Der letzte Schlag von Ixtli ================================================================================ Kapitel 1: Le Loup ------------------   Herr, stell eine Wache vor meinen Mund, eine Wehr vor das Tor meiner Lippen! (Ps 39,2; Jak 3,5)       Die Glocken schlugen zum Ende der Messe und ein kaum abreißender Menschenstrom folgte ihrem Geläute aus der zweiflügeligen Tür hinaus in den Vorhof. Dort unter dem hellerleuchteten Rechteck, das die geöffneten Türen auf das schneebedeckte Pflaster warfen, verabschiedete sich Chastel von allen, die zahlreich wie immer, seinen Gottesdienst besucht hatten. Nachdem auch die Letzten sich in dem Gewirr aus Gassen und Straßen verstreut hatten, zog Chastel das schmiedeeiserne Tor zu, das die Mauer, die rund um die alte Kirche führte, bis zum nächsten Morgen verschloss. Im letzten Schlag der Glocke nahm Chastel den leicht gebeugten Schatten wahr, der über den Gehweg an ihm vorüber huschte. "Hast du mich erschreckt", lachte Chastel erleichtert auf, als er das bleiche Gesicht unter dem tief bis zu den Augen hinabgezogenen Hut erkannte. Ein kurzes amüsiertes Zucken spielte um die eisblauen Augen, die Chastel von oben bis unten musterten. Der griesgrämige Zug um die Mundwinkel wollte nicht so recht zum Rest des eigentlich freundlichen Gesichts passen, und auch nur eines der beiden Grübchen zeigte sich auf der Wange des Angesprochenen, der dem Mann in der schwarzen Kleidung ein schnelles, abschätziges Lächeln zuwarf. Garou war nicht einfach, das wusste Chastel aus eigener Erfahrung. Die meisten im Dorf mieden ihn, weil er seit geraumer Zeit keine Messe mehr besuchte und stattdessen wie ein verwundetes Tier nachts durch die Straßen wandelte. Genau wie auch heute Abend. Aber wer auch immer von ihnen zuerst auf den Gedanken gekommen war, Garou wäre nicht menschlich, hatte sich vermutlich noch nie die Mühe gemacht, ihm gegenüber zu treten. Dabei war er es absolut wert.   "Wie geht es dir?", erkundigte sich Chastel. Geduldig wartete er darauf, dass Garou, der wirkte, als säße er in der Falle, ihn ansah. Seine Blicke waren hektisch wie ein kleiner Vogel. Kaum, dass sie sich auf Chastel niedergelassen hatten, flatterten sie auch schon wieder davon zu etwas, was hinter ihm lag. "Wie immer", murmelte Garou vorsichtig. Seine Stimme klang rau. Sie klang wie von jemandem, der es nicht gewohnt war, Gespräche zu führen. "Gut, denke ich", fügte Garou nach kurzer Pause noch hinzu, als wolle er sichergehen, dass der Pfarrer ihm auch glaubte. Als Chastels Blicke seine trafen, senkte Garou sofort den Kopf. "Das freut mich." Chastel seufzte innerlich. Die Worte waren Garou manchmal schwieriger zu entlocken, als den Gläubigen die Almosen am Ende einer Messe. "Die Orgel klang ja furchtbar", platzte es auf einmal aus Garou heraus. Sein Mund bog sich zu einem breiten Grinsen, das beide Reihen seiner Zähne entblößte. "Ich weiß." Chastel zuckte hilflos mit den Schultern. "Besser bekomme ich es leider nicht hin", entschuldigte er sich bei seinem Gegenüber, das leise vor sich hin lachte. Garous Schultern bebten und sein Atem stieg in hellen Wölkchen im Takt seines Lachens in die eisig kalte Luft hinauf. "Da fällt mir was ein", unterbrach Chastel Garous Lachen. "Möchtest du nicht mal wieder eine Messe besuchen? Gerade jetzt so kurz vor Weihnachten?" Sofort hielt Garou die Luft an und das Grinsen war wie aus seinem Gesicht gewischt. "Du hältst mich wohl für verrückt!", fuhr er Chastel an, der kurz erschrocken mit den Augen zwinkerte. Garou schlug seinen Mantelkragen nach oben, ließ seine Blicke ein letztes Mal über Chastel wandern und stapfte dann durch den knöchelhohen Schnee davon. "Ich komme zu deiner Messe, sobald in der Hölle Eisblumen wachsen!", rief er im Weggehen Chastel zu, der ihm Kopfschüttelnd nachsah, bis Garous Konturen nur noch verwaschene Schemen im Flockengewirr waren.     