Morgen von Flying-squirrel ================================================================================ Kapitel 6: Schneeregen ---------------------- Die filigranen Äste bogen sich unter ihrer Last. Hier und da entzog sich einer seiner Unterdrückung und warf die Schneedecke ab, welche sich sogleich pulvrig auf den Boden warf, ohne eine Spur der Eleganz und Leichtigkeit, mit der eine Schneeflocke ihrem Ziele entgegen zu tanzen vermag. Sie streckte ihre Hand aus und ließ den Schnee durch ihre Finger rieseln. Winter, das war die Jahreszeit, in der man Märchen sah. Kein Wunder, dass so viele von ihnen im Winter spielten. Alles war weiß und weich und eben, wer auch immer vorbeikam, er musste Spuren hinterlassen. Schnee bedeckte die Narben des Herbstes, aber er ließ sich auch formen, wie - „Hey!“ Er lachte. „Das ist nicht lustig, du...“ Sie befreite ihre Haare vom Schnee und musste schon wieder lächeln. „Ich dachte mir, du könntest das vertragen, bevor du mir noch festfrierst.“, sagte er und nahm sie an der Hand. „Idiot.“ murmelte sie leise. „Bitte?“ Sie knuffte ihn. „Nichts.“ Sie gingen weiter. „So schlimm wäre das auch gar nicht.“ „Mm?“ „Wenn du hier festfrieren würdest. Du würdest hierbleiben und ich könnte dir jeden Tag Essen bringen. Dann würde ich dir für den Rest des Tages Gesellschaft leisten und nachts kannst du dich mit der Landschaft beschäftigen.“ „Das wäre bestimmt kalt.“, warf sie ein. „Ach was, das stört dich doch nicht. Schnee isoliert!“ rief er aus und lächelte schon wieder. Sie würde alles dafür tun, dass er einfach weiter lächeln würde. Er bemerkte ihren Blick. „Hey. Von mir aus darfst du hierbleiben!“ Aber er hatte schon aufgehört, zu lächeln. „Du weißt ganz genau, warum das nicht geht.“ Sie war sauer, auf sich selbst. Er konnte doch nichts dafür, dass sie morgen nachhause fliegen musste. Aber die Uni konnte sie nicht vernachlässigen. Ohne Bachelor keinen Master. Erst da würden sie wieder zusammen sein. Warum musste sie ihm Vorwürfe machen?! Eine Weile lang sprach niemand. Sie wollte etwas sagen, sich entschuldigen oder das Thema wechseln, aber sie wusste nicht wie. Wieder war er es, der die Stille brach. „Schau!“ sagte er und zeigte auf ein Eichhörnchen, welches offenbar nicht viel vom Winterschlaf hielt. Schnee fiel herab, als es die Zweige hinauf turnte zu einer Höhle. Er wusste, wie sehr sie den Winter liebte. Sie konnte sich für Stunden im Schnee verlieren; jahrelang könne sie im Tiefschnee herumliegen, meinte er einmal, wenn nicht irgendjemand über sie stolpern würde. Aber heute, jetzt und hier, konnte er ihre Gedanken nicht zuschneien. „Es dauert ja nur noch ein bisschen, dann sind wir fertig und gehen gemeinsam zur Uni. Den nächsten Winter verbringen wir auch zusammen. Wir werden nach den Vorlesungen über den verschneiten Campus spazieren und und Schneeballschlachten mit unseren Freunden machen und abends mit einer heißen Tasse Schokolade auf dem Sofa sitzen und aus dem Fenster schauen – oder auf dem Bett. Vielleicht haben wir kein Sofa, weil wir in einer winzigen WG leben. Ein Bett ist auch gut. Mit ganz vielen Decken und Kissen, weil wir an den Heizkosten sparen müssen und es kalt wird...“ Sie hatte erst jetzt bemerkt, dass er auf den Boden starrte. Fragend sah sie ihn an. „Was ist los?“ Er biss sich auf die Zunge. „Hey, was ist? Du kannst mir alles sagen, wenn irgendetwas -“ „Ich werde hier weiterstudieren.“ Sie starrte ihn an. „In meiner Heimatstadt.“, ergänzte er tonlos. „Meine Eltern müssen meiner Großmutter helfen, sie ist schwer krank, die Behandlungskosten, der Hauskredit, es geht einfach nicht… es tut mir leid.“ „Es… gibt Stipendien.“ - „Meine Noten sind zu schlecht. Ich bin abgerutscht, der ganze Stress...“ „Soviel kann das doch nicht kosten!“ - „Bei euch vielleicht nicht, hier schon.“ „Ich studiere hier?!“ Was für eine Schnapsidee. „Ich helfe dir, ich...“ Flehend sah sie ihn an. „Du hast es versprochen.“ „ES GEHT NICHT, OK? ES TUT MIT LEID!“, schrie er und wendete sich ab. „Ehm… hey, ich… ich meinte es nicht so.“ Sie fühlte sich hilflos und verwirrt. Das war alles nicht real, es konnte nicht wahr sein… Sie hatten soviel geplant. Nach der langen Fernbeziehung zusammenziehen, im gleichen Land leben… Vorbei die Zeit des Wartens und Vermissens, des Hoffens auf ein Treffen in den nächsten Semesterferien, zusätzliche Jobs, damit es wenigstens in den nächsten Ferien für den Flug reichte...Alle hatten gesagt, dass sie scheitern würden. Zu jung, zu unreif, das würde nicht klappen. Sie waren eine Ausnahme. Und jetzt? Schnee von gestern. „Ich will das doch auch nicht.“ Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie wusste, dass er Tränen in den Augen hatte. „Ich weiß.“ „Willst du dich...“ Er machte eine Pause und drehte sich um. „Was?“ fragte sie. „...dich trennen?“ Als sie nicht antwortete, überlegte er laut: „Wir könnten weitermachen. Wenn wir Glück haben, können wir uns in den nächsten Semesterferien sehen. Vielleicht müssen wir aber auch arbeiten und lernen. Wir würden uns nochmal zwei Jahre lang nicht sehen. Wir könnten in verschiedenen Ländern arbeiten und nie zusammenziehen. Wahrscheinlich verliebt sich einer von uns beiden neu, hoffentlich dann auch der andere… Geschenke als Paket, Schluss machen übers Telefon.“ Er lachte kurz auf. „Die Post verdient gut an uns.“ Es klang bitter. „Vielleicht sollten wir ihr das gönnen.“ „Vielleicht auch nicht.“ Schweigend standen sie da und vermieden es, sich in die Augen zu schauen. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie, es schmerzte. Jetzt hob er doch den Blick und sie wusste, dass er das Gleiche fühlte. „Und was machen wir jetzt?“ fragte er fast schon sanft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)