Die Wölfe 6 ~Die Söhne des Paten~ von Enrico ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Du bist nicht mehr da, deine Hand liegt nicht mehr in meiner. Ich sehe mich nach dir um: Überall weiße Kittel. Wer sind all diese Menschen und wo bringen sie mich hin? Ich liege und trotzdem bewegt sich alles. Eilige Schritte begleiten mich, durch endlose, weiße Flure. Unzählige Gesichter starren auf mich herab, doch deines ist nicht dabei. Ich will sie fragen, wo du bist und wie es dir geht, doch ein langer Schlauch steckt in meinem Hals. Ich kann nicht sprechen, nur atmen. Das ist ja widerlich, mir wird schlecht davon. Weg damit! Ich würge, doch das Ding bewegt sich keinen Millimeter. Ich greife danach, will es herausziehen, doch meine Hände werden immer wieder hinab gedrückt. Ein Brennen durchzieht meinen ganzen Körper, es Hämmern in meinen Unterleib, bis in die Beine kann ich meinen Pulsschlag spüren. Mir ist kalt, so entsetzlich kalt. Ich zittere am ganzen Körper und sehe an mir hinab. Meine Kleidung ist vom Bauch bis zu den Hosenbeinen aufgeschnitten. Aus einer tiefen Wunde, knapp über meiner Hüfte, strömt unaufhörlich Blut. Sie pressen es mit Mullbinden und Tüchern zurück, doch es hilft nicht, es ist bereits überall. Tiefe Schnitte ziehen sich durch meine Beine und Arme, ich bin leichenblass, meine Haut ist weiß wie Schnee. Hitze und Kälte wechseln sich in mir ab. Ihre Hände greifen immer wieder nach mir. Verdammt, hört auf mich anzufassen! Das tut weh! Wie wilde Tiere reißen sie an mir. Immer wieder spüre ich ihre Klauen in meinen Verletzungen. Die Mühe können sie sich sparen, mir ist nicht mehr zu helfen. Was müssen sie mich jetzt noch so quälen? Sie hätten mich einfach bei dir lassen sollen, dann hätte ich es jetzt bereits hinter mir. Ob sie dich auch mitgenommen haben? Bis du auch hier irgendwo? Wieder suche ich nach dir, doch ich sehe nur Weißkittel. Kam für dich etwa jede Hilfe zu spät? Deine Hand war so kalt, ich konnte dein Herz nicht mehr schlagen hören, dein Brustkorb hat sich nicht mehr bewegt. Hast du diese Welt bereits verlassen? Du verdammter Idiot! Warum hast du auch dein Leben für meines riskiert? Nur weil du mein Leibwächter bist, hast du noch lange nicht das Recht dazu, vor mir zu sterben. Sie schieben mich durch eine Tür und in einen kahlen Raum mit gefliestem Boden und Wänden. Wir halten an, eiliges Gewusel bricht um mich herum aus. Operationsbesteck klappert, Handschuhe werden überzogen. Wollen sie mich etwa ohne Betäubung zusammenflicken? Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper. Ich stemme mich nach oben, doch jede Bewegung schneidet sich, wie tausend Klingen, durch meinen wunden Körper. Eine der Schwestern zieht eine Spritze auf. Die Nadel bohrt sich in meinen Handrücken, kalte Hitze durchströmt meine Ader, es brennt entsetzlich. Ein heißer Strom wandert meinen Arm hinauf. Aufhören! Es soll aufhören! Das halt ich nicht auch noch aus. Die Schwerkraft beginnt an mir zu reißen, etwas presst sich hart auf meinen Brustkorb. Meine Atmung wird immer flacher, ich bekomme keine Luft mehr. Panisch sehe ich in die vielen fremden Gesichter, doch sie sind zu beschäftigt, um meinen Blick wahrzunehmen. Mit aller Gewalt wehre ich mich gegen die wachsende Dunkelheit, die mich zu überwältigen droht. Werde ich an diesem Zeug krepieren? Nur die Schwester von eben, betrachtet mich ungeduldig. Sie schüttelt mit dem Kopf und zieht die Spritze erneut auf. Die Nadel durchsticht noch einmal meinen Handrücken. Neue Hitze strömt in meine Ader. Ich kneife die Augen fest zusammen und will laut schreien, doch der Schlauch in meinem Hals macht es mir unmöglich. Mein Körper wird immer schwerer, ich kann meine Augen nicht länger offen halten. Mein letzter Gedanke gilt dir: Du hast gesagt, du würdest überleben, wenn ich es tue. Gnade dir Gott, wenn das eine Lüge war und ich diesen ganzen Scheiß hier umsonst ertragen muss. Kapitel 1: ~Familiendrama~ -------------------------- Das ist ja mal wieder so typisch: Natürlich ist ihr Mann nicht gekommen, um den Tag mit ihr und den Kindern am Strand zu verbringen. Dafür ist er, wie so oft, zu beschäftigt. Sie sollte mal ein ernstes Wort mit ihrem Vater sprechen, er spannt ihren Mann viel zu sehr in seine Geschäfte ein. Judy seufzt und sieht über das weite Meer in die Ferne. Ihre Hände wandern zu ihrem runden Bauch, der weit von ihrem Körper absteht. Sie stützt ihn und schaut liebevoll an sich hinab. Eine kleine Beule tritt hervor und da, gleich noch eine zweite. Sie lächelt verkrampft. Heute ist das Kind in ihrem Bauch besonders wild, schon den ganzen Morgen wird sie getreten und geboxt. „Ganz der Papa", murmelt sie wehmütig, „Der kann auch keinen Moment still sitzen." Eine Kinderhand zieht ihr am Rockzipfel, ein Junge mit leuchten blauen Augen und blonder Wuschelmähne, sieht sie brummig an. „Lass uns heim gehen, er kommt eh nicht mehr, es ist sinnlos, noch länger zu warten. Es war ohne ihn sowieso viel schöner", meint er. „Rede nicht so von deinem Vater", schimpft sie, und bemüht sich vergebens darum, ernst zu klingen. Eigentlich hat ihr Sohn ja recht, manchmal ist es ohne ihren Mann tatsächlich schöner, dann gibt es weniger Streit und ihr Sohn ist ausgelassener. Trotzdem ist es schade. Ein Tag, nur mit ihrer Familie und ohne den strengen Großvater, wäre schön gewesen. Es ist Sonntag, warum kann ihr Vater seinen Schwiegersohn nicht einmal heute in Ruhe lassen? Wieder kommt ihr ein Seufzer über die Lippen. Wahrscheinlich muss sie sich einfach damit abfinden. Immerhin wohnen sie endlich wieder zusammen und die letzten Wochen waren wirklich schön gewesen. Wenigstens am Abend, hat sie ihren Mann nun ganz für sich allein. Nach so vielen Jahren, bringen sie die Kinder wieder gemeinsam ins Bett und wenn die kleinen Zwerge endlich eingeschlafen sind, kommt er mit ins Schlafzimmer, um nach ihr und dem Baby zu schauen. Dann legt er seinen Kopf auf ihren Bauch und lauscht. Wenn er nur nicht immer mit dem Baby kleine Löcher hinein boxen würde. Sie verzieht das Gesicht schmerzhaft. Das fühlt sich unangenehm an, aber er hat seine Freude daran und sie ihre, ihm dabei zuzusehen. Er kann so süß sein und im nächsten Moment, steht sie mit den Kindern wieder allein da. Sie sieht sich nach ihrer Tochter um: Die Achtjährige sitzt in den Wellen und sucht den Sand mit ihren Fingern ab. Sie hat schon ihre ganzen Taschen voll Muscheln und fischt gerade wieder eine neue aus dem Meer. Ihre langen, schwarzen Haare kleben ihr in Strähnen im Gesicht, ihr weißes Kleid ist über und über mit braunen Sandflecken beschmutzt. Den weißen, weiten Sommerhut hat das Mädchen am Strand zurück gelassen. Judy bückt sich schwerfällig danach. Es kostet sie enorm viel Kraft, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der kleine Junge an ihrer Seite bückt sich, er hebt den Hut auf und reicht ihn ihr. Dankbar nickt sie ihm zu. Ein Glück hat sie ihn, was würde sie nur ohne Rene tun? Der Junge hilft ihr, wo er nur kann und das ganz ohne zu murren, ganz anders, als ihr geliebter Ehegatte. Beim Gedanken an ihn, muss sie unwillkürlich brummen. Es wird wirklich Zeit, dass das Baby auf die Welt kommt und sie wieder ohne Hilfe auskommt. So langsam ist jeder Schritt, mit dem viel zu großen Bauch, eine einzige Qual. Noch ganze acht Wochen muss sie sich damit herumplagen, dabei muss sie noch froh sein, dass es dieses mal keine Zwillinge sind. Während ihrer ersten Schwangerschaft, hat sie um diese Zeit schon im Bett liegen bleiben müssen. „Amy! Komm raus, mein Schatz und trockne dich ab! Wir wollen nach Hause“, ruft sie ihrer Tochter zu. Das Mädchen schaut auf und blickt in ihre Richtung. Die Mutter winkt sie zu sich, doch das Kind kann sich nur schwer von dem Spiel trennen. Noch einmal verschwinden ihre kleinen Finger im nassen Sand und fischen zwei neue Muschel daraus hervor. Stolz steckt sie sie in die Taschen ihres Kleides. Als sie aufsteht, hängen es tief an ihr hinab. Während sie angelaufen kommt, klackert und gurgelt es in ihrem Kleid. Die vollen Taschen wippen vor und zurück und schlagen ihr gegen die dünnen Beinchen. Rene empfängt seine Zwillingsschwester mit einem großen Handtuch und legt es ihr um den nassen Körper. Die Lippen des Mädchens sind bereits blau und ihre Finger ganz schrumpelig. Sie war viel zu lange im kalten Wasser. Es wird wirklich Zeit, dass sie nach Hause gehen und sie sich am warmen Kamin aufwärmen kann. Der Butler wird ihnen einen heißen Tee zubereiten und ein Stück Kuchen, ist nach dem langen Tag am Strand, auch nicht zu verachten. Welche Torte er wohl heute gebacken hat? Gemeinsam mit ihrem Sohn trocknet Judy ihre nasse Tochter ab und reicht ihr ein frisches Kleidchen. Das mit den Muscheln nimmt sie behutsam an sich und wickelt es sicher im Handtuch ein. Mit dem Bündel unter dem Arm, wartet sie geduldig darauf, das sich Amy umzieht. Das Mädchen reicht ihr die nassen Sachen und setzt sich den Sommerhut auf den Kopf. Als sie fertig ist, nickt sie und verlangt die Hand der Mutter. Judy ergreift die kalten Finger. Während ihr Sohn den mitgebrachten Korb holt und ihnen nacheilt, macht sie sich auf den beschwerlichen Heimweg. Nach gut einer halben Stunde Fußmarsch, erreichen sie endlich das Villenviertel, in dem sie zu Hause sind. Den Fußweg flankieren große Obstbäume, die mit ihrem grünen Blätterdach angenehmen Schatten spenden. Links von ihnen verläuft eine lange Rasenfläche und begleitet sie, wie ein ausgelegter Teppich. Zwischen den saftig, grünen Halmen strecken sich Gänseblümchen der Sonne entgegen. Amy löst sich von der Hand ihrer Mutter und wirft sich mit den Knien voran in die weiche Wiese. Laut glucksend vor Freude, pflückt sie die Blumen, eine nach der anderen. Akribisch genau grast sie die ganze Wiese danach ab und lässt keine noch so kleine zurück. Das frische weiße Kleid bekommt zwei grüne Flecke auf Höhe ihrer Knie und je länger sie herumrobbt um so mehr braune kommen dazu. Judy schüttelt wehmütig den Kopf. Sinnlos dem Kind etwas hübsches anzuziehen. Wieder einmal wird sie Amys Sonntagskleid wegschmeißen und ihr ein neues kaufen müssen. Diese Flecken bekommt nicht mal ihre Haushälterin heraus. Mit einem großen Strauß in den Händen, kommt das Mädchen von der Wiese gelaufen. Ihre Rehaugen schauen vergnügt und stolz. „Du bist unmöglich Amy! Sieh dich mal an, wie du jetzt ausschaust! Das schöne Kleid“, schimpft ihr Bruder. Das Kind verzieht den Mund zu einer Schnute und streckt dem Jungen die Zunge heraus, dann stolziert sie an ihm vorbei, wie die feine Dame aus gutem Hause, die sie eigentlich sein sollte. Fröhlich reicht sie die gepflückten Blumen ihrer Mutter. Judy lächelt und streckt die Hand aus, um den Strauß entgegen zu nehmen, als sie auf der Straße lautes Motorengeheul aufschreckt. Reifen rauschen auf den Pflastersteinen auf sie zu. Ein Polizeiauto rast an ihnen vorbei. Die Mutter verfolgt den Wagen mit den Augen und erhascht einen kurzen Blick auf dessen Rückbank. Diese blonden Haare, diese Statur. Enrico? Ihr Mann! Nein! Sie sieht dem Auto zu, wie es in der Ferne verschwindet. Auch Amy und Rene sehen dem Fahrzeug nach. „War das eben Vater?“, will ihr Sohn wissen. Ihre Tochter tritt einen Schritt auf die Straße, um dem Wagen länger nachschauen zu können. Wieder rauschen Reifen über die Steine, ein weiter Streifenwagen rast auf sie zu. Judy packt den Arm der Tochter und zieht sie zurück. Das Kind lässt den Strauß fallen und stolpert in die Arme der Mutter. An ihrer Stelle werden die Blumen überfahren. Judy schaut auch in dieses Auto. Der junge Mann auf der Rückbank kommt ihr ebenfalls bekannt vor. Ist das nicht der beste Freund ihres Gatten? Was ist denn hier los? Die junge Mutter schaut in die Straße, aus der die Polizeiautos gekommen sind. Der Weg führt geradewegs zu ihnen nach Hause. Sie schluckt schwer und greift die Hand ihrer Tochter. Fest nimmt sie die kleinen Finger und läuft los. So schnell sie mit ihrem großen Bauch kann, rennt sie die wenigen Meter, die sie vom Anwesen des Großvaters trennen. Das Kind an ihrer Hand hasstet ihr nach und auch Rene folgt seiner Mutter. Er überholt sie beide und läuft voraus, doch als er das große Tor erreicht, hält er abrupt an. Seine Augen weiten sich, sein Mund öffnet sich entsetzt. Judy durchfährt der Hauch einer dunklen Vorahnung und lässt sie erschaudern. Sie bemüht sich schneller zu laufen, um den Knaben einzuholen. Als sie ihn erreicht, bleibt auch sie stehen. Ihr erster Blick wird von einem Krankenwagen eingefangen, der mitten auf dem Kiesweg steht, der zum Anwesen hinaufführt. Eine Trage wird gerade hinein geschoben. Der alte Mann, der darauf liegt, stöhnt vor Schmerzen. Seine Kleidung, sein Gesicht alles an ihm ist blutverschmiert. Das ist Jester, ihr treuer Oberbutler. Die junge Mutter hält den Atem an und hebt die Hand vor den Mund. Das Bündel mit dem Kleid und den Muscheln lässt sie fallen, klirrend landet es auf dem Bürgersteig. „Scotch! Brandy!“, quietscht ihre Tochter. Sie reißt sich von ihr los. Erschrocken sieht Judy zu, wie sie auf dem Kiesweg davon läuft. Ihr Bruder eilt ihr nach. Sie laufen zwei Dobermännern entgegen, die auf halbem Wege zum Anwesen im Gras liegen, die Pfoten weit von sich gestreckt. Sie rühren sich nicht. Rote Flüssigkeit läuft ihnen aus den Mäulern. Einem der beiden Wachhunde fehlt das rechte Auge. Die Kinder erreichen die Tiere. Amy kniet sich zu der Hündin hinab, sie nimmt ihren schweren Kopf in ihre kleinen Hände und legt ihn auf ihrem Schoß ab. Sanft streichelt sie ihr über den Kopf, mit dem Gesicht legt sie sich in das glatte Fell. Amys Hände und ihr auch ihr weißes Kleid, bald ist das Kind von Kopf bis Fuß mit dem Blut des Hundes beschmiert. Ihr Bruder versucht sie von den Tieren wegzuziehen, doch sie stößt ihn immer wieder von sich. Judy betrachtet die Szene, wie in einem Film, alles zieht an ihr vorüber, während sie nur tatenlos dastehen kann. Langsam, Schritt für Schritt, tastet sie sich in das Grundstück. Sie geht bis zum Krankenwagen und spät auf die Trage und die Männer im Inneren, die sich um den verletzten Butler kümmern. Der alte Mann wendet seinen Blick ihr zu. Die trüben Augen werden für einen Moment klar und sein Blick eindringlich. „Sag ihnen, dass er es nicht war!