann mit dieser Information wollte, ob er vielleicht nur das Gesprächsthema in weniger deprimierende Tiefen lenken wollte, er wusste es nicht. „Und würde es dir auch noch Spaß machen, wenn niemand da wäre, der sich an dem Spiel erfreut? Wenn niemand zu deinem Spiel kommen würde? Wenn...niemand an dich glauben würde?“ „Pff, unmöglich“, merkte Jordan knapp an. Er war nicht einmal beeindruckt von der Vorstellung. Der fest überzeugte Blick des Studenten ließ den alten Mann stutzen. „Solange es auch nur eine Person gibt, die an mich glaubt, würde ich alles tun, um sie nicht zu enttäuschen. Und ich weiß, dass diese Person existiert.“ Bei diesen Worten war der komplette Körper des Studenten angespannt, sein Gesicht war ernst und in seinen Augen leuchtete der Ehrgeiz. „Verstehe. Ich sollte mir wohl eine Scheibe von dir abschneiden, Junge“, merkte der alte Mann an und stützte sich an der Armlehne der Bank auf, während er aufstand. Wie auf Kommando kam in den energischen Körper von Jordan auch Bewegung. Für einen kurzen Augenblick erhellte sein Lachen die düstere Umgebung, das spitzbübische Grinsen blieb noch ein wenig länger. „Aber bitte nur in der Hinsicht. Ich bin nicht gerade Vorbildmaterial“, meinte er dezent abwehrend. „Falls Sie allerdings noch jemanden für diese Rolle brauchen: Ich glaube an Sie. Also enttäuschen Sie mich nicht, klar?“ Amüsiert und leise vor sich hin glucksend ging der alte Mann davon, dahin, wo er längst erwartet wurde. Jordan zog sich die Kopfhörer über die Ohren und brachte die letzten paar Straßen hinter sich, denn auch er hätte schon vor einer Weile zuhause ankommen sollen. Und obwohl er später kam als erwartet, obwohl er ein wenig durchgefroren war und der Hunger sich mittlerweile stark bemerkbar machte, konnte der Student seine Mundwinkel nicht unter Kontrolle bekommen. Er fühlte sich einfach gut – glücklich. Die letzten Stufen nach oben waren gemeistert und hinter Jordan fiel die Wohnungstür ihrer kleinen Fachwerkwohnung ins Schloss. Angel, der durch die Geräusche angelockt wurde, stand in der Küchentür. „Willkommen zuhause“, sagte er lächelnd. Die Tatsache, dass Jordan irgendwie besonders gut gelaunt zu sein schien, freute den jungen Mann mehr als dass es ihn irritierte. Wenn es Jordan gut ging, dann ging es ihm selbst ebenfalls gut. „Ist was passiert? Hat jemand gewonnen?“ In den meisten Fällen, wenn Jordan Samford ausgesprochen gute Laune hatte, dann hatte er entweder eine Klausur bestanden, einen Wettstreit gewonnen oder eines seiner Lieblingsteams war als Sieger aus einem Spiel gegangen. „So ähnlich“, meinte der Angesprochene nur und schlüpfte aus seinen überteuerten Markenturnschuhen. Nachdem auch sein Parka verstaut war, machte sich Jordan auf in die Küche. Schließlich konnte er es kaum noch erwarten, so wie er schon seit Stunden an das vorbereitete Essen dachte. Als der Sportnarr zu Angel aufgeschlossen hatte, haderte er allerdings noch kurz, anstatt zum Herd zu stürzen. „Danke, dass du an mich glaubst.“ Amüsiert und irritiert zugleich hob Angel eine Augenbraue an. Wo das so plötzlich und unerwartet herkam, konnte er sich nicht erklären. Er kannte Jordan schon sehr lange und konnte zweifellos sagen, dass Momente wie dieser selten waren. Ein Dankeschön aus seinem Mund war rar, aber ein Dankeschön aus so einem Grund – Jordan würde ihn sicher kitschig nennen – hörte man höchstens einmal im Jahr von ihm. „Dafür musst du mir nicht danken, Jordan“, gab Angel glücklich lächelnd zurück. Und obwohl der Weihnachtsmorgen noch gar nicht gekommen war, hatte Jordan längst seine größten Geschenke für dieses Jahr verteilt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)