Noch nicht einmal dann würde er eine Messe besuchen. Was bildete sich der Schwarzrock eigentlich ein? Garous gegrummelte Flüche klangen erstickt unter seiner Bettdecke hervor, die er sich bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte. Gleich würde es wieder losgehen. Dieses unsägliche Gelärme. Wie er es hasste! Langsam und bedächtig zählte Garou bis zehn. Er durfte sich nicht noch mehr aufregen. Seine Nächte waren so schon schlimm genug. Andererseits konnte er nichts daran ändern; auch nicht mit zählen. Mehr als in seinem Bett zu liegen und seinem Blut zu lauschen, das wie ein Wildbach nach der Schneeschmelze durch seinen Körper raste, oder sich wieder anzuziehen und durch dieses verfluchte Dorf zu wandern, bis sein hämmernder Puls sich beruhigt hatte, blieb ihm nicht übrig. Und an allem war dieser hinterhältige Pfarrer schuld. Garou stieß einen gedämpften Schrei unter seiner Decke aus, als die Glocken wie auf Kommando zu läuten begannen. Jede Nacht hielten sie ihn wach. Schon seit Wochen. Er konnte seinen Kopf so tief in sein Kissen drücken, wie er wollte, das Gebimmel klang immer durch und trieb ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn. Und niemand sonst in ihrem Dorf schienen die Glocken zu stören, wie es auch niemanden zu stören schien, dass Chastel es ohne Anstrengung schaffte, jeden einzelnen Bewohner des Dorfes in seine dämliche Revue, die er Messe nannte, zu locken. Nur ihn nicht. Er wusste, was dort vor sich ging. Er hatte lange genug alles mitangesehen. "Chastel!", knurrte Garou wütend in die Daunen. Am liebsten würde er ihm seinen dürren Hals umdrehen. Wenn er denn noch genug Kraft dafür gehabt hätte. Aber die hatte er nicht. Und wie kam dieser Idiot überhaupt dazu, zu denken, dass er auch nur noch an einer einzigen Messe von ihm teilnehmen würde? Nicht jetzt, wo er ihn mit diesem elendigen Geläute jede Nacht wach hielt. Nicht jetzt. Die Glocken verhöhnten Garou Schlag um Schlag, bis sie endlich schwiegen. Erschöpft schloss Garou die Augen und atmete tief durch. Der letzte Schlag klang metallen in seinen geschundenen Ohren nach. Eine Stunde lang hatte er jetzt Frieden.     Die Tür des Gasthofes öffnete sich gerade lange genug, dass die schmale Gestalt in den düsteren, mit Rauchschwaden verhangenen Raum hinein gleiten konnte. Garou, der an der siffigen Theke saß, in deren Holz mehr Kerben waren, als es Menschen in ihrem Dorf gab, verdrehte die Augen, als er den neuen Gast erkannte. Abweisend drehte er Chastel den Rücken zu, der gemächlich auf ihn zugeschlendert kam. Er spürte Chastels Mantel über seinen Arm streichen, während der Pfarrer neben ihm Platz nahm. Auf der Stelle zuckte Garou zurück, als hätte er sich an dem Kleidungsstück verbrannt. Chastel warf ihm einen amüsierten Blick zu, den Garou allerdings nicht sehen konnte, weil er seinen Kopf tief über seinen Bierkrug gebeugt hatte. Der Weihrauch, der Chastel immer umgab, ätzte sich in Garous Nase und verschlug ihm den Atem. Wieder so ein Ding, das niemanden außer ihn zu kratzen schien. Wie konnten alle nur so ruhig bleiben, obwohl Chastel mit seinem verbrannten Dreck regelmäßig das halbe Dorf ausräucherte? Selbst den Misthaufen des Bauern am Ende des Dorfes schaffte er mit seinem Weihrauch zu übertreffen. Und der Misthaufen war riesig. Ein riesiger, stinkender Haufen Scheiße. "Na, du Seelenfänger, suchst du deine Schafe?" Garou lachte heiser über seinen eigenen Witz. "Hier wirst du keines finden." Chastel lächelte müde. "Du hast Recht, Garou, hier ist nur ein Lamm im Wolfspelz." Er gab dem Wirt ein Handzeichen und wartete auf seine Bestellung. "Hast du nicht schon genug Schafe?" Der Schaum in seinem Bier knisterte leise. "Das Letzte brauchst du nicht auch noch." Garou leerte seinen Krug in einem Zug und erhob sich von seinem Platz. Er griff nach seinem Hut, den er neben sich auf der Theke liegen hatte, und setzte ihn auf. "Entschuldige mich bitte, ich