Urlaubsreif^3 von flower_in_sunlight (Die Zwei machen mich fertig!) ================================================================================ Kapitel 17: Dienstag 2.8. Version 2 ----------------------------------- Vor sich hindösend spürte er wie die Matratze nachgab. Vorsichtig drehte er sich um und umschloss die Wärme neben ihm mit seinen Armen. Zur Bestätigung sog er den Geruch der Person ein und atmete zufrieden wieder aus. Glücklich schlief er ein. Neben ihm bewegte sich etwas. Seto konnte nicht genau sagen, ob ihn die Bewegung geweckt hatte oder er sie dadurch bemerkte, dass er gerade aufgewacht war. Aber das war im Moment nicht wichtig. Wichtig war nur, dass es Joe war, der sich da bewegte und anscheinend gehofft hatte heimlich aufzustehen. „Wohin willst du?“, grummelte Seto, während er doch tatsächlich die Frechheit besaß sich aufzurichten. „Arbeiten.“ „Arbeiten? Draußen ist es noch dunkel und ich hatte immer gedacht, du seist ein Morgenmuffel! Lass dir was Besseres einfallen.“ „Was Besseres also?“ Trotz des trüben Lichts war das herausfordernde Lächeln erkennbar. Innerlich fluchte Seto. Hauptsache seine unteren Regionen waren wach, Verstand wurde ja total überbewertet! „Ja, bitte!“, machte er keinen Hehl aus seiner schlechten Laune. „Nun gut. Dann spitz mal deine süßen Lauscher! Ich habe momentan Hauptsaison in meinem Hotel. Doch anstatt mich um die Gäste und den allgemeinen Ablauf zu kümmern, hat ein einzelner Gast mehrere Tage hintereinander eine Rundumspezialbehandlung erhalten. Die Kurzfassung lautet also: Wenn du mich während deines Aufenthaltes irgendwann noch einmal zu Gesicht bekommen möchtest, muss ich jetzt anfangen zu arbeiten, denn sonst hat sich ein Berg angehäuft, den ich bis Oktober nicht wieder abgearbeitet habe.“ Setos Protest wurde einfach in einem langen Abschiedskuss erstickt. „Ich schick dir Yuki mit dem Frühstück vorbei. Danach kannst du mich, wenn du magst, besuchen kommen.“ Und weg war er. Seto wusste nicht recht, was er von der ganzen Aktion halten sollte. Natürlich, er selbst war auch ein Workaholic, aber dass sein Hündchen Arbeit anziehender fand als ihn in seiner morgendlichen Pracht? Unverschämtheit! Der konnte sich auf was gefasst machen! Aber erstmal... Das Bett war wirklich gemütlich. Das Gähnen ließ sich einfach nicht unterdrücken. Als er sich irgendwann aus den zwei Bettdecken pulte, in die er sich im Schlaf gewickelt hatte, war es draußen bereits hell. Der Tag war diesig und im Stehen konnte er die Sonne nicht mehr erkennen. Er mutierte wirklich allmählich zum Langschläfer. Aber wofür gab es denn sonst den wunderbaren, braunen Treibstoff für seinen Motor? Statt auf die Uhr zu sehen, setzte Seto Kaffee auf und ging ins Bad. Er duschte kurz und zog sich frische Sachen an. Anschließend widmete er sich der grauen Transportkiste, die dezent auf der Schwelle zum Flur stand. Yuki schien bereits da gewesen zu sein. Es gab Grießbrei und Obst. Zusammen mit dem Kaffee stellte er sich alles auf den Esstisch. Genüsslich aß er alles auf und trank in Ruhe seinen Kaffee. Im Anschluss spülte er ab und verstaute die Behälter in der Transportkiste. Kurz überlegte er sich noch einmal, ob er seine Zeit nicht sinnvoller nutzen konnte, als den ganzen Tag bei Joe im Büro herumzusitzen. Aber insgeheim interessierte es ihn schon ein bisschen wie sein Hündchen normalerweise den Tag verbrachte. Besiegt von seiner eigenen Neugier zog er sich die Schuhe an und machte sich, die Transportkiste unter den Arm geklemmt, auf in Richtung Hauptgebäude. Durch die gewohnte Tür betrat er es und sah sich dann etwas verloren um. Joe hätte ihm wirklich verraten können, wo sein Büro lag! Doch dann bemerkte ihn Martine, die gerade aus dem Flur kam. „Guten Morgen, Mister Kaiba! Soll ich die Kiste mit zu Shin nehmen?