Die Wölfe 6 ~Die Söhne des Paten~ von Enrico ================================================================================ Kapitel 5: ~Polizeischutz~ -------------------------- Immer wieder döse ich ein, ich verschlafe Susens Rückkehr und ihre Antwort, verschlafe den Tag und die Nacht, wieder und immer wieder. Das Zeitgefühl geht mir völlig verloren. Menschen kommen und gehen, ich weiß nicht mal, wer es ist. Alles verliert sich in dichtem Nebel. Was auch immer ständig von neuen in meine Venen geschossen wird, trägt mich weit weg von allem. Als ich das erste Mal bewusst den Morgen wahrnehme, weiß ich nicht einmal mehr, wo ich bin. Das Zimmer ist mir fremd, der Blick aus dem Fenster, auf die Hauptstraße, ebenfalls. Warum bin ich hier? Meine Aufmerksamkeit wandert zum Nachttisch neben dem Bett. Ein großer Strauß Blumen blüht in einer Kristallvase. Ich mag doch gar keine Blumen. Vor der Vase stehen Genesungskarten und unendlich viele Zeichnungen, Kinderzeichnungen. Auf jeder steht in großen Druckbuchstaben PAPA geschrieben. Das ist Amys Handschrift, dann sind die Zeichnungen wohl von ihr. Mir huscht ein flüchtiges Lächeln über die Lippen. Ich greife nach den Bildern. Ein Stechen durchzuckt meine Schulter. Scharf ziehe ich die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Ich öffne den obersten Knopf meines Hemdes und schiebe den Stoff zur Seite. Um meine Schulter ist ein dicker Verband gewickelt, ein weiterer über meinen Oberarm. Bin ich deswegen hier? Weiße Wände, der Geruch von Desinfektionsmittel liegt in der Luft, neben mir steht ein Ständer mit Tropf, dessen Schlauch bis zu meiner Hand reicht. Eindeutig, ich bin in einem Krankenhaus. Mich gruselt es bei diesem Gedanken. Ich habe schon einmal drei Jahre meines Lebens in so einem Gebäude verschwendet. Hoffentlich steht es nicht wieder so schlimm um mich. Um nachzusehen, hebe ich die Decke an. Ich betrachte meine blanken Füße und wackle mit den Zehen. Erleichtert atme ich durch. Das letzte Mal, als ich in einem Krankenhaus aufwachte, war mir das nicht möglich. Auf den ersten Blick, kann ich auch keine schweren Verletzungen feststellen. Bis auf ein längliches Pflaster über meiner Wade und ein anderes über meinem Schienbein, scheint noch alles dran zu sein. Ich lasse die Decke wieder fallen und versuche mich aufzusetzen. Etwas reißt an mir und beißt sich über meiner Hüfte fest. Ich schreie und falle zurück ins Kissen. Erschrocken fahre ich unter die Decke und taste nach der Wunde, das Hemd schiebe ich hinauf. Warme Nässe drückt sich durch den Verband, den ich finde. Als ich die Hand zurückziehe, klebt Blut an meinen Fingerkuppen. Noch einmal schlage ich die Decke zurück, um mir das Unheil anzusehen. Ein tiefroter Fleck drückt sich durch die Mullbinden, die um meinen Hüfte gewickelt sind. Meine Bauchmuskeln zittern schmerzhaft, unter der Anstrengung, meinen Oberkörper halten zu müssen. Ich lasse mich wieder fallen. Okay, meine Schulter und der Arm sind nicht der Grund, sondern das hier. Ich atme einige male tief durch, bis der zerreißende Druck nachlässt, dann sehe ich mich weiter um. Niemand ist hier, nicht mal ein anderer Patient. Das ist ungewöhnlich. Obwohl es noch fünf andere Betten gibt, ist nur meines belegt. Ob es meinen Zimmergenossen wohl besser geht, als mir und sie sich irgendwo anders im Gelände des Krankenhauses aufhalten? Das Bettzeug sieht unbenutzt aus, alles ist sauber und glattgestrichen. „Und?“ Die Stimme kommt von draußen, die Klinke wird gedrückt, doch die Tür öffnet sich nicht. „Das Kind ist endlich da, aber ...“ Susen? Arbeit sie jetzt etwa hier? Nein, so ein quatsch! Sie ist sicher nur auf Besuch hier. Meine Gedanken sind wie vernebelt. Ich fahre mir über die Augen, der trübe Schleier hat sich noch immer nicht vollständig verzogen. „Die Geburt hat fast dreißig Stunden gedauert. Judy ist völlig erschöpft und hat jetzt auch noch Fieber bekommen. Hoffentlich bekommen die Ärzte das in den Griff.