“, keucht er. Judy schüttelt verständnislos mit dem Kopf. Die Männer im Inneren des Wagens beugen sich über den Butler, einer versorgt seine Wunden, der andere schließt die Türen des Fahrzeuges. Kaum einen Moment später setzt sich der Krankenwagen in Bewegung. Er beschleunigt und verschwindet aus ihrem Blickfeld. Judy sieht ihm noch lange nach. „Wer hat was nicht getan?“, flüstert sie, als ein schwarzer Wagen, die Einfahrt hinaufgefahren kommen. Er ist nach hinten hin ungewöhnlich breit. Die Scheiben auf der langen Rückbank sind mit weißem Stoff verhangen. Das ist ja ein Leichenwagen. Judy überschlägt schnell, wer neben dem Butler noch alles im Haus war: Da waren doch nur ihr Mann und ihr Vater. Wie automatisiert beginnt die junge Mutter zu laufen, den Kiesweg hinauf, bis zum Anwesen. Als sie die Steintreppe erreicht, die zur Villa hinauf führt, kommen ihr zwei junge Männer entgegen. Sie halten von beiden Seite eine Trage und schleppen sie ins Freie. Über ihr liegt ein weißes Tuch und darunter bilden sich die Umrisse einer Person. Judy mach den Männern Platz. Als sie die Stufen hinab steigen, rutscht eine Hand von der Trage und unter dem Tuch hervor. Um den Ringfinger liegt ein goldener Ehering, der Ring ihres Vaters, den er seit dem Tod der Mutter nicht abgenommen hat. Judy stürzt der Trage nach, stellt sich den Männern in den Weg und zwingt sie anzuhalten. „Vater!“, keucht sie atemlos und zieht das Tuch von der Trage. Kapitel 2: ~Das Verhör~ ----------------------- Der starke Vater, der immer schützend vor ihr gestanden hat, liegt nun ruhig auf der Trage. Seine Augen sind geschlossen, sein Brustkorb bewegt sich nicht. Ein tiefes Loch klafft in seiner Kehle, Blut besudelt sein Jackett und ist ihm bis in den Schritt gelaufen. Das war kein natürlicher Tod, das war Mord - hämmert es durch ihren Kopf. Wütend betrachtet sie die Wunde am Hals. Wer hat das getan? Wer wagt es, sich Zugang zu ihrem Haus zu verschaffen und ihrer Familie das anzutun? Ihr fallen gleich ein dutzend Feinde ein, die es auf ihren Vater abgesehen haben, aber nur einer wurde verhaftet. Nein, ihr Mann würde niemals, oder doch? Er hat schon so viele abscheuliche Dinge getan, hat er diese Grenze nun auch überschritten? Judys Hände verkrampfen sich, sie beginnt zu zittern, das Tuch presst sie eng an ihren Körper. Ihren Blick kann sie nicht vom getöteten Vaters lösen. „Miss!“ Eine junge Frau in einem weißen Kittel kommt aus der Tür. Sie läuft die Stufen hinab und bleibt neben ihr stehen. Judy kann ihre warmen Hände auf ihren Schultern spüren, doch noch immer ist sie nicht fähig sich zu rühren, oder gar etwas zu sagen. „Alles in Ordnung Miss?“, will die Frau wissen, doch Judy bleibt stumm. Ein Mann in Uniform kommt zu ihnen. Er schiebt sich zwischen die Trage und Judy und sieht sie eindringlich an. „Kennen sie den Mann Mam?“, will er wissen. „Mein Vater“, piepst sie atemlos, zu mehr ist sie nicht fähig. Obwohl ihr nun der Blick auf den getöteten Vater versperrt ist, ist ihr dessen Anblick noch immer präsent vor Augen. Er kann nicht tot sein, das ist einfach unmöglich. Aaron hat bisher noch jeden Anschlag überlebt und in letzter Zeit ist doch alles ruhig gewesen. Er hat seine Geschäfte an den Schwiegersohn abgegeben, wieso also? Sie versteht die Welt nicht mehr und starrt hilflos ins Leere. Kleine Finger berühren ihre Hand, ein blonder Junge sieht besorgt zu ihr auf. „Mama?“ Wieder kann sie nicht antworten, nur die kleinen Finger umschließt sie fest und Halt suchend. Der Polizist nimm ihr das Tuch ab. Er breitet es über dem toten Großvater aus und winkt die Männer fort, die die Trage halten. Sie gehen weiter. Judy sieht ihnen nach. Sie bringen ihn einfach weg, wortlos und ohne noch einmal zurück zu schauen. Sie träumt sicher nur. Es muss ein Traum sein, denn es fühlt sich so unwirklich an. Zwei Kinderhände krallen sich in ihr Kleid, der Kopf ihrer Tochter drück sich an sie. Das Kind ist über und über mit roten Flecken beschmutzt. Sie zittert und vergräbt sich unter Judys rundem Bauch. Ängstlich lugt sie immer wieder hervor und die fremden Menschen an, von denen sie umgeben sind. Erst jetzt kommt die Mutter wieder zu sich. Sie muss ihre Kinder aus dieser Situation heraus bringen. Am besten sie gehen ins Haus, dort kann sie ihnen einen heißen Tee kochen, damit sie sich aufwärmen können, dann wird sie sie in warme Decken wickeln und vor den Kamin setzten. Judy löst die Hand ihrer Tochter von ihrem Kleid und schiebt sie an den Beamten und der Ärztin vorbei, die Treppe zum Anwesen hinauf und durch die offene Tür. Der Junge an ihrer Hand folgt ihr, bis sie den Flur erreichen, dann halten sie alle drei abrupt an. Über den Boden zieht sich eine lange, blutige Schleifspur, am Rahmen der Küchentür klebt ein roter Handabdruck, Streifen ziehen von dort an der Wand entlang. Erschrocken hebt die Mutter die Hand vor den Mund. Ihre Kinder drängen sich ängstlich an sie. Selbst Rene vergräbt jetzt seinen Kopf in ihrem Kleid. Sie zittern beide. Amy beginnt zu wimmern, große Krokodilstränen rollen ihr von den schmutzigen Wangen. Judy schwinden bei dem vielen Blut in ihrem Haus die Sinne, ihr Magen zieht sich krampfhaft zusammen. Schützend legt sie beide Hände über ihren Bauch und versucht krampfhaft den Brechreiz unter Kontrolle zu bringen. Ein heftiger Schmerz durchzuckt ihren Unterleib und lässt sie stöhnen. Mit der Hand sucht sie halte am Türrahmen. „Mam, können sie mir ein paar Fragen beantworten?“, hört sie hinter sich den Polizisten. Ist das seine einzige Sorge? Hier drin tobt das Chaos, ihre Kinder sind völlig aufgelöst, sie hat gerade den entstellten Körper ihres Vaters gesehen und das Kind in ihrem Bauch boxt sie unentwegt in die Rippen. Judy gibt keine Antwort. Sie krümmt sich zusammen und umschlingt krampfhaft ihren Bauch. „Mama?“ „Mami?“, kreischen ihre Kinder und sehen ängstlich zu ihr auf. Judy zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht und versucht sich wieder aufzurichten, doch der Schmerz zwingt sie zurück in eine gebeugt Haltung. „Sehen sie nicht, das die Frau hoch schwanger ist und unter Schock steht?“, faucht die Ärztin. Sie drängt den Beamten bei Seite und kommt zu ihr, sie hakt die werdende Mutter unter ihren Arm ein und stützt sie. „Haben sie hier ein Zimmer, wo sie sich hinlegen können?“, will sie von Judy wissen. Sie überlegt kurz. Am gemütlichsten ist das Wohnzimmer, dort steht der Kamin. Ihr ist so kalt, eisige Schauer rinnen ihr den Rücken hinab, während sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bilden und ihr ins Gesicht laufen. „Ja das Wohnzimmer!“, krächzt sie angestrengt. Ihr Sohn löst sich von ihr und geht voraus. „Hier lang!“, erklärt er und übernimmt die Führung. Ungeachtet läuft er durch die blutige Lache am Boden. Sein Schuhe verteilen rote Abdrücke durch das ganze Haus, während er der Ärztin den Weg weißt. Judy stolpert der jungen Frau im Kittel nach. Ihre Tochter klammert sich so fest in ihr Kleid, dass sie sich kaum bewegen kann. Der große Bauch, erscheint ihr noch schwerer als sonst. Ihr Atem geht stockend, jeder Schritt ist ihr zu viel. Als sie endlich das Wohnzimmer erreichen, öffnet Rene die Tür und schiebt sie weit auf. Wohlige Wärme kommt ihnen entgegen. Judy sieht sich im Raum um. Zwei Sessel und ein Sofa stehen vor dem Globus mit den Spirituosen. Ein Feuer knistert im Kamin. Alles ist so, wie sie es verlassen hat. Sie atmet tief durch. Wenigstens hier können sie einen Moment zur Ruhe kommen. Die Ärztin bugsiert sie durch den Raum und bringt sie zum Sofa. Schwer wie ein Stein, lässt Judy sich darauf fallen. Die Frau im Kittel hebt ihre Beine an und legt sie auf die Sitzfläche, mit zwei Kissen lagert sie ihre Füße weit oben. Der Schwindel und Brechreiz ebbt ab, aber der Schmerz in ihrem Bauch bleibt. „Mein Baby!“, keucht sie und sieht hilfesuchend zur Ärztin. Die Frau nimmt ihr Stethoskop, das sie sich um den Hals gelegt hat und steckt sich die Gummienden in die Ohren. Sie tastet Judys Bauch ab und hört in ihn hinein. Angespannt beobachtet die junge Mutter sie dabei. Die Ärztin lächelt aufmunternd und legt ihre Hand ums Judys Schulter: „Es ist alles in Ordnung, das ist nur der Schock. Versuchen sie sich zu beruhigen“, rät sie. Judy atmet durch und sieht sich nach ihren anderen beiden Kindern um. Rene hat sich in den Sessel gesetzt, der dem Kamin am nächst ist. In seinem Schoß sitzt seine Zwillingsschwester und klammert sich Schutzsuchen an ihn. Der Junge streicht der Schwester beruhigend über die glatten Haare und sieht geistesabwesend ins Kaminfeuer. Sie kann sich jetzt nicht ausruhen, sie muss für ihre Kinder da sein. Schwerfällig schiebt sie ihre Beine vom Sofa. Unter den mahnenden Blick der Ärztin, setzt sie sich hin. „Amy, Rene, kommt zu mir!“, ruft sie die Geschwister. Das Mädchen schaut unruhig auf, sie zögert einen Moment, dann löst sie die verkrampften Hände um das Jackett ihres Bruders und rutsch vom Sessel. Mit großen Tränen in den Augen, wirft sie sich der Mutter in die Arme und schluchzt herzzerreißend. Beruhigend streichelt Judy ihr über den Rücken und wiegt sie in ihren Armen. „Schhh schh, es wird alles wieder gut“, flüstert sie ihr zu und sieht auffordernd zu ihrem Sohn. Der Junge sitzt noch immer im Sessel. Als sie ihn zu sich winkt, schüttelt er nur mit dem Kopf und starrt wieder in die Flammen. Wenn doch jetzt nur ihr Mann hier wäre, um sich um den Jungen zu kümmern. Er braucht jetzt auch eine starke Schulter. „Haben sie Verwandte, die sie anrufen können? Sie sollten jetzt wirklich nicht allein bleiben“, will die Ärztin wissen. Judy denkt nach: Ihre Mutter ist getötet wurden, als sie noch ganz klein war, sie kann sich nicht mal mehr an ihr Gesicht erinnern. Ihre ältere Schwester ist auch erst vor einigen Monaten beerdigt worden. Es gibt nur noch ihre älteste Schwester Susen, der sie sich anvertrauen kann. Oh Gott, wie soll sie ihr nur die schreckliche Nachricht überbringen? Die junge Mutter schluckt schwer und schafft es doch nicht, den großen Kloß in ihrem Hals hinunter zu würgen. Tränen stauen sich in ihre, die sie vergeblich weg zublinzeln versucht. Arme Susen, sie hat schon den Tod der Schwerst kaum verkraftet. „Miss?“ Die Hand der Ärztin legt sich auf ihre Schulter. Judy erinnert sich daran, das sie etwas gefragt wurde. „Meine … meine Schwester könnte ich anrufen“, murmelt sie. „Kennen sie ihre Nummer? Dann rufe ich sie an“, bietet die Ärztin an. Die Nummer? Ja sie kennt die Nummer auswendig, aber die Zahlen wollen ihr einfach nicht einfallen. Krampfhaft überlegt sie, doch ihre Gedanken wirbeln wirr durcheinander. War es Sieben, Acht, Acht, Zwei, oder Acht, Sieben, Acht, Zwei? Sie weiß es nicht mehr. Hilflos schüttelt sie schließlich mit dem Kopf. „Ich mach schon“, schlägt ihr Sohn vor. Er rutscht vom Sessel und läuft aus dem Wohnzimmer. Erstaunt sie Judy ihm nach. Er lässt die Tür weit offen stehen und rennt zum Telefonaparat im Flur. Seine kleinen Finger drehen die Wählscheibe einige male, den großen Hörer hält er sich ans Ohr. Eine ganze Weile passiert nichts, dann beginnt der Knabe zu sprechen: „Hallo Raphael!“ Offensichtlich ist der Mann ihrer Schwester ans Telefon gegangen, zum Glück ist jemand zu Hause. „Bitte, kannst du ganz schnell vorbei kommen? Ich glaube Vater hat was ganz schlimmes gemacht. Opa und die Hunde sind tot und Mama geht es schlecht!“ Die Worte ihres Sohnes stechen ihr direkt ins Herz. Erst jetzt beginnt sie wirklich zu realisieren, was hier passiert ist. Der Großvater ihrer Kinder ist tot und ihr Mann wurde verhaftet. War es wirklich Enrico, der diese Tat begangen hat? Aber dafür gibt es doch gar keinen Grund. Verzweifelt bettet Judy ihren Kopf in den Händen. Was soll nun ohne ihren Vater werden? Was soll sie machen, wenn ihr Mann nie wieder aus dem Gefängnis kommt, vielleicht wird er sogar für seine Tat hingerichtet. Bei diesem Gedanken bleibt ihr der Mund weit offen stehen. Wie soll sie denn ganz allein mit den Kindern überleben? Ein starkes Stechen zerreißt ihren Unterleib, wieder krümmt sie sich vor Schmerz, er nimmt ihr die Luft zum Atmen. Die Ärztin schiebt sie an den Schultern zurück aufs Sofa und leg ihre Beine auf die Kissen. „Ruhig atmen!“, redet sie ihr ein, doch Judy bekommt immer weniger Luft. Ihr Brustkorb ist wie zugeschnürt, ihre Kehle rau und kratzig. Die Ärztin eilt aus dem Zimmer, Judy sieht ihr entsetzt nach. Eine kalte Kinderhand packt die ihre. Amy schaut sie mit ihren dunklen Knopfaugen besorgt an und streichelt ihren Handrücken. Vergeblich versucht Judy sie beruhigend anzulächeln. Die Schmerzen sind einfach zu groß, um dem Kind etwas vorzumachen. Mit einem großen Koffer in der Hand, kommt die junge Ärztin zurück. Sie stellt ihn auf dem Couchtisch ab und öffnet die Schnallen. Sie holt ein kleines Fläschchen und eine Spritze heraus und sticht die Nadel in den Deckel. Die Flüssigkeit saugt sie ins Innere und wendet sich wieder Judy zu. Sie nimmt ihren Arm und drückt die Nadel in ihre Armbeuge. Der Stich lässt sie zusammen zucken. Kalte Flüssigkeit verteilt sich in ihren Venen, es brennt unangenehm. Sie zieht die Luft scharf zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Ein wollig warmes Gefühl breitet sich in ihr aus, ihr Herz und ihr Atem beruhigen sich langsam. Einige Male holt sie tief Luft, dann hat sie wieder die Kraft, ihre Tochter anzusehen. Das Kind betrachtet sie noch immer ängstlich und hält ihre Hand im festen Griff umschlungen. Judy legt ihre freie Hand um die Wange der Tochter und sieht sie beruhigend an. „Es geht wieder“, sagt sie sanft und zieht das Mädchen zu sich. Ihr Sohn kommt zurück ins Wohnzimmer gelaufen, als er die Spritze in der Hand der Ärztin sieht, schaut er erschrocken. Die Frau im Kittel legt die Spritze zurück in den Koffer, dann geht sie zu dem Jungen und kniet sich zu ihm hinab. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter und lächelt ihn aufmunternd an, als sie sagt: „Keine Sorge junger Mann. Ich habe deiner Mutter nur eine Beruhigungsspritze gegeben. Es geht ihr gleich wieder besser.“ Er erwidert nichts, sondern lugt um sie herum zum Sofa. Seine Worte richtet er an die Mutter: „Raphael und Susen kommen gleich vorbei.