“ Sie durchquerte in einem seltsamen, langärmligen Overall den Raum und hielt ihm auffordernd die Hände entgegen. „Ja, bitte“, nahm Seto ihr Angebot an und blickte sich weiter verwirrt um. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ „Joes Büro?“, antwortete er, wobei so viel Unsicherheit in seiner Stimme mitschwang, dass es sich wie eine Frage anhörte. „Er muss heute arbeiten und hat gemeint, ich könne vorbeischauen.“ Seine Erklärung klang lahm. Außerdem. Seit wann rechtfertigte er sich? Doch Martine nickte bloß und deutete dann auf einen Flur, der zu Setos Linker vom Raum abging. „Einfach durchlaufen und dann klopfen. Dann viel Spaß heute.“ „Danke. Ihnen auch“, erwiderte er gestelzt „Den werde ich haben. Haus 5 bekommt einen neuen Anstrich. Also...“ Sie hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt und war mit dem letzten Wort rückwärts durch die Tür zur Küche verschwunden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihrer simplen Wegbeschreibung zu folgen. Vor der Tür selbst wartete er und klopfte zögerlich. Lange musste er nicht warten. Den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt öffnete ihm Joe und deutete stumm auf einen bequemen Sessel im hinteren Teil des Büros. Seto nahm Platz und sah sich anschließend in Ruhe um. Es war bis auf eine kleine Lampe am großen Schreibtisch in der Ecke und den verschiedenen Monitoren dunkel. Die Jalousien waren heruntergelassen. Auch die eher karge Einrichtung war in dunklen Farbtönen gehalten, da half auch die weiße Wandfarbe nicht mehr. Das war kein Büro, sondern eine Arbeitshöhle! Würde er es wagen, seinen Angestellten solche Arbeitsbedingungen zuzumuten, würde keine Stunde später irgendein nerviger Vertreter der entsprechenden Gewerkschaft bei ihm vor der Tür stehen und sich lauthals über diese unmenschlichen Zustände beschweren. Aber Joe tat sich das hier wohl freiwillig an. „Soll ich das Deckenlicht anmachen, damit du alles etwas besser sehen kannst?“ In Gedanken vertieft hatte Seto nicht gemerkt, dass das Telefonat beendet war. „Nein, geht schon. Ich weiß zwar nicht, wie du es hier drin aushältst, aber so lange es dir gefällt...“ „Tut es. Es hilft dabei mich zu fokussieren. Sonst sehne ich mich noch die Hälfte meiner Arbeitszeit nach der schönen Welt da draußen.“ „Und wonach sehnst du dich stattdessen?“, rutschte es Seto heraus. Natürlich saß er mit dem Rücken von der großen Fensterfront in seinem Büro abgewandt, was jedoch nicht hieß, dass er nicht ab und zu mal nach draußen blickte. „Unter anderem danach, dass ich einen Tag lang von einem gutaussehenden Mann angeschmachtet werde, der es sich auf meinem Lesesessel gemütlich gemacht hat“, setzte sich Joe auf Setos Beine und küsste ihn sanft. „Nur leider wollen ausgerechnet heute eine Menge Leute etwas von mir und ich kann diesen Zustand nicht in vollem Umfang genießen.“ „Macht nichts. Gibt es zu deinem Lesesessel auch eine Leselampe? Dann bleibe ich vielleicht sogar freiwillig hier, während du brav telefonierst und die anderen Dinge machst, die du so machst.