“ Geburt, Judy? Die Worte wirbeln durch meinen Kopf, doch ich begreife ihre Bedeutung nicht. „Und das Baby?“ „Ganz der Vater. Obwohl es zu früh dran ist, bringt es schon 2000 Gramm auf die Wage und atmet alleine. Kommst du mit? Ich will es auf der Säuglingsstation besuchen gehen und dann noch mal zu meiner Schwester.“ Vater? Bin ich damit gemeint? Die Klinke hebt sich wieder, die Schritte der Beiden verlieren sich in der Ferne. Vater, hämmert es wieder durch meinen Kopf. Das Kind, mein Kind! Ist es wirklich schon da? Am Leben und Gesund? Was ist es geworden? Ein Junge, ein Mädchen? Ich will mit! Ich will es auch ansehen! Ihre Schritte sind längst nicht mehr zu hören, nach ihnen zu rufen wäre vergebens. Noch einmal zwinge ich mich nach oben. Der Schmerz lässt mich stöhnen. Mit der rechten Hand drücke ich die Wunde zu, mit der linken stemme ich mich in die Matratze. Ich beiße die Zähne fest aufeinander und schaffe es tatsächlich, mich aufzusetzen. So weit so gut. Einige Male atme ich tief durch, bis das Hämmern nachlässt, dann schiebe ich meine Beine aus dem Bett. Meine Füße berühren den kalten Boden. Ein Schauer durchfährt mich. Gibt es hier denn keine Schuhe, die ich mir anziehen kann? Vergeblich sehe ich mich danach um. Ob sie vielleicht unter dem Bett liegen? Als ich mich nach vorn beäuge, um nachzusehen, kippt hinter mir etwas um und kracht auf den Boden. Erschrocken fahre ich zusammen und schaue zurück. Der Ständer mit dem Tropf ist umgefallen. Das Ventil an meinem Handrücken, hat sich gelöst und ist abgerissen, die Nadel hängt nur noch lose in der gestochenen Wunde. Ich zucke mit den Schultern und ziehe sie ganz heraus. Achtlos werfe ich sie auf das Bett. Die Flüssigkeit aus dem Schlauch verteilt sich auf dem Boden, auch der Beutel ist bei dem Sturz geplatzt. Die Nässe kriecht vor, bis zu meinen nackten Zehen. Die Klinke der Tür wird gedrückt, ein junger Mann schaut herein. Seine schmächtige Gestalt und die Schlitzaugen kenne ich gut. Jan, der Polizist, der mir schon so oft den Arsch gerettet hat. Er trägt seine Polizeiuniform, seine Augen, suchen den Raum nach mir ab, als er mich gefunden hat, schaut er erstaunt. „Du bist ja wach!“, stellt er fest. Argwöhnisch beobachte ich ihn dabei, wie er die Tür schließt und zu mir kommt. „Wieso … wieso bist du hier?“, will ich von ihm wissen. Das Sprechen fällt mir unheimlich schwer, jedes Wort, jeder Atemzug zieht in der Wunde. Der Schmerz treibt mir die Schweißperlen von der Stirn ins Gesicht. Ich atme ruckartig. „Ich dachte mir, du könntest etwas Polizeischutz brauchen, nachdem du den Chef der Drachen kalt gemacht hast“, antwortet er. Polizeischutz? Ja, das hat das letzte Mal ja auch super geklappt. Unter meinen verschwitzten, blonden Haaren, sehe ich zu ihm auf. Seine Umrisse verschwimmen immer wieder, ständig muss ich blinzeln, um ihn klar sehen zu können. Jans Aufmerksamkeit wandert zum umgeworfenen Ständer. Kritisch sieht er von ihm zu mir. „Was hattest du denn vor?“ „Aufstehen!“, keuche ich. „Verrückter Idiot! Leg dich gefälligst wieder hin!“ Nein, ich hatte irgend etwas wichtiges vor. Was war das gleich noch? Dieses verdammte Mittel. Da lieber ertrage ich den Schmerz, als derart benebelt zu sein. Jans Hände legen sich auf meine Schultern, er drückt mich zurück, doch ich stemme mich dagegen. Ich bin Vater geworden, wirbelt es durch meinen vernebelten Geist. Judy und unser Baby, ich muss zu ihr und sehen, wie es den Beiden geht. „Nein!“, knurre ich. Jan hält inne. „Hilf mir hoch!