“ Sie nickt dem Kind dankbar zu. Rene nimmt die Hand der Ärztin von seiner Schulter und läuft an ihr vorbei zum Sessel, in dem er schon zuvor gesessen hat. Er klettert auf die Sitzfläche und macht es sich darin gemütlich. Sein Blick wandert wieder ins Kaminfeuer, abwesend betrachtet er es. „Frau River, ich habe noch immer ein paar Fragen an sie.“ Erschrocken schaut Judy zur Wohnzimmertür. Der Beamte von vorhin tritt ein. Er hält einen Block und Stift in den Händen. „Sehen sie nicht, dass die Frau unter Schock steht?“, schimpft die Ärztin. Sie sieht den Beamten vorwurfsvoll an, doch dieser lässt sich nicht beirren. „Wir ermitteln hier in einem Mordfall“, entgegnet er angriffslustig, „Und sie haben ihr gerade eine Beruhigungsspritze gegeben. Ein paar Fragen dürfen doch wohl nicht zu viel verlangt sein. Kümmern sie sich lieber, um ihren Job und lassen sie mich meinen machen!“ Die Ärztin knirscht mit den Zähnen und packt ihren Koffer zusammen. „Vermeiden sie alles, was die werdende Mutter aufregen könnte!“, schnaubt sie noch, dann geht sie. Judy sieht ihr entsetzt nach. Will sie sie wirklich mit diesem unfreundlichen Mann allein lassen? Der Kerl ist ihr nicht geheuer und sie hat doch auch keine Informationen, mit denen sie der Polizei weiter helfen kann. Sie war ja nicht einmal im Haus, als ihr Vater ermordet wurde. Der unfreundliche Polizist setzt sich in den freien Sessel, ihr direkt gegenüber. Er schlägt eine neue Seit in seinem Notizblock auf und sieht sie auffordernd an. „Wann haben sie ihren Mann das letzte Mal gesehen?“, beginnt er. Judy betrachtet ihn stumm und eindringlich. Ist es wirklich sein Ernst, das Verhör hier und jetzt und vor den Kindern zu führen? „Können wir das ganze nicht verschieben? Sehen sie nicht, dass es mir und den Kindern nicht gut geht?“ Der Beamte schaut unbeeindruckt zurück. Er verzieht keine Mine, als er antworte: „Mam, sie müssen doch auch wollen, dass der Mord an ihrem Vater, möglichst schnell aufgeklärt wird.“ Sie seufzt ergeben, natürlich will sie das, aber ihre Kinder müssen dabei doch nicht unbedingt zuhören. „Meine Kinder sind immer noch hier.“ „Dann schicken sie sie weg!“ „Ganz allein? Haben sie sich hier mal umgesehen?“ An den Wänden und auf dem Boden klebt überall Blut, ihre Tochter klammert sich noch immer ängstlich an sie. Wie kann er da verlangen, dass sie die beiden allein wegschickt? „Wenn sie nicht bereit sind zu kooperieren, dann muss ich annehmen, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben.“ Wütend drück Judy sich in eine sitzende Position und richtet sich auf. Mit ausgestrecktem Arm deutet sie auf die Tür und schreit laut: „Raus! Raus aus meinem Haus!“ „Setzen sie sich wieder! Die Aufregung tut ihnen und ihrem ungeborenen Kind nicht gut“, erklärt der Polizist ruhig und sachlich. Judy betrachtet ihn weiterhin wütend. Er ist es doch, der sie so aufregt. Das Mittel in ihrem Blut betäubt ihre Sinne, ihr wird schwindelig. Seufzend lässt sie sich aufs Sofa sinken. Der Polizist sitzt weiterhin ungerührt in ihrem Sessel. Dieser verdammte Mistkerl nimmt sie nicht ernst und macht auch keine Anstalten ihrem unmissverständlichen Rauswurf nachzukommen. Sie ist eben nur eine Frau. Wenn ihr Mann den Kerl des Hauses verweisen würde, wäre er sicher aufgestanden. Sie seufzt ergeben. Wenn doch nur ihr Vater noch am Leben wäre, der würde dafür Sorgen, dass dieser Kerl seine Dienstmarke am nächsten Tag abgeben kann. Rene rutsch von seinem Sessel, er kommt zum Sofa und nimmt die Hand seiner Schwester. Obwohl das Mädchen sich erbittert wehrt, löst er sie von Judy. Er schiebt sie sanft aber bestimmt, aus dem Zimmer und sieht noch einmal nickend zu seiner Mutter zurück. Sie schaut ihm seufzend nach. Wieder einmal, muss sie viel zu viel von ihm abverlangen. Die weinende Schwester zu beruhigen und hier im verwüsteten Anwesen ganz allein zu bleiben, das sollte er nicht aushalten müssen, aber das Verhör ist noch viel schlimmer. Sie nickt ihrem Sohn zu und schenkt ihm ein dankbares Lächeln. Der Knabe schließt die Tür nach sich. Seine Schritte und die der Schwester verhallen im Flur. Hoffentlich kann er Amy beruhigen und das Gespräch dauert nicht all zu lange. Judy wendet sich wieder dem Beamten zu. Er lächelt selbstgefällig. „Gut, dann haben wir ja eine Lösung gefunden. Also, wann haben sie ihren Mann das letzte Mal gesehen?“ Sie atmet durch und versucht sich auf die gestellte Frage zu konzentrieren. Das Mittel in ihrem Blut macht sie schläfrig und beginnt zunehmend ihre Gedanken zu vernebeln. „Heute Morgen, bevor ich mit den Kindern das Haus verlasen habe, um zum Strand zu gehen“, berichtet sie wahrheitsgemäß. „Gab es da schon irgendwelche Anzeichen, für einen Streit ihres Vaters mit ihm?“ Judy lächelt wehmütig. Die beiden streiten doch ständig. Ihr Vater ist Gehorsam gewohnt und ihr Mann jemand, der jede Autorität untergräbt. Wenn sie nicht gerade wegen der Geschäftsführung streiten, dann wegen ihr und der Kindererziehung. „Nein, eigentlich nicht“, lügt sie und sieht den Mann eindringlich an, „Sie verstehen sich gut.“ „Sind sie sich sicher Mam? Ihr Ehemann ist nun Alleinerbe eines riesigen Vermögens. Außerdem wurde er mit der Tatwaffe in der Hand von uns überwältigt.“ Judy schaut erschrocken und versucht vergeblich, sich nichts anmerken zu lassen. Kann es denn wirklich sein, dass ein Streit der Beiden derart eskaliert ist? Eigentlich kann sie sich das nicht vorstellen. Sie gehen zwar oft, wie Hund und Katze aufeinander los, aber im Grunde mögen sie sich sehr. Sie sind sich einfach nur zu ähnlich. Zwei Sturköpfe, die beide nicht nachgeben wollen. „Dabei muss es sich um ein Missverständnis handeln“, zwingt sie sich zu sagen, doch ihre Stimme klingt nicht fest genug. Es wäre nicht der erste Mord, den ihr Mann verübt hat. „Ein Missverständnis, Mam?“ Sie nickt eifrig. Der junge Beamte verdreht die Augen. „Sie wissen schon, das Gerüchte kursieren, die beiden Männer würden der Mafia angehören, sie sollen ganz hohe Tiere sein.“ Das ist doch eine Fangfrage, oder? Niemand weiß von den Dingen, die sich in diesem Haus abspielen, ganz besonders die Polizei nicht. „Davon weiß ich nichts. Mein Mann spricht nicht über seine Geschäfte mit mir“, lügt sie wieder. Sie kennt die Machenschaften, in die Enrico und ihr Vater verstrickt sind, sie weiß von dem illegale Glücksspiel, den Waffenhandel und die unzähligen geklauten Fahrzeuge in der Fabrik ihres Mannes. Als Tochter des Paten, ist sie mit diesem ganzen Misst aufgewachsen. Ihr Vater führte noch bis vor ein paar Tagen, die italienische Mafia an. Jetzt hat diese Aufgabe ihr Mann übernommen. Es gibt genug Menschen, die die beiden tot sehen wollen. „Ich habe das Gefühl, dass sie mir nicht die Wahrheit sagen, Mam.“ „Ihre Gefühle sind mir herzlich egal! Finden sie lieber den Mörder meines Vaters und lassen sie mich und meine Kinder in Frieden!“, fordert sie. Der Beamte schaut unbeeindruckt. Er schlägt die Beine übereinander und wippt mit dem Fuß. „Wir haben den Mörder bereits verhaftet. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wer alles mit in die Sache verstrickt ist.“ Soll das etwa eine Andeutung sein, dass sie ebenfalls verdächtigt wird? Judy holt Luft für einen Einspruch, doch im letzten Moment schluckt sie ihn wieder hinunter. Der Kerl versucht sie doch nur zu provozieren. Wenn die ganze Sache so eindeutig wäre, warum sitzt sie dann noch hier und hat nicht bereits Handschellen angelegt bekommen? Bei der Gelegenheit fallen ihr die Worte des Butlers wieder ein. War es das, was Jester ihr sagen wollte? 'Er ist nicht schuld', hat er unter Schmerzen gestöhnt. Hat der alte Mann etwa alles mitansehen müssen? Wenn ja, dann ist er Zeuge und kann ihren Mann vielleicht entlasten. Siegessicher sieht sie den Beamten an und setzt sich gerade und aufrecht hin. Stolz hebt sie den Kopf und lässt ihn wissen: „Als ich hier ankam, bat mich unser Butler ihnen mitzuteilen, dass mein Mann nichts mit der Sache zu tun hat. Er hat den Mörder mit Sicherheit gesehen und kann ihnen eine genaue Täterbeschreibung geben. Ich bin von der Unschuld meines Mannes überzeugt und habe ihnen nichts weiter zu dieser Sache zu sagen. Wenn sie jetzt bitte mein Haus verlassen würden!“ Diese Mal klingt ihre Stimme fest und glaubwürdig. Der Beamte sieht sie lange und eindringlich an, doch sie wendet den Blick nicht ab. Fest schaut sie ihm in die kalen Augen, bis er sich schließlich abwendet. „Wie sie meinen Mam“, sagt er und erhebt sich. Er klappt den Notitzblock zu und steht auf. Mit festen Schritten geht er auf die Tür zu. „Sie finden ja allein raus“, ruft sie ihm nach. Er erwidert nichts, kommentarlos verlässt er den Raum. Seine Schritte verhallen vor der Tür. Judy atmet tief durch, einmal, zwei mal, doch die Aufregung in ihrem Herz will nicht verschwinden. Sie wendet ihren Blick dem Kamin zu. Das Feuer darin lodert warm und knistert. Stimmt es wirklich? Wurde ihr Mann tatsächlich mit der Waffe in der Hand überwältigt, die ihren Vater getötet hat? Ist er es gewesen? Aber warum? Seit einem Monat, ist ihr Mann das Oberhaupt ihrer Familie, er hat Zugriff auf alle Geschäftskonten, er könnte sein ganzes Erbe verprassen, ohne ihren Vater um Erlaubnis bitten zu müssen. Er hat gar keinen Grund Aaron zu töten. Judy vergräbt das Gesicht in den Händen. Sie beginnt zu weinen, leise und lautlos, damit sie die Kinder nicht hören können. Kapitel 3: ~Es ist noch zu früh~ -------------------------------- Sie muss eingeschlafen sein, denn als sie die Augen öffnet, liegt sie ausstreckt auf dem Sofa. Eine weiche Wolldecke hüllt sie ein, das Feuer im Kamin ist bereits erloschen, nur leichte Glut glimmt, wo vorher noch ein heißes Feuer loderte. Irgendjemand betrachtet sie, Judy spürt deutlich einen Blick auf sich. Verschlafen sieht sie sich um und versucht sich aufzurichten. „Bleib ruhig liegen!“, fordert eine sanfte Stimme. Auf dem Sessel, ihr direkt gegenüber, sitzt eine Frau von Mitte Dreißig. Sie lächelt beruhigend. Ihr langen blonden Haare trägt Susen, wie immer, in einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Judy atmet auf und lässt sich ins Kissen fallen. „Wie lange habe ich geschlafen?“, will sie von ihrer Schwester wissen. Die Blondine schaut auf die Uhr. „Gut fünf Stunden“, erklärt sie. So lange? Judy erschrickt und sieht sich im Raum um. Der zweite Sessel ist verwaist, sie ist mit Susen allein. Wo sind ihre Kinder? Wer hat sich die letzten Stunden um sie gekümmert? Wie konnte sie nur einschlafen? Dieses verdammte Mittel! Judys Atmung geht ruckartig, ein starkes Stechen ergreift von ihrem Unterleib Besitz und lässt sie laut stöhnen. Reflexartig greift sie sich an den Bauch. Das Baby darin bewegt sich, es tritt und boxt energisch. So unruhig ist es sonst nicht. Susens Blick wird besorgt, sie drückt sich aus dem Sessel und kommt um den Couchtisch herum, sie schlägt die Decke zurück und tastet ihren Bauch ab. „Ist was mit dem Baby?“, will die werdende Mutter panisch wissen. Diese Schmerzen sind doch nicht normal. Susens Mine bleibt besorgt und wird immer verbissener, je länger sie den Bauch untersucht. „Du hast schon Wehen“, erklärt sie schließlich. Judy Gesicht verliert an Farbe. Jetzt schon? Das ist viel zu früh. Wenn das Baby jetzt auf die Welt kommt, wird es das vielleicht nicht überleben. „Es ist noch viel zu früh!“, keucht sie entsetzt. „Ja, und es liegt auch nicht mit dem Kopf unten.“ Judy schluckt schwer. Eine Steißgeburt? Wie groß sind die Überlebenschancen des Kindes, wenn es auch noch so auf die Welt kommen muss. Panisch sieht sie auf ihren Bauch, das Herz trommelt ihr hart gegen die Brust und macht das Stechen in ihrem Bauch noch stärker. Susen legt ihre warme Hand um die Wange der Schwester, sanft sieht sie sie an und sagt ruhig: „Keine Sorge, das wird schon. Die Wehen sind nur ganz schwach, wenn du dich ausruhst, werden sie sicher aufhören. Versuch dich zu entspannen.“ Wie soll sie sich denn entspannen, nach allem was passiert ist? Vergeblich versucht Judy tief durch zu atmen. Susen setzt sich zu ihr auf das Sofa, das Lächeln schwindet aus ihrem Gesicht. Sie nimmt die Hand der Schwester und drückt sie fest. Wortlos betrachtet sie den Sessel, der dem Kamin am nächsten ist. Dort, wo immer ihr Vater gesessen hat, ist es nun leer. In Judy steigen Tränen auf, heiß laufen sie ihr über die Wange. „Vater ist tot“, flüstert sie mit erstickender Stimme. „Ich weiß, Rene hat es mir erzählt“, sag Susen ruhig und gefasst. Die Mutter sieht sich im Raum um. „Wo sind meine Kinder?“, will sie wissen. „Sie vergraben mit Raphael die Hunde im Garten. Amy hat sich das gewünscht.“ Judy drück sich ein Stück hinauf, bis sie über die Lehne hinweg schauen kann. Durch die Verandatür hindurch, kann sie in den Garten sehen. Dort stehen tatsächlich Rene und Amy mit dem Mann ihrer Schwester. Sie haben bereits zwei große Löcher ausgehoben. Ihre Tochter hält einen Strauß Gänseblümchen in der Hand und legt sie in eines der Gräber. Rene schüttet das Loch anschließend mit Erde zu. Beide Kinder haben Tränen in den Augen. Raphael hilft dem Jungen. Mit einer zweiten Schaufel klopft er die Erde fest, die Rene aufgehäuft hat. Traurig beobachtet sie ihre Kinder noch einen Moment lang, dann lässt sie sich kraftlos ins Kissen fallen. Ein Glück, dass er und ihre Schwester hier sind und sich um die Kinder kümmern. Sie hat nicht die Kraft dafür. „Was ist denn passiert?“, traut sich Susen kaum zu fragen. Ihre Stimme bebt, sie knetet die Finger ihrer rechten Hand. „Ich weiß es nicht. Als ich heim kam, war schon die Polizei und ein Krankenwagen hier. Sie haben Jester weggebracht und Vater“, Judy verstummt. Der Anblick des getöteten Vaters taucht in ihren Gedanken auf. Neue Tränen brennen sich ihre Wangen hinab. „Irgendwann musste das ja mal passieren, bei all seinen finsteren Machenschaften“, sagt Susen emotionslos. Fassungslos betrachtet Judy sie. „Deine Mutter musste auch deswegen sterben“, fügt Susen bitter an. Judy schluckt schwer, das will sie nicht hören, daran will sie sich nicht erinnern. Schlimm genug, dass sie alle eine andere Mutter haben, aber warum müssen sie auch noch die Töchter eines Mafiabosses sein? Eine unaufhörliche Flut an Tränen überwältigt sie und lässt sie laut schluchzen. Die Schwester dreht sich zu ihr, entschuldigend sieht sie sie an und streichelt ihren Handrücken. „Tut mir leid“, säuselt sie. „Enrico wurde verhaftet!