“ Tatsächlich hatte er nicht einen blassen Schimmer, was Joe eigentlich alles zu machen hatte, damit das Hotel lief. Aber vielleicht würde er es erfahren, wenn er tatsächlich hier eine Weile saß. Seine sonstigen Ideen für den Tag waren zumindest nicht spannender gewesen. „Buchungen überprüfen, Belegungen optimieren, unsere Vorräte kontrollieren und auffüllen lassen, für die Sicherheit sorgen und eine ganze Reihe anderer Sachen“, wurde mit einem Augenrollen ergänzt, da das Telefon bereits wieder klingelte. Bevor er aufstand, schaltete Joe die Leselampe ein und küsste Seto kurz. Mit wenigen Schritten war er am Telefon und sprach in das Gerät: „Guten Tag. Hotel mit Meerblick. Chef am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Professionell, sachlich, aber in keinster Weise unfreundlich, stellte Seto fest. Erstaunlich. Ebenso wie das akute Fehlen eines Buches auf dem kleinen Tischchen mit der Leselampe. Da er den Hotelmanager trotz seiner Neugier nicht den ganzen Tag stur anschauen wollte, musste er sich nun ebenfalls erheben. „Ich geh mir ein Buch holen“, flüsterte er Joe ins freie Ohr, während dieser über bereits volle Häuser im September diskutierte. So viel zu 'nicht unfreundlich'. Das Zimmer hinter der Haustür war leer. Nur aus der Küche drangen ein paar Geräusche, die ihn nicht weiter interessierten. Von Martine war nichts zu sehen. Erleichtert durchquerte er den Raum zum Bücherregal und besah sich die Auswahl. Die Werke waren grob nach Genre gegliedert und dann in sich nach Autor und Titel sortiert worden. Er hatte zwar keinen Verdacht wer, aber irgendwer schien sich eine Menge Mühe damit zu machen. Bücher, die viel versprechend aussahen, zog er ein klein wenig nach vorne, um die Ordnung selbst nicht zu zerstören. Mittlerweile schwankte er nur noch zwischen „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ und „Die Stadt der träumenden Bücher“, wobei hier der kleine Lindwurm auf dem Einband das ausschlaggebende Detail gewesen war. „Wenn Sie sich nicht entscheiden können, kann ich Ihnen auch bei der Wahl behilflich sein“, erklang es vom Durchgang zur Treppe. Erschrocken fuhr Seto herum und erblickte Pegasus, der ihn schon eine Weile zu beobachten schien. Auch wartete er seine Antwort nicht ab, sondern drückte ihm einfach ein großes, in Leder gebundenes Buch ohne Beschriftung in die Hand. „An Ihrer Stelle würde ich es hiermit versuchen.“ Setos Augenbraue rutschte nach oben. Was sollte er … Aus reiner Höflichkeit und in der Hoffnung seinen ungebetenen Beobachter schnellst möglich wieder los zu werden, schlug er die erste Seite auf. Nun wanderte auch die andere Augenbraue nach oben. „Wie kommen Sie darauf, dass ich so etwas lesen sollte?“, fragte er verwirrt. Pegasus unterdrückte deutlich ein Lächeln, als er erwiderte: „Es ersetzt zwar nicht die Jahre, die Sie verpasst haben, aber es ist zumindest ein Anfang. Möchten Sie mich außerdem auf einen kleinen Spaziergang begleiten? Dann kann ich ein paar weitere Ihrer Fragen beantworten.“ „Meinetwegen. Aber wieso müssen wir dazu...“ Pegasus legte den Finger an die Lippen und deutete mit der anderen Hand nach links und nach rechts. Zu viele Mithörer. Also folgte Seto ihm nach draußen. Als das Hauptgebäude hinter den ersten Baumreihen verschwunden war, traute er sich die erste Frage zu stellen: „Was wollen Sie mir erzählen, das die anderen nicht hören sollen?“ Doch Pegasus schwieg für eine weitere Minute. Dann erst antwortete er: „Es gibt Dinge, die das Team und meinen Sohn zu sehr beunruhigen würden, wenn sie es wüssten. Außerdem ist das Ganze schon ein paar Jahre her und ich möchte sie nicht unnötig in Panik versetzen. Daher... Ich habe gehört, Sie sind etwas überfordert mit der Art von Beziehung, die ich zu Joseph habe?