Urlaubsreif^3 von flower_in_sunlight (Die Zwei machen mich fertig!) ================================================================================ Prolog: Freitag 27.3. --------------------- „Wie ich sehe, haben Sie meinem spontanen Änderungsvorschlag angenommen“, begrüßte ihn Maximillion Pegasus, sobald die Bild- und Tonverbindung zwischen der Kaiba Corp und Illusion Industries stand. „Ja, meine Sekretärin hat mich noch rechtzeitig über ihren Wunsch informiert“, erwiderte Seto Kaiba nur kühl und lehnte sich auffallend ruhig in seinem Bürosessel zurück. Seine Nacht war furchtbar gewesen, er hatte vielleicht zwei Stunden Schlaf bekommen, war zu früh aufgestanden, hatte keinen Bissen beim Frühstück hinunter bekommen, sich dafür aber den Kaffee über seinen weißen Mantel geschüttet. Auf dem Weg in sein Büro wäre er mehrmals beinahe in Glastüren hineingelaufen – in deren Kanten versteht sich. Nur um Haaresbreite konnte er ausweichen und einen Termin bei seinem Privatarzt verhindern. Dann hatte er das Passwort seines Laptops dreimal falsch eingegeben, was zu einer verschärften Überprüfung geführt hatte, und beim Öffnen der Projektmappe, hätte er fast alle dazu gehörenden Dateien gelöscht. Und das alles nur wegen des Adoptivsohnes des Mannes, der ihm jetzt bester Laune und ausgeruht gegenüber saß. „Haben Sie dieses Mal einen Babysitter?“, versuchte er etwas Dampf abzulassen, bevor sie in das Geschäftliche einstiegen. Auch Pegasus schien die Merkwürdigkeit in seinem Verhalten aufzufallen, doch überspielte er sie honigsüß: „Habe ich. Meine Schwester war so liebenswürdig, jemand Geeignetes mitzubringen. Aber momentan sind die Zwillinge eh in der Schule. Dennoch müssen wir noch ein paar Augenblicke warten, da... Ah, da ist sie ja auch schon!“ Sein Auge folgte den Bewegungen einer Person, die Seto nicht sehen konnte, sich aber rasch in den Bereich der WebCam bewegte. „Entschuldige bitte meine Verspätung, Maximillion – ich hatte den Ortswechsel nicht mitgeteilt bekommen, bis ich in deinem leeren Büro stand. Und Sie, Mister Kaiba, bitte ich auch um Verzeihung. Es ist sonst nicht meine Art unpünktlich zu sein.“ Der schlanke Frauenkörper in schwarzem Anzug mit schwarzer Bluse sank grazil auf den zweiten Stuhl, über den er sich schon eine Weile gewundert hatte, um den Blick auf das Gesicht von Martine Pegasus zu ermöglichen. Seto wusste noch nicht was ihre Anwesenheit zu bedeuten hatte, doch war er der festen Überzeugung, dass es sicherlich nichts Gutes sein konnte. Und seine Befürchtung sollte sich bewahrheiten. Vor zwei Wochen waren er und Pegasus sich im Großen und Ganzen einig gewesen. Bis auf die Überprüfung von ein paar Zahlen seinerseits gab es kaum noch etwas zu besprechen und für ihn war das Geschäft schon unter Dach und Fach gewesen. Das war eine Woche gewesen, bevor er Martine kennen lernte. Wobei er sich nach zwei Stunden konstruktiven Gespräches nicht mehr so sicher war, ob er sie in Domino tatsächlich kennen gelernt hatte. Denn ihm war bis jetzt noch keine Fotografin über den Weg gelaufen, die so eine knallharte Geschäftsfrau war. Jede einzelne Kleinigkeit, die sich nachteilig auf Industrial Illusions auswirken könnte, hatte sie in den Verträge ausfindig gemacht, ebenso die wenigen Punkte, in denen er sich einen Mehrgewinn der Kaiba Corporation erhofft hatte. Sie verhandelte mit ihm, bis beides nivelliert war. Seine Kalkulationen zum Gewinnzuwachs ließ sie sich schicken und überprüfte sie, noch während er mit ihrem Bruder das Marketingkonzept der beauftragten Firmen durchsprach. Auch hier unterbrach sie selbstredend und äußerte ihre Änderungswünsche, denen nach kurzem Zögern beidseitig zugestimmt wurde. Die Videoübertragung machte Seto allmählich mürbe. Sie hatten um halb elf begonnen, mittlerweile ging es stark auf ein Uhr zu und die kalorienarmen frühen Stunden des Tages begannen sich bei ihm zu rächen. Doch er konnte es sich nicht erlauben einen seiner rettenden Schokoriegel aus der Schublade zu nehmen und zu verzehren. Vor Maximillion hätte er sich diese etwas unhöfliche Geste noch getraut, aber vor Martine konnte er es einfach nicht zulassen Schwäche zu zeigen. Und so wurde er immer hektischer unter dem Blick dreier bernsteinfarbener Augen, bis schließlich die abschließenden, sich verabschiedenden Worte gesprochen wurden und er sich bereits erlöst sah. Eine Hand auf der Maus, um die Verbindung zu trennen, eine bereits auf dem Griff der Schublade, fuhr sein Kopf jedoch wieder ruckartig nach oben. „Gehst du bitte schon vor und siehst nach, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist? Sie sollten inzwischen schon da sein. Ich möchte hier nur noch kurz etwas wegen Mokubas Geburtstag im Juli besprechen.“ Was sagte sie damit? Was sollte mit Mokubas Geburtstag sein? Er hatte noch über drei Monate, um sich etwas einfallen zu lassen, und ihre Hilfe würde er dafür nicht benötigen. Umgekehrt galt wohl das Gleiche. Also wollte sie mit ihm allein reden. Doch über was? Sein erster Gedanke sorgte dafür, dass es ihm heiß und kalt den Rücken hinunter lief. Lieber hätte er sich noch einmal seine Weisheitszähne bei Bewusstsein und nur milder Betäubung ziehen lassen, als jetzt mit ihr dieses Gespräch führen zu müssen. Oder am Besten bat er ihren Bruder, ihn wieder in eine Spielkarte zu bannen, dann konnte sie gar nicht mit ihm sprechen. Aber es bot sich ihm kein einfacher Fluchtweg mehr, sobald sich ihr Blick auf ihn fokussierte und sie freundlich lächelnd sagte: „Ich denke Sie wissen, worüber wir sprechen werden. Und da wir beide vielbeschäftigt sind, machen wir es am Besten kurz. Nach all den Jahren, in denen Sie die Presse als Genie gehypt hat, hätte ich nicht gedacht, dass sie ein solcher Idiot sein können.“ Er wollte protestieren, doch sie fuhr unbeirrt fort: „Da Sie anscheinend nicht in der Lage sind gut gemeinte Warnungen Ernst zu nehmen, sehe ich mich gezwungen Ihnen zu zeigen, was es bedeutet, sich mit mir anzulegen.“ Ein selbstgefälliges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Zwar scheinen Sie die Courage zu besitzen, sich noch einmal in Jos Hotel sehen zu lassen, doch ich kann einfach nicht zulassen, dass Sie so mit ihm umspringen.“ Überrascht riss er die Augen auf. Woher wusste sie das jetzt schon wieder? „Besonders wenn Ihre Reservierung bedeutet, dass ich meinen Sommerurlaub mit meinem Bruder unter einem Dach verbringen muss. Daher nun mein Deal – unverhandelbar. Sie beweisen mir, dass Sie bereit sind sich zu ändern. Sie bekommen das Zimmer, wenn es Ihnen gelingt, dass Mokuba Sie wegen Ihres ungewöhnlichen Verhaltens für verrückt erklärt. Aber da Taten schon immer mehr sagten als Worte, werde ich auch meine Hälfte unserer alten Abmachung einhalten. Meine Anwesenheit heute war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was ich noch für Sie im Ärmel habe. Keine Angst, bis Anfang August werde ich Milde walten lassen, doch danach werden Sie endgültig zerbrechen. Ich wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Tag – schließlich haben Sie mir den meinen versüßt.“ Sie hielt die Verbindung gerade noch so lange, dass er das Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, sehen konnte, bevor der Monitor vor ihm schwarz wurde. Verdattert starrte er ihn noch ein paar Minuten an, dann stand er auf und stellte sich vor die breite Fensterfront. Die Stirn an die Scheibe gelehnt, wo sein Schweiß haften blieb, versuchte er nachzudenken. Man hatte ihm schon so oft gedroht, dass er erwartet hatte, eine gewisse Routine darin zu besitzen, das Risiko richtig einzuordnen, doch Martine stellte ihn dabei vor eine unerwartete Aufgabe. Er konnte einfach nicht einschätzen, zu was sie fähig war. Dass sie Maximillion Pegasus fest im Griff hatte, war eindeutig gewesen, doch was würde sie dadurch erreichen können? Welche Kontakte pflegte sie noch? Und wie wollte sie ihn zerbrechen lassen? Finanziell? Gesellschaftlich? Privat? Er konnte nur hoffen, dass sie Mokuba für diesen Schritt zu sehr mochte. Mit ihm konnte sie machen, was sie wollte, aber seinen kleinen Bruder sollte sie nur raus lassen. Moment! Seit wann ergab er sich einfach so? Ja, er hatte ihre Warnung ignoriert und seinem Hündchen wehgetan. Trotzdem. Wer war sie schon, dass sie sich erdreistete, über ihn zu richten und davon ausging, er würde sich kampflos ergeben? Er würde ihr es schon zeigen. Genau! Er würde das Zimmer im Hotel auch ohne ihre Zustimmung erhalten. Immerhin wollte er noch ein paar Dinge zwischen sich und Joey klar stellen. Und wieso nannte sie ihn plötzlich Jo, wenn angeblich alle Welt den Namen benutzte, den ihr Sohn geprägt hatte? Egal. Auf jeden Fall würde er sich nicht ändern wegen ihm. Das wäre ja noch schöner! Er war Seto Kaiba und als solcher war er perfekt. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd schlug er die Augen auf und ließ seinen Oberkörper nach vorne fallen. Aus ganzem Herzen verwünschte er Martine. Denn vor ihrem kleinen Gespräch mittags hatte er noch nie solche Albträume gehabt. Mitten in der Nacht war er davon aufgewacht, dass nach einem ersten, sanften Streicheln eine Ohrfeige seine Wange traf. Überrascht hatte er zu der jungen Frau in den Zwanzigern aufgesehen, die neben seinem Bett stand und ganz langsam auf der Bettkante Platz nahm. „Schön, dass du aufgewacht bist. Dann können wir endlich einmal in Ruhe sprechen. Es war gar nicht so leicht diesen Termin bei dir zu erhalten, weißt du, mein Süßer?“ Wer immer diese Person war, sie hatte das Licht ausgelassen, doch von draußen kam genug herein, dass er den schon fast bedauernden Ausdruck auf ihrem Gesicht erkennen konnte. Sie sprach sanft mit ihm, fast liebevoll, so wie man mit einem kleinen Kind spricht, das man tadelt und dabei verhindern will, dass es in Tränen ob der harschen Worte ausbricht. „All die Leute, die ich davon überzeugen musste, mir den Vortritt zu lassen, um dich vielleicht noch zur Einsicht zu bewegen. Du machst dir ja keine Vorstellung davon, wer alles darauf wartet, dich Stück für Stück Fallen und Zerspringen zu sehen. Wie leicht es Martine fiel, schlafende Hunde zu wecken. Sie sind wie blutgierige Jagdhunde. Noch hat sie sie am Halsband fest im Griff, aber was passiert, wenn sie den ersten von ihnen loslässt? Wirst du wegrennen, wie sie es will, oder wirst du dich umdrehen und kämpfen, so wie du es verdient hast, um endlich mit dem, was dein Herz sich seit Jahren ersehnt, glücklich zu werden?“ Er wollte etwas erwidern, doch brachte er nur ein heiseres Krächzen hervor. Das hier musste einfach ein schlechter Traum sein. Niemand überwand mal eben so sein Sicherheitssystem, das er jeden Abend vorm zu Bett gehen einschaltete. „Ich werde dir jetzt einen einfachen Ratschlag geben und hoffe, du beherzigst ihn. Gib dir selbst eine Chance und hör auf dich hinter deiner Fassade zu verstecken. Damit wirst du auf Dauer nicht glücklich werden – und niemandem würde es auffallen. Es wird sich aber auch niemand daran stören, wenn du tatsächlich glücklich wirst. … Aber dafür musst du deinen Arsch hochkriegen und für dein Glück kämpfen. Ja, er hat dich verletzt, doch wenn du tief in dich hinein hörst, weißt du, dass er dir eigentlich nur den Spiegel vorgehalten hat.“ Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab und vergessen waren seine Alarmanlagen. Wie konnte ein Mensch, der ihn nicht kannte, wegen ihm weinen? So viel Empathie verspüren, dass er nach den ersten harten Worten nun so sanft mit ihm sprach? Er hob leicht die Hand und wollte sie wegwischen, doch da erhob sich die junge Frau und wandte sich von ihm ab. „Bitte wiederhole nicht die Fehler, die andere vor dir gemacht haben. Ich werde Martine bitten, nicht allzu harsch mit dir umzugehen – aber versprechen kann ich nichts. Besonders, wenn du dich nicht ändern solltest. Dann gnade dir Gott oder an wen du noch überhaupt glaubst.