“, bricht es aus der Mutter heraus. Erschrocken sieht Susen sie an. „Hat er etwa ...?“, will sie wissen und verschluckt sich an den folgenden Worten. „Ich weiß es nicht!“ Judy wirft das Gesicht in beide Hände und weint bitterlich. Susen nimmt die Schwester in den Arm und drückt sie eng an sich. Beruhigend streichelt sie ihr den Rücken, doch Judy weint nur noch bitterlicher. Die Verandatür öffnet sich. Raphael kommt mit den Kindern herein. Er streift sich die Schuhe von den Füßen. Als er die Schwägerin so bitterlich weinen sieht, kommt er zum Sofa. „Was ist denn los?“, will er wissen. Amy und Rene ziehen sich ebenfalls die Schuhe aus, dann klettern sie zu ihrer Mutter und betrachtet sie sorgenvoll. „Dein Bruder!“, schimpft Susen finster. „Was ist mit Enrico?“ „Er hat unseren Vater auf dem Gewissen!“ „Blödsinn!“ Abwehrend verschränkt Raphael die Arme vor der Brust und sieht die beiden Frauen kritisch an. „Der Polizist hat gesagt, er wars“, brummt Rene und sieht finster vor sich hin. „Ich habe schon immer gewusst das er böse ist“, fügt er hinzu. Judy betrachtet den Sohn ungläubig. Seine Worte tun ihr weh, heftig schluchzt sie. Was, wenn das Kind recht hat? Hat ihr Mann wirklich diese schreckliche Tat begangen? Je länger sie darüber nach denkt, um so weniger kann sie an seine Unschuld glauben. Er hat schon so viele schreckliche Dinge getan, warum sollte er davor zurückschrecken? „Jetzt macht aber mal halblang! Was sollte Enrico denn für einen Grund dazu haben?“ Susen erhebt sich, wüten tritt sie ihrem Mann entgegen. „Was weiß ich. Die Beiden haben sich doch ständig gestritten. Wer weiß, was sie wieder für krumme Geschäfte ausgeheckt haben und was deinem Bruder daran nicht gepasst hat.“ „Jetzt hör aber auf! Du kennst meinen Bruder doch. Er würde niemals ...“, versucht Raphael dagegen zu halten. „Eben drum, ich kenne ihn gut genug. Wie viele Menschen hat er schon auf dem Gewissen? Würdest du für ihn wirklich deine Hand ins Feuer legen?“ Raphael knirscht mit den Zähnen und sieht unter dem Blick seiner Frau hinweg. „Hört auf!“, ruft Judy energisch, „Er ist immer noch meine Mann und der Vater meiner Kinder.“ Susen atmet tief durch und versucht ihre Wut hinunter zu schlucken, doch ihr Gesicht ist noch immer rot vor Zorn. „Was hat die Polizei den genau gesagt?“, will Raphael wissen. „Das er mit der Tatwaffe in der Hand überwältigt wurde“, berichtet Judy kleinlaut. Raphaels Blick wird finster, er sieht auf den Boden. Sein verschränkte Haltung verkrampft sich weiter. „Das kann nicht sein. Er liebte Aaron, wie seinen eigenen Vater“, murmelt er vor sich hin und schüttelt immer wieder mit dem Kopf. „Eindeutiger geht es ja wohl nicht!“ Susen betrachtet ihren Mann wütend. „Papa ist nicht böse, er hat Opa nichts getan! Jester hat das auch gesagt!“, quietscht Amy. Ihre zierliche Stimme ist so laut, das sie die Erwachsenen übertönt. Schon lange hat sie nicht mehr so energisch gesprochen, dass sie nun von allen entgeistert angeschaut wird. Mit Tränen in den Augen blickt das Kind umher. „Ihr seit gemein, so was zu sagen!“, schimpft sie und hüpft vom Sofa. Laut schniefend rennt sie zur Tür und aus dem Wohnzimmer. Während ihr alle wie versteinert nach schauen, ist es nur Rene, der vom Sofa klettert. „Ich geh ihr nach“, seufzt er und läuft der Schwester mit langsamen Schritten hinterher. Seine Hände steckt er in den Taschen seiner Hose, während er im Flur verschwindet. „Wir sollten das nicht vor den Kindern besprechen“, sieht Susen ein. Die Wut ist aus ihrem Gesicht verschwunden. „Ich kümmere mich um die beiden“, schlägt ihr Mann vor. Dankend nickt Judy ihm zu. Sie fühlt sich nicht in der Lage aufzustehen. Immer noch sticht es in ihrem Bauch. Der Streit und die Traurigkeit, haben die Wehen noch angefacht. Immer wieder atmet sie tief durch. Sie muss sich beruhigen. Das Kind darf jetzt noch nicht zur Welt kommen. Keuchend legt sie sich hin. Mit jeden neuen tiefen Atemzug, lassen die Schmerzen ein wenig nach. Verzweifelt schaut sie an die weiße Decke und versucht alle Gedanken zu verdrängen. Es hört auf, das Pochen ebbt ab. Es ist wohl wirklich nur die Aufregung. Wenn sie sich ausruht, dann wird alles gut, redet sie sich ein. „Alles okay?“, will ihre Schwester wissen. Sie setzt sich zu ihr und tastet über ihren Bauch. „Es muss!“, presst sie hervor. „Tut mir leid, ich sollte dich nicht auch noch stressen.“ „Schon gut, ich bin auch wütend und weiß nicht, was ich davon halten soll.“ „Wir bleiben die nächsten Tage hier. Wir kümmern uns um die Kinder. Heute Nacht schläfst du dich aus und morgen fahren wir aufs Polizeipräsidium und sehen, ob wir dort mehr erfahren.“ Judy schüttelt nur müde den Kopf. Sie schließt die Augen und versucht den wirren Gedanken aus dem Weg zu gehen. Jetzt zählt erst mal nur, das ungeborene Kind in ihrem Bauch. Um ihren Mann, kann sie sich kümmern, wenn es gesund zur Welt gekommen ist. „Ich will ihn nicht sehen“, murmelt sie. Susen streichelt ihr sanft den Bauch. Das Kind darin bewegt sich nicht mehr so stark. Mit dem Gedanken, ihrem Mann aus dem Weg zu gehen, geht es ihr besser. „Okay!“, akzeptiert Susen ihre Entscheidung. Judy atmet noch einmal durch. Soll sich doch ihr Schwager um seinen missratenen Bruder kümmern, sie hat genug von diesen verdammten Gangstern und Ganoven und ganz besonders von ihrem Mann. Das Telefon im Flur klingelt. Die Schwestern sehen gleichermaßen erschrocken aus dem Zimmer in den Flur, schließlich ist es Susen, die sich erhebt. „Ich geh schon.“ Judy nickt ihr dankbar zu und bettet ihren Arm über den Augen. Sie sollte schlafen, wenigstens ein bisschen. Mit geschlossenen Augen lauscht sie den Schritten der Schwester, die im Zimmer verhallen. Wenig später nimmt sie den Höher ab und meldet sich: „Bei Longhard!“ Stille, dann spricht sie weiter, „Nein, die ist gerade unabkömmlich, ich bin ihre Schwester, warum geht es denn?“ Lange Zeit ist nichts zu hören, nur Susens Atmung wird immer schneller. Judy kann sie bis ins Wohnzimmer hören. Irritiert schaut sie auf. Die Schwester steht am kleinen Schränkchen, den Hörer hält sie fest umschlungen, ihre linke Hand krallt sich in das weiße Häckeldeckchen, das unter dem Apparat liegt. Starr schaut sie vor sich hin. Ihre Lippen zittern, ihr Gesicht wird kreidebleich. „Ich ... ich werde es weiter leiten“, haucht sie in den Höher und legt auf. Mit beiden Händen stützt sie sich auf das Schränkchen und starrt weiterhin ins Leere. „Susen! Wer war das?“, will Judy wissen. Die Schwester sieht erschrocken in ihre Richtung. Sie schluckt schwer und vergisst zu antworten. Ein dicker Kloß bildet sich in Judys Hals. „Susen?“, harkt sie energisch nach, doch wieder schweigt die Schwester. Erst als ihr Mann im Flur auftaucht und zu ihr geht, schaut sie auf. „Was ist los?“, versucht er in Erfahrung zu bringen. Susen flüstert, doch Judy kann sie trotzdem verstehen: „Dein Bruder liegt im Krankenhaus. Die Ärzte wissen nicht, ob er die Nacht überlebt. Wenn wir ihn noch mal sehen wollen, sollen wir sofort vorbei kommen.“ Judy will aufstehen, will sich das erklären lassen. Sie zwingt sich an den Rand des Sofas. Als sie die Beine hinab streckt, zieht sich ihr Bauch krampfhaft zusammen. Der plötzliche Schmerz lässt sie zusammen fahren, sie verliert den Halt und rutscht vom Sofa. Schreien fällt sie in den Spalt zwischen Tisch und Couch, schwer atmend, bleibt sie liegen und krümmt sich zusammen. Nein, das sind keine leichten Wehen mehr, dafür ist es zu schlimm. Das sind Presswehen! Der heftige Schmerz lässt sie laut aufschreien. Eilige kommt das Ehepaar ins Wohnzimmer gelaufen. Als sich Susen zu ihr hinab beugt, keucht Judy: „Das Baby kommt!“ Susen tastet nach ihrem Bauch, ihr Blick versteinert. „Raphael, hole die Kinder, wir müssen sofort ins Krankenhaus“, befiehlt sie. Kapitel 4: ~Wach auf Enrico~ ---------------------------- „Du verdammter Scheißkerl, wenn du nicht schon halb tot wärst, dann würde ich dir jetzt deinen Arsch aufreizen!“ Bohr Raphael, halt die Klappe! Verschwinde und lass mich zufrieden! Ich bekomme ja nicht mal die Augen auf. Verfluchtes Narkosemittel. Was haben diese verdammten Weißkittel mir da gespritzt? Ich kann nicht mal den kleinen Finger rühren. „Ich schwöre dir, wenn du das getan hast, bring ich dich eigenhändig in den Knast!“ Getan? Was denn getan? „Deine Frau verliert vielleicht ihr Kind und alles nur, weil du wieder irgendwelche Scheiße baust!“ Judy und das Baby? Was ist mit den Beiden?„Was hast du nur schon wieder ausgefressen? In welche Scheiße hast du dich verwickeln lassen!“ Ein fester Griff packt meine Schulter, ein jeher Schmerz durchbohrt mich. Ich will laut aufschreien, doch irgendetwas steckt in meinem Hals. Was hat er überhaupt für ein Problem? Glaubt er ich lasse den Mord an Aaron ungesühnt? Ich hab den Scheißkerl kalt gemach, der ihn ermordet hat, Scheiße nur, dass der sich zu wehren wusste. Die Erinnerung an das Katana, das er mir durch den Unterleib rammte, hämmert durch meinen Kopf. Ich spüre die tiefe Wunde viel zu deutlich. „Kannst du das Morden nicht endlich sein lassen?“, flucht mein Bruder wieder. Nein, kann ich nicht. Der Mann, der mir seit Jahren das Leben zur Hölle gemacht hat, ist tot. Ich habe das Glasdach zerschossen und ihn in die brennende Fabrik darunter stürzen lassen. Er ist verbrannt, wie er einst mich verbrennen wollte. Stolz erfüllt mich, wenn ich könnte würde ich jetzt breit grinsen. Schade nur, dass ich ihn nicht schon früher getötet haben, dann hätte Aaron nicht sterben müssen. Der Anblick des toten Paten in seinem Sessel, flutet meine Gedanken. Seine weit aufgerissen Augen, das lange Schwert, das aus seiner Kehle ragte. Furchtbar! Es ist nur gerecht, das ich Michael eben jenes Schwert ins Herz gerammt habe, bevor er in die Tiefe fiel. Dieser Mord war mehr als überfällig. Mir scheiß egal, was mein Bruder davon hält. „Hast du wirklich Aaron umgelegt? Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Du bist doch schon Pate der Locos! Was willst du denn noch?“ Traut er mir ernsthaft zu, dass ich meinen Schwiegervater auf dem Gewissen habe, den Opa meiner Kinder? Spinnt er jetzt völlig? „Lass gut sein, er kann dich sowieso nicht hören!“ Und ob ich euch höre! Die Hand meines Bruders gibt meine Schulter frei. Ich atme auf, als der Schmerz nachlässt. „Wie geht es Judy?“, will Raphael wissen. „Sie haben ihr ein wehenhemendes Mittel gespritzt, aber ewig werden sie die Geburt nicht hinauszögern können. Es wird zu früh kommen.“ Wieso hat sie denn schon Wehen? Das Kind soll doch erst in acht Wochen zur Welt kommen. Mit aller Kraft zwinge ich meinen Körper zum Gehorchen. Tausend Nadeln bohren sich durch meine Haut. Ich balle meine rechte Hand zur Faust und kralle meine Finger in die Decke, auf der sie liegen. „Raphael?“, ruft Susen gleichermaßen erschrocken, wie überrascht. Ich spüre ihren Blick auf mir, dann auch den meines Bruders. Ihre Schritte kommen näher. Eine warme Hand legt sich über meine geballte Faust. „Enrico?“ Mit aller Gewalt zwinge ich mich dazu, die Augen zu öffnen. Verschwommene Umrisse bilden sich vor mir. Das ernste Gesicht meines Bruders schwebt ganz nah über mir. Grimmig schaue ich zurück. Seine Hand schüttle ich ab und führe sie zitternd zum Mund. Immer wieder fällt sie kraftlos zurück in die Decke. Dieser verdammte Schlauch muss weg, damit ich die Beide zurecht stutzen kann. Immer wieder greife ich nach dem Beatmungsgerät, doch als ich es endlich erreiche, löst Susen meine Hand darum. Sie schüttelt mit dem Kopf und hält mich fest. Eindringlich sehe ich sie an. Ich brauche das Teil nicht, ich kann alleine atmen. Wir liefern uns ein stummes Gefecht. Obwohl sie mich ernst ansieht und sich mein Blick immer wieder trübt, schaue ich auffordernd zurück. Schließlich seufzt sie resigniert und legt selbst Hand an. Langsam löst sie den Schlauch und zieht ihn aus meiner Kehle. Mir wird schlecht, ich muss würgen. Als das Gerät endlich meinen Hals verlässt, beginne ich heftig zu husten. Mein Atem kratzt rau und scharf durch meine Lunge und die gereizte Kehle. Tränen schießen mir in die Augen. Der Hustenanfall erschüttert meinen wunden Körper, krampfhaft greife ich nach der tiefen Wunde über meiner Hüfte und presse mein Hand darauf. Sie zerreißt mit jeder Bewegung meines bebenden Brustkorbs. Ich stöhne gequält. „Du wolltest es so“, meint Susen kalt und schaltet das Gerät ab. Ich sehe sie nur noch verschwommen, immer neue Tränen laufen mir über die Wangen. Mir ist wie ersticken. Hat sie vielleicht doch recht? Geht es nicht ohne diese verfluchte Ding? Nein, ich brauch das nicht, ich schaff das allein. Immer wieder versuche ich tief Luft zu holen und bringe meinen kratzenden Atem tatsächlich unter Kontrolle. Die Tränen blinzle ich weg und fixiere meinen Bruder mit festem Blick. „Arschloch!“, fauche ich ihn heißer an. Er schaut erschrocken und weicht einen Schritt vor meiner Wut zurück. Ich hole noch zwei mal Luft, dann schreie ich, so laut es meine wunden Stimmbänder zulassen: „Ich hab Aaron nicht getötet, du Arsch!“ Raphael schaut unter meinem festen Blick hinweg. „Wer dann?“, will Susen wissen. „Michael, oder einer seiner Handlanger, keine Ahnung!“ „Dann müssen wir das sofort der Polizei mitteilen“, schlägt Raphael vor. Ich schmunzle nur amüsiert. Als wenn ich so was persönliches denn Bullen überlassen würde. „Nicht nötig.“ Ich lächle finster vor mich hin und lege meinen Arm auf meine schmerzende Stirn. Mein Kopf explodiert und trotzdem stimmt mich der Gedanken an Michaels Tod ausgelassen. Mein Bruder mustert meinen zufriedenen Blick einen Moment stumm, dann verhärten sich seine Gesichtszüge. Er tritt wieder ans Bett und packt mich an dem dünnen Hemd, das ich trage. Er zieht mich ein Stück nach oben. „Ahhh!“, schreie ich erschrocken und von neuem Schmerz gepeinigt. Vergeblich versuche ich seine Hände von mir zu lösen. „Spinnst du! Sag mir das du nicht noch einen Mafiaboss umgelegt hast!