“ Seto nickte nur. So konnte man es auch ausdrücken. „Ich muss zugeben, die Geschichte ist wirklich etwas komplizierter. In der Zeit von Martines Schwangerschaft ging es mir nicht sonderlich gut, gesundheitlich betrachtet. Meine Eltern sind früh gestorben, meine Frau sogar deutlich jünger. Selbstverständlich hatte mir meine Schwester gezeigt, dass sie sehr wohl eigenständig war und auch ohne mich zu Recht kommen konnte, doch die Sorge des großen Bruders blieb natürlich. Was würde passieren, wenn es nicht gut für mich ausging? Wer würde sich um sie kümmern? Für sie da sein? Sie wieder aufbauen an den Tagen, an denen es ihr schlecht ging? Wie sollte ich ihr Wohl und das Wohl ihrer Kinder absichern? Ich brauchte jemand Zuverlässigen, der diese Aufgaben gewissenhaft für mich übernehmen würde.“ „Was war mit Matt? Joe sagte, er sei ein langjähriger Freund der Familie“, unterbrach Seto, in Gedanken bei Roland. „Wir hatten wenig Kontakt gehabt in den Jahren davor. Er hatte seine eigenen Probleme zu meistern. Zudem hatte er bereits in unserer Kindheit deutlich gemacht, dass er mit der Firma nichts zu tun haben wollte.“ Er musste sehr verdutzt drein gesehen haben, denn Pegasus fasste nach: „Industrial Illusions ist im Kern die alte Firma meiner Mutter. Martine und ich sind die vierte Generation an Eigentümern und gleichzeitig Geschäftsführern. Wo waren wir? Ach, genau. Die Suche nach meinem 'Sekundant'. Es war reiner Zufall, dass ich in New York über Joseph stolperte. Er unterschied sich bereits damals schon stark von dem Jungen, der einst für seine Schwester beim Königreich der Duellanten teilgenommen hatte. Äußerlich zumindest. Sein Charakter hatte sich nur darin geändert, dass er noch genauer wusste, was er wollte, ohne dabei seine Prinzipien zu verraten. Familie und Freundschaft waren für ihn nach wie vor das wichtigste auf der Welt, auch wollte er nicht, dass andere Menschen seinetwegen leiden. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich damals beeindruckt hat, dass er das Geld für die OP von Serenity wollte und nicht für sich selbst. Bald war er wie ein kleiner Bruder für uns, von dem wir zwar nie etwas gewusst hatten, doch den wir die ganze Zeit über gebraucht hatten. Jeden Tag wurde ich mir sicherer, dass ich ihm Martine anvertrauen konnte. Aber da war noch das andere Problem: Wie konnte ich sichergehen, dass er in meinem Namen handeln konnte, wenn ich … Nun ja, es gab nur einen Weg, wie er vor dem Gesetz ein fester Teil der Familie würde werden können und es nicht seltsam zwischen uns werden würde. Natürlich sind acht Jahre nicht viel für ein Vater-Sohn-Verhältnis, aber es funktioniert.“ In Setos Kopf raste es. Immer wieder versuchte er die einzelnen Puzzleteile mit denen zusammen zu setzen, die er bereits kannte, doch es wollte nicht so ganz zusammen passen. „Ich verstehe immer noch nicht ganz“, setzte er vorsichtig an, während sie sich weiter vom Hauptgebäude entfernten. „Das hat doch nichts mit Ihrem Unternehmen zu tun.“ „Doch, hat es. Martine hat sich mir gegenüber etwas schwammig ausgedrückt, daher weiß ich nicht, ob Sie über die Narben an ihren Armen Bescheid wissen.“ „Eigentlich schon.“ „Gut. Dann frage ich Sie jetzt: Hat Ihr Bruder als er jung war irgendetwas Gefährliches gemacht, von dem Sie jetzt wissen, dass er es nie wieder tun würde, aber Sie immer noch Angst haben, dass es doch erneut geschieht?“ Da musste Seto nicht lange überlegen. „Ja, hat er. Aber ich verstehe immer noch nicht...“ Doch dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Pegasus hatte für den Ernstfall geplant, dafür, dass die Zwillinge weder Mutter noch Onkel haben würden. Die Firma war ihr Erbe, aber das konnten sie erst deutlich später antreten. Vorher brauchten sie jemanden, der sich um sie kümmerte, jemanden, dem er blind vertrauen konnte, dass er die Situation nicht ausnutzen würde, klug entscheiden würde, sie zu guten Menschen aufzog. „Weiß er es?