muss früh zu Bett, damit ich auch noch was von der Nacht habe..." Garou, der gerade mal in seinen Zwanzigern war, schlurfte wie ein alter Mann in Richtung Tür. Der wochenlange Schlafmangel machte sich bereits seit längerem bemerkbar und es wurde immer schlimmer. Sein Kopf fühlte sich an wie ein nasser Sack, den er nur noch mit Mühe auf seinen Schultern balancieren konnte. Beim kleinsten Fehltritt würde er herunterfallen und aufplatzen. Stumm sah ihm Chastel nach. "Es tut mir leid", rief er schnell, ehe sich die Tür hinter Garou schließen konnte. "Ich kann die Glocken nachts nicht abschalten, das weißt du doch." Chastel räusperte sich schnell. "Du bist dennoch gerne in der Messe gesehen." Garou drehte sich ein letztes Mal zu Chastel um. Seine Mundwinkel umspielte ein süffisantes Lächeln. "Vielleicht werde ich wirklich mal vorbeikommen." Mit Genugtuung sah er das hoffnungsvolle Aufblitzen in Chastels Augen. Was für ein Idiot. "Am Tag deiner Hochzeit", fügte Garou gehässig hinzu und schlug die Tür endgültig zu.     "Bitte nicht", flüsterte Garou vor sich hin, als er die eiligen Schritte hinter sich hörte, die ihm folgten. Er tat, als hätte er nichts bemerkt, beschleunigte seine Schritte und setzte seinen Weg über den Marktplatz fort. Er hatte keine Ahnung, weshalb er es vorzog, in einer stickigen Kneipe zu sitzen, in der man sich die undenkbarsten Krankheiten alleine beim Anfassen der Türklinke einfangen konnte, statt in der sauberen Kirche. Doch die Hand, die sich in diesem Moment auf seine Schulter legte und ihn eine halbe Drehung um sich selbst vollführen ließ, war Antwort genug. "Wann gedenkst du wirklich, wieder eine Messe zu besuchen?" Der hatte Nerven, das musste man ihm lassen. Garou sah Chastel von oben bis unten an. Er hatte von der Kälte gerötete Wangen und auch seine Nasenspitze schimmerte in dem gleichen Farbton. Chastel war so alt wie er selbst, aber manchmal konnte man meinen, dass sein Kopf ihm viel weiter voraus war. Es war etwas, was er immer an dem Pfarrer bewundert hatte. Was er natürlich nie zugeben würde. Eher fraß der Teufel Fliegen. "Was du mir zu sagen hast, kannst du auch hier tun." Garou machte mit seiner Hand eine Bewegung, die den Marktplatz um sie herum einschloss. Chastel seufzte leise und ließ die Schultern hängen. "Das, was ich dir zu sagen habe, hat nichts auf dem Marktplatz zu suchen." "Wo denn sonst?", hakte Garou belustigt nach. "In deinem Schafstall?" Chastel schlug sich die Hände gegen die Stirn. In Zeitlupe sanken sie herab und seine Blicke folgten ihnen. Er schwieg eine Weile, bis sich seine aufeinander gepressten Lippen endlich öffneten. "Das Wort ist dir nahe, in deinem Mund und deinem Herzen, heißt es an einer Stelle des Buches, das du durch meine Schuld jetzt nicht mehr anrührst." Er wollte Garou einen Moment geben, von dem er hoffte, dass er dadurch die Bedeutung dieses Zitats verstand und warum es ihm so wichtig war. Garou sah ihn verdattert an. Chastel hatte ihn eiskalt erwischt. Aber nur kurz. "Wenn du mir was vorlesen möchtest, kannst du das gerne tun", witzelte er. "Du weißt ja, wo du mich findest. Vielleicht kann ich dann ja endlich wieder durchschlafen." "Himmel, Garou, du bist der größte Holzkopf, den ich kenne!", entfuhr es Chastel verärgert und im gleichen Moment, in dem er seine Worte aussprach, verfärbten sich seine Wangen einen Ton dunkler. Garous Grinsen nahm nun förmlich sein gesamtes Gesicht ein. "Du kriegst mich nicht in eine deiner Messen, Chastel", entgegnete er vorsichtig. "Das ist vorbei." Einen Moment lang genoss Garou noch den verzweifelten Ausdruck in Chastels Gesicht, dann wandte er sich ab und ging wieder seines Weges. "Gibt es wirklich gar nichts, was dich umstimmen könnte? Gar nichts?" Er hasste sich kurz für das Verzweifelte in seiner Stimme, aber es war das, was er gerade fühlte. Garou hielt inne. "Doch, das gibt es", sagte er mit einem gefährlichen Lauern in der Stimme. Er drehte sich erneut zu Chastel herum, der noch immer an der gleichen Stelle stand, wo er ihn zurückgelassen hatte. "Wenn du deine Glocken für zwei Nächte abstellst, komme ich zu einer deiner Messen. Was meinst du?"   