“ Kapitel 1: April ---------------- Ein letztes Mal füllten sich Setos Lungen mit der Frühlingsluft, bevor er sich an den Abstieg die Kellertreppe hinunter machte. Bis vor einer Woche hatte er noch nicht einmal gewusst, dass es in Domino diese doch eher für die britischen Inseln üblichen außen gelegenen Kellertreppen gab. So erweiterte er sogar noch, bevor sein Training wirklich begann, seinen Horizont. Das gesamte Wochenende hatte er damit verbracht darüber nachzudenken, was er tun sollte. Denn es hatte sich bei der nächtlichen Begegnung keineswegs um einen Albtraum gehalten, wie er anfangs noch gehofft hatte. Letzten Endes hatte er sich entschlossen Chef ein wenig entgegenzukommen und der erste und wichtigste Schritt für ihn kam, als er über die Schwelle zu dem großen Raum trat, zu dem er von der Kellertür durch einen schmalen Flur geleitet worden war. Er nahm die gesamte Breite des Hauses ein und hatte so jetzt am frühen Nachmittag durch die tiefen Luftschächte von zwei Seiten Licht. Etwas, was nicht nur dem hellen Holzboden, sondern auch der Frau jenseits der Vierzig, die sich als einzige dort aufhielt, schmeichelte. Zögernd blieb er am Rand stehen und wartete darauf, dass sie reagieren würde. Wie sie mit ihm vor ein paar Tagen abgesprochen hatte, war er einfach durch die Tür gekommen und hatte sie nicht durch sein Klingeln gestört. Zu einer unglaublich melancholisches Musik bewegte sie sich mit geschlossenen Augen über den Boden, scheinbar schwebend und dennoch so sicher mit jedem Schritt als wäre dieser seit Ewigkeiten so vorausgesagt worden. Mit den letzten Tönen des Stückes öffnete sie ihre Augen und lächelte ihm zu. „Guten Tag, Senior Kaiba.“ Bis auf einen ganz leichten spanischen Anklang war ihr Japanisch akzentfrei. Im Internet hatte gestanden ihr Vater sei Argentinier und sie habe als junge Erwachsene in seiner alten Heimat gelebt und getanzt. Wobei sie selbst darauf bestünde, dass Tanzen und Leben das Gleiche seien. „Guten Tag, Nereida.“ Und sie bestand darauf, mit Vornamen angesprochen zu werden, was sie ihm unmissverständlich am Telefon erklärt hatte, selbst wenig beeindruckt von seinem Namen. „Zum Wechseln Ihrer Schuhe können Sie sich dorthin setzen“, deutete sie elegant auf einen Tisch, um den eine Reihe von alten Holzstühlen stand. Er gehorchte nur stumm und ließ sie, während er die Schnürsenkel an seinen Straßenschuhen löste, nicht aus den Augen. Sie hatte sich mit etwas zu trinken neben die Musikanlage gestellt, war aber sofort wieder auf der Mitte der Tanzfläche, sobald sie sah, dass er fertig war. Auffordernd, nur durch ihren Blick, brachte sie ihn dazu, zu ihr zu kommen. „Im Tango“, fing sie an zu sprechen, „geht es sehr stark um ein klares Rollenbild. Auf der einen Seite haben wir den Mann, der kontrolliert und entscheidet. Auf der anderen die Frau, die gehorcht und ihn schmückt. El hombre conduce, la muyer seduce y se luce – etwas blumiger formuliert. Im Walzer würde man sagen 'er bildet den Rahmen für sie'. Aber glücklicherweise sind diese Rollenbilder mittlerweile etwas antiquiert, sodass durchaus auch die Frau den führenden Teil übernehmen kann. Eine Tatsache, die es mir erleichtern wird, Ihnen die Schritte näher zu bringen, bis Sie soweit sind zu führen.“ „Ich beherrsche ein paar andere Standardtänze und kann Ihnen daher versichern, dass ich sehr wohl führen kann“, wagte Seto ihr zu widersprechen. Nereida hingegen lächelte nur nachsichtig und bat ihn dann ihr gegenüber Aufstellung zu nehmen und ihren Schritten spiegelnd zu folgen. Nachdem mit seinem Grundschritt nach einer halben Stunde endlich zufrieden war, das heißt, er fing auch ohne sie mit dem richtigen Fuß an und verhedderte sich nicht unterwegs, durfte er die Arme mit dazu nehmen. „Sie sollen die Arme oben halten – nicht Ihren Kopf zwischen die Schultern ziehen“, tadelte sie ihn, nachdem sie sich 10 Minuten lang das Elend besehen hatte. Er versuchte seine Haltung zu korrigieren, während seine Rückenmuskulatur bereits aufbegehrte. Dennoch musste er noch 20 weitere Minuten durchhalten, bis ihn die Pause zwischen den beiden von ihm gebuchten Stunden erlöste. In gierigen Schlucken trank er aus seiner mitgebrachten Wasserflasche, an die netterweise Roland gedacht hatte. Er selbst hätte eine so unwichtige Kleinigkeit vergessen. „Was ich Sie bereits am Telefon fragen wollte“, näherte Nereida sich ihm, „ ist, woher Ihr Interesse an Tango kommt.“ Seto stutzte. Er war sich bewusst, dass die Wahrheit etwas abstrus klingen würde, doch so wie er seine Tanzlehrerin bis jetzt einschätzte, würde er genau damit die besten Karten bei ihr haben. „Auf meinem Frühlingsball habe ich zwei Leute Tango tanzen sehen und war so fasziniert davon, dass ich es auch lernen wollte. Mein Repertoire umfasst momentan nur das Nötigste an Standardtänzen und ich komme nur gelegentlich dazu, dieses Wissen auch einzusetzen.“ Nereida nickte, trank selbst einen Schluck und hakte dann nach: „Wissen Sie, wer es war?“ „Martine und Joseph Pegasus“, kam es von ihm zu seiner eigenen Überraschung prompt. Mit Erstaunen sah er, wie ihre Augen zu leuchten begannen. „Ach, die beiden. Dann kann ich Ihr Interessen natürlich verstehen. Die beiden zusammen tanzen zu sehen ist einfach wundervoll – selbst für einen Profi wie mich. Zwar sind sie jeder für sich allein genommen bereits sehr gute Tänzer, doch sobald sie miteinander auf dem Parkett sind,... Es ist wirklich berauschend, zu sehen wie sie all ihre Leidenschaft für einander in ihren Tanz legen.“ Sie schwärmte weiter, während Seto sich am liebsten auf die Unterlippe gebissen hätte. Ja, er hatte ihre Leidenschaft gesehen, gesehen wie sie auf kleinste Zeichen des anderen reagierten, selbst über eine größere Distanz hinweg. Er war sich mittlerweile zwar halbwegs sicher, dass zumindest von Martines Seite her keine Romantik mit im Spiel war, aber es blieb einfach nicht zu leugnen, dass sie ein wundervolles Paar abgegeben hätten. „Woher wissen Sie all das eigentlich?“, startete er den Versuch, sich selbst zu zerstreuen. „Oh, er war einer meiner ersten Schüler, als ich ganz frisch wieder in Japan war. Hat mir ab und zu Lieferungen mit argentinischen Spezialitäten vorbeigebracht. Und Martine ...“ „Wieso brachte er Lieferungen?“, unterbrach er sie. Erstaunt sah sie ihn an, antwortete dann aber unbeirrt: „Er arbeitete zeitweise in dem Delikatessenladen mit diesen wundervollen Waren aus aller Welt, der der Mutter des Chefs vom Traditionell gehört. Das kennen Sie bestimmt.“ Er zog es vor nur nickend zu schweigen und so saßen sie einfach nur stumm nebeneinander, bis Nereida der Meinung war, dass ihre Pause lange genug gedauert hatte. „Haben Sie Interesse daran auch die Damenschritte zu lernen?“, fragte sie nebenbei, während er sich wieder vor sie stellte „Ja, besonders“, kam es von ihm, ohne dass er sich Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken. Sie tat so, als habe sie seine Antwort nicht gehört, geschweige denn zuvor die Frage gestellt, und forderte ihn stattdessen auf ihr kurz das Gelernte noch einmal zu zeigen, bevor er sich ihr nähern durfte und sie ihm erklärte, wie er sie richtig zu halten hatte, wenn er führte. Beiläufig und sachlich zugleich fand sie seien Schuhgröße heraus, als sie die Höhe seiner Hand auf ihrem Rücken korrigierte. Zu Beginn seiner nächsten Doppelstunde erwartete Seto eine Überraschung. Genau wie in der Woche zuvor hatte er sich auf einen der Stühle am Tisch gesetzt und wollte gerade in seine Tanzschuhe schlüpfen, als ihn Nereida davon abhielt mit der Begründung, sie habe Schuhe für ihn besorgt, die er doch bitte zuerst anziehen solle. Erstaunt nahm er den Schuhkarton entgegen, der ihm viel zu groß vorkam für ein einfaches Paar Schuhe, so wie er eines erst eineinhalb Wochen zuvor erworben hatte. Leider stellten sich seine Zweifel als berechtigt heraus, sobald er den Deckel angehoben hatte. „Was ist das?“, forderte er zu wissen. Das konnte nicht der Ernst der guten Frau sein. „Ihre Tanzschuhe für heute. Sie sollten Ihnen passen.“ Mit wachsendem Entsetzen blickte er zu ihr hinauf. Sie meinte es tatsächlich so. „Aber sie haben 7 Zentimeter hohe Absätze!“ „Ja, ich weiß. Eigentlich ein wenig zu niedrig. Nur die mit 10 sind bis Mitte Mai in Ihrer Größe nicht mehr zu bekommen. Jetzt ziehen Sie sie schon an. Ich kann heute nicht länger als die beiden Stunden und wir haben jetzt schon zu viel Zeit damit vertrödelt, über die Schuhe zu sprechen.“ Sie duldete keinen Widerspruch. Geduldig wartete sie auf ihn und beobachtete wie er auf wackligen Beinen zu ihr auf die Tanzfläche schwankte. „Tanzen ist im Grunde die Aneinanderreihung von Schritten. Also ist Tanzen wie Gehen.“ Sie startete die Musik mittels einer kleinen Fernbedienung. „Walk this way!“ Entgeistert sah er sie an. Er sollte wirklich auf diesen Mörderschuhen laufen? Nein, ganz bestimmt nicht. Ohne ihn. Er konnte es sich nicht erlauben auch nur einen Tag in den nächsten Wochen wegen eines gebrochenen Knöchels in der Firma auszufallen. Aber ein weiterer Blick zu Nereida sagte ihm, dass er keine andere Chance hatte als das jetzt durchzuziehen. Vorsichtig tat er den ersten Schritt. Dann den zweiten. Der dritte fiel schon etwas sicherer aus. Das Lied machte wirklich Laune. „Und bitte wieder zurück.“ Vorsichtig drehte er auf dem Ballen an der entlegenen Seite des Raumes und machte sich auf den Rückweg. Riff und Rhythmus trieben ihn vor sich her und irgendwann traute er sich sogar, den Blick zu heben und nicht ängstlich gen Boden zu schielen. Auf der vierten Bahn meinte Nedeira plötzlich begeistert: „Sie haben ja einen Hüftschwung!“ Verdattert hielt er in der Bewegung inne. „Hab ich nicht! Ich bin ein Mann und habe definitiv keine Hüftschwung.“ Es schüttelte ihn bei dem Gedanken. „Habe ich gesagt, Sie können stehen bleiben? Nein, also... Weiter, bitte!“, trieb ihn seine Tanzlehrerin weiter an. Er konnte nicht glauben, dass er für diese Sklaventreiberin wirklich Geld ausgab. Eigentlich hatte er noch vom vergangenen Mal Muskelkater und jetzt da es ihm bewusst gemacht worden war, fing Seto wieder an auf den Absätzen zu wackeln, da seine Balance dahin war. Zu seinem Glück endete das Lied und er durfte mitten auf dem Parkett, wo er etwas verloren stand, bleiben. „Kommen wir zur heutigen Lektion. Sie werden heute die Damenschritte tanzen.“ In jeder anderen Situation hätte er seine Überraschung überspielen können, doch hatten ihn bereits die Absätze so aus dem Konzept gebracht, dass er ohne viel Gegenwehr Stellung bezog. Sanft legte sich ihre rechte Hand auf seinen Rücken kurz oberhalb seiner Hüfte, während ihre linke seine rechte bestimmt nach oben hielt. Für sie war es die richtige Position, doch Seto fühlte sich noch etwas seltsam damit – vor allem, weil seine zusätzlichen 7 Zentimeter seine Haltung zusätzlich beeinflussten. Aber all das vergaß er, sobald er den ersten Schritt nach hinten machen musste. Intuitiv spürte er, welche Schritte er machen musste, wusste, wohin er musste. Zwar blieben sie beim Grundschritt, aber dennoch war das so viel anders wie das, was sie eine Woche vorher gemacht hatten. Leise Zweifel überkamen ihn, dass er in den vergangenen Jahren je irgendeine seine Tanzpartnerinnen so geführt hatte. Es war wie Schweben. Sein Blick richtete sich nur nach unten, um in Nereidas Augen zu lesen, ob er sich gut anstellte oder eine hoffnungslose Katastrophe war, doch ihre Miene verriet ihm nichts. Nach der Doppelstunde traute er sich endlich zu fragen, weswegen sie das mit ihm gemacht hatte – oder hätte es getan, wenn sie ihn nicht unaufhörlich zur Eile angetrieben hätte, weil sie schon zu spät dran sei und noch das Studio absperren wolle. Rolands skeptischen Blick übersah er, als er zu seiner Limousine lief, zu sehr versuchte er seine Gedanken wieder auf die Firma zu richten. So entging ihm auch, dass mit jedem seiner Schritte seine Hüfte leicht nach außen wanderte, nur um beim nächsten die entgegengesetzte Position einzunehmen. Setos nächste Trainingsstunde musste ausfallen, da sich Nereida erkältet hatte und es vorzog, sich zu kurieren, anstatt ihren Schüler anzustecken. Dennoch wollte sie ihn nicht untätig wissen und hatte ihm eine Liste mit Tanzfilmen geschickt, die er sich bis zum nächsten Mal angesehen haben sollte. Ihm hatte das alles ziemlich widerstrebt – besonders da mehrere kleine Kunden plötzlich von ihren Verträgen zurückgetreten waren und er eigentlich die für sie Verantwortlichen einen Kopf kürzer machen wollte-, doch nachdem er sich an diesem späten Samstagnachmittag nach der Arbeit durch „Billy Elliot“ gequält hatte – was sollte ihm dieser Film beibringen? - fand er allmählich gefallen daran. Wobei... dieser Tanzlehrer im zweiten Film verschwendete wirklich seine Zeit. Denn der undisziplinierte Haufen von Schülern, die er beaufsichtigte, würde es nie schaffen annähernd gut zu tanzen. Aber er musste gestehen, dass ihm der gezeigte Tango gefiel. Die blonde Frau war natürlich weit entfernt von seinem Beuteschema, doch sobald er sich vorstellte Chef würde so mit ihm tanzen, bekam er eine Gänsehaut und ein Teil seines Blutes floss zu Stellen hin, in denen es garantiert nichts zu suchen hatte. „Das ist wie Sex auf dem Parkett“, flüsterte eine Stimme in sein Ohr. Die Lippen des Sprechers waren ihm so nahe, dass er dessen Atem auf seinem Ohrläppchen spüren konnte. Ertappt fuhr er herum und blickte in die amüsierten Augen seines Bruders. „Habe ich dich erschreckt? Tut mir Leid.