“, bitte ich ihn. Als er nicht sofort reagiert, ziehe ich ihn am Ärmel seiner Dienstjacke tiefer, bis ich meinen Arm um seinen Hals legen kann. Jan betrachtet mich argwöhnisch, hilft mir aber auf. Die Schwerkraft reißt heftig an mir, ich verlagere mein ganzes Gewicht auf meine unverletzte Körperhälfte, doch wirklich erträglicher, wird es nicht. Ich beiße die Zähne fest aufeinander, um nicht schreien zu müssen, die Luft ziehe ich scharf ein und presse meine Hand krampfhaft auf die Wunde. Jans Blick wird zunehmend besorgter. "Wo willst du denn in dem Zustand hin?", will er wissen. "Bring mich zu meiner Frau!", weiße ich ihn an und bemühe mich, um einen festen Blick und Tonfall, doch meine Stimme zittert, genau so heftig, wie mein Körper. "Bist du dir sicher? Du schaffst es doch nicht mal bis zur Tür", glaubt er. "Sag mir nicht, was ich kann und was nicht! Bring mich einfach zu ihr!", keuche ich angestrengt, doch deutlich aggressiver. Ich will nicht diskutieren und meine wenige Kraft für ihn vergeuden. Er seufzt, kommt aber meiner Aufforderung nach und setzt sich in Bewegung. Mehr schlecht als recht stolpere ich ihm nach. Gemeinsam schaffen wir es bis zur Tür, dann kann ich das Ziehen nicht länger ertragen und bleibe stehen. Meinen Kopf lehne ich an seine Schulter und atme immer wieder durch. Es hilft längst nicht mehr. Der Verband wird warm und fühlt sich nass an. Ich vermeide einen Blick darauf, aufgeben kommt jetzt nicht in Frage. „Du gehörst ins Bett!“, rät er mir wieder. Ich schaue von seiner Schulter auf und ihn finster an. „Zwing mich nicht, meine Bitte wiederholen zu müssen!“, sage ich streng. „Du bist selbst in dem Zustand noch ein Ekel!“, faucht er. Ich zucke mit den Schultern und öffne die Tür. Wir kennen uns jetzt schon sieben Jahre, so langsam sollte er sich an meine Art gewöhnt haben. Obwohl ich beinah mein ganzes Gewischt auf ihn verlagere, hat Jan keine Probleme damit, mich zu stützen. Seine Schultern sind breiter geworden, die Muskeln deutlich unter der Jacke zu spüren. Hat er trainiert? Er wird sich doch nicht etwa meine Worte zu Herzen genommen haben, die ich ihm in der einen Nacht an den Kopf geknallt habe, oder? „Du bist gar nicht so schwach, wie du aussiehst“, lasse ich ihn wissen. Jan zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe und betrachtet mich argwöhnisch. „Ein Kompliment von dir? Wie viel Schmerzmittel hast du intus?“ „Zu viel um dich klar zu sehen, zu wenig, um meinen Körper zu betäuben“, stöhne ich und bleibe stehen. Verschmitzt lächle ich ihn an und atme den Schmerz weg. Als ich ihn wieder klar sehen kann, schaut er noch immer ungläubig. Ob es wirklich nur an dem Schmerzmittel liegt, dass ich mal was nettes zu ihm sage? Ich habe mir den Kerl schon einmal schön gesoffen, warum sollte Schmerzmittel nicht den selben Effekt haben? Blöder Gedanke! Ich schüttle mir die Nacht mit ihm aus den Gedanken und konzentriere mich auf meine nächsten Schritte. Wie weit ist es denn noch? Kann das Zimmer meiner Frau nicht gleich nebenan sein? Der besorgte Blick des Polizisten ruht unentwegt auf mir. Er scheint mir meine unausgesprochene Frage anzusehen, denn er sagt: „Wir müssen bis ans andere Ende vom Krankenhaus, in den Westflügel, wo die Frauen untergebracht sind. Das schaffst du nie!“ „Doch, schaffe ich!“, keuche ich, während der Weg immer wieder vor mir verschwimmt. Meine Beine wollen mein Gewicht nicht mehr tragen, unter mir knicken sie weg. Jan legt seinen Arm um meinen Oberkörper und verhindert, dass ich falle. Er schüttelt mit dem Kopf und steuert eine Bank im Flur an. „Das wird so nichts!“, sagt er und setzt mich darauf ab. Grimmig schaue ich zu ihm auf. Ich gehe nicht zurück, egal was er sagt und wenn ich bis zum Westflügel kriechen muss. Der Polizist mustert meinen entschlossenen Blick eine Weile stumm, dann seufzt er. „Warte hier!