“ Ernst und eindringlich schaue ich ihn an, das ist meinem Bruder Antwort genug. Er lässt mich los und stößt mich zurück ins Kissen. Ich beiße die Zähne fest aufeinander, um nicht schon wieder schreien zu müssen. Raphael rauft sich die Haare und läuft unruhig im Zimmer auf und ab. „Na wenigstens hast du einmal was richtig gemacht“, murmelt Susen. Erschüttert sieht mein Bruder seine Frau an und auch ich betrachte sie ungläubig. Sie setzt sich auf den Stuhl neben mich und schlägt die Beine übereinander. „Drehst du jetzt auch durch?“, ruft Raphael entsetzt. Susen lehnt sich im Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. „Glaubst du jemandem, wie ihm, hätte man den Mord an Vater nachweisen können? Er hat doch niemals persönlich Hand angelegt. Diese Antwort, ist die Einzige, die diese Kerle verstehen!“ Erstaunt sehe ich Susen an. Eine solche Sicht der Dinge, habe ich ihr gar nicht zugetraut. Das erste Mal überhaupt, sind wir einer Meinung. „Ihr seid doch beide verrückt geworden! Glaubt ihr die lassen das auf sich sitzen?“ Unbeeindruckt sehen Susen und ich ihn an. Die Drachen sollen nur kommen, jedem der noch mal Hand an meine Familie legt, werde ich ebenfalls über den Haufen schießen, so lange, bis von dieser verfluchten Organisation, keiner mehr übrig ist. Mein Bruder schüttelt abwehrend mit dem Kopf, aufgebracht verlässt er das Zimmer. „Ihr seit krank, alle beide!“, faucht er und wirft die Tür nach sich zu. Als er weg ist, atme ich auf. Seine Vorwürfe regen mich noch immer auf. Mein Herz trommelt hart gegen meine Rippen und mein Atem geht viel zu schnell. Immer wieder muss ich husten. Ich bin froh, als es endlich still bleibt und sich mein Puls langsam beruhigt. Susen schweigt, stur sieht sie auf die geschlossene Tür. „Sorry! Ich war nicht da, als es passierte“, presse ich heraus. „Schon gut, ich wusste schon lange, dass es mit ihm einmal so enden wird. Es war nur eine Frage der Zeit“, entgegnet sie kalt. Wieder wird es still. Mir fällt nichts ein, was ich ihr aufmunterndes sagen kann. Auch in mir ist bereits alles kalt. In den letzten Wochen und Monaten, sind so viele geliebte Menschen ums Leben gekommen. Ich habe längst kein Gefühl mehr dafür. Wahrscheinlich holt es mich irgendwann mal ein, wenn ich allein bin, aber jetzt gibt es wichtigeres: „Was ist mit meiner Frau und dem Baby?“, will ich wissen. Susen seufzt und löst die Verschränkung ihrer Arme. Vorwurfsvoll sieht sie mich an, als sie sagt: „Was glaubst du, wie es für meine Schwester war, mit Amy und Rene nach Hause zu kommen, in das ganze Chaos, dass dort tobte? Wegen des Schocks hat sie vorzeitige Wehen bekommen und als dann auch noch das Krankenhaus deinetwegen angerufen hat, ist sie uns zusammen gebrochen.“ Ich schlucke schwer und wende meinen Blick ab, hinaus aus dem Fenster. Seufzend betrachte ich den Verkehr auf der Hauptstraße. „Ich wurde verhaftet, bevor ich etwas unternehmen konnte“, presse ich heraus. Mein Atem beginnt schon wieder zu rasen. Mir ist noch immer schlecht, heiß und kalt wechseln sich in mir ab. Ich presse meine Hand fester auf die Wunde. Mein Arm beginnt zu zittern, ich bekomme das Beben meines Körpers nicht unter Kontrolle. „Warum bist du eigentlich schon wieder auf freiem Fuß? Bist du etwa ausgebrochen?“, will Susen wissen. Ich versuche meinen Atem zur Ruhe zu zwingen und mir vor Susen nicht anmerken zu lassen, dass ich eigentlich gar keine Kraft zum Sprechen haben. „Jester hat scheinbar für mich ausgesagt und ich habe Freunde bei der Polizei. Ich war höchstens drei Stunden eingesperrt“, zwinge ich mich zu antworten. Mein Kopf hämmert unerträglich. Gequält atme ich durch und lege meine Hand auf die Stirn. Mir ist eiskalt und trotzdem läuft mir der Schweiß in Strömen von der Stirn. Ich weigere mich mehr zu sagen und auch Susen schweigt von nun an. Gedankenverloren sieht sie vor sich hin. Ihr Blick ist sorgenvoll auf den Boden gerichtet, die Arme verschränkt sie vor der Brust. „Du und Raphael, ihr kümmert euch doch um Judy und die Kinder, oder?“ „Sicher!“, entgegnet sie knapp. Ich atme erleichtert auf, wenigstens darum muss ich mir keine Gedanken machen. Schlimm genug, dass es Judy und dem Baby so schlecht geht. „Kann das Kind überleben, wenn es jetzt schon kommt?“, will ich irgendwann wissen. „Das wird sich zeigen, wenn es da ist!“, sagt sie lediglich und sieht nicht mal auf. Ich seufze hörbar. Das ist nicht die beruhigende Antwort, auf die ich gehofft habe. Wenn den Beiden etwas passiert, ich könnte mir das nie verzeihen. Ich atme schnelle und ruckartig. Beinah wünsche ich mir das Beatmungsgerät zurück. „Wenn es nach dir kommt, wird es schon durchkommen“, meint Susen auf einmal. Ich schaue sie irritiert an. Sie lächelt versöhnlich und streicht mit ihr über die klammen Haare. „Als wir hier ankamen, hieß es noch, du würdest die Nacht nicht überstehen und jetzt kann man sich schon mit dir unterhalten. Wenn dein Kind nur halb so zäh ist, wie du, dann wird das schon.“ Ich schenke ihr ein dankbares Lächeln. Hoffentlich hat sie recht. Susen erhebt sich, während sie zur Tür geht, dreht sie sich nach mir um. „Ich hol dir was gegen die Schmerzen!“ Erstaunt sehe ich sie an. Ich habe mir so große Mühe gegeben, meinen Zustand vor ihr zu verbergen. Etwas gegen die Schmerzen wäre wirklich schön. Ich nicke ihr dankbar zu. Doch als sie die Tür öffnet und den Raum verlassen will, rufe ich sie noch einmal zurück: „Susen!“ Sie dreht sich um und schaut fragen. „Kannst du nachsehen, ob Toni auch irgendwo hier ist?“ „Du warst wohl nicht allein, auf Rachefeldzug, was?“ Ich schmunzle. „Nein, war ich nicht.“ Er wurde mit mir verhaftet und war auch an meiner Seite, als wir den Mörder Aarons stellten. Ohne ihn, hätte mich Michael mit in den Tod gerissen. Ich kann mich noch viel zu deutlich daran erinnern, wie er stur meinen Arm festgehalten und mich nicht losgelassen hat, obwohl sich eine Scherbe des zersplitterte Glasdaches in sein Bauch gebohrt hat. „Dieser Idiot nimmt seinen Job als Leibwächter viel zu ernst“, murmle ich gedankenverloren und schaue wieder aus dem Fenster. Hätte er doch nur los gelassen, anstatt sich eine solch schwere Verletzung zuzuziehen. Was wenn er schon gar nicht mehr am Leben ist. Dieser dumme Idiot! Heiße Tränen überkommen mich und laufen mir die Wangen hinab. Er war so kalt und ich konnte sein Herz nicht mehr schlagen hören. Ohne ihn, hat es überhaupt keinen Sinn, zu überleben. „Ich sehe nach, ob er eingeliefert wurde“, meint Susen. Ich nicke lediglich und schließe die Augen. Selbst das Heulen ist mir jetzt zu viel. Die Tür wird geschlossen und nimmt alle Geräusche mit sich. Die Stille macht mich schläfrig, doch der zerreißende Druck in meinem Unterleib, hält mich wach. Ich stöhne gequält und werfe den Kopf zurück, die Wunde presse ich noch fester zusammen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und sehe sehnsüchtiger zur geschlossenen Tür. Hoffentlich ist Susen bald mit dem Schmerzmittel zurück. Kapitel 5: ~Polizeischutz~ -------------------------- Immer wieder döse ich ein, ich verschlafe Susens Rückkehr und ihre Antwort, verschlafe den Tag und die Nacht, wieder und immer wieder. Das Zeitgefühl geht mir völlig verloren. Menschen kommen und gehen, ich weiß nicht mal, wer es ist. Alles verliert sich in dichtem Nebel. Was auch immer ständig von neuen in meine Venen geschossen wird, trägt mich weit weg von allem. Als ich das erste Mal bewusst den Morgen wahrnehme, weiß ich nicht einmal mehr, wo ich bin. Das Zimmer ist mir fremd, der Blick aus dem Fenster, auf die Hauptstraße, ebenfalls. Warum bin ich hier? Meine Aufmerksamkeit wandert zum Nachttisch neben dem Bett. Ein großer Strauß Blumen blüht in einer Kristallvase. Ich mag doch gar keine Blumen. Vor der Vase stehen Genesungskarten und unendlich viele Zeichnungen, Kinderzeichnungen. Auf jeder steht in großen Druckbuchstaben PAPA geschrieben. Das ist Amys Handschrift, dann sind die Zeichnungen wohl von ihr. Mir huscht ein flüchtiges Lächeln über die Lippen. Ich greife nach den Bildern. Ein Stechen durchzuckt meine Schulter. Scharf ziehe ich die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Ich öffne den obersten Knopf meines Hemdes und schiebe den Stoff zur Seite. Um meine Schulter ist ein dicker Verband gewickelt, ein weiterer über meinen Oberarm. Bin ich deswegen hier? Weiße Wände, der Geruch von Desinfektionsmittel liegt in der Luft, neben mir steht ein Ständer mit Tropf, dessen Schlauch bis zu meiner Hand reicht. Eindeutig, ich bin in einem Krankenhaus. Mich gruselt es bei diesem Gedanken. Ich habe schon einmal drei Jahre meines Lebens in so einem Gebäude verschwendet. Hoffentlich steht es nicht wieder so schlimm um mich. Um nachzusehen, hebe ich die Decke an. Ich betrachte meine blanken Füße und wackle mit den Zehen. Erleichtert atme ich durch. Das letzte Mal, als ich in einem Krankenhaus aufwachte, war mir das nicht möglich. Auf den ersten Blick, kann ich auch keine schweren Verletzungen feststellen. Bis auf ein längliches Pflaster über meiner Wade und ein anderes über meinem Schienbein, scheint noch alles dran zu sein. Ich lasse die Decke wieder fallen und versuche mich aufzusetzen. Etwas reißt an mir und beißt sich über meiner Hüfte fest. Ich schreie und falle zurück ins Kissen. Erschrocken fahre ich unter die Decke und taste nach der Wunde, das Hemd schiebe ich hinauf. Warme Nässe drückt sich durch den Verband, den ich finde. Als ich die Hand zurückziehe, klebt Blut an meinen Fingerkuppen. Noch einmal schlage ich die Decke zurück, um mir das Unheil anzusehen. Ein tiefroter Fleck drückt sich durch die Mullbinden, die um meinen Hüfte gewickelt sind. Meine Bauchmuskeln zittern schmerzhaft, unter der Anstrengung, meinen Oberkörper halten zu müssen. Ich lasse mich wieder fallen. Okay, meine Schulter und der Arm sind nicht der Grund, sondern das hier. Ich atme einige male tief durch, bis der zerreißende Druck nachlässt, dann sehe ich mich weiter um. Niemand ist hier, nicht mal ein anderer Patient. Das ist ungewöhnlich. Obwohl es noch fünf andere Betten gibt, ist nur meines belegt. Ob es meinen Zimmergenossen wohl besser geht, als mir und sie sich irgendwo anders im Gelände des Krankenhauses aufhalten? Das Bettzeug sieht unbenutzt aus, alles ist sauber und glattgestrichen. „Und?“ Die Stimme kommt von draußen, die Klinke wird gedrückt, doch die Tür öffnet sich nicht. „Das Kind ist endlich da, aber ...“ Susen? Arbeit sie jetzt etwa hier? Nein, so ein quatsch! Sie ist sicher nur auf Besuch hier. Meine Gedanken sind wie vernebelt. Ich fahre mir über die Augen, der trübe Schleier hat sich noch immer nicht vollständig verzogen. „Die Geburt hat fast dreißig Stunden gedauert. Judy ist völlig erschöpft und hat jetzt auch noch Fieber bekommen. Hoffentlich bekommen die Ärzte das in den Griff.“ Geburt, Judy? Die Worte wirbeln durch meinen Kopf, doch ich begreife ihre Bedeutung nicht. „Und das Baby?“ „Ganz der Vater. Obwohl es zu früh dran ist, bringt es schon 2000 Gramm auf die Wage und atmet alleine. Kommst du mit? Ich will es auf der Säuglingsstation besuchen gehen und dann noch mal zu meiner Schwester.“ Vater? Bin ich damit gemeint? Die Klinke hebt sich wieder, die Schritte der Beiden verlieren sich in der Ferne. Vater, hämmert es wieder durch meinen Kopf. Das Kind, mein Kind! Ist es wirklich schon da? Am Leben und Gesund? Was ist es geworden? Ein Junge, ein Mädchen? Ich will mit! Ich will es auch ansehen! Ihre Schritte sind längst nicht mehr zu hören, nach ihnen zu rufen wäre vergebens. Noch einmal zwinge ich mich nach oben. Der Schmerz lässt mich stöhnen. Mit der rechten Hand drücke ich die Wunde zu, mit der linken stemme ich mich in die Matratze. Ich beiße die Zähne fest aufeinander und schaffe es tatsächlich, mich aufzusetzen. So weit so gut. Einige Male atme ich tief durch, bis das Hämmern nachlässt, dann schiebe ich meine Beine aus dem Bett. Meine Füße berühren den kalten Boden. Ein Schauer durchfährt mich. Gibt es hier denn keine Schuhe, die ich mir anziehen kann? Vergeblich sehe ich mich danach um. Ob sie vielleicht unter dem Bett liegen? Als ich mich nach vorn beäuge, um nachzusehen, kippt hinter mir etwas um und kracht auf den Boden. Erschrocken fahre ich zusammen und schaue zurück. Der Ständer mit dem Tropf ist umgefallen. Das Ventil an meinem Handrücken, hat sich gelöst und ist abgerissen, die Nadel hängt nur noch lose in der gestochenen Wunde. Ich zucke mit den Schultern und ziehe sie ganz heraus. Achtlos werfe ich sie auf das Bett. Die Flüssigkeit aus dem Schlauch verteilt sich auf dem Boden, auch der Beutel ist bei dem Sturz geplatzt. Die Nässe kriecht vor, bis zu meinen nackten Zehen. Die Klinke der Tür wird gedrückt, ein junger Mann schaut herein. Seine schmächtige Gestalt und die Schlitzaugen kenne ich gut. Jan, der Polizist, der mir schon so oft den Arsch gerettet hat. Er trägt seine Polizeiuniform, seine Augen, suchen den Raum nach mir ab, als er mich gefunden hat, schaut er erstaunt. „Du bist ja wach!“, stellt er fest. Argwöhnisch beobachte ich ihn dabei, wie er die Tür schließt und zu mir kommt. „Wieso … wieso bist du hier?“, will ich von ihm wissen. Das Sprechen fällt mir unheimlich schwer, jedes Wort, jeder Atemzug zieht in der Wunde. Der Schmerz treibt mir die Schweißperlen von der Stirn ins Gesicht. Ich atme ruckartig. „Ich dachte mir, du könntest etwas Polizeischutz brauchen, nachdem du den Chef der Drachen kalt gemacht hast“, antwortet er. Polizeischutz? Ja, das hat das letzte Mal ja auch super geklappt. Unter meinen verschwitzten, blonden Haaren, sehe ich zu ihm auf. Seine Umrisse verschwimmen immer wieder, ständig muss ich blinzeln, um ihn klar sehen zu können. Jans Aufmerksamkeit wandert zum umgeworfenen Ständer. Kritisch sieht er von ihm zu mir. „Was hattest du denn vor?“ „Aufstehen!“, keuche ich. „Verrückter Idiot! Leg dich gefälligst wieder hin!“ Nein, ich hatte irgend etwas wichtiges vor. Was war das gleich noch? Dieses verdammte Mittel. Da lieber ertrage ich den Schmerz, als derart benebelt zu sein. Jans Hände legen sich auf meine Schultern, er drückt mich zurück, doch ich stemme mich dagegen. Ich bin Vater geworden, wirbelt es durch meinen vernebelten Geist. Judy und unser Baby, ich muss zu ihr und sehen, wie es den Beiden geht. „Nein!“, knurre ich. Jan hält inne. „Hilf mir hoch!