“ Der leicht nach oben zuckende Mundwinkel strafte seine Aussage Lüge, aber Seto war bereit das Spiel mitzuspielen. „Natürlich nicht. Ich hatte nur nicht erwartet, dass du … Was machst du eigentlich hier?“ „Das hier ist unser Wohnzimmer und ich wollte mich etwas entspannen.“ „Ich weiß, dass das hier unser Wohnzimmer ist, aber was machst du um diese Uhrzeit hier?“ Seit einem halben Jahr verließ Mokuba spätestens gegen vier Uhr das Haus und kam erst Sonntag in den frühen Morgenstunden oder gar noch später nach Hause. Inzwischen dämmerte es draußen. „Meine Lerngruppe war früher fertig und ich wollte mich noch ein bisschen ausruhen, bevor ich heute Abend weggehe.“ „Ach. Achso.“ Er hatte nicht einmal gewusst, dass Mokuba eine Lerngruppe hatte. „Mit wem gehst du denn weg? Mit jemanden aus der Lerngruppe?“ Ausnahmsweise entging ihm mal nicht die leichte Röte, die seinem Bruder in die Wangen schoss. „Nein. Kennst du nicht. … Aber sie hat mich dazu gebracht, mir den Film, den du gerade guckst, anzusehen. Wusste gar nicht, dass du so auf Antonio Banderas stehst.“ Genüsslich machte er es sich auf dem Sofa bequem, auf dem gerade noch sein großer Bruder gesessen hatte. „Tu ich auch nicht. Das ist quasi eine Art Hausaufgabe, die ich bekommen habe.“ „Hausaufgabe?“ Mokubas skeptischer Blick bewies, wie ähnlich sich ihre Mimik in den letzten Jahren geworden war. „Von wem denn?“ „Meiner Tanzlehrerin.“ „Du tanzt?“ Und saß der Jüngere senkrecht. „Seit wann?“ „Ja, ich tanze.“ Wieso tat er nur so überrascht? „Aha“, versuchte sich Mokuba nun wieder um Gleichgültigkeit. „Was dagegen, wenn ich mir den Schluss mit dir zusammen ansehe?“ „Nein, du darfst bleiben.“ „Wie großzügig!“ „Mokuba!“ „Hab dich lieb, großer Bruder.“ „Ich dich auch Moki.“ „Ich hoffe, Sie haben all ihre Hausaufgaben erledigt“, begrüßte ihn Nereida Ende des Monats. „Natürlich“, antwortete er kühl. Seine Gedanken waren überall, nur nicht bei der kommenden Tanzstunde, was unter anderem daran lag, dass ihm am Vortag, als er einen Teil seines Heimwegs zu Fuß gegangen war, jemand hinterher gepfiffen hatte. Doch als er sich umdrehte, konnte er niemanden mehr sehen, der ihm nur Augenblicke zuvor zu seinem 'süßen Hüftschwung' gratuliert hatte. „Die Filme waren sehr interessant.“ „Und was haben Sie daraus gelernt?“ „Dass Tänzer ab einem gewissen Grad nicht mehr zurechnungsfähig sind“, grummelte Seto, während er sich die Schuhe band. Augenscheinlich hatte er eine kleine Verschnaufpause von den hohen Absätzen. Nereida ging auf den Kommentar nicht ein, sondern ließ ihn einfach ein paar Mal zu Musik durch den Raum schreiten und sich dann trocken sowohl die Herren- als auch die Damenschritte zeigen, die sie ihm schon beigebracht hatte. Seltsamerweise schien sie zufrieden und ging danach zum eigentlichen Unterricht über. Nach einer Stunde, stellte sie die Musik aus. „Wie besprochen, hören wir für heute auf. Aber wenn Sie möchten, können Sie heute Abend wieder kommen. Es findet eine Veranstaltung für Queer Tango statt.“ „Und wie kommen Sie darauf, dass ich an so etwas interessiert wäre? Und selbst wenn, ich habe immer noch einen Ruf zu verlieren – wie sehe es denn aus, wenn ich einfach auf einer Tanzveranstaltung erscheinen würde“, schlug er die Einladung kühl aus und machte sich auf den Weg zur Tür. „Vielleicht haben Sie das. Aber mir ist noch kein Mann untergekommen, der sich so einfach fallen ließ, sobald ich geführt habe, wie Sie. Bei Queer Tango ist es üblich die strengen Rollen des Tanzes aufzubrechen.“ „Danke. Trotzdem kein Bedarf. Ich folge nur, wenn Sie mich dazu zwingen – was auch immer mir das bringen soll. Was ich übrigens nur zugelassen habe, weil ich sonst Ihre Expertise in Frage hätte stellen müssen – und meine Fähigkeit eine geeignete Tanzlehrerin zu finden.“ „Ihnen ist aber bewusst, dass Sie nicht bei Martine näher nachgefragt, sondern bei Joseph. Sicher, dass es sich dabei nicht eher um eine Herzensangelegenheit handelt?“ „Das ist doch lächerlich!“ Er rauschte den Flur entlang und vernahm nur noch am Rande, wie sie ihm hinterherrief, dass sie ihn am nächsten Samstag um die gleiche Uhrzeit erwarte. Kapitel 2: Mai -------------- Er hatte Angst. Nein, Angst war noch zu schwach für das was er spürte. Er war panisch. Er konnte spüren wie es sich in ihm breit machte, von seinem Kopf aus seinen gesamten Körper hinunter floss, ihn unkontrolliert zittern ließ, nach seinem Herz griff und seiner Atmung den natürlichen Rhythmus nahm. Der Verzweiflung nahe zwang Seto sich ruhig zu atmen, bevor er tatsächlich hyperventilierte. Er wollte noch nicht einmal mehr wissen, wo gerade sein Puls lag. Einfach nur nicht umkippen. Einfach nur bei Bewusstsein bleiben. Gleichzeitig hätte er alles dafür gegeben, seinen Kopf nur kurz ausschalten zu können und die vergangene Stunde vergessen zu können. Allmählich beruhigte er sich wieder und sah vorsichtig auf seinen Bildschirm, der sich noch nicht in Standby begeben hatte. Das, was er dort erblickte, hätte in ihm beinahe die nächste Panikattacke ausgelöst, doch dieses Mal ging es etwas besser und er war in der Lage das Bild wegzuklicken, sodass er nur noch seinen üblichen Startbildschirm überfüllt mit Icons sah. Er hätte es nicht tun sollen, hätte sich etwas anderes zum Zeitvertreib in seiner Mittagspause suchen sollen. Oder zumindest nicht beides kombinieren dürfen, denn nun begann sein Magen zu rebellieren. So schnell er konnte rannte er von seinem Schreibtisch in das kleine angrenzende Badezimmer. Sein Essen blieb dort wo es war, doch kamen die Bilder wieder in ihm hoch, während er sein fahles Antlitz im Spiegel musterte. Er hatte schon deutlich besser ausgesehen. Es war nicht so, dass er nicht geahnt hätte, dass sie mit ihm in ihrem Duell nur gespielt hatte - die Statistiken hatten für sich gesprochen – aber wie sie tatsächlich war, hatte ihn erschrocken. Dabei hatte es so harmlos begonnen. Nachdem ihr Ultimatum ihn bereits über einen Monat beschäftigte, war er neugierig geworden, ob es von ihren alten Duellen auch Aufnahmen gab. Seto hatte nicht vergessen wie sich das System verhalten hatte, als sie sich bei ihrem Duell im März eingeloggt hatte, und schließlich erhielt man einen so hohen Rang nicht durch Untätigkeit. Die ersten zehn Aufnahmen waren nur kurze Zusammenschnitte gegen die verschiedensten Gegner, darunter sogar Yugi Muto, gegen den sie aber verloren hatte. Trotz der beigefügten Protokolle war es ihm misslungen ihre allgemeine Strategie zu durchschauen und so hatte er sich weiter durch die Liste gesucht. Eher durch Zufall hatte er dabei eine zehn Jahre alte Aufzeichnung ausgewählt und war zusammengezuckt, als er ihren Gegner sah. Maximillion Pegasus, nur noch ein Schatten seiner selbst, eine Augenbinde über dem linken Auge, tiefe Schatten unter dem anderen. Er schien kaum die Kraft zu haben aufrecht zu sitzen. Sie dagegen stand, stolz, aufrecht, den Kopf umgeben von wirren kurzen Strähnen, als hätte sie sich selbst die Haare mit einer zu stumpfen Schere geschnitten. Die Aufnahme zeigte nur die letzten zehn Minuten, dennoch reichten sie aus um Seto alles andere vergessen zu lassen. Sie war erbarmungslos. Wo er geglaubt hatte, Milde ihrem Bruder gegenüber zu begegnen, traf er auf Hohn ob seiner Schwäche und blanken Hass. Als er nach ihrer finalen Attacke vor dem Pult zusammenbrach, hatte sie gelacht und nur gemeint, dass so jetzt endlich geklärt wäre, wer der Stärkere von ihnen beiden sei. Keine Besorgnis, keine Wärme, keine Maske, die zeigte, dass sie das alles nur spielte. Sie meinte, was sie da sagte, und das hatte in ihm sämtliche Hoffnung ausgelöscht. Würde er nicht ihren Ansprüchen genügen, würde sie ihn zerstören. Vollständig, mit allem was ihn ausmachte. Ihn selbst. Seine Firma. Er war sich noch immer nicht sicher, wie es mit Mokuba aussah. Aber kannte jemand, der seinen eigenen Bruder so behandelte überhaupt … Doch, kannte sie. Er hatte es in ihren Augen gesehen, als es um Chef ging. Sie konnte lieben, Zuneigung empfinden. Aber ihre Freundschaft zu Mokuba würde nicht seinen großen Bruder beschützen. Wenigstens konnte er sich sicher sein, dass sie sich um ihn kümmern würde. Sie würde schon nichts machen, dass dafür sorgte, dass Mokuba sich von ihr abwandte – hoffte er. Trotzdem durfte er es soweit gar nicht erst kommen lassen. Er musste sich mehr anstrengen. Es musste doch noch mehr geben, was er tun konnte, um Chef dazu zu bringen ihn wieder an sich ran zu lassen. Ihn auf Knien anzuflehen, ihm zu verzeihen, würde er erst können, wenn er ihn wieder sah. Bis dahin brauchte er einen Plan, wie er Martine besänftigte, die sich wohl kaum mit Tangostunden und Französisch zufrieden geben würde. Die Unzufriedenheit war dem pensionierten Lehrer ins Gesicht geschrieben. Er machte sich gar nicht erst die Mühe sie vor seinem neuesten Schüler zu verstecken, obwohl dieser es vorzog ihn einfach nur unbewegt über den Tisch hinweg anzusehen. „Monsieur Kaiba“, sprach Herr Kobayashi nach einer Minute endlich an, „wie haben Sie sich es sich eigentlich vorgestellt Französisch zu lernen, wenn Sie mit so wenig Vorbereitung zu meiner Stunde erscheinen?“ Ein langes Schweigen folgte. In dem bisschen Mimik, das ihm zuteil wurde, konnte er genau sehen, dass der andere sich gerade dafür verfluchte seinen ehemaligen Physiklehrer aufgesucht zu haben. „Aber ich bin immer noch besser als Joey Wheeler“, murmelte Seto schließlich leise, dennoch hörte der alte Mann es. „Da muss ich Ihnen zustimmen. Sie sind Welten von Joey Wheeler entfernt, der – im Gegensatz zu Ihnen – bereits während der Schulzeit meinen Französischunterricht genoss. Er war ein Naturtalent.“ „Aber er hatte nie seine Hausaufgaben!“, protestierte Seto. „Er hatte sie selten, wobei selbst das mit der Zeit besser wurde. Und wenn er sie einmal nicht hatte, so konnte er doch immer alle Vokabeln und beherrschte die Grammatik perfekt. Seine Kinder sprechen heute noch davon, wie er die gesamte Nachbarschaft mit seinen unerwarteten Sprachenwechseln verrückt gemacht hat.“ Seto verschluckte sich und versuchte es in einem vorgetäuschten Hustenanfall zu überspielen, bevor er ein „Seine Kinder?“ herausbrachte. „Nun gut, nicht seine biologischen Kinder, sondern Kinder aus dem Viertel, in dem er aufgewachsen ist. Es ist eine Art Stipendium, bezieht sich aber weniger auf Monetäres, sondern vielmehr auf eine sichere Unterkunft und die Aufnahme in eine kleine, verschworene Gemeinschaft, die auf einander aufpasst.“ War das etwa das Projekt, von dem ihm die Direktorin so vorgeschwärmt hatte? Im ersten Moment fand er das alles lächerlich. Was diese Kinder vor allem brauchten, war Geld. Geld für Essen. Geld für Kleidung. Geld für ein Dach über dem Kopf. Erst danach kämen bei ihnen Erziehung und Bildung. Im nächsten fand er es einfach und genial. Was immer Herr Kobayashi unter einer sicheren Unterkunft verstand, aber es befreite die Schüler von der Angst auf der Straße zu landen. Und wenn sie wirklich gut auf einander aufpassten, würde wohl auch kaum einer von ihnen auf die schiefe Bahn rutschen, wie es in solchen Vierteln nur zu leicht ging. Seto wusste zwar nicht, wo genau Joey Wheeler früher gewohnt hatte, aber die Gegend, in der sie sich das letzte Mal gesehen hatten, bevor er einfach verschwunden war, war nicht die beste gewesen. „Lebt Wheelers Vater noch dort?“, fragte er möglichst beiläufig. Das hier war mehr als eine reine Ablenkungsstrategie, es interessierte ihn wirklich. „Nein. Wie könnte er auch.“ Der Lehrer klang sehr überrascht über Setos Frage. „Sie erinnern sich an das Verkehrsunglück mit der Straßenbahn kurz nach Ihrem Abschluss?“ Seto nickte. Natürlich erinnerte er sich daran! Roland hatte einen langen Umweg um den Unfallort fahren müssen und er war eine geschlagene halbe Stunde zu spät zu einem wichtigen Kundenmeeting gekommen. Der Vertreter der Firma hatte schon gehen wollen und nur durch puren Zufall, war er Seto an der Tür in die Arme gelaufen, der ihn noch hatte umstimmen können. „Sein Vater war der Tote. Der einzige, der unter all den Verletzten nicht laut beklagt wurde. Die Direktorin hat mir erzählt, dass es wohl ein ganz stilles Begräbnis war. Keine Presse – dafür hatte Joseph gesorgt. Nur er, seine Freunde und ein paar Arbeitskollegen seines Vaters.