“ Seufzend zuckte Pegasus mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich vermute, er ahnt etwas. Aber direkt hat er es mir nicht gesagt. Allerdings bin ich nicht so dumm zu glauben, dass jemand, der so clever ist wie er, nicht eins und eins zusammen zählen kann und weiß, was hinter der ganzen Förderung wirklich steckte.“ Sein Blick wanderte zurück zu Seto. „Jetzt schauen Sie doch nicht so! Glauben Sie wirklich, ich könnte einen ungeschliffenen Diamanten ignorieren, wenn er sich in meiner Obhut befindet? Wobei ich eigentlich nicht mehr viel machen musste. Er scheint sich irgendwann von seiner Vergangenheit losgesagt zu haben und hat danach angefangen sich zu entwickeln. Ich habe lediglich dabei geholfen, sein volles Potenzial zu entfalten. Haben Sie weitere Fragen?“ Seto zögerte, unsicher, ob er sich diese Freiheit erlauben durfte, doch dann fragte er: „Wie stehen Sie das alles durch?“ „Was genau?“ „Nun ja, Ihre Verluste in der Vergangenheit, Ihre etwas seltsame Familiensituation. Das alles.“ „Und das fragen ausgerechnet Sie?“ „Ja. Denn es scheint Sie hätten eine andere Lösung als ich gefunden, damit umzugehen“, gab Seto ehrlich zu. „Familie!“, lachte Pegasus. „Meine Familie ist der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Sie steht an erster Stelle und gibt mir den nötigen Halt. Ich habe jemanden zum Lachen, aber auch zum Weinen. Wenn ich Hilfe brauche, ist sie für mich da, muntert mich auf, lenkt mich von meinen Problemen ab und hilft mir letzten Endes diese zu lösen. Auch erinnert sie mich daran, nicht immer alles so Ernst zu nehmen. Reicht das als Antwort?“ Die Worte lagen Seto auf der Zunge, doch schaffte er es nicht, sie auch tatsächlich auszusprechen. Deswegen erwiderte er nur: „Ja, es erklärt einiges.“ Pegasus hatte gelernt auf die schönen Dinge im Leben zu bauen und war glücklich. „Dann bringe ich Sie jetzt zurück. Joseph vermisst Sie sonst vielleicht doch noch und wir stehen unter dem Verdacht heimlich im Urlaub gearbeitet zu haben. Und glauben Sie mir, da wird er wirklich stinkig!“ Seto blieb also nichts anderes übrig, als hinter ihm herzugehen, vertraute er doch der Erfahrung des anderen. Allerdings wunderte es ihn, als sie kurz vor dem Hauptgebäude stehen blieben. Pegasus wandte sich ihm zu. „Überlegen Sie sich, was Sie wirklich vom Leben wollen. Oder zumindest, was Sie sich von dieser Beziehung versprechen“, gab er ihm einen letzten Rat, bevor er sich in Richtung Pool davon machte. Dann war Seto allein. Bewaffnet mit Fotoalbum und Jules Verne betrat er leise wieder das Büro und schlich zum Lesesessel, da Joe bereits wieder am Telefonhörer hing. Vorsichtig schlug er den Ledereinband auf und nahm sich nun Zeit für jedes einzelne Bild. Unter jedem stand in kleinen Buchstaben ein Datum und wer es aufgenommen hatte. Martines Name dominierte, doch auch Chef beziehungsweise bei den frühen Aufnahmen Jo und Maximillion waren zu finden, sowie zum Ende hin Clara und Ethan. Es gab offizielle Porträts, Familienbilder, bei denen sie alle ordentlich gekleidet für die Kamera posierten, doch auch ein Bild, auf dem Martine und Pegasus tief schlafend auf einem Sofa lagen gab es – zwei Säuglinge hell wach zwischen sich. Urlaubsschnappschüsse. Momentaufnahmen von Empfängen. Die Zwillinge auf Fahrrädern, Zahnlücken, mit Babybrei verschmiert, wie sie mit Joe tobten. Joe und sein Vater, jeder in einem alten Ledersessel und vornehm die Zeitung lesend. Martine allein, Klavier spielend und mit einem Ausdruck, als existiere die restliche