“, bitte ich ihn. Als er nicht sofort reagiert, ziehe ich ihn am Ärmel seiner Dienstjacke tiefer, bis ich meinen Arm um seinen Hals legen kann. Jan betrachtet mich argwöhnisch, hilft mir aber auf. Die Schwerkraft reißt heftig an mir, ich verlagere mein ganzes Gewicht auf meine unverletzte Körperhälfte, doch wirklich erträglicher, wird es nicht. Ich beiße die Zähne fest aufeinander, um nicht schreien zu müssen, die Luft ziehe ich scharf ein und presse meine Hand krampfhaft auf die Wunde. Jans Blick wird zunehmend besorgter. "Wo willst du denn in dem Zustand hin?", will er wissen. "Bring mich zu meiner Frau!", weiße ich ihn an und bemühe mich, um einen festen Blick und Tonfall, doch meine Stimme zittert, genau so heftig, wie mein Körper. "Bist du dir sicher? Du schaffst es doch nicht mal bis zur Tür", glaubt er. "Sag mir nicht, was ich kann und was nicht! Bring mich einfach zu ihr!", keuche ich angestrengt, doch deutlich aggressiver. Ich will nicht diskutieren und meine wenige Kraft für ihn vergeuden. Er seufzt, kommt aber meiner Aufforderung nach und setzt sich in Bewegung. Mehr schlecht als recht stolpere ich ihm nach. Gemeinsam schaffen wir es bis zur Tür, dann kann ich das Ziehen nicht länger ertragen und bleibe stehen. Meinen Kopf lehne ich an seine Schulter und atme immer wieder durch. Es hilft längst nicht mehr. Der Verband wird warm und fühlt sich nass an. Ich vermeide einen Blick darauf, aufgeben kommt jetzt nicht in Frage. „Du gehörst ins Bett!“, rät er mir wieder. Ich schaue von seiner Schulter auf und ihn finster an. „Zwing mich nicht, meine Bitte wiederholen zu müssen!“, sage ich streng. „Du bist selbst in dem Zustand noch ein Ekel!“, faucht er. Ich zucke mit den Schultern und öffne die Tür. Wir kennen uns jetzt schon sieben Jahre, so langsam sollte er sich an meine Art gewöhnt haben. Obwohl ich beinah mein ganzes Gewischt auf ihn verlagere, hat Jan keine Probleme damit, mich zu stützen. Seine Schultern sind breiter geworden, die Muskeln deutlich unter der Jacke zu spüren. Hat er trainiert? Er wird sich doch nicht etwa meine Worte zu Herzen genommen haben, die ich ihm in der einen Nacht an den Kopf geknallt habe, oder? „Du bist gar nicht so schwach, wie du aussiehst“, lasse ich ihn wissen. Jan zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe und betrachtet mich argwöhnisch. „Ein Kompliment von dir? Wie viel Schmerzmittel hast du intus?“ „Zu viel um dich klar zu sehen, zu wenig, um meinen Körper zu betäuben“, stöhne ich und bleibe stehen. Verschmitzt lächle ich ihn an und atme den Schmerz weg. Als ich ihn wieder klar sehen kann, schaut er noch immer ungläubig. Ob es wirklich nur an dem Schmerzmittel liegt, dass ich mal was nettes zu ihm sage? Ich habe mir den Kerl schon einmal schön gesoffen, warum sollte Schmerzmittel nicht den selben Effekt haben? Blöder Gedanke! Ich schüttle mir die Nacht mit ihm aus den Gedanken und konzentriere mich auf meine nächsten Schritte. Wie weit ist es denn noch? Kann das Zimmer meiner Frau nicht gleich nebenan sein? Der besorgte Blick des Polizisten ruht unentwegt auf mir. Er scheint mir meine unausgesprochene Frage anzusehen, denn er sagt: „Wir müssen bis ans andere Ende vom Krankenhaus, in den Westflügel, wo die Frauen untergebracht sind. Das schaffst du nie!“ „Doch, schaffe ich!“, keuche ich, während der Weg immer wieder vor mir verschwimmt. Meine Beine wollen mein Gewicht nicht mehr tragen, unter mir knicken sie weg. Jan legt seinen Arm um meinen Oberkörper und verhindert, dass ich falle. Er schüttelt mit dem Kopf und steuert eine Bank im Flur an. „Das wird so nichts!“, sagt er und setzt mich darauf ab. Grimmig schaue ich zu ihm auf. Ich gehe nicht zurück, egal was er sagt und wenn ich bis zum Westflügel kriechen muss. Der Polizist mustert meinen entschlossenen Blick eine Weile stumm, dann seufzt er. „Warte hier!“, weißt er mich an und verschwindet auf dem Flur. Irritiert sehe ich ihm nach. Seine Schritte verhallen in der Ferne. Ich seufze und strecke die Beine weit aus, mit dem Rücken lehne ich mich nach hinten und lege den Kopf in den Nacken. Verfluchter Dreck! Ich kann so viel durchatmen, wie ich will, der zerreißende Druck lässt nicht nach. Meine Finger sind klitschnass. Als ich an mir hinab sehe, tropft Blut herab und sprenkelt den weißen Boden. Offensichtlich übertreibe ich es wirklich. Ich schaue den Gang entlang. Das Ende ist so fern. Jan hat recht, bis dort hin, werde ich es nie schaffen. Ich wende mich in die andere Richtung. Mein Zimmer ist nicht mal fünf Schritte weit weg. Weiter bin ich nicht gekommen? Wie deprimierend! Neben der geschlossenen Tür, stehen zwei stämmige Männer, sie sehen schon die ganze Zeit in meine Richtung und setzen sich schließlich in Bewegung. Was machen die beiden Gorillas denn hier? Aaron hat sie zu meinem Schutz angestellt, als klar war, dass ich einmal die Locos übernehmen werde, aber er lebt nicht mehr. Wer bezahlt die Zwei jetzt dafür, dass sie sich hier die Beine in den Bauch stehen? Ich bin es auf jeden Fall nicht. Die russischen Brüder bleiben neben der Bank stehen, ihre Gesichtszüge sind wie immer versteinert und kalt. Sie machen keine Anstalten, irgend etwas zu sagen. Wie immer positionieren sie sich rechts und links von mir. „Was macht ihr hier? Euer Arbeitgeber ist tot“, will ich von ihnen wissen. „Wir haben einen Vertrag auf Lebenszeit“, erklärt mir der Größere von Beiden. „Ja, auf deine Lebenszeit. Wenn du stirbst, sehen wir also kein Geld mehr, also geh es mal ein bisschen langsamer an.“, fügt er Andere an. Ich schmunzle nur amüsiert. Selbst im Tod nervt mich Aaron also noch. Die zwei Gesellen wollte ich nie an meiner Seite haben, sie rennen mir selbst bis aufs Klo hinterher und meistens sind sie still und unbeweglich, wie Puppen. Andererseits kann ich im Moment wirklich ihren Schutz brauchen. Allein komm ich nicht mal von dieser verfluchten Bank hoch. Sollen sie eben dort stehen und aufpassen, dann kann ich wenigstens einen Moment die Augen schließen. Ich bin schon wieder müde, verdammtes Schmerzmittel. „So, damit sollten wir es schaffen“, ertönt auf einmal Jans Stimme. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Jan steht vor mir, er grinst mich breit an. Ich brauche einen Moment, um mich auf seine Worte konzentrieren zu können. Womit schaffen wir was? Mein Blick wandert an ihm herab. Zwischen uns steht ein Stuhl mit Rädern, an seiner Rückenlehne sind zwei Griffe angebracht, vorn gibt es Auflagen für die Füße. Ich seufze. In so etwas wollte ich nie wieder sitzen müssen. „Muss das sein?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. „Du willst doch zu deiner Frau, oder?“ Ich nicke lediglich und ergebe mich meinem Schicksal. Meinen Arm strecke ich nach dem Polizisten aus. Jan versteht wortlos, er legt sich meinen Arm um den Hals und hebt mich von der Bank. Langsam bugsiert er mich in den Rollstuhl und lässt mich darin Platz nehmen, selbst meine Füße stellt er auf die Ablagen. Ich schaue ihm dabei wehmütig zu. Als er sich wieder aufrichten will, lege ich ihm meine Hand auf die Schulter. Irritiert schaut er zu mir hinauf. „Jan, danke!“ Sein Blick wird noch verwirrter. Ich habe mich noch nie bei ihm bedankt, zumindest nicht ehrlich und aufrecht, doch dieses Mal meine ich was ich sag, „Danke für deinen Schutz und auch für deine Hilfe, als ich verhaftet wurde. Du hast Jester befragt und meine Unschuld bewiesen, oder?“ Jan lächelt nur breit und richtet sich wieder auf. „Ja, was würdest du nur ohne mich tun? Der weiße Wolf ist eben nichts ohne sein Rudel.“ Kapitel 6: ~Nicht willkommen~ ----------------------------- Ich bin froh, als wir endlich das andere Ende des Krankenhauses erreichen und Jan sagt: „Da vorn, die zweite Tür rechts.“ Meine Hand habe ich noch immer auf den feuchten Verband gepresst, doch obwohl ich sitze, kann ich das Pochen in der Wunde noch viel zu deutlich spüren. Spätestens wenn ich wieder in meinem Bett liege und deswegen nicht schlafen kann, werde ich das mächtig bereuen, aber ich will sie sehen und mich davon überzeugen, dass sie in guten Händen ist. Als wir endlich die beschriebene Tür erreichen, öffnet sie sich gerade. Susen, ist es, die uns entgegen kommt und mich entsetzt ansieht, als sie mich erkennt. „Was machst du denn hier?“ Ihr Blick gleitet an mir vorbei zu Jan und den beiden Gorillas. „Und ihr? Seid ihr verrückt geworden, ihn aus dem Bett zu holen?“ „Hey, er ist selbst aufgestanden. Hätte ich ihm nicht geholfen, wäre er auf allen Vieren hier her. Du kennst ihn doch“, verteidigt sich mein Fahrer. Ihr Gespräch interessiert mich nicht. Ich schaue an Susens Gestalt vorbei und versuche einen Blick in den Raum zu erhaschen, doch sie schließt die Tür. Verwirrt und zunehmend wütend, schaue ich zu ihr auf. „Den Weg hättet ihr euch sparen können, sie braucht Ruhe!“ Susens strenger Blick richtet sich auf mich. „Sie will dich sowieso nicht sehen!“ „Erzähl keinen Mist! Geh zur Seite!“, fordere ich finster. Ich hab keine Lust zu diskutieren. Bevor mir der verdammte Schmerz die Sinne raubt, will ich zu meiner Frau. „Hast du mir nicht zugehört? Sie braucht Ruhe, besonders vor dir.“ Ich atme durch und sehe meine Schwägerin durchdringend an. Schweiß rinnt mir von der Stirn und brennt mir in den Augen, trotzdem sehe ich nicht weg. Keuchend fordere ich: „Susen! Ich hab wahnsinnige Schmerzen! Ich habe einen Weg vom anderen Ende des Krankenhauses, bis hier her, hinter mir. Reiz mich nicht und geh zur Seite, bevor ich mich vergesse!“ Wir liefern uns ein stummes Gefecht, bis sie schließlich seufzt und die Arme verschränkt. „Fünf Minuten!“, gestattet sie mir und tritt bei Seite. „Jan, weiter!“, weiße ich den Polizisten an. Er schmunzelt und zuckt mit den Schultern. „Zwecklos, nicht wahr?“, richtet er sich an Susen und öffnet die Tür, er schiebt mich in den Raum dahinter. Die beiden Gorillas bleiben vor der Tür zurück und beziehen dort Stellung. Das Seufzen meiner Schwägerin verliert sich hinter uns, ihre Schritte entfernen sich. Ein Glück sind wir sie los. Vor uns öffnet sich ein langer Saal, rechts und links stehen überall Betten, die mit Vorhängen voneinander abgetrennt sind. Am anderen Ende, vor den einzigen beiden Fenstern im Raum, steht ein einfacher Holztisch mit vier Stühlen drum herum. Drei Frauen sitzen dort und unterhalten sich. Sie blicken nur kurz in unsere Richtung. Das Gesicht meiner Frau ist nicht unter ihnen. Ich schaue von einem Bett zum nächsten und kann sie zunächst in keinem finden. Erst mein Bruder gibt mir einen Anhaltspunkt. Er sitzt vor dem letzten Bett im Raum, an der linken Wand. Leise unterhält er sich und lächelt immer wieder sanft. Sie haben uns noch gar nicht bemerkt. Ich deute in ihre Richtung und Jan läuft los. Erst jetzt sieht Raphael zu uns. Seine entspannten Gesichtszüge verhärten sich, mahnend mustert er mich, ihm liegt schon ein Tadel auf den Lippen, während er sich vom Stuhl hoch drückt. „Sag nichts!“, komme ich ihm zuvor und schaue auf das Bett. Die Decke reicht meiner Frau bis zum Hals, ihre müden Mandelaugen werden von tiefen Augenringen eingerahmt, ihre sonst ebenen Gesichtszüge sind eingefallen, ihre Hautfarbe noch blasser als gewöhnlich. Die Haare kleben ihr strähnig im Gesicht. Als sie mich kommen sieht, stöhnt sie leise und rollt mit den Augen. Jan schiebt mich zu ihrer Rechten und setzt sich dann auf das Fensterbrett. Mit verschränkten Armen mustert er die Straße vor dem Krankenhaus. „Warum bist du hier? Hat Susen dir nicht gesagt, das ich meine Ruhe will?“, sagt sie mit schwacher Stimme. Also war das keine Notlüge von ihrer Schwester gewesen, um mich zurück ins Bett zu schicken? „Ich wollte dich sehen“, sage ich enttäuscht. „Raphael“, bittend sieht sie meinen Bruder an. Der nickt und erhebt sich. Verwirrt sehe ich ihm dabei zu, wie er das Bett umrundet und zu mir kommt. Seine Hände legt er um die Griffe des Rollstuhls und dreht mich von ihre Weg. Verstört blicke ich zu meiner Frau zurück, doch sie sieht nicht zu mir, sondern zu Jan. Ihre zitternde Hand greift den Ärmel seiner Dienstjacke. „Pass auf ihn auf, ja?“, sagt sie. Jan nickt. „Werd's versuchen!“ Er rutscht vom Fensterbrett und kommt uns mit langsamen Schritten nach. Als ich wieder zu meiner Frau sehe, hat sie die Decke bis zur Nasenspitze gezogen und die Augen geschlossen. Es geht ihr scheinbar wirklich nicht gut. Wenn ich nur etwas für sie tun könnte, doch ich schaffe es ja nicht mal, mich gegen meinen Bruder zu wehren, der mich immer weiter von ihr entfernt. Jetzt weiß ich wieder, warum ich Rollstühle so hasse. Egal wie finster ich meinen Bruder auch ansehe, er lässt sich nicht beirren und verlässt den Saal. Seufzend betrachte ich den langen Flur, der in den Trakt für die Männer zurück führt. „Warum will sie mich nicht sehen?“, frage ich meinen Bruder. Während er mir antwortet, folgen uns die beiden Bodyguards, wie ein übergroßer Schatten. „Du hast doch gesehen, wie schlecht es ihr geht. In dem Zustand muss sie sich doch nicht auch noch Sorgen, um einen Kindskopf, wie dich machen, oder?“ Irgendwie kann ich ihm diese Antwort nicht glauben, doch mir fehlt die Kraft, ihn noch mal zu fragen. Meinen Arm stütze ich auf die Lehne und bette meinen Kopf in die offene Handfläche. Ich habe kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache und betrachte gedankenverloren die Türen und Namensschilder, an denen wir vorbei kommen. Alles Frauennamen. „Soll ich dich auf die Säuglingsstation bringen?“, will mein Bruder freundlicher wissen. Das Balg sehen, wegen dem es meiner Frau so schlecht geht? Nein danke, für heute habe ich die Schnauze gestrichen voll. „Nein!“, sage ich nur. Er blickt verwundert auf mich herab. „Willst du nicht wissen, was es geworden ist?“ Ich schüttle mit dem Kopf. Bei meinem Glück sicher ein Junge, denn ich habe mir ein Mädchen gewünscht. „Ist mir egal!“, murre ich. Hoffentlich geht es Judy bald wieder besser. So schlecht sah sie nicht mal nach der Geburt der Zwillinge aus. „Wieso bist du jetzt so bockig?“, will mein Bruder wissen. Ich gebe ihm keine Antwort, ich habe keine Lust mehr zu reden. „Er hat sich wirklich gequält, bis hier her zu kommen. Warum will Judy ihn nicht sehen?“, entgegnet Jan für mich. Wenigstens einer, der für mich Partei ergreift. Mein Bruder seufzt resigniert, schließlich ringt er sich doch zu einer vernünftigen Antwort durch: „Sie denkt über eine Scheidung nach.