“ Hatte er sich nicht schon immer gewundert, warum sein Hündchen an diesem einen Tag im Anzug durch die Straßen gelaufen war? Heute würde es ihn nicht mehr wundern, doch damals... Der Anzug war schwarz gewesen, ebenso die Krawatte. Wirklich gut hatte er auch nicht ausgesehen. Schmäler als sonst, erschöpft. Wieso war es ihm damals nicht schon aufgefallen? „Wann war die Beerdigung genau?“, fragte er mit kratziger Stimme. „Das kann ich Ihnen leider nicht aus dem Kopf sagen. Aber wenn Sie dieses Thema fortführen wollen, sollten Sie es wenigstens in Französisch tun.“ „Wenn Sie mir die passenden Vokabeln dafür geben.“ Es schnürrte Seto immer noch den Hals zu und er hasste sich dafür. Sonst hatte er sich doch immer unter Kontrolle. Herr Kobayashi schüttelte den Kopf. „Das überstiege Ihre aktuellen Fähigkeiten. Öffnen Sie nun Ihr Buch auf Seite 30. Nachdem Sie ihre Aufgaben bis heute nicht erledigt haben, müssen wir dies wohl oder übel jetzt nachholen.“ Seto war kaum bei der Sache, zu aufgeregt war er durch das, was er erfahren hatte. Jahrelang war er wegen des damaligen Ausbruchs wütend auf Wheeler gewesen, während sich allmählich positive Gefühle für ihn bei ihm einnisteten, dabei hatte er ihn einfach auf dem falschen Fuß erwischt. Wahrscheinlich war er gerade von der Beerdigung gekommen, hatte seine einzige Familie zu Grabe getragen, und dann kam der achso perfekte Seto Kaiba angerauscht und machte sich über seine beruflichen Chancen lustig. Er hätte ihn trösten sollen, aussteigen und in den Arm nehmen, ihn in die Limousine einladen und ihm sagen, dass er die Situation kenne und für ihn da wäre, wenn er jemanden zum Reden bräuchte, ihn zumindest ein Stück mitnehmen. Ihm sein Beileid aussprechen. Wen jemand Joey verstanden hätte in dieser Situation, dann ja wohl er. Aber er hatte absolut gar nichts gemacht – zumindest nichts, was sie beide weiter gebracht hätte. So weit er wusste, war es ihr letztes Treffen gewesen, bis zu ihrer Begegnung im Februar, bei der er ihn nicht einmal mehr erkannt hatte, trotzdem er auch dann schwarz getragen hatte. In all seinen Überlegungen was aus Joey Wheeler geworden sein könnte, war dieses Szenario niemals aufgetaucht. Kein einziges Mal hatte er sich vorstellen können, dass er Erfolg im Leben haben würde. Jedes Mal war erst sein Auftreten notwendig gewesen, um den Köter aus dem Umfeld herauszuholen, das er als Kind und Jugendlicher gekannt hatte – nur um dann zu seinem Schoßhündchen zu werden. Mit jemand so Reifen und Selbstbewussten hatte er schlicht weg nicht gerechnet. Als ihm seine Hausaufgaben mitgeteilt wurden, machte er sich eifrig eine Notiz in seinem Smartphone und nahm sich fest vor alles bis zur nächsten Stunde zu erledigen. Wenn er es nur schaffte zehn, besser noch zwanzig Minuten pro Tag zu erübrigen, würde es sich fast wie von selbst lernen, versicherte ihm der Lehrer. An der Tür verabschiedete sich Seto höflich und fragte kurz, ob Herr Kobayashi die Adresse von Wheelers Projekt kenne. Erst im Auto fiel ihm auf, dass man ihn kein einziges Mal darauf hingewiesen hatte, dass er inzwischen Pegasus hieß. Wusste er es nicht besser oder hatte er es ihm schlichtweg vorenthalten? Physik war das einzige Fach gewesen, in dem er und der Köter immer auseinander gesetzt wurden. Nach Möglichkeit lag der gesamte Raum zwischen ihnen. Seto nannte Roland sein nächstes Ziel und schnallte sich dann an. Bis vor ein paar Jahren hatte er häufig unangeschnallt auf der Rückbank gesessen – der Sicherheitsgurt war einfach viel zu unbequem gewesen - doch nachdem er nach einer unerwarteten Vollbremsung Bekanntschaft mit der Trennscheibe gemacht hatte, ignorierte er dieses kleine Detail liebend gern. Rasch wurden die Lichter draußen weniger. Sie verließen die Gegend mit den Einfamilienhäusern und gelangten schnell in eine Region Dominos, in der man nur die Straßenbeleuchtung sah. Die meisten Bewohner waren noch nicht von der Arbeit zurück oder hatten gerade erst angefangen, sodass die meisten Fenster dunkel blieben. Roland hielt vor der genannten Adresse und wartete bis Seto ausgestiegen war. Dann machte er es sich auf dem Fahrersitz etwas bequemer. Mit leichtem Zögern schritt Seto zur Haustür und las sich die Namen am Klingelbrett durch. An vierter Stelle stand in sauberer Handschrift „Joseph P.“. Auf Verdacht klingelte er und war verdutzt, als ihn die Stimme einer jungen Frau fragte: „Ja, bitte?“ „Guten Abend, hier ist Seto Kaiba. Ich suche das Stipendienprojekt von Joseph Pegasus früher Wheeler und ...“ „Verschwinden Sie.“ „Wie bitte?“ „Sie sollen verschwinden. Sie sind zwar an der richtigen Adresse, haben hier aber absolut nichts zu suchen. Also hauen Sie gefälligst ab!“ Damit hatte er nicht gerechnet. Seine eheste Vermutung hatte darin bestanden, dass ihm nicht geglaubt würde, dass er erst oben an der Wohnungstür beweisen musste, dass er tatsächlich er selbst war. Aber eine solch klare Ablehnung traf ihn dann doch. An der Gegensprechanlage schien sich etwas zu tun, denn plötzlich sprach ein Mann: „Bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Ich komme runter.“ Seto sah durch die dicken Scheiben, wie das Licht im Treppenhaus anging und machte dann dem jungen Mann Platz, der durch die Tür ins Freie trat. Er war vielleicht 18 und einen Kopf kleiner als er selbst. „Guten Abend. Auch?“ „Danke, nein. Ich rauche nicht“, erwiderte Seto kühl, während er sich genau wie der andere mit dem Rücken zu Hauswand etwas außerhalb des Lichtkreises der Lampe über der Tür hinstellte. Zu seiner Verwunderung prustete dieser los. „Was denken Sie von mir? Es geht hier um ein simples Pfefferminz. Das Abendessen war ziemlich zwiebellastig und ich wollte Sie nicht mit meinem Mundgeruch in die Flucht jagen - sondern mit dem, was ich Ihnen sage. Außerdem würde Jo mich eigenhändig erwürgen, wenn einer von uns Rauchen würde.“ „Wen meinst du mit Jo?“ Seto fand es angemessen ihn zu duzen, hoffte aber umgekehrt für dieses Bürschchen, dass es sich nicht diese Freiheit herausnahm. „Joseph Wheeler. Wegen dem sind Sie doch wohl hier, oder nicht?“ „Nicht direkt. Ich wollte eher wissen, was für ein Projekt er auf die Beine gestellt hat – ob man es finanziell unterstützen muss.“ Geringschätzig ließ er den Blick über den verdreckten Bürgersteig und die mit Grafitis übersäte gegenüberliegende Hauswand schweifen. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst! Sie denken ernsthaft, dass wir Ihre Hilfe bräuchten? Wenn Sie eh schon wissen, dass Joseph inzwischen Pegasus mit Nachnamen heißt, sollten Sie auch wissen, dass er Ihr Geld nicht nötig hat – und wir auch nicht.“ „Wusste gar nicht das sein Hotel so viel Gewinn abwirft.“ Tatsächlich hatte er trotz der hohen Preise erwartet, dass das Hotel sich gerade so finanziell selbst trug. Besonders da es erst seit wenigen Jahren existierte. „Wer sagt, dass er nur durch das Hotel Einnahmen hat?“ „Wie bitte?“ Seto glaubte sich verhört zu haben. Was machte der Köter noch? In keinem anderen Kontext, der irgendwie Geld einbrachte, hatte er ihn bei seinen Recherchen gefunden. „Liegt das nicht auf der Hand? Allerdings nutzt er dieses Geld nur für Projekte wie unseres – wie Sie sehen, sind wir damit mehr als ausreichend abgesichert. … Was das andere angeht“, er stieß sich von der Wand ab und blickte aufmüpfig zu Seto hoch. „Lassen Sie ihn endlich in Ruhe. Das ist das, was Liz vorhin versucht hat, Ihnen klar zu machen. Sie haben ihn für ein ganzes Leben genug gequält. Akzeptieren Sie einfach, dass er sich weiterentwickelt hat, und lassen Sie es darauf beruhen. Er ist besser ohne Sie dran. Wäre es schon während der Schulzeit gewesen.“ „Und du bist wer, dass du dich erdreistest, mir das ins Gesicht zu sagen?“, zischte Seto. „Ricky. Der Sohn seiner alten Nachbarn. Und sagen wir einfach, ich weiß genug, um nicht auf Ihre Fassade reinzufallen. Und jetzt gehen Sie bitte. Ich muss dafür sorgen, dass die Kleinen rechtzeitig im Bett liegen. Morgen ist schließlich Schule.“ Damit ließ er Seto einfach stehen und verschwand wieder in das Innere des Hauses. Insgeheim fragte Seto sich, wann und ob er lernen würde auf Französisch zu fluchen. Die Nummer war reichlich nach hinten losgegangen. Statt Antworten hatte er nur noch mehr Fragen und niemanden, der sie ihm erklären wollte. Was sollte Chefs zweites finanzielles Standbein sein, dass er es sich erlauben konnte eine ihm unbekannte Anzahl an Kindern durchzufüttern? Und was genau wusste dieser Ricky? Es hatte ihm gar nicht behagt, so unverblümt gesagt zu bekommen, dass er nicht gut genug war für sein Hündchen. Natürlich, er hatte es anders ausgedrückt, doch inhaltlich blieb es das Gleiche. Wer würde sich ihm noch entgegen stellen und zu verhindern suchen, dass er mit ihm wieder in Kontakt kam? „Nach Hause, Roland.“ Den Rückweg über stierte er aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Wie oft würde er solche Begegnungen über sich ergehen lassen können, ohne dass sein Entschluss wankte? Dieser Ricky war ihm gegenüber nicht laut geworden, war sachlich geblieben. Dennoch war in seinen Worten so viel Überzeugung mitgeschwungen, dass es ihn doch beeindruckt hatte. Trotzdem. Er wollte sein Hündchen endlich nach all den Jahren haben und er würde sich nicht von so einem Dreikäsehoch aufhalten lassen. Oder vom Kindergarten. Oder von seiner Schwester. Oder von Pegasus. Oder von sich selbst. „Wie? Sie haben keinen Tisch für mich? Nicht diese Woche und in keiner anderen“, brauste Seto am Telefon auf. „Hören Sie zu, gute Frau. Ich war Ende März bei Ihnen in Begleitung von Joseph Wheeler und sehe keinen Grund weswegen... Wie, genau deswegen haben Sie keinen Tisch für mich? Machen Sie sich nicht lächerlich! Selbst ein Restaurant wie Ihres kann sich ein solches Verhalten gegenüber potentieller Gäste nicht erlauben! … Nein, ich Ihnen nicht!“ Wütend knallte er den Hörer auf den Tisch, als die Gegenseite auflegte. Erst verlor er einen wichtigen Lieferanten und dann konnte er noch nicht einmal dort essen, wo er wollte. Seine Erwartungen für den nächsten Monat schrumpften in sich zusammen, während er endlich den Laptop einpackte und sich auf den Weg zum Fahrstuhl begab. Am besten wäre es, wenn er diesen Tag und seinen Vorgänger vollständig aus seinem Gedächtnis streichen würde und einfach so tat, als hätten sie nie existiert. Doch das konnte er nicht. Er hatte einfach zu viel erfahren, das wichtig für ihn und sein aktuelles, privates Projekt war. In der Garage angekommen machte er sich nicht einmal mehr die Mühe Roland zu sagen, dass er nach Hause wollte, sondern ließ sich einfach nur auf die Rückbank sinken und versuchte seinen Aktenkoffer zu ignorieren. Den ganzen Tag über hatte er telefoniert, E-Mails geschrieben und Leuten mit seinen Anwälten gedroht. Ein Tag wie jeder andere also, wenn die Anzahl der Drohungen juristische Schritte einzuleiten nicht exponentiell zu seinen Arbeitsstunden gestiegen wären. Wenigstens hatte er Zusagen von drei alternativen Lieferanten, dass sie sich eine Zusammenarbeit mit der Kaiba Corporation sehr gut vorstellen könnten. Müde massierte er sich die Schläfen. Wie er sich auf die Ruhe seines Zimmers freute. Einfach ein wenig auf dem Sofa liegen und Musik hören, bevor er sich wieder in sein Arbeitszimmer begab und … Wieso war ihm in den letzten zwei Monaten nie aufgefallen, dass er tagtäglich daran vorbeifuhr? „Roland, halt an. Ich steig hier aus. Halt dich auf Abruf bereit.“ Erleichtert schrieb Mokuba den letzten Satz der Zusammenfassung. Es hatte Stunden gedauert, bis er alle wichtigen Informationen beisammen und soweit geordnet hatte, dass er damit lernen konnte. Allmählich wurde er das Gefühl nicht los, seine Professoren machten sich einen Spaß daraus auf eine Vorlesungsstunde sechs Stunden Nacharbeit kommen zu lassen. Und wie machten das bitte seine Kommilitonen, die den Nerv hatten, mitten unter der Woche feiern zu gehen? Denn seltsamerweise hatten es ein paar dieser merkwürdigen Gattung bis in dieses Semester gepackt. Aber dafür würde das Lernen für die Prüfungen einfacher werden, versuchte er sich selbst zu trösten. Da würde sich definitiv die Disziplin, die er sich schon vor Jahren bei seinem Bruder abgeschaut hatte, lohnen. Wo blieb der überhaupt? Er war schon vor zwei Stunden im firmeneigenen Chatservice offline gegangen, was in ihm die Hoffnung geweckt hatte, nicht alleine essen zu müssen. Doch das Knurren seines Magens deutete darauf hin, dass er sich besser wieder an seine alten Essenszeiten hielt statt viel zu lange auf Seto zu warten. Zumindest wurde er nicht mehr um diese Uhrzeit ins Bett geschickt. Unerwartet klopfte es an der Tür. „Mokuba?