Welt um sie herum nicht. Doch der Moment, in dem es um Seto geschehen war, war als ein Foto zwischen den Seiten herausrutschte, das offensichtlich nicht fest eingeklebt war. Es war älter als der Rest und begann zu vergilben. Man sah zwei Kinder, verschieden alt, aber sich so ähnlich, dass sie nur Geschwister sein konnten. Das Ältere hatte beschützend den Arm um die Schulten des Jüngeren gelegt und beide grinsten breit in die Kamera. Überlegen Sie sich, was Sie wirklich vom Leben wollen. Er schluckte schwer. Es gab solche Aufnahmen auch von ihm und Mokuba. Seiner Familie. „Kommt ihr zum Essen raus?“, forderte Yuki und unterbrach beide Männer in ihrer Beschäftigung. Joe bejahte und speicherte die Kostenkalkulation, an der er gesessen hatte, während Seto das Lesezeichen zwischen die Seiten legte. Ursprünglich hatte er seine Hilfe bei der Kalkulation angeboten, als der Telefonterror aufgehört hatte und der Hotelmanager endlich Zeit für ihn hatte und ihm nebenher erklärte, was er tat. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass er keine Ahnung davon hatte, was und in welchen Mengen so ein Hotel brauchte. Etwas verschnupft hatte er sich zuerst auf den Beobachterposten neben den Computer gesetzt und schließlich seine Lektüre fortgesetzt. „Kommst du?“ Gemeinsam setzten sie sich zum Team, das sich bereits um den Esstisch im Aufenthaltsraum gequetscht hatte. „Wo ist Mokuba?“, wollte Seto wissen. Martine, deren Stuhl mit einer großen Folie abgedeckt war, antwortete: „Draußen bei meinem Bruder. Sie spielen eine Runde Duel Monsters und wollten nicht unterbrechen.“ Unter Cians strengem Blick schälte sich sich aus den Ärmeln des Overalls. „Achso“, sagte er daraufhin als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ausgerechnet diese beiden sich duellierten. Yuki machte ihm auf der Bank Platz und Shin häufte Kartoffelsalat auf seinen Teller. Joe hingegen musste sich selbst bedienen und bot dabei einen lustigen Anblick, da er jeden Kontakt mit Martine vermied, um nichts von der Farbe abzubekommen. Endlich mit Essen versorgt, fiel ihm etwas anderes auf: „Wo sind Ethan und Clara?“ „Mit einer Freundin im Freizeitpark. Sie hatte es mir angeboten, damit ich mal einen Tag Ruhe habe – und ihr auch.“ „Und deswegen renovierst du in der Zeit?“ Sie zuckte mit den Schultern. Doch fragte sie Seto: „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ist es. Ich war nur kurz in Gedanken.“ Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er sie angestarrt hatte. Sie ihrerseits blickte ihm einen Moment zu lange in die Augen, bevor sie erwiderte: „Dann ist es ja gut.“ Doch seine Verwirrtheit hielt den Tag über an. Er ertappte sich dabei, während des Nachtischs – Eclair – nachzudenken. Während des Abräumens, auch wenn Shin und Hans beteuerten, er müsse ihnen nicht helfen. Während Joe sich einen Nachschlag der besonderen Art bei ihm holte, bevor er wieder ans Telefon musste. Während er las. Immer wieder kamen seine Gedanken zurück zu diesem einen Thema und ließen sich nicht abschalten. Als die Zwillinge hereinstürmten, gefolgt von Martine, völlig aufgekratzt und mit leuchtenden Augen. Das machte es nicht gerade besser. „So. Fertig für heute!“ „Schon?“ Er war noch nicht ganz durch mit dem Buch und hatte über seine Grübeleien die Zeit ganz vergessen. „Schon? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist höchste Zeit, dass wir beide ins Bett kommen!“ Seto nickte langsam und legte dann das Lesezeichen zwischen die Seiten. „Okay, meinetwegen.“ Selbst Joes zweideutiges Grinsen war ihm entgangen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)