“ Entsetzt blicke ich zu ihm auf. „Was?“, presse ich heraus. Ja, unsere Ehe ist nicht die Beste, wir streiten viel und ich bin noch nie treu gewesen, aber warum jetzt auf einmal? „Aaron ist tot, es würde euch keiner mehr in der Richtung Vorschriften machen“, fügt Raphael erklärend an. Na toll! Es stimmt zwar, dass wir nur seinetwegen geheiratet haben, weil er wegen Judys erster Schwangerschaft darauf gedrängt hat, aber wir sind jetzt schon ganze acht Jahre verheiratet. Ich habe mich daran gewöhnt. „Na toll“, seufze ich. „Hey, noch ist nichts entschieden. Sie denkt nur darüber nach.“ Als wenn das so viel besser wäre. Deswegen will sie also ihre Ruhe vor mir, es könnte ja sein, ich stimme sie noch mal um. Seufzend sehe ich wieder zu den Türen im Gang. Die Namen haben sich verändert. Es sind keine Frauen, sondern Männer, die dort liegen: Miller Hennry Conner John Brown Hannes Hilton George Dearing Ed Blair Jack Banette Simon Ich kenne keinen davon. An der nächsten Türen steht nur ein einziger Name: Antonio Bandel Mir stockt der Atem. Er ist hier! Ich greife nach der Hand meines Bruders und packe sie fest. „Halt an!“, fordere ich streng und mit bebender Stimme. Verwirrt stoppt er den Rollstuhl. Ich stemme mich mit beiden Armen auf die Lehnen und versuch mich hoch zu stemmen. Die Hände meines Bruders drücken mich an den Schultern zurück. „Bleib gefälligst sitzen!“, mahnt er, doch ich schlage seine Hände weg und versuche es erneut. Stöhnend quäle ich mich auf die Beine. Als er mich erneut aufhalten will, schlägt ihm Jan auf den Oberarm und deutet dann auf das Namensschild. Er hat längst begriffen, um was es mir geht. Mein Bruder seufzt ergeben und lässt mich gewähren, jedoch nicht ohne noch einen Tadel loszuwerden: „Zu ihm willst du, aber dein eigenes Kind willst du nicht sehen?“ Das hat er richtig erkannt. Seine Worte sind mir keine Antwort wert, ich habe zu viel damit zu tun, mein eigenes Gewicht zu tragen. Meine Beine zittern, doch ich zwinge sie zum gehorchen. Ich will da rein, ich muss einfach. Er lebt, hämmert es durch meinen Kopf. Aber wie geht es ihm? „Das wird ihn nicht viel milder stimmen“, murmelt Raphael hinter mir. „Das befürchte ich auch“, entgegnet Jan. Ich taumle die wenigen Schritte bis zur Tür und öffne sie. Noch einmal atme ich tief durch, dann schiebe ich sie auf. Das Zimmer dahinter ist klein, nur ein Bett findet dort Platz. Die Vorhänge sind zugezogen, das Auf und Ab eines Luftdruckgerätes ist zu hören. Einen Lichtschalter kann ich nicht sofort finden, also gehe ich die wenigen Schritte bis zum Fenster und ziehe die Vorhänge bei Seite. Helles Tageslicht flutet den Raum, erst jetzt kann ich das Bett in der Mitte richtig erkennen. Das vertraute Gesicht ist bleich, die schwarzen Haare stumpf. Er hat die Augen geschlossen, aus seinem Mund ragt ein Beatmungsgerät, gleich zwei Tropfe jagen ihren Inhalt in seine Blutbahn. Seine Armbeugen sind mit Blutergüssen übersät. Das sind sicher nicht die ersten Venenzugänge, die ihm gelegt wurden. Um seine linke Hand ist ein dicker Verband gewickelt. Er hat sich mit ihr am Fensterrahmen festgehalten, als er mich vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt hat. Eine der Scherben des zerbrochenen Glasdaches, hat sich durch seine Hand gebohrt. Das Bild sticht mir schmerzhaft durch den Kopf, ich versuche es zu verdrängen. Er rührt sich nicht, scheint nicht mal mitbekommen zu haben, dass ich sein Zimmer mit hellem Tageslicht geflutet habe. Mein Puls beginnt zu rasen, während ich seinen Zustand einzuschätzen versuche. Mit langsamen Schritten halte ich auf die Fußende seines Bettes zu und ziehe die Karteikarte aus dem Fach, das dort angebracht ist. Was er hat und wie es ihm geht, muss dort aufgeschrieben werden. Ich lese die ersten Zeilen, doch ich verstehe die Sprache der Ärzte und Schwestern nicht. Wenn doch nur Susen hier wäre. In diesem Moment betritt eine junge Frau den Raum, ihre blonden Locken, stehen ihr wie die Mähne eines Löwen vom Kopf ab. Sie trägt eine Vase mit Blumen in der Hand. Als sich unsere Blicke treffen, schaut sie finster. „Du! Das du dich überhaupt hier her wagst!“, keift sie in meine Richtung. Ihre Wut ist mir völlig egal. Anette, Tonis Freundin, kann mich schon lange nicht mehr leiden. Seit sie weiß, das was zwischen uns läuft, hasst sie mich. Aber das ist mir egal. Sie ist Krankenschwester, sie versteht dieses Zeug. Ich halte die Akte in ihre Richtung und weiße sie an: „Übersetze mir das!“ Ihr Blick wird noch verbissener. „Glaubst du ich brauche dass, um zu wissen, was mit meinem Freund los ist?“ Sicher nicht, da hat sie recht. Ich nehme die Akte runter und stecke sie zurück, doch meinen fragender Blick bleibt auf sie gerichtet. „Er liegt im Koma und das ist alles deine Schuld!“, mault sie. Koma? Ihre Worte treffen mich wie ein Dolchstoß. Das kann doch nicht sein. Er hat überlebt und jetzt das? Ich presse meine Hand enger um die Wunde über meiner Hüfte. Sie erscheint mir jetzt noch schmerzhafter. Warmes Blut läuft mir in die hohle Hand. Mit langsamen Schritten gehe ich um das Bett herum. Anette umrundet es auf der anderen Seite. Sie stellt die Vase auf dem Nachttisch zu etlichen Kinderzeichnungen. Sicher hat Kira sie gemalt, ihre gemeinsame Tochter. Papa, steht auch dort auf jeder Zeichnung. Ein wehmütiges Lächeln huscht mir über die Lippen, dann fällt mein Blick wieder auf ihn. Zitternd strecke ich meine Hand nach ihm aus und lege sie ihm um die fahle Wange. Er ist warm, nicht so kalt, wie ich ihn in Erinnerung habe und trotzdem. Ich weiß was Koma bedeutet, ich habe selbst zwei Jahre in diesem Zustand verbracht. Es war ein Wunder, dass ich nach dieser langen Zeit wieder aufgewacht bin. Was wenn es ein solches Wunder für ihn nicht gibt? Bei diesem Gedanken verlässt mich die Kraft in den Beinen. Ich sacke neben dem Bett auf die Knie. Heiße Tränen überkommen mich, ich kann und will nichts dagegen tun. Das ist nicht gerecht, dass er hier liegt und ich schon wieder laufen kann. Ich greife seine Hand mit beiden Händen und lege meine Stirn darauf. „Du Idiot! Das war nicht der Deal! Wenn ich überlebe, wolltest du das auch, aber doch nicht so!“, schimpfe ich laut in die Decke. Ich drücke seine Hand noch fester. Während sich meine Tränen zwischen seinen und meinen Fingern verteilen, wird mir schlecht, alles beginnt sich zu drehen. Ich atme ruckartig und viel zu schnell, mir ist wie ersticken. Warmes Blut läuft mein Bein hinab und sammelt sich auf dem Boden. Es wird immer dunkler um mich und alle Geräusche stumpfen ab. Ich merke nicht mehr, wie ich zur Seite kippe und auf den Boden falle. Alles verliert sich im Nichts. Kapitel 7: ~Der Welpe~ ---------------------- „Dann binden wir ihn eben fest, mir egal!“ Wer wird festgebunden? Ich verstehe nicht worum es geht und öffne meine viel zu schweren Augen. Ich liege wieder in dem Zimmer, in dem ich schon einmal aufgewacht bin. Die Sonne geht gerade auf, oder geht sie unter? Wie lange habe ich geschlafen? „Er brauch einfach nur eine Beschäftigung!“ Susen? Ob sie von mir spricht? Ich schaue zur Tür. Die Stimmen kommen von dort. „Ich halte das für keine gute Idee. Er wollt es nicht mal sehen!“ Was wollte ich nicht sehen? Worüber unterhält sich Raphael da mit seiner Frau? Die Tür wird geöffnet, ein viereckiger Kasten auf Rädern herein geschoben. „Ah wie schön, du bist wach! Das trifft sich gut!“, sagt Susen, die am anderen Ende des Kastens läuft und ihn zu mir schiebt. Als sie nah genug ist, damit ich hinein sehen kann, kommt ein Kinderbett zum Vorschein. Unter einigen Decken, gut verpackt, schauen mich zwei Knopfaugen verschlafen an. Irritiert betrachte ich Susen. Was soll ich mit dem Säugling? Das Kind gehört zu seiner Mutter! „Schau nicht so skeptisch!“, mahnt sie,“Judy brauch mal eine Verschnaufpause und du hast jetzt ganze drei Tage durchgeschlafen. Du bist also ausgeruht!“ Drei Tage? Ich schaue noch verwirrter. „Ich holen Amy und Rene von ihrem Privatlehrer ab. Eine Stunde wirst du es also mal mit deinem Kind aushalten müssen!“, fügt sie an und lässt das Kinderbett neben mir stehen. Ohne ein weiteres Wort lässt sie mich stehen und verlässt den Raum. Die Tür knallt nach ihr zu. Was für eine schwachsinnige Idee. Was wenn ich nicht wach gewesen wäre? Hätte sie das Kind dann unbeaufsichtigt hier gelassen? Wie kommt sie darauf ich könnte mich um das Kind kümmern? Ich kann mich ja kaum bewegen. „Ich halte das immer noch für keine gute Idee!“, höre ich Raphael sagen. „Deinen Bruder muss man einfach zu seinem Glück zwingen!“ Muss man nicht! Ich wollte dieses Kind doch gar nicht. Es war nur ein bedauerlicher Unfall. Judy wollte es unbedingt bekommen. „Susen!“, rufe ich nach meiner Schwägerin, doch meine Stimme ist so leise, dass sie mich unmöglich durch die geschlossene Tür hören kann. „Du bleibst … Schau … ab und zu … ihnen“, Susens Stimme wird so leise, dass ich nur noch Wortfetzen verstehen kann, dann verlieren sich ihre und auch die Schritte meines Bruders auf dem Gang. Seufzend betrachte ich die Tür. Was mache ich denn jetzt? Unweigerlich fällt mein Blick auf das Bettchen und die blauen Knopfaugen die mich noch immer anschauen. „Was guckst du denn so, du Wurm?“, murre ich das Kind an. Es schaut unbeeindruckt zurück. Die kleinen Finger spielen mit der viel zu dicken Decke, in die es eingewickelt ist. Mein Blick fällt auf ein Schild, das am Fußende des Bettchens angebracht ist: JUNGE Natürlich, was denn sonst. Noch so ein Rotzlöffel, wie Rene. „Wenn du auch so ungehorsam wirst, wie dein Bruder, setz ich dich aus“, sage ich in dem sicheren Wissen, das mich der Knirps noch nicht verstehen kann. Das Baby schaut stur zurück und lächelt schief. Das ist mein Blick, den hab ich erfunden! Hör auf so zu schauen! Wieder streift mein Blick das Schild. Normalerweise steht dort der Name des Kindes. Hat es etwa noch keinen? Auch wenn ich mein Zeitgefühl mal wieder verloren habe, so muss es doch längst älter als drei Tage sein. „Armes Ding. So hässlich bist du doch gar nicht, dass sich keiner einen Namen für dich einfallen lässt.“ Tatsächlich, hat dieses runde Gesicht und die stechend blauen Augen etwas süßes an sich. Dämliches Kindchenschema! Mir ist als wenn ich in einen Spiegel schauen würde. Bis auf die schwarzen Haare, die er eindeutig von seiner Mutter hat, sieht er aus wie ich in einer Miniaturausgabe. Diese Kind kann ich nicht mal leugnen, selbst wenn ich es wollte. Seufzend drücke ich mich im Bett nach oben, die Wunde in meinem Unterleib zieht und spannt, doch es ist nicht mehr so schlimm, wie noch vor drei Tagen, dafür habe ich nicht mal die Kraft zu sitzen. Immer wieder falle ich ins Kissen zurück. Der Knirps im Kinderbett strahlt breit, wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich denken, er hat Spaß an meinem jämmerlichen Anblick. „Hör auf so blöd zu grinsen, du namenloser Zwerg!“ Seufzend gebe ich schließlich auf. Ich kann nichts anderes tun, als weiter in das Bett zu schauen und meinem Sohn in die Augen. „Du siehst aus wie ich, das ist gruselig“, lasse ich ihn wissen. Das Kind lacht, wieso kann es schon lachen? Und warum sieht es dabei auch noch so süß aus? „Glaub ja nicht, dass du auch noch meinen Namen bekommst“, murmle ich. Auf die Idee ist Judy gekommen, ein Glück hat sie das nicht in die Tat umgesetzt. „Du brauchst einen besseren, einen kraftvollen, starken Namen“, höre ich mich selbst sagen. Obwohl er zu früh dran ist, liegt er nicht mal in einem Brutkasten. Wenn er nicht so klein wäre, würde man gar nicht merken, dass er eine Frühgeburt ist. Der Knirps kommt wohl nicht nur vom Aussehen her nach mir. Irgendwie macht mich das stolz. Was macht diese Kind nur mit mir? Wieso grüble ich schon die ganze Zeit über ihn und einen Namen nach? Ein starker Name, ein starker Mensch, den man respektiert, den ich respektiert habe. „Aaron“, kommt mir über die Lippen. Der einzige Mann vor dem ich wirklich Respekt hatte. Ja, warum eigentlich nicht! Soll der Knirps doch heißen wie sein Großvater, sicher wird das auch Judy gefallen. Schade das ich nicht aufstehen und ihr diesen Vorschlag unterbreiten kann. Wie es ihr wohl gerade geht? Ob sie schon eine Entscheidung wegen der Scheidung gefällt hat? Wird sie die Kinder mitnehmen, wenn sie geht? Ich ziehe den Wagen näher zu mir und lege meine Hand auf die Decke, ganz nah zu seinen. Er greift nach meinem Zeigefinger und nuckelt daran herum. Ob er wohl Hunger hat? Nein, dann wäre er sicher nicht so ruhig und friedlich. Auch in mir wird alles ruhig, je länger ich ihn anschaue. Wie macht er das nur? Ich kann nichts dagegen tun, mich mit jeder Minute mehr in dieses Kind zu verlieben. Die Klinke bewegt sich, die Tür wird aufgeschoben. Ich bekomme es nur am Rande mit. Mein Blick ist gefangen von diesen strahlenden Kinderaugen und dem süßen Lächeln, während ihm die Sabber über die Wangen läuft. „Ich sollte wohl öfter auf meine Frau hören. Damit dir das Kind aufs Augen zu drücken, scheint sie wohl recht gehabt zu haben!“ Ich kann nichts dagegen tun, ich bekomme das Lächeln nicht vom Gesicht. „Sieht so aus“, entgegne ich. Raphael nimmt sich einen Stuhl und setzt sich damit zu mir und dem Baby. „Wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?“, will er von mir wissen. Darüber habe ich noch gar nicht nach gedacht. Ich brauche einen Moment meinen Zustand einzuschätzen, bevor ich ihm antworten kann: „Es lässt sich aushalten. Ich hab nur keine Kraft!“ „Du hast auch sehr lange geschlafen.“ Ich nicke. Wahrscheinlich liegt es wirklich daran, dass ich so lange nicht aufgestanden bin und auch nichts festes zu mir genommen habe. „Wie geht es Judy?“, will ich wissen. „Sie erholt sich langsam!“ Das sind doch mal gute Neuigkeiten. „Hat sie schon eine Entscheidung getroffen?“ „Ich glaube nicht!“ Ist das jetzt gut oder schlecht für mich? „Willst du denn die Scheidung?“ Auf seine Frage bin ich nicht gefasst. Auch darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. So lange Aaron am Leben war, ist Scheidung keine Option gewesen. „Ich weiß nicht!“, gebe ich offen zu und schließe für einen Moment die Augen. Warum kommt auch immer alles schlechte auf einmal? Ich fühle mich gar nicht in der Lage, eine so wichtige Entscheidungen zu treffen. „Wie steht es um Toni?