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, betrat sein großer Bruder das Zimmer. Er musterte ihn genau. Er wirkte müde, abgekämpft und dennoch war da etwas an ihm, dass ihn beinahe glücklich aussehen ließ. „Abend, Seto.“ Schließlich stand er auf und ging auf ihn zu. Ihm war nicht entgangen, dass der andere etwas hinter seinem Rücken versteckt hielt. „Du riechst nach Essen. - Ich hab extra auf dich gewartet.“ „Schuldigung, Kleiner. - Allerdings habe ich auch noch keinen einzigen Bissen davon bekommen.“ Jetzt präsentierte er eine Papiertasche, auf der schlicht das Wort „Traditionell“ geschrieben stand. „Seit wann haben die einen Lieferdienst?“, hakte Mokuba skeptisch nach. Er liebte das Essen dort, nur kam er leider viel zu selten in dessen Genuss. Hätte er gewusst, dass man sich auch etwas einpacken lassen konnte, sähen seine Mittagspausen ab und zu anders aus. „Haben sie auch nicht. Was ist jetzt? Interesse? Oder darf ich den Lachs in Teriyaki-Soße alleine essen?“ „Untersteh dich! Ich will auch was ab!“, versuchte er an den Inhalt zu gelangen, doch Seto war schneller und hielt die Tasche so, dass er die Arme danach in die Luft strecken musste. „Du lässt uns aber noch genug Zeit, ein paar Teller und Besteck zu holen, oder? Schließlich habe ich dir mal Tischmanieren beigebracht.“ Statt einer Antwort, wurde er einfach aus der Tür und zur Treppe geschoben. Danach ging es weiter Richtung Küche. „Und wie hast du das jetzt geschafft?“ Seto wurde zu einem der Barhocker bugsiert und konnte kaum so schnell schauen, wie vor ihm zwei Porzellanteller standen und sich der Tascheninhalt auf dem restlichen Tresen verteilte. „Sagen wir einfach, es ist die Belohnung dafür, dass ich über eine Stunde in der Ecke der Küche stand und zugehört habe.“ „Wie bitte!?“ „Kein weiterer Kommentar.“ „Aber, Seto!“ Es war klar gewesen, dass Mokuba sich damit nicht zufrieden geben würde. „Kein Aber. Willst du jetzt was davon, oder nicht?“ Jetzt grummelte Mokuba nur noch etwas von „Erpressung“ und nahm sich das größere der beiden Fischstücke. Sie wussten beide, dass die Diskussion erst starten würde, wenn sie beide satt waren, und so ließen sie sich alle Zeit der Welt, um es sich schmecken zu lassen. Kapitel 3: Juni --------------- Vollgepackt mit Taschen betrat Yuki die Küche. „Ihr solltet mal lüften“, forderte sie, während sie einen Teil ihrer Last auf der Arbeitsfläche verteilte. „Damit es noch wärmer hier drin wird?“ Shin war kurz davor das Tanktop auszuziehen und nur noch in Schürze zu kochen. Der erste richtig warme Tag des Jahres hatte sie alle unerwartet getroffen – trotzdem hatte Hans nicht von seinen Plänen abrücken wollen und die Küche in eine Sauna verwandelt. Kommentarlos nahm Yuki die Familienpackung Vanilleeis aus der Kühltasche und hielt sie dem Koch an die Stirn, bevor sie die restlichen Besorgungen aus den Taschen holte und so den wenigen, verbliebenen Platz belegte. „Draußen ist kühler als hier drin.“ „Das sagst du nur, weil du im klimatisierten Auto gesessen bist.“ „Ja, stell dir vor – an meinem freien Nachmittag gönne ich mir ein wenig Luxus. Hier gab es aber auch mal eine Maschine zur Raumtemperaturregulierung.“ Demonstrativ zeigte sie auf die kleine Schaltfläche an der Wand. „Wie wäre es damit? Und ihr hattet mal ne Dunstabzugshaube. Wieso läuft die nicht?“ Als er merkte, dass seine Stirn allmählich gefror, das Eis dafür auftaute, ließ Shin den Behälter sinken und suchte nach Schalen, in die er es umfüllen konnte. „Ich weiß. Aber Hans versucht heute irgendein Rezept, dass auf keinen Fall Zugluft abbekommen darf. Und nein, du darfst nicht fragen.“ „Sag ich was? Ich wollte nur wissen wo Hans eigentlich steckt, wenn das so wichtig ist, dass er dich hier schwitzen lässt. Nicht, dass es schlecht aussähe, aber...“ Sie biss sich kurz auf die Unterlippe. Das hatte sie nicht laut sagen wollen. Glücklicherweise drehte sich Shin etwas zur Seite, sodass sie sich nicht mehr ansahen. „Ich hab alles bekommen, was Hans wollte. Und auch den Wasabi für dich. Bin durch die halbe Stadt gerannt dafür. Das nächste Mal fang ich damit an und erledige meine Sachen erst danach. Danke.“ Er drückte ihr eine Schüssel mit Eis in die Hand und bedeutete ihr, sich auf den Hocker in der Ecke zu setzen, während er ihre Einkäufe endlich verstaute. „Yuki hat Eis mitgebracht. Wer will – wir sind in der Küche“, teilte er dem Rest des Teams durch die Sprechanlage mit und versorgte sich dann selbst mit der kleinen Erfrischung. Sobald Cian hereingestürmt kam, würde er kaum noch etwas abbekommen. Wenigstens musste er sich keine Sorgen um Matt machen, der sich seinen Anteil schon holen würde. „Hier hat jemand was von Eis gesagt“, strahlte Hans sie als erster an. Er hielt an seiner Kochehre fest und trug noch seine Arbeitskleidung – auch wenn ihr die Ärmel fehlten. „Du kriegst nichts! Schließlich garst du mich seit heute morgen in diesem Raum!“ „Dafür wirst du das Ergebnis lieben. Jetzt gib mir schon die Schüssel.“ „Nö“, drückte sich Cian zwischen die beiden und schnappte sich den Eisbehälter und war schon auf halbem Weg in den Aufenthaltsraum, als die beiden Köche ihn an den Schultern zurück zogen. „Da geblieben!“ „Eis oder Leben!“ „Hey, meins! Und im Gegensatz zu euch, arbeite ich tatsächlich“, mischte sich nun auch Matt ein. „Als ob – du liegst doch den halben Tag unterm Rasensprenger und faulenzt!“ „Und das will der Herr im kühlen Keller so genau wissen, weil...?“ „Ich das machen würde, an deiner Stelle.“ „Für einen Rasensprenger bräuchten wir erst mal Rasen.“ „Und wie bist du sonst so nass geworden?“ „Das, mein Lieber, nennt sich Schweiß. Wenn du magst, kannst du gerne was ab haben.“ „Untersteh dich! Und wehe du vergisst, heute Abend zu duschen!“ „Keine Angst. Werd ich nicht. - Schon aus eigenem Interesse. Aber wenn ich nicht gleich was vom Eis bekomme, überleg ich mir das noch mal.“ Letzten Endes hingen Hans, Cian und Matt jeweils mit einem Löffel bewaffnet um den Plastikbehälter und verputzten das Eis mit erschreckender Geschwindigkeit. Amüsiert beobachtete Yuki die Szene, glückselig ihre eigene Portion genießend. Doch irgendetwas stimmte nicht. Jemand fehlte in dem ausgelassenen Tumult. „Wo ist Chef?“ Vier Paar Augen richteten sich auf sie. „Der ist am frühen Nachmittag los. Kurz nach dir.“ „Achso... Hatte mich nur gewundert.“ Die anderen aßen weiter, während sie sich an ihren Besuch in der Stadt erinnerte. Ihr waren zwei Männer entgegen gekommen, die sehr vertraut gewirkt hatten, doch da sie sie nicht weiter beachteten, obwohl sie direkt an ihnen vorbei lief, hatte sie sich nichts dabei gedacht. Der eine hatte ausgesehen wie Chef. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, er war in den letzten Wochen generell oft unterwegs gewesen, fuhr abends los, war am nächsten Tag so müde, dass sie den Umfang seines Schlafs in Minuten kalkulierte. „Er trifft sich aber nicht wieder mit jemanden, oder?“ „Nicht das ich wüsste“, antwortete ihr Hans, der die Reste Matt überlassen hatte. „Er hat zumindest nichts erwähnt.“ „Bist du besorgt wegen deines Plans?“, wollte nun Cian wissen. „Welcher Plan?“ „Nichts Wichtiges, Shin.“ Sie wusste, dass er der Letzte war, der davon erfahren durfte. Immerhin verspürte sie kein weiteres Verlangen nach klein gehechselter Kost seit Februar. „Yuki?“ Der Blick, mit dem er sie musterte, war ihr bereits jetzt zu wider. Wenn die anderen nicht bald etwas unternahmen, würde sie schwach werden. Dabei hatte sie es doch so klein wie möglich halten wollen. Wieso unternahmen sie nichts? Matt war eingeweiht, zog es aber vor neutral zu bleiben, und Hans sah sie mit solch unverhohlener Neugier an, dass sie ihre Hoffnungen schnell begrub. „Okay.“ Sie atmete kurz durch, was sich in der stickigen Luft der Küche als ein Kunststück herausstellte, und erklärte dann: „Um es kurz zu machen. Wir werden Ende nächsten Monats Seto Kaiba als Gast hier rein schmuggeln.“ Was immer sie befürchtet und sich ausgemalt hatte, Shins Reaktion übertraf ihre schlimmsten Albträume. „Wer kam auf diese hirnrissige Idee?“ „Ich“, flüsterte sie unter seinem wütenden Blick. „Was hast du dir dabei – nein, gedacht hast du offensichtlich gar nicht. Wie kommst du dazu, ihn hier her zulassen?“ „Ich hielt es für eine gute Idee. Die beiden sollten sich mal richtig aussprechen.“ „Und du glaubst, dass müssten sie hier machen?“ „Nicht direkt, aber...“ „Hast du eine Vorstellung davon, wie sehr du Chef damit verletzt? Hast du nicht zugehört, als er aus Domino zurückkam?“ „Schon, aber...“ „Es ist nicht immer alles Friede, Freude, Sonnenschein, nur weil sich das kleine Prinzesschen es sich so ausmalt! Es kann nicht immer ein Happy End geben – lern das endlich mal!“ Er wurde so selten laut, dass es sie nun umso mehr traf. „Hast du nur ein einziges Mal darüber nachgedacht, dass du damit nicht nur Chef, sondern auch uns weh tust? Denn wir werden es sein, die ihn jeden Tag wieder so fertig sehen. Die versuchen werden, ihn wieder zum Lachen zu bringen.“ „Shin...“ „Nichts 'Shin'. Geh einfach. Wenn du so wenig an andere denkst, brauchst du nicht in unserer Nähe zu sein.“ „Shin.“ „Ich mein es Ernst. Geh!“ Sein Blick sagte mehr als Worte es je gekonnt hätten. Ohne einen weiteren Versuch, ihn zu beruhigen, verließ sie durch die Tür zum Flur die Küche. Wie in Trance stieg sie die Treppen bis hinauf aufs Dach empor und setzte sich dann auf den Rand der großen Platten, die Matt um den Ausgang gelegt hatte, damit er mit den Gartengeräten nicht die Bepflanzung zerdrückte. Außer ihm und ihr kam zwar niemand hier hoch, doch ihm war es wichtig, dass alles ordentlich und gepflegt war. Nächsten Monat würden sie die Tür zum Dach wieder abschließen, damit die Zwillinge nicht unbeobachtete über die weite Fläche tobten und der Kante zu nah kamen - falls sie denn ins Hauptgebäude kamen. Martine hatte noch immer nicht ihr Okay gegeben und so wie Shin sich aufgeführt hatte, war der ganze Plan eh zum Scheitern verurteilt. Zögen sie nicht alle an einem Strang, konnte der Plan unmöglich gelingen. Was hatte sie sich dabei eigentlich gedacht? Ohne Shin hatte das alles keinen Sinn. Chef würde ihr den Kopf abreißen, noch bevor sie 'Piep' sagen konnte. Wütend auf sich selbst zupfte sie an einem der Bodendecker und starrte hinaus aufs Meer. Aber im Februar hatte doch alles noch so gut ausgesehen! Da hatte sich Shin nur darüber aufgeregt, weil er dachte, Chef verfiele in alte Verhaltensmuster und amüsiere sich nur mit einem Gast. Nicht, dass er das jemals zuvor gemacht hätte, aber er kannte ihn eben um einiges länger als sie und wusste daher besser Bescheid. Dachte er zumindest. Eigentlich standen alle Zeichen auf Versöhnung zwischen Chef und Kaiba – zumindest war eine solche überfällig. Doch ohne Shin... Frustriert stellte sie fest, dass sich ihre Gedanken im Kreis drehten und sie so eben eine nicht zu missachtende Fläche entgrünt hatte. „Ich geb dir nachher eine Schaufel und du buddelst alles wieder ein“, sagte Matt hinter ihr und setzte sich neben sie. „Schuldigung“, nuschelte sie und hielt ihm den kläglichen Rest der Pflanze entgegen. „Da nicht für. Ich dachte nur, du solltest jetzt hier oben nicht allein sein.“ „Ein dreistöckiges Gebäude ist viel zu niedrig, um ...“ „Das wollte ich dir gar nicht unterstellen. Ich hab um ehrlich zu sein, viel mehr Angst, dass du hier oben mit Salzwasser gießt – denn das wäre viel schlimmer, als eine herausgerissene Minze.“ „Keine Angst. Ich“, widersprach sie und spürte schon im nächsten Moment, wie die erste Träne über ihre Wange rollte. Stumm hielt Matt ihr ein Taschentuch hin und legte die Packung zwischen sie. Geduldig wartete er, bis sie alles weggewischt und sich ausgiebig geschnäuzt hatte. „Er wird sich schon einkriegen. Es war für ihn wahrscheinlich einfach nur überraschend.“ „Er hat mich angeschrien!“, schniefte Yuki und erhielt von Matt das zweite Taschentuch. „Na und? Was denkst du, wie oft Cian und ich uns schon gestritten haben?“ „Aber bei euch ist das anders. Ihr streitet euch, dann merkt ihr, wie wichtig euch der andere ist und am Ende des Tages bekomme ich von euch neue Ohrstöpsel.“ „Und was sollte bei euch anders sein – abgesehen von den Ohrstöpseln?“ „Alles. Wir sind nicht zusammen. Er ist wohl derjenige, der mich von euch am wenigsten leiden kann und...“ „Denkst du das wirklich immer noch?“ „Was?“ „Das er dich nicht ausstehen kann?“ „Ein... ein bisschen?“ Matt seufzte. „Wieso müsst ihr jungen Leute eigentlich immer alles so kompliziert machen? Glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass, sobald er sich ein wenig beruhigt hat, es ihm Leid tun wird, dass er so zu dir war. Ja?“ „Bekomm ich noch ein Taschentuch?“ „Meinetwegen. Aber dass ist dann das letzte. Wenn ich dich so mit nach unten nehme, denken Cian und Hans ja sonst was, was ich hier oben mit dir angestellt habe.“ „Einverstanden.“ Yuki probierte, ob sich ihre Mundwinkel nach oben bewegen ließen, und bekam tatsächlich ein Lächeln zustande. „Schon viel besser“, meinte Matt und erhob sich wieder. „Kommst du mit runter, oder willst du noch ein bisschen allein sein?“ „Ich glaub, ich bleib noch ein bisschen. Meine Mutter wird sich zwar aufregen, wenn ich wieder so braun werde wie letzten Sommer, aber das Wetter ist einfach zu herrlich.“ Matt musste schmunzeln. Da versuchten alle kanadischen Frauen braun zu werden im Sommer und in Japan gab es viele, die jeden Sonnenstrahl vermieden. Yuki zum Glück nicht – wie hätte sie sonst der Sonnenschein des Teams sein können? Shin beendete das Gespräch und legte das Telefon zurück in die Ladeschale. Chef hatte sich fürs Abendessen entschuldigt und ganz beiläufig angedeutet, dass er wohl auch erst in aller Frühe am nächsten Tag wieder da sein würde. Als sein Angestellter musste Shin das wohl einfach hinnehmen. Aber als sein ehemaliger Mitbewohner und guter Freund machte er sich Sorgen. Diese Lebensweise hatte ihm schon damals in New York nicht gut getan. Nach außen hin hatte er immer betont, wie viel leichter es so war, frei von Verpflichtungen und Erwartungen, die mit einer festen Beziehung einher gingen, doch mit jedem neuen Mann in seinem Leben war sein Blick ein wenig leerer geworden. Er war nicht glücklich gewesen. Die erste Verbesserung war erst eingetreten, nachdem die Geschwister Pegasus ihn unter ihre Fittiche genommen hatten. Und mit Ryan an seiner Seite hatte er von innen heraus gestrahlt. Zuversichtlich, lebensfroh, unbesiegbar. Irgendwie vermisste Shin genau diesen Chef. Den, der spontan ehrlich lachen konnte, weil er einfach Spaß am Leben hatte. Die Tür zum Mitarbeiterraum ging auf und Yuki trat ein. Sie würdigte ihn keines Blickes, während sie sich die Kisten für Haus 2 griff und wieder verschwand. Das war das andere, das er vermisste. Seitdem er sie wegen ihrer Idee nieder gemacht hatte, war über eine Woche vergangen und sie hatte ihr komplettes Verhalten verändert – und zwar ausschließlich ihm gegenüber. Mit den anderen scherzte sie weiterhin, schenkte ihnen im Vorbeigehen ein Lächeln und war der kleine Lichtblick an den stressigen Tagen in der Hauptsaison. Doch ihm zeigte sie die kalte Schulter, sprach ihn nie von sich aus an und antwortete ihm, wenn überhaupt, einsilbig. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er so aus der Haut gefahren war. In diesem Moment war es ihm richtig erschienen. Er hatte keine Ahnung, was dieser Seto Kaiba für ein Spiel spielte, aber hätte er im Februar bereits gewusst, um wen es sich handelte, wäre er garantiert nicht so nett zu ihm gewesen. Auf der anderen Seite. Wieso nicht? Eigentlich hatte er auf ihn einen vernünftigen Eindruck gemacht. Nicht so arrogant und hochnäsig wie die anderen Gäste – zumindest nicht mehr nach seinem kleinen Apfelmus-Komplott... Wenn er nur wüsste was das Richtige war! Wenigstens sollte er während der Arbeit, seine Gedanken mehr auf das Wesentliche fokussieren, denn eigentlich hatte er den Apfel in Scheiben gewollt und nicht in kleinen Würfeln. Jetzt fing das schon wieder an. Wütend kippte er die zerschnittene Frucht in den Obstsalat fürs Abendessen und nahm sich den nächsten Apfel. Dennoch sollte er sich irgendwann entscheiden, was er wollte. Denn was, wenn er derjenige war, der Chefs Glück im Weg stand – unter der Annahme, dass das mit ihm und Kaiba funktionieren sollte, wie auch immer. Würde er es sich verzeihen können? Auch dieser Apfel landete etwas anders als beabsichtigt in der Schüssel. Dann kam Yuki wieder herein und stellte zwei Kisten, die sie mit zurück genommen hatte, wortlos auf den Tresen und wandte sich wieder zum Gehen. „Yuki, warte mal.“ Auf der Türschwelle drehte sie sich um. Sie sagte nichts, doch ihr Blick verriet eine gewisse Neugier. „Wegen deines Plans bezüglich nächsten Monats...“ Ihr Interesse schien geweckt, auch wenn sich kaum etwas in ihrer Haltung geändert hatte. „Mach es. So, wie du es dir vorgestellt hast. Ich steh hinter dir“, sprudelte es aus Shin heraus. Yuki nickte schlicht und einen Augenblick später sah er wieder ihren Rücken. „Und es tut mir Leid, dass ich so fies zu dir war.“ „Ist das alles?“ „Ich verspreche dir, dass das nicht mehr vorkommen wird und ich dir in Zukunft, besser zuhöre, wenn du wieder lieb zu mir bist.“ „Blödmann.“ Er wagte es, diese Aussage als ein „Einverstanden“ zu interpretieren. „Ich weiß. Frieden?“, fragte er vorsichtig. Sie machte ein paar schnelle Schritte auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Frieden. Und ich bekomme morgen deinen fantastischen Käsekuchen zum Frühstück.“ Für einen kurzen Moment hatte er tatsächlich vergessen, wie hart sie verhandeln konnte. „Mit Streuseln?“ „Welchen sonst?“ Ihr Lächeln ließ irgendetwas in seiner Magengegend flattern, was er nicht auf Hunger kurz vor dem Abendessen schieben konnte. „Freundschaft geht eben doch durch den Magen“, versuchte er das Gefühl zu überspielen. „Bist du dir sicher, dass es nicht etwas anderes als Freundschaft war?“ Einen kurzen Moment sah sie ihm tief in die Augen. „Ich such dann mal Matt. Es gibt doch gleich Essen, oder?“ Shin war seltsamerweise froh, dass sie so schnell zur Tür hinaus war. Aber seine Knie hatten beschlossen es seinem Magen gleichzutun – an sein Herz wollte er gar nicht erst denken. Es war spät abends, als sie endlich die Zeit fand, sich im Go-Forum einzuloggen. Ihre Kollegen lagen schon im Bett oder würden ihre Matratze schonen, indem sie außerhalb schliefen. So hatte sie genug Ruhe, um ihrem Schüler eine weitere Lektion zu erteilen. „Guten Abend“, tippte sie in das kleine Nachrichtenfeld. „Ich hoffe, du hast dich ein wenig entspannt.“ „Natürlich. Mein Schreibtischsessel ist ergonomisch geformt und für mich angefertigt.“ Er saß also noch über der Arbeit. In den letzten Monaten hatte sie ihn nur zweimal nicht in seinem Arbeitszimmer erwischt. Zwar stritt er es ab, doch sie wusste, dass er, sobald er sich dort am Schreibstich befand, garantiert etwas für seine Firma erledigte – oder er steckte eine weitere Niederlage gegen sie ein, wenn sie ihm nicht über die Vorgabe einen gewissen Vorsprung gewährte. „Was gibt es bei dir Neues?“ Sie wusste auch, was er damit meinte, aber sie konnte ihm einfach nichts schreiben, was ihm falsche Hoffnung schenkte. Denn das letzte Wort in dieser Angelegenheit hatte jemand anderes. „Es gab die letzten Tage ausschließlich meine Lieblingsgerichte. Zum Glück sind wir momentan ausgebucht und ich verbrauch die ganzen Kalorien wieder.“ Wohl nicht ganz das, was er erwartet hatte. „Eure Köche kochen eben gut. Können wir dann anfangen? Ich hab gestern nur eine Stunde geschlafen und hoffe, heute wenigstens vier zu bekommen.“ „Worauf wartest du dann noch?“ Kapitel 4: Juli (erste Hälfte) ------------------------------ Obwohl es unter der Woche war, brauchte er an diesem Tag seinen Wecker nicht, um mit den ersten Sonnenstrahlen, die sich durch die Vorhänge in sein Zimmer trauten, aufzuwachen. Voller Vorfreude schlug er die Augen auf und hüpfte aus dem Bett, kümmerte sich sogar gleich um die Bettdecke. Dann flitzte er ins Bad. Den Schlafanzug trug er immer noch, als er in Setos Zimmer nebenan stürmte und ihn wecken wollte. Doch das Bett war leer. Kurz lauschte er, ob er sich vielleicht gerade im Bad befand, bevor er weiter ins Arbeitszimmer stürmte. Doch auch dort war sein Bruder nicht. Ebenso nicht in seinem neu eingerichteten Entspannungsraum. Er würde es doch nicht gewagt haben an diesem Tag ohne ein weiteres Wort in die Firma zu fahren? Wenn dem der Fall war, brauchte er jetzt dringend erst eine heiße Schokolade, bevor er sich über die Schokoladeneisvorräte hermachte. Er hatte seinen Freunden extra gesagt, dass er mit ihnen erst am Wochenende feiern würde, und so hatten sie alle diesen Tag verplant und keine Zeit für ihn. Und dann war Seto nicht da! Zu seiner Überraschung fand er die Küche leer vor, obwohl zu dieser Tageszeit ihre Haushälterin darin sein sollte und alles für die weiteren Mahlzeiten des Tages vorbereitete. Also nahm er sich einfach seine Lieblingstasse und ging hinüber zu dem kleinen Kaffeeautomaten, der auch heiße Schokolade machen konnte – ein Detail, in das er Seto damals gequatscht hatte. „Mokuba! Was machst du schon hier?“ Vor Schreck rutschte ihm die Tasse aus der Hand, fiel aber nur wenige Zentimeter sicher auf die Arbeitsfläche ohne Schaden zu nehmen. Erschrocken drehte er sich um und blickte seinen großen Bruder überrascht an. „Seto! Ich dachte du wärst in der Firma.“ „Und was soll ich deiner Meinung dort am 23. Geburtstag meines kleinen Bruders?“ Seto hatte sich an den Türrahmen gelehnt und bedachte ihn mit einem Blick, den Mokuba nicht richtig deuten konnte. „Arbeiten?“, versuchte es Mokuba. „Nicht heute.“ „Sicher?“ „Ja, sicher.“ „Ganz sicher?“ „Ja, Mokuba, ganz sicher.“ „Okay“, resignierte Mokuba. „Seto, du kannst raus kommen! Ich weiß nicht welcher Teil der KC sich mit Klonen beschäftigt – aber selbst, wenn das nur ein Roboter ist, ist er wirklich gut geworden!“ „Moki“, meinte die Erscheinung in der Tür, die nie und nimmer Seto Kaiba sein konnte. „Ja?“ „Das ist kein Scherz, sondern mein Ernst – und außerdem dein erstes Geburtstagsgeschenk.“ Verdutzt blinzelte Mokuba. Sollte das wirklich der Wahrheit entsprechen? Heimlich kniff er sich und spürte erleichtert den Schmerz. Er träumte zumindest nicht. „Großes Kaiba-Ehrenwort?“ „Großes Kaiba-Ehrenwort. Und darf ich dich jetzt endlich umarmen und dir zum Geburtstag gratulieren?“ „Natürlich!“ Der jüngere schmiss sich in die ausgebreiteten Arme seines großen Bruders und fragte dann ganz unschuldig: „Soll das heißen, ich hab noch andere Geschenke?“ Statt zu antworten wuschelte Seto ihm durch die noch vom Schlafen unordentlichen Haare und führte ihn durch die Tür ins Esszimmer. Heimlich hatte er alle Geschenke auf der einen Seite des Esstischs drapieren lassen, während auf der anderen Seite der Frühstückstisch gedeckt worden war mit allem, was das Herz zu so früher Stunde begehren konnte. Frühstücksflocken, Brötchen, verschiedene Säfte, eine Thermoskanne voll mit Kakao und eine abgedeckte Schüssel mit unbekanntem Inhalt. Hin und hergerissen blickte Mokuba von einem Ende zum anderen. Wo sollte er nur anfangen? Seto kam ihm zuvor, indem er ihm eine Tasse reichte. „Vorschlag. Du probierst zuerst das Rührei und fängst dann mit dem Auspacken an.“ „Rührei?“ Eine schwarze Augenbraue wanderte nach oben. „Wir haben sonst nie Rührei!“ „Gerade deswegen sollst du es ja auch essen, solange es noch warm ist.“ Bildete er es sich ein, oder wirkte Seto ein wenig nervös? „Na dann.“ Brav setzte er sich auf seinen gewohnten Platz und ließ sich die Schüssel geben. Er tat sich reichlich auf und probierte dann. „Leckaw“, murmelte er mit vollem Mund und nahm sich gleich den nächsten Bissen. „Besonders der Lachs da drin.“ Sobald er aufgegessen hatte, war er wieder auf den Füßen und bei dem kleinen Geschenkhaufen, dessen blaues Papier geradezu von ihm aufgerissen werden wollte. In den ersten Paketen fand er Bücher, die er sich schon seit einer Weile wünschte. Technische Spielereien bekam er immer sofort – darauf legte Seto großen Wert - aber Erstausgaben seiner Lieblingsbücher oder andere „Kleinigkeiten“ gab es nur zu speziellen Anlässen. Natürlich hätte er sie sich auch selbst kaufen können, schließlich verdiente er genug, aber so machte es einfach mehr Spaß. Dann folgte ein wenig Kleidung und … Kritisch sah er auf das Geschenk herab. Was sollte er mit einem Schal im Hochsommer? Zwar gefiel ihm die Farbe ausgesprochen gut und das tiefdunkle Violett würde gut zu seinen Augen aussehen und ihm sicherlich auch stehen, aber trotzdem. Vorsichtig nahm er ihn hoch und warf einen kurzen Blick zu seinem Bruder hinüber, der seltsam angespannt seine Kaffeetasse umklammert hielt. Er betrachtete das Textil genauer. Die Maschen waren unregelmäßig und sehr groß. Nichts, was Seto aussuchen würde. Er hielt eher wenig von Grobgestricktem, wenn es um ihre Winterkleidung ging. Es sah irgendwie selbstgemacht aus und dafür wäre die Materialstärke wohl passend – zumindest, wenn er sich richtig an das erinnerte, was er aus seinem Freundeskreis übers Stricken gelernt hatte. „Ist der von dir?