Chastel wand sich wie unter Schmerzen. "Du weißt genau, dass ich das nicht kann", presste er zwischen den Zähnen hervor. Er war kurz davor, sich die Haare zu raufen. "Ja, das sagst du immer." Garou schob die Hände in seine Manteltaschen. "Du kannst mir gerne erklären, warum dir dein dummer Aberglaube wichtiger ist, als dass dein Nachbar ruhig schlafen kann." Garou wusste genau, woran das lag. Die Glocke läuteten nachts immer ohne Ausnahme und Chastel hatte es ihm auch einmal erklärt. Chastel würde sich eher in einem Kleid hier mitten auf den Marktplatz stellen und allen verkünden, dass er ab heute Rosa Elefanten in seiner Kirche anbete, als dass er die Glocken abstellte. "Hexen und Dämonen – man sollte meinen, du wärst klug genug, den Humbug nicht zu glauben." Die Worte brannten in seiner Kehle, als Garou sie aussprach. Chastel sah betreten auf seine Hände hinab. Er hatte die Finger fest ineinander verhakt. "Ich habe wirklich jeden Spaß mitgemacht, Garou, wirklich. Selbst über deine Flüche habe ich hinwegsehen können, aber den Gefallen kann ich dir nicht tun." Zum Ende hin wurde seine Stimmer immer leiser und leiser, bis sie schließlich brach. "Dann kann ich auch leider keine deiner Messen besuchen", gab Garou zur Antwort. Er sah Chastel lange an, bis der endlich den Kopf hob und die Blicke erwiderte. Es spiegelte sich tatsächlich pure Angst in ihnen und Garou musste an sich halten, um nicht das Mitleid die Oberhand gewinnen zu lassen. Wieder einmal. Chastel hatte gar nicht bemerkt, dass Garou wieder die paar Schritte zurück zu ihm gemacht hatte, und erschrak kurz, als der keinen Meter von ihm entfernt dastand. Garou sah aus, als bedauere er tatsächlich das, was er gesagt hatte. Abwartend stand er vor Chastel, dessen Mund sich gerade öffnete und sich gleich darauf wieder schloss, ohne dass auch nur ein Wort aus ihm gekommen war. Garou stieß leise den Atem aus. "Der Weg, von dem du hoffst, dass ich ihn gehe, ist der gleiche, den du zu gehen hättest." Chastels Augen weiteten sich. "Du bist der einzige, der mich Garou nennt – immer noch." Das Leder seiner Handschuhe knarrte leise unter der Bewegung seiner Hände, während Garou sich zu beherrschen versuchte, Chastel nicht an dessen weißem Kragen zu packen und ihn zu schütteln, bis er wieder zur Besinnung kam. Seine Lippen waren wie aus Blei und Chastel musste kurz die Augen schließen, in denen es brannte. "Der Weihrauch ist unerträglich, Euer Hochwürden", flüsterte Garou.     Krachend fiel die Tür hinter Chastel ins Schloss. Mit zittrigen Händen griff er nach der schwarz lackierten Schatulle, die zwischen allerlei Tand auf dem Vertiko in seiner kleinen Wohnstube stand. Die cremeweißen Stücke des Weihrauchs schimmerten wie Bernstein im Licht der Kerzen, als Chastel sie aus der Schatulle nahm und in das Räuchergefäß füllte. Schon bald erfüllte der würzige Rauch die Wohnstube und Chastel atmete ihn tief ein. Wohltuend wie samtiges Salböl legte sich der Duft auf seine geschundene Seele, sein brennendes Herz und seinen vernarbten Körper. Chastel kniete nieder wo er stand. Er faltete die schlanken bleichen Hände und schloss die Augen. "Mein Herr und Gott, meine Augen richten sich auf dich; bei dir berge ich mich. Gieß mein Leben nicht aus!" Tränen quollen zwischen seinen langen blonden Wimpern hervor und sein Mund zitterte vor Angst. Immer wieder wiederholte er die beiden Sätze, bis er irgendwann ihre Wirkung spürte, die, zusammen mit dem heiligen Rauch, sein schier bersten wollendes Herz zähmten. "Garou." Die Nachtglocke nicht mehr läuten - er wusste ja nicht, nach was er da verlangt hatte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)