“ Versuche ich das Thema zu wechseln. „Unverändert!“ Ich seufze und lege meinen Arm über die schweren Augen. Bis auf das Kind, liegt meine Welt in Trümmern und wenn ich Pech habe, verschwindet es mit Judy auch bald aus meinem Leben. „Warum hat das Kind noch keinen Namen?“, will ich wissen ohne die Augen zu öffnen. „Ihr hattet euch noch nicht auf einen geeinigt, also hat Judy die Entscheidung aufgeschoben.“ Stimmt, bisher haben wir nur Mädchennamen diskutiert, wir wollten beide keinen Jungen. Schritte auf dem Gang, sie kommen zügig näher, die Tür wird geöffnet. Ich nehme den Arm von den Augen und sehe den jungen Mann an, der eintritt. Seine Augen werden von einer Sonnenbrille geschützt, die er abnimmt, als er näher kommt. Sein blaugrauen Augen strahlen eine Fröhlichkeit aus, die von seinem breiten Lächeln noch verstärkt wird. „Diego!“, freue ich mich ihn zu sehen. „Enrico du zäher Knochen! Ich hab dir was mitgebracht!“, berichtet er und präsentiert eine braune Papiertüte. Der Form nach zu urteilen, befindet sich eine Flasche darin. Tatsächlich zieht er eine braune Wiskyflasche heraus. „Der beste Scotch den ich in meinem Lager finden konnte.“ Wenigstens einer der weiß, dass ich keine Blumen mag und etwas mitbringt, was mir wirklich gefällt. Mein Lächeln wird noch breiter, während mein Bruder mit den Augen rollt. „Endlich mal ein Besucher mit Sinn und Verstand. Du hast nicht zufällig noch ein paar Gläser und Eiswürfel dabei?“ „Du hast seit drei Tagen nichts richtiges gegessen, bist du verrückt da ans Saufen zu denken? Und du! Wer kommt schon auf die Idee Alkohol ins Krankenhaus mitzubringen!“, mault mein Bruder. Diego und ich werfen ihm den selben genervten Blick zu. Raphael versteht auch gar keinen Spaß. Nur weil er nichts trinkt, müssen wir es mit dem Alkohol doch nicht genau so halten. „Krieg dich wieder ein, so teuren Scotch kippt man nicht einfach hinter, den muss man genießen!“, erklärt Diego und stellt tatsächlich zwei Gläser zu mir auf den Nachtisch. Dann rückt er sich einen Stuhl ans Bett und öffnet die mitgebrachte Flasche. Mit einem vorfreudigen Lächeln, sehe ich ihm dabei zu, wie er die Gläser füllt. „Ihr beide habt doch gelitten!“, mault mein Bruder wieder, doch weder Diego noch ich nehmen seinen Einwand ernst. Als beide Gläser bis zur Hälfte gefüllt sind, reicht er mir eines davon und nimmt sich das andere. „Haben wir irgendwas zu feiern?“, will ich von ihm wissen und betrachte die braune Flüssigkeit. „Nein, aber ich dachte, ich kann nicht nur schlechte Nachrichten mitbringen!“ Oh ha, das klingt nicht gut. „Warte, lass mich erst trinken!“, bitte ich ihn. Bevor ich mir das anhöre, kann ein Drink nicht schaden. Wenn sich einer meiner Clanchefs persönlich auf den Weg zu mir macht und Scotch mitbringt, um mich zu besänftigen, dann muss Leib und Leben auf dem Spiel stehen. Es kann nicht schaden, wenn ich den ersten Schock angetrunken überstehen kann. Die Hälfte des Glases kippe ich auf Ex hinter und muss einige male tief durchatmen, während sich das Getränk meine Kehle hinab brennt. Als ich wieder zu Diego sehe, schaut der mich auffordernd an und deutet mit einem Schwenk seines Kopfes auf meinen Bruder. Was er zu berichten hat, muss der nicht mitbekommen. Raphael versteht ohne meine Aufforderung, dass er gehen soll und erhebt sich. „Ich will es gar nicht wissen!“, sagt er nur. Ich nicke, je weniger er weiß, um so besser für ihn. „Den Kurzen nehme ich besser mit!“, entscheidet er. „Nein warte!“, sage ich schnell und sehe von dem Kinderbett zu Diego. „Kannst du mir mal deinen Füller leihen?“ Als Geschäftsmann, der etwas auf sich hält, hat Diego immer einen Stift für Unterschriften in seinem Sakko. Er zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe und kramt aus der Innentasche einen goldenen Füllfederhalter heraus, den er mir reicht. Ich nehme ihn dankend entgegen und ziehe das Kinderbett zu mir. Den Aufdruck JUNGE streiche ich durch und schreibe daneben: Aaron. Mein Sohn ist lange genug namenlos gewesen. Zufrieden betrachte ich mein Werk und reiche Diego den Stift zurück. „Jetzt kannst du ihn mitnehmen!“ „Aaron?“, liest Raphael vor. Ich nicke bestimmt. So soll er von nun an heißen! Kapitel 8: ~Schlechte Nachrichten~ ---------------------------------- Als Raphael die Tür nach sich schließt, wird es bedrückend still. Die Fröhlichkeit ist aus Diegos Gesichtszügen verschwunden, ernst blickt er auf das Glas in seinen Händen. Das schlechte Gefühl in meinem Magen wird schlimmer. Nach allem, was passiert ist, muss im Clan das Chaos toben und ich liege hier untätig im Bett. „Was glaubst du, wie lange du noch hier bleiben musst?“, will Diego kleinlaut wissen. Das klingt bald so, als wenn jeder Tag schon einer zu viel wäre. Ich weiß keine Antwort darauf. Bisher habe ich noch keinen Arzt zu Gesicht bekommen, der mich über meinen Zustand aufgeklärt hat. Schon das Sitzen ist mir zu viel, aber ich ahne bereits, dass uns die Zeit davon läuft. „Wie viel Zeit kannst du mir denn noch verschaffen?“ Diego schweigt und nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas. Erschwert atmet er durch und wagt es nur flüchtig mich anzusehen. „Wenn es nach mir ginge, würde ich dich sofort mitnehmen.“ So schlimm? „Wir haben Glück, dass sich die Drachen momentan noch selbst zerfleischen, auf der Suche nach einem neuen Paten, aber bei uns sieht es nicht viel besser aus. Es gibt jetzt schon zwei Lager, eines für und eines gegen dich.“ Na toll, als wenn es nicht reichen würde, dass mir die Drachen nach dem Leben trachten. Ich wende meinen Blick ab und betrachte einen Moment gedankenverloren meine Bettdecke. Es ist Donnerstag, wenn ich am Wochenende ein Clantreffen einberufe, habe ich noch zwei Tage, um anständig zu Essen und wieder zu Kräften zu kommen. Trotzdem werde ich Susen, um ein heftiges Schmerzmittel bitten müssen, damit ich überhaupt aufstehen kann. Aber es hilft alles nichts. Ich muss vor den Drachen wieder auf die Beine kommen, sonst war alles umsonst. Mein Entschluss steht fest, wenigstens nach außen hin, muss ich den Schein waren und dem Feind demonstrieren, dass ich wieder fit bin. „Berufe für Sonntag ein Clantreffen ein und hole mich Samstag ab. Erzähle niemanden, dass du mich holst und komme allein.“ „Bist du dir sicher? Du siehst nicht so aus, als wenn du so schnell, wieder auf die Beine kommst!“ Ich fühle mich auch nicht so. Obwohl ich nur sitze, spannt die Narben über meiner Hüfte und sticht entsetzlich. Schweiß rinnt mir von der Stirn und den Rücken hinab, so intensiv ist der Schmerz. Wie ich bis Samstag aufstehen soll, ist mir selbst ein Rätsel, aber das Überleben meines Clans und meiner Familie hängt jetzt davon ab, dass ich Stärke demonstriere. „Ich mach das schon!“, versichere ich Diego und füge an, „Bringe mich lieber auf den neusten Stand!“ Er betrachtet mich einen Moment zweifelnd, doch als ich ihn weiter auffordernd ansehe, beginnt er zu erzählen: „Der Club ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Ein Wiederaufbau lohnt sich nicht.“ Ich atme tief durch. Dann steht meine Fabrik also nicht mehr? Der Club lief gerade mal seit einem Monat gewinnbringend und nun ist alles dahin, schon wieder. Reicht es denn nicht, dass er vor fünf Jahren abgebrannt ist? „Zahlt denn wenigstens die Versicherung?“, will ich wissen. Diego sieht mich überrascht an. „Der Club war versichert?“ „Ja sicher! Er ist schon einmal abgebrannt, dieses mal haben Aaron und ich vorgesorgt!“ Die Gesichtszüge meines Bandenchefs hellen sich auf. „Na wenigstens ein Problem weniger.“ „Wo sind die Wölfe unter gekommen, die in der Fabrik gewohnt haben?“, will ich wissen. Die meisten Mitglieder meiner alten Gang, habe ich von der Straße aufgesammelt. Die abgebrannte Fabrik ist für viele nicht nur ihr Arbeitsplatz sondern auch ihr zu Hause gewesen. Diego überlegt einen Moment und trinkt einen weiteren Schluck. Als er zu sprechen beginnt, wandert sein Blick auf den Boden: „Die, die Verwandte und Beziehungen haben, sind bei Freunden untergekommen, aber ein Großteil sitzt wieder auf der Straße.“ Das habe ich erwartet. Sie haben vorher nichts gehabt und nun auch keinen Job mehr. „Nimm dir Geld von Aarons Konto und bring sie in Hotels unter. Ich brauch sie jetzt als Geschäftsmänner, nicht als Säufer und Obdachlose. Sie sollen wissen dass ich mich um meine Leute kümmere.“ Vielleicht wird das die Gemüter etwas beruhigen. Diego nickt, sieht aber noch immer nicht auf. Irgendetwas anderes muss ihn beschäftigen. „Das schlimmste hast du dir für den Schluss aufgehoben, oder?“ Ein flüchtiges Lächeln huscht ihm über die Lippen. Er füllt sich sein Glas und trinkt es leer, dann erst kann er sich zu einer Antwort durchringen: „Ich bin mir nicht hundert Prozent sicher, aber ...“ „Jetzt spucks schon aus!“, entgegne ich ungehalten. Er zögert doch sonst nicht so mit Informationen. Diego seufzt. „Ich glaube ich habe Giovanni gesehen.“ Mir bleibt die Luft weg, ungläubig betrachte ich ihn. Giovanni gehörte einmal zur Führungsspitze unseres Syndikats, bis Aaron ihn nach Italien geschickt hat. Er sollte dort die Cosa Nostra übernehmen. Wieso ist er wieder zurück? Den kann ich hier nicht gebrauchen. „Bist du dir sicher?“ „Nein, aber glaubst du der bleibt in Italien, wenn er von Aarons Ableben hört?“ Sicher nicht. Noch zu Aarons Lebzeiten war er scharf auf den Posten des Paten. Doch Aaron wollte mich als Nachfolger. Mehr als einmal hat Giovanni deswegen versucht mich aus dem Weg zu räumen. Ob er jemals dorthin abgereist ist? Was, wenn alles, was bisher geschehen ist, auf seinem Mist gewachsen ist? Eine dunkel Ahnung nimmt in mir Gestalt an. Aarons Tot, die Zerstörung des Clubs, die Spaltung meiner Leute, was wenn er dort die Fäden gezogen hat. Er agiert schon immer im Hintergrund, nie habe ich ihm etwas nachweisen können. Ich muss hier raus, so schnell wie möglich. „Jester ist heute entlassen worden, er lässt dir ausrichten, dass du so schnell wie möglich ins Anwesen zurückkehren sollst.“, unterbricht Diego meine Gedanken. Dann geht es dem alten Mann wieder besser. Bisher habe ich noch keinen Gedanken an ihn verschwendet, dabei läuft in meinem Haus, ohne den Butler, gar nichts. „Hat er dir gesagt, was es so wichtiges gibt?“ Eigentlich ist Jester immer ruhig und stellt keine Forderungen. Wenn er will das ich ins Anwesen komme, dann sicher nicht ohne Grund. „Nein, aber es klang wichtig. Du kennst doch Aaron, der hat sicher auch für den Fall seines Todes vorgesorgt.“ Wollen wir es hoffen. Einen Notfallplan des alten Paten, kann ich jetzt wirklich gut brauchen. „Planänderung. Du holst mich morgen gegen vier hier ab. Park hinter dem Krankenhaus, wir verschwinden durch den Seiteneingang. Wenn Giovanni wirklich im Land ist, muss ich ihm einen Schritt voraus sein. Ihm traue ich jederzeit ein weiteres Attentat auf mein Leben zu.“ Diego nickt, er holt Luft, um etwas zu sagen, doch ich bin noch nicht fertig. „Sprich mit Jan und nimm ihn mit zum Anwesen. Sorgt bis morgen für die Sicherheit im Anwesen und passt auf Jester und meine Familie auf. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache.“ „Und was ist mit dir?“ Besorgt legt Diego die Stirn in Falten. „Ich habe noch meine beiden Gorillaleibwächter. Aaron wird schon einen Grund dafür gehabt haben, dass er die beiden für meine Sicherheit eingestellt hat. Bis morgen werden die ihren Job schon machen.“ „Enrico!“ „Was denn?“ Diegos Blick wird eindringlicher. „Schaffst du es wirklich bis morgen Nachmittag auf die Beine zu kommen?“ „Was habe ich denn für eine Wahl?“ Diego seufzt und erhebt sich. Sein Glas stellt er auf meinem Nachttisch. Er kennt seine Aufgaben und will sich offensichtlich sofort ans Werk machen, doch als er geht, rufe ich ihn noch einmal zurück: „Diego, wenn du auf deinem Weg meinen Bruder oder Susen triffst, schick sie zu mir“, bitte ich ihn. Ein verstehendes Lächeln ziert seine Mundwinkel. „Du willst dich wohl zudröhnen lassen, was?“ „Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.“ „Übertreib es damit nicht. Wir brauchen jetzt deinen wachen Verstand!“ Ich nicke lediglich und lege mich wieder hin. Das Sitzen ist mir zu anstrengend. Das kann was werden, wenn ich morgen aufstehen und herumlaufen muss. Wenigstens bis zum Automobil und von ihm bis ins Anwesen, werde ich schaffen müssen. Beim Clantreffen am Wochenende, kann ich mich ja in einen der Sessel setzen. Die Tür meines Zimmers öffnet und schließt sich. Das Diego geht, realisiere ich nur beiläufig. Von den paar Minuten des Sitzen und Redens bin ich schon erschöpft. Hoffentlich kennt Susen ein Mittel, das mich die nächsten Tage überstehen lässt. Meinen Blick richte ich aus dem Fenster und sehe auf die befahrene Hauptstraße. Ist Giovanni wirklich zurück? Auch wenn Aaron dagegen war, ich hätte den Kerl umlegen sollen, als ich es noch konnte. Mit ihm und den Drachen im Nacken, bin ich so gut wie tot. Wäre doch nur mein Schwiegervater noch am Leben. Der Clan braucht jetzt jemand starkes, wie ihn. Wie soll ich meinen Leuten in dem Zustand denn vorspielen, alles im Griff zu haben? Seufzend lege ich meinen Arm auf die Stirn. Wenn ich den Clan nicht schnell unter Kontrolle bringe und den Drachen und Giovanni die Stirn biete, sind bald auch noch die letzten Menschen tot, die mir etwas bedeuten: Judy und die Kinder, mein Bruder und seine Frau, Toni. Hier im Krankenhaus, ist Antonio noch das leichteste Ziel. Er muss auch so schnell wie möglich hier weg. Ob Susen ihn wohl bei sich in der Praxis unterbringen kann, oder noch besser, in der Villa, bei mir? Ich müsste ihr sicher nur die Geräte beschaffen. Auch Judy und unser jüngster Sohn, sollten nicht länger im Krankenhaus bleiben. Zu Hause brauchen wir neue Wachhunde und Wachpersonal kann auch nicht schaden. Die Villa sollte ich zu einem Hochsicherheitsbereich umfunktionieren, aber ob das reicht? Was hätte Aaron jetzt an meiner Stelle getan? Ich seufze schwer und schließe die Augen. Wenn wenigstens Toni wach wäre. Ihm würde sicher etwas hilfreiches einfallen und selbst wenn nicht, würde ich mich in seiner Gegenwart wohler fühlen. Sicher würde er irgend einen Witz auf meine Kosten machen und dabei fies grinsen. Sein aufmunterndes Lächeln fehlt mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)