“, traute er sich endlich zu fragen. „Gefällt er dir nicht? Ich kann ihn gerne --“ „Nein, du kannst ihn nicht umtauschen lassen. Den hast du selbst gemacht, oder?“ Kaum merklich nickte Seto. „Dann werde ich ihn in Ehren halten und nur zu besonderen Anlässen tragen!“ Er ging zu ihm hin und fiel ihm dann um den Hals. „Daaaaaaanke, großer Bruder. Danke, dass du dir so viel Mühe gemacht hast! Und was machen wir jetzt?" Etwas verlegen räusperte sich Seto und schlug vor, dass sie weiter aßen und er sich währenddessen überlegen sollte, was sie mit dem Tag anfangen sollten. Dagegen hatte Mokuba im Moment nichts einzuwenden, auch wenn er bereits genau wusste, wie er sich diesen Tag vorstellte. Doch ein wenig Pause davor konnte nicht schaden, ebenso eine gute Basis, da sie sich viel bewegen würden. Nachdem sie beide aufgegessen hatten, unterbreitete er schließlich Seto seine Pläne. „Also. Heute Vormittag gehen wir in den Tierpark und danach in den Seilgarten im Gewerbegebiet und abends will ich Pizza und ganz viele Filme schauen und dann...“ Er konnte dabei zusehen, wie sich der Blick seines großen Bruders änderte. Es war fast zehn Jahre her, das er ihn das letzte Mal so angesehen hatte. „Einverstanden“, antwortete er schlicht. Zwar klang dieser Seilgarten nach nichts, was ihm gefallen könnte, doch solange Mokuba an seinem Geburtstag glücklich war, würde er alles mitmachen, was er sich einfallen ließ. „Dann sollten wir uns jetzt fertig machen, damit wir bald los können.“ „Äh, Seto“, fing Mokuba vorsichtig an, als er einen kurzen Blick zur Uhr warf. „Ja, Mokuba?“ „Der Tierpark öffnet frühestens in zwei Stunden und“ „mir gegenüber sitzt ein Geburtstagskind in seinem Pyjama, das allein eine halbe Stunde für seine Haare jeden Morgen braucht.“ Es war zwar nur eine Viertelstunde, aber es war einfach zu niedlich, wie besagtes Geburtstagskind empört nach Luft schnappte und dann aus dem Raum stürmte. „Ich beeil mich!“ Seto parkte auf dem noch leeren Parkplatz außerhalb Dominos und stieg dann aus. Die gesamte Fahrt über hatte Mokubas Smartphone gebrummt und gepfiffen, während er selbst ihm vor der Abfahrt seine fünf Handys in die Hand gedrückt hatte, mit der klaren Order, dass er sie spätestens am nächsten Morgen zurückerhielt. Breit grinsend und sich wie ein kleines Kind freuend lief Mokuba vorweg zum Eingang und hatte schon seinen Studentenausweis gezückt, als sein Bruder endlich auch ankam und den Kopf darüber schüttelte, dass er tatsächlich von dieser Vergünstigung Gebrauch machte. Freundlich lächelnd wünschte ihnen die Dame einen schönen Tag und legte zu den beiden Eintrittskarten einen Wegplan, damit sie sich nicht verirrten. Mokuba bedankte sich höflich und zog dann Seto zu den ersten Gehegen. Sie starteten bei den Lemuren, besuchten das Affenhaus, dessen Bewohner noch schlafend in den Hängematten hingen, kamen am Streichelgehege vorbei, wobei sich Seto fragte, ob es wirklich eine gute Idee war, dass kleine Kinder Ziegen streicheln sollten, und liefen an großen Vollieren mit bunten kleinen Vögeln vorbei. Sobald ihnen der Geruch von Fisch und anderem leicht gammligen Meeresbewohnern entgegenschlug, beschleunigten sich Mokubas Schritte. „Komm, Seto, gleich ist laut Plan die erste Fütterung!“ Fütterung? Wer oder was sollte gefüttert werden? Und konnte man den Tierpark eigentlich wegen dieser Belästigung seiner Nase verklagen? An dem großen Becken angekommen, klärte sich zumindest eine seiner Fragen. Das Erscheinen ihres Pflegers hatte die Gruppe von fast zehn Seehunden in helle Aufregung versetzt, sodass sie wild durcheinander schwammen und hin und wieder aus dem Wasser schossen um den großen Eimern näher zu kommen. Gelangweilt blickte er sich um und musste feststellen, dass ansonsten nur Eltern oder Großeltern mit ganz jungen Kindern, die bei jedem kleinen Kunststück die Münder aufrissen, unterwegs waren. Anschließend folgten sie weiter dem Pfad zu den Pinguinen und Seto verabschiedete sich im Raubtierhaus vollends von seinem Geruchssinn. Da half selbst die etwas frischer werdende Luft auf dem Weg zu den Koalas nichts. Allerdings dämmerte ihm, dass Mokuba keineswegs geordnet durch den Tierpark lief, als sie zum dritten Mal an den Flamingos vorbeikamen. Er schaute sich an Weggabelungen einfach kurz die Schilder an und entschied sich dann für das, was ihm interessant erschien. Und natürlich mussten sie auch die zweite Fütterung der Seehunde mitansehen. Dieses Mal war die Traube von Menschen bereits deutlich angewachsen und nur noch dank ihrer Körpergröße konnten sie etwas sehen. Von einigen Müttern wurden sie mit neugierigen Blicken bedacht, die Erstaunen wichen, als Mokuba forderte: „Ich will jetzt ins Reptilienhaus, großer Bruder!“ Seto hatte bis dahin noch nicht einmal mitbekommen, dass es ein solches gab und vertraute einfach darauf, dass sein kleiner Bruder, der den Wegplan längst in seinen kleinen Rucksack zu ihren Lunchboxen gepackt hatte, schon wissen würde, wo sie lang mussten. Seltsamerweise kamen sie nicht an den Flamingos vorbei und standen relativ schnell vor dem Eingang. Drinnen empfing sie eine stickige, fast vollständig mit Wasser gesättigte Luft, die wohl den tropischen Pflanzen zwischen und teilweise auch in den Terrarien Tribut zollte. Zu Setos Missfallen sahen sie zuerst eine Reihe von Baumfröschen und leeren Behältern, in denen kleine Schilder die Besucher darauf hinwiesen, dass diese zur Zeit umgestalten wurden. Die Schlangen interessierten beide Brüder nicht besonders, auch wenn Mokuba fasziniert vor einem Bronzeabguss stehen blieb, der zwei in einander verbissene Schlangen zeigte. Doch als er die nachfolgenden Echsenarten sah, war es um ihn geschehen. „Sehen die nicht aus wie kleine Drachen?“, fragte er, während seine Nasenspitze fast die Scheibe berührte. „Und die Zeichnungen auf den Schildern sehen fast wie Duel Monsters aus!“ Eine ältere Dame schüttelte im Vorbeigehen missbilligend den Kopf, schwieg aber, als sie in den Wirkungskreis von Setos eiskaltem Blick geriet. Sobald sie sich etwas entfernt hatte, wandte er sich gelangweilt dem nächsten Kasten zu. Irgendeine Chamäleonart, die sich aber bei Weitem nicht so gut an die Umgebung anpassen konnte, wie es ihr Ruf vermuten ließ. Zumindest saß da in den Zweigen auf seiner Augenhöhe ein kleines Tier, dass mit seiner weißen Färbung erstaunlich schlecht getarnt war. „Oh, sie mal. Das häutet sich gerade“, sagte Mokuba neben ihm begeistert. Es tat bitte was? Bisher hatte Seto geglaubt, nur Schlangen müssten sich häuten. Jetzt sah er noch genauer hin. Und tatsächlich war das hintere, von ihm abgewandte Bein gesprenkelt mit Grün und Brauntönen, weshalb er es zuerst nicht bemerkt hatte. Die restliche Haut durchzogen feine Risse, die manchmal aufklaften und wieder etwas von den grünen Schattierungen preisgaben. Es war schon irgendwie faszinierend. „Ich geh schon etwas vor.“ Er nickte bloß und konnte seinen Blick nicht abwenden. Eigentlich hielt dieses kleine Tier seine gesamte Umwelt zum Narren. Im normalen Zustand konnte es sich hervorragend verstecken und selbst so, verbarg es sein wahres Wesen unter diesen Hautfetzen. Unwillkürlich musste er bei der Farbe an einen ganz bestimmten Drachen denken. Welche Farbe wohl zum Vorschein käme, wenn er sich häuten würde? Die alte Haut einfach abstreifte. Eine Weile stand er so in Gedanken versunken da, bis Mokuba zurückkehrte und ihn außerhalb des Gebäudes zu einer kleinen Bude zog, die Eis verkaufte. Glücklich schleckte er an seinem Schokoladeneis und führte Seto zurück zu einer Stelle, an der unter großen alten Bäumen Bänke mit Tischen standen. „Ich würde jetzt gern essen und mir danach noch die Schmetterlinge ansehen“, sprach er seine Idee aus und wartete auf den Kommentar, er habe doch gerade eben erst ein Eis gehabt. Dieser blieb aus und wurde zu einem „du hast die Kois vergessen“ ersetzt. Hatte er zu seinem Entsetzen wirklich. „Gut, dann jetzt Essen, dann die Schmetterlinge und Kois und anschließend fahren wir zu unserem nächsten Programmpunkt“, bestimmte er die weitere Planung, während er bereits den Deckel seiner Lunchbox öffnete die ihre Haushälterin mit allerlei Leckereien bestückt hatte. Es war bereits früher Nachmittag, als sie bei ihrem zweiten Ziel für diesen besonderen Tag ankamen und Seto hegte Gewisse Zweifel, dass sie richtig waren. Mokuba beteuerte zwar das Gegenteil beim Aussteigen und schritt auf das grün gestrichene Tor der Lagerhalle zu, doch sah das alles für Seto keineswegs nach einem Seilgarten aus. „Wo bleibst du denn?“, rief Mokuba über den halben Parkplatz und winkte ihm, sich zu beeilen, bevor er durch das Tor verschwand. Seto verdrehte leicht die Augen. In wie vielen seiner Albträume war diese Szene schon vorgekommen? Mokuba lief einfach voraus in ein unbekanntes Gebäude, in dem schon die Kidnapper lauerten und er fand nur noch den Brief der Erpresser. An Mokubas Geburtstag würde er nie so etwas zulassen und so blieb im wohl oder übel keine Wahl und er musste ihm schnellstmöglich folgen. Drinnen empfing ihn mehr Lärm als er erwartet hatte und ein Farbenrausch, der im ersten Moment in seinen Augen wehtat. „Da ist er ja endlich! Also jetzt richtig“, meinte Mokuba zu einer Dame hinter einer großen Theke. „Ein Student, ein Erwachsener und – Seto, hast du Socken an, die was aushalten?“ „Wie bitte?“ „Zweimal Rutschsocken.“ Die Dame nannte einen Preis und Seto bekam gerade noch so mit, dass Mokuba seinen eigenen Geldbeutel zücken wollte. Rasch ging er dazwischen und bezahlte, wie er es auch schon im Tierpark gemacht hatte. Jetzt zierten die Rückbank zwei Koala-Plüschtiere, wobei er keine Antwort bekommen hatte, weswegen es unbedingt zwei identische sein mussten. Jetzt nahm er ähnlich verwundert ein Papierarmband mit schmalem Klebestreifen und ein Paar dunkelblaue Socken entgegen. Wenigstens hatte die Frau Verstand genug, ihm nicht das zartrosane Paar zu reichen, das sich im selben Fach befunden hatte. Mokubas waren grün. „Die Schließfächer für die Schuhe sind um die Ecke rechts. Ich wünsche Ihnen viel Spaß.“ Seto nickte nur und wurde dann von Mokuba in besagte Richtung gezogen, wobei er versuchte, endlich zu verstehen was Sache war. „Das sieht nicht nach einem Seilgarten aus, Mokuba.“ „Ist es auch nicht.“ „Wieso hast du dann heute Morgen von 'Seilgarten' gesprochen?“ „Weil 'Spielplatz für Erwachsene' dich wohl kaum überzeugt hätte, oder?“ „Bitte was?!“, rutschte Setos Stimme in der Lautstärke nach oben, aber bei all dem Lärm um sie herum fiel das nicht weiter auf. Vorsichtig sah er sich genauer um. Das erste, was ihm ins Auge fiel, war das Schild, das er so bestimmt schon auf einigen Spielplätzen gesehen hatte, nur dass dort bei der Altersangabe ein klares „über 16“ stand. Dann waren hinter dem großen Netz, das den Eingangsbereich von der Haupthalle abtrennte einige Konstruktionen zu sehen, die entfernt an Schaukeln, Rutschen und Klettergerüste erinnerten. Und tatsächlich sah er nirgendwo auch nur ein Kind – bis auf seinen Bruder, der sich beeilte seine Schuhe aus- und dafür die Socken anzuziehen und sie dann in ein noch leeres Schließfach packte. Der Anleitung auf der Tür folgend gab er einen kurzen Zahlencode ein und hüpfte dann aufgeregt vor Seto herum. „Beeil dich, großer Bruder. Ich will da endlich rein!“ Wieso bekam Seto das dumpfe Gefühl, dass Mokuba schon seit einer ganzen Weile diese Spaßhalle besuchen wollte? „Geh schon mal vor und ich komm“ „Nö, ich warte auf dich – sonst drückst du dich nämlich davor. Also. Zieh endlich deine Schuhe aus und dann können wir gemeinsam rein.“ Ein weiterer Blick, verriet Seto, dass er chancenlos war. Außerdem war es immer noch Mokubas Geburtstag und er hatte versprochen, ihn den Tag planen zu lassen. Grummelnd kam er schließlich der Bitte nach und entschied sich schmunzelnd für das Geburtsdatum seines kleinen Bruders als Code. Dann drehte er sich zu ihm um und fragte unschuldig: „Und wo willst du jetzt als erstes hin?“ „Auf die Rutschen! Sie haben hier sieben verschiedene, mit verschiedenen Längen und Gefällen. Auf manchen brauchst du eine Rutschmatte, die meisten können aber so benutzt werden.