“, weißt er mich an und verschwindet auf dem Flur. Irritiert sehe ich ihm nach. Seine Schritte verhallen in der Ferne. Ich seufze und strecke die Beine weit aus, mit dem Rücken lehne ich mich nach hinten und lege den Kopf in den Nacken. Verfluchter Dreck! Ich kann so viel durchatmen, wie ich will, der zerreißende Druck lässt nicht nach. Meine Finger sind klitschnass. Als ich an mir hinab sehe, tropft Blut herab und sprenkelt den weißen Boden. Offensichtlich übertreibe ich es wirklich. Ich schaue den Gang entlang. Das Ende ist so fern. Jan hat recht, bis dort hin, werde ich es nie schaffen. Ich wende mich in die andere Richtung. Mein Zimmer ist nicht mal fünf Schritte weit weg. Weiter bin ich nicht gekommen? Wie deprimierend! Neben der geschlossenen Tür, stehen zwei stämmige Männer, sie sehen schon die ganze Zeit in meine Richtung und setzen sich schließlich in Bewegung. Was machen die beiden Gorillas denn hier? Aaron hat sie zu meinem Schutz angestellt, als klar war, dass ich einmal die Locos übernehmen werde, aber er lebt nicht mehr. Wer bezahlt die Zwei jetzt dafür, dass sie sich hier die Beine in den Bauch stehen? Ich bin es auf jeden Fall nicht. Die russischen Brüder bleiben neben der Bank stehen, ihre Gesichtszüge sind wie immer versteinert und kalt. Sie machen keine Anstalten, irgend etwas zu sagen. Wie immer positionieren sie sich rechts und links von mir. „Was macht ihr hier? Euer Arbeitgeber ist tot“, will ich von ihnen wissen. „Wir haben einen Vertrag auf Lebenszeit“, erklärt mir der Größere von Beiden. „Ja, auf deine Lebenszeit. Wenn du stirbst, sehen wir also kein Geld mehr, also geh es mal ein bisschen langsamer an.“, fügt er Andere an. Ich schmunzle nur amüsiert. Selbst im Tod nervt mich Aaron also noch. Die zwei Gesellen wollte ich nie an meiner Seite haben, sie rennen mir selbst bis aufs Klo hinterher und meistens sind sie still und unbeweglich, wie Puppen. Andererseits kann ich im Moment wirklich ihren Schutz brauchen. Allein komm ich nicht mal von dieser verfluchten Bank hoch. Sollen sie eben dort stehen und aufpassen, dann kann ich wenigstens einen Moment die Augen schließen. Ich bin schon wieder müde, verdammtes Schmerzmittel. „So, damit sollten wir es schaffen“, ertönt auf einmal Jans Stimme. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Jan steht vor mir, er grinst mich breit an. Ich brauche einen Moment, um mich auf seine Worte konzentrieren zu können. Womit schaffen wir was? Mein Blick wandert an ihm herab. Zwischen uns steht ein Stuhl mit Rädern, an seiner Rückenlehne sind zwei Griffe angebracht, vorn gibt es Auflagen für die Füße. Ich seufze. In so etwas wollte ich nie wieder sitzen müssen. „Muss das sein?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. „Du willst doch zu deiner Frau, oder?“ Ich nicke lediglich und ergebe mich meinem Schicksal. Meinen Arm strecke ich nach dem Polizisten aus. Jan versteht wortlos, er legt sich meinen Arm um den Hals und hebt mich von der Bank. Langsam bugsiert er mich in den Rollstuhl und lässt mich darin Platz nehmen, selbst meine Füße stellt er auf die Ablagen. Ich schaue ihm dabei wehmütig zu. Als er sich wieder aufrichten will, lege ich ihm meine Hand auf die Schulter. Irritiert schaut er zu mir hinauf. „Jan, danke!“ Sein Blick wird noch verwirrter. Ich habe mich noch nie bei ihm bedankt, zumindest nicht ehrlich und aufrecht, doch dieses Mal meine ich was ich sag, „Danke für deinen Schutz und auch für deine Hilfe, als ich verhaftet wurde. Du hast Jester befragt und meine Unschuld bewiesen, oder?“ Jan lächelt nur breit und richtet sich wieder auf. „Ja, was würdest du nur ohne mich tun? Der weiße Wolf ist eben nichts ohne sein Rudel.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)