“ Seto gratulierte sich still selbst dazu, eine etwas robustere Hose angezogen zu haben. Eine seiner Anzughosen machte diesen Wahnsinn bestimmt nicht so leicht mit. „Du musst am Ende der Rutschen aufpassen, dass du auf den Füßen landest! Aber sie haben irgendwo auch eine Rutsche, die in einem Bällebad endet. Mit der will ich beginnen.“ Kurz sah Mokuba sich suchend um und steuerte dann auf sein Ziel zu, Seto ihm dicht auf den Fersen, um ihn in all dem Durcheinander nicht zu verlieren. Nachdem sie alle Rutschen mehrmals ausprobiert hatten – Seto immer als Vorhut, erst bei der zweiten Runde gönnte sich Mokuba den Anblick wie sein Bruder eher ungelenk am Ende des Metalls oder Kunststoffs zum Stehen kommen wollte und sich dabei mehr als einmal auf den Hosenboden setzte. Dann veranstalteten sie ein Wettklettern auf einer Seilkonstruktion, das Seto die Defizite in seiner Kondition aufzeigte. Zum Trost schleppte ihn Mokuba weiter zu den Schaukeln und hatte bereits gut Schwung, während Seto sich noch gut zuredete es wäre nur Physik und er habe es als Kind doch gekonnt. Mit immer wieder kurzen Blicken hinüber zu dem sich stark bewegenden schwarzen Haarsträhnen ahmte er schließlich dessen Bewegungen nach und erzielte einen kleinen ersten Erfolg. Beinahe hatte er die Höhe seines Bruders erreicht, als dieser plötzlich mit den Füßen abbremste und nicht einmal wartete, bis die Schaukel wieder ruhig hing, um von ihr herunter zu springen und hinüber zu einem der Klettergerüste zu laufen. Dort wurde er von einem lächelnden Mädchen empfangen, das ihn nach einer Umarmung sanft zu küssen schien. Aber auch sie konnte sich nicht Mokubas Klammergriff und ziehenden Überzeugung erwehren und stand so bei den Schaukeln, während Seto sich ausschwingen ließ. „Seto, darf ich dir vorstellen. Das ist Midori“, erklärte Mokuba, dabei leicht rot um die Nasenspitze werdend. „Ich hab dir doch von ihr erzählt. Du erinnerst dich?“ Tat er das tatsächlich? Sie sprachen so selten über ihr Liebesleben, dass er sich sicher gewesen war, er würde sich daran erinnern, hätte Mokuba etwas derartiges erwähnt. Wann hatte er überhaupt einmal von Frauen gesprochen? Konnte das die fast ständige Samstagabendsverabredung sein, die er bis jetzt immer nur grob umschrieben hatte? Ein Versuch war es wert. „Guten Tag, Midori“, er hielt ihr die Hand hin und war verblüfft über den zarten und gleichzeitig bestimmten Händedruck. „Du bist also die junge Dame, die meinen kleinen Bruder dazu bringt, sich Tanzfilme anzusehen.“ „Das hat er erzählt?“ Durch ihre helle Haut sah man sofort, wie sie errötete. Schüchtern sah sie zu Boden, wodurch ein paar ihrer langen Haarsträhnen nach vorn fielen. „Ja und noch ein bisschen mehr“, flunkerte Seto. Er wollte nicht zu nett zu ihr sein, bevor er sicher wusste, welche Absichten sie hegte. Dann war es wenigstens leichter sie wieder los zu werden. Oder auch für den Fall, dass das mit ihr und seinem Bruder nicht lange hielt. Denn so wie sie vor ihm stand war sie einfach nur liebenswert. Zwar schien es schwer vorstellbar, dass sie Mokuba notfalls in seine Schranken verweisen konnte, aber die Situation konnte auch durch ihr Kennenlernen verfälscht sein. „Dann will ich gar nicht mehr lange stören“, fand sie schnell sprechend den Faden wieder. „Schließlich gehört dieser Tag euch beiden und da will ich nicht … Wie dem auch sei. Mokuba, das hier ist für dich.“ Sie hielt ihm eine kleine Schachtel hin. „Den großen Geburtstagskuchen kriegst du ja erst am Wochenende zur Feier und da dachte ich mir, du würdest dich trotzdem über was Kleineres freuen.“ Mokuba hob den Deckel ab und grinste. Ein tadelloser Cupcake mit einer 23 und einer kleinen Kerze. „Happy Birthday.“ Seto und Midori blieb keine Zeit zu protestieren. Mokuba drückte Seto einfach die Schachtel in die Hand und überfiel dann seine Freundin mit Küssen, der die Situation zum Teil peinlich zu sein schien – zumindest wenn Seto ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, als er endlich die Schachtel wieder los wurde. Sicher war er sich dabei nicht ganz. Frauen waren einfach seltsame Wesen. „Mokuba, was machst du da?“, fragte sie da plötzlich streng. „Meinen Cupcake essen.“ „Hier drin herrscht Essverbot“, wies sie ihn wenig diskret auf das Regelwerk des Spielplatzes hin. „Und wieso hast du mir dann so was Leckeres mitgebracht?“, schmollte Mokuba. Unwillkürlich rutschten Setos Gedanken ab. Er stellte sich diese Szene mit Chef vor, wie er über ein Weinglas hinweg erwiderte: „Damit du erkennst, dass ich deutlich besser schmecke.“ Er sollte definitiv lernen, seine Fantasie besser zu zügeln. Schnell wechselte er das Thema: „Wir können ja kurz raus gehen zu den Schließfächern – da war das Essen doch erlaubt, oder?“ Midori nickte. Auf dem Weg dorthin versuchte er sich weiterhin im Smalltalk: „Warst du schon einmal bei uns?“ „Nein, noch nicht. Samstag wird eine Premiere für mich und ich freu mich schon drauf. Mokuba hat mir schon so viel davon vorgeschwärmt wie wundervoll Euer Garten im Sommer ist.“ „Du magst Gärten?“ Sie nickte. „Dann könnt ihr euch ja abends raus setzen und den Tag ausklingen lassen, solange es noch warm ist.“ Lud er sie gerade wirklich zu häufigeren Aufenthalten in der Villa ein? Was war nur aus ihm geworden? „Allerdings muss ich eine Einschränkung aussprechen. Wir sind ab dem 23. in Urlaub für zwei Wochen.“ „Wir sind...? Das ist das erste, was ich höre!“ Vor Schreck wäre Mokuba beinahe seine kostbare Fracht heruntergefallen. Seufzend ließ sich Seto mit seinem Teller in der Hand in die Kissen des Sofas zurückfallen, nachdem er den Film gestartet hatte. Auf der anderen Seite des Sofas saß Midori, Mokuba hatte zwischen ihnen Platz genommen und war unschlüssig zu wem er näher hin rutschten sollte, nicht dass sich einer der beiden noch vernachlässigt fühlte. Eigentlich hatte Midori gar nicht mitkommen wollen, doch nach einer vergeblichen halben Stunde, in der Mokuba versucht hatte mehr über den Urlaub herauszufinden und Seto hart geblieben war, hatte sie es für keine gute Idee gehalten, ihm diese Bitte abzuschlagen. Allerdings würde sie nur für den ersten Film bleiben und anschließend nach Hause gehen. Für ihren Ferienjob musste sie früh aufstehen und die fehlenden Stunden von diesem Tag musste sie auch noch aufarbeiten. Doch daran wollte sie im Moment nicht denken. Verstohlen beobachtete sie die Brüder, die so ungleich gleich auf dem Sofa saßen und ihre Pizza aßen. Seto beherrscht und kühl, ihr Mokuba etwas bequemer und deutlich größere Bissen nehmend. Trotzdem hatten beide denselben Gesichtsausdruck, während im Film die Leiche gefunden wurde und man nach dem berühmten Detektiv rief, der natürlich rein zufällig zur Stelle war. Beide verdrehten sie auf ihre Art die Augen. Sie musste schmunzeln. Sobald Mokuba sich sicher war, dass er ihr vertrauen konnte, drehte sich ungefähr die Hälfte seiner Sätze um seinen großen Bruder, darum wie er ihn aufgezogen hatte, immer für ihn da war und wie sehr er ihn bewunderte und sich zum Vorbild nahm, selbst wenn er natürlich zwischenmenschlich die Nase vorn hatte. Und sie hatte einfach nur gelauscht und mit ihm gelacht, wenn er Anekdoten erzählte. Manchmal erzählte sie ihm dann, was ihre kleine Schwester angestellt hatte. Der Film endete, ohne dass sie ihn groß wahrgenommen hätte, dann stand sie auf und bedankte sich förmlich bei Seto, den sie weiterhin lieber mit „Herr Kaiba“ ansprach, für das Essen. Mokuba bestand darauf, sie selbst zur Tür zu bringen, brachte sie dann aber sogar bis zum Tor und zeigte ihr auf dem Weg dorthin noch ein paar interessante Pflanzen in der Begrünung der Auffahrt. Schließlich beugte er sich zu ihr runter und flüsterte ihr ins Ohr: „Weißt du, dass du die beste Freundin bist, die man sich wünschen kann?“ Statt zu antworten küsste sie ihn und schickte ihn dann lächelnd zurück ins Haus. Kapitel 5: Samstag 16.7. ------------------------ Der kalte Boden unter seinen Füßen fühlte sich gut an nach den heißen Gehwegplatten, über die er auf seinem Weg nach Hause gegangen war. Die Lufttemperatur war angenehm, weshalb er gelaufen war, statt sich in der Limousine fahren zu lassen, doch die Sonne schaffte es jetzt immer schneller, die Wege und Straßen aufzuheizen und er schüttelte ungläubig über jeden Passanten den Kopf, der ihm mit Gummisohlen entgegen kam. Hatten sie denn keine Angst, ihre Schuhe könnten schmelzen? Seine Schuhe hatte er an der Garderobe neben der Haustür ausgezogen und lief nun die ersten Schritte nur auf Socken auf dem weichen, langen Teppich im oberen Flur. Doch dann hörte er zwei Stimmen, die sich fröhlich miteinander unterhielten. Mokuba hatte ebenfalls früher aufgehört – jedoch nicht mit dem Ziel zu Hause weiterzuarbeiten – und Seto hatte geglaubt, er wollte Midori abholen und mitbringen. Aber die Stimme der Frau gehörte nicht ihr, sie klang reifer, auch wenn ihr Lachen mädchenhaft wirkte. Aufmerksam lauschte Seto weiter. Seit wann sprach Mokuba im Alltag Französisch? Während Seto die Treppe wieder herabstieg, übersetzte sein Gehirn endlich einzelne Wortbrocken, die sich ungefähr zu Sätzen zusammen banden. „Hört sich fast so an, als hätte ich wirklich etwas verpasst. Nächstes Jahr muss ich mir den Zeitraum wohl großräumig freihalten“, sagte die Frau. Mokuba antwortete: „Das will ich auch hoffen! Meine Freunde wollen dich unbedingt kennen lernen!“ „Und deswegen kann heute Abend Midori nicht.“ „Ihre Eltern sind heute in der Stadt. Hallo, Seto.“ Sein kleiner Bruder hatte ihn entdeckt und wechselte automatisch die Sprache. Währenddessen ließ die Person neben ihm Setos schlimmste Albträume der letzten Wochen wahr werden. „Guten Tag, Mister Kaiba.“ Das Lächeln, das um Martines Lippen spielte, war um eine kaum erkennbare Nuance spöttisch. „Guten Tag“, erwiderte Seto ernst. „Wenn Midori sich mit ihren Eltern trifft, solltest du dann nicht mitgehen? Du meintest doch, du würdest sie schon kennen.“ „Eigentlich ja, aber sie wollte sie erst fragen – und dann hat sich Martine bei mir gemeldet und...“ „An mir soll es nicht liegen“, fiel sie ihm gnadenlos in den Rücken. „Abmarsch nach oben und zieh dir einen Anzug an!“ Mit flehenden Augen blickte er sie an. „Muss das sein?“ „Ja!“, erhielt er die zweistimmige Antwort und wusste so, dass er chancenlos war. Mit hängendem Kopf erklomm er die Treppenstufen. Wieso mussten sie sich ausgerechnet darin einig sein? Es war doch draußen viel zu warm für einen Anzug! Okay, Seto fror wahrscheinlich selbst bei diesen Temperaturen – zumindest war sein Hemd langärmlig – aber Martine ging es in ihren anschmiegsamen dunkelblauen Sommerkleid und den hohen Sandalen gerade mal gut und sie beschwerte sich über die Hitze. Am anderen Ende der Treppe fielen Seto gerade seine Pflichten als Gastgeber wieder ein. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ „Gerne. Wasser, bitte.“ Es gab nur ganz wenige Menschen, denen es gelang in seiner Eingangshalle zu stehen und nicht eingeschüchtert oder wie ein Fremdkörper zu wirken. Martine war jemand dem beides gelang. Gelassen ruhte ihr Blick auf Seto, als täte sie den ganzen Tag nichts anderes. Nachdem er keine Anstalten machte, sich zu rühren, sprach sie weiter: „Oder wir verlegen das Ganze auf neutraleren Grund. Sie sehen nach, wo Ihr Jackett und ihre Krawatte geblieben sind und wir gehen in die Stadt.“ Ihr Vorschlag traf ihn unvorbereitet und statt zu widersprechen, folgte er seinem Bruder nach oben, um sich wieder etwas herzurichten. Es war bereits halb sechs. So viel dazu, dass er abends noch arbeiten wollte. Wenn er Pech hatte, würde es ziemlich spät werden, bis er endlich an seinem Schreibstich saß. Auf dem Weg nach unten traf er wieder auf Mokuba, der sich erstaunlich schnell umgezogen hatte. „Midori hat mir geschrieben, dass der Tisch für halb sieben reserviert ist. Kann ich den Benz haben?“ Seto nickte nur. „Sorry, Martine. Ich muss auch schon wieder los. Vielleicht wird’s im August ja was? Nächste Woche sind Seto und ich im Urlaub und ich habe keine Ahnung wo es hingeht.“ „Ich dafür aber schon“, musterte sie kritisch seinen Krawattenknoten und band ihn kurzer Hand neu. „Woher?“ „Ihr kommt zu uns.“ Vier schlichte beiläufig gesprochene Worte, die die Brüder von den Socken hauten. Mokuba fasste sich als erster wieder. „Ich bekomm das Drachenzimmer!“, forderte er und brachte damit Martine zum Lachen. „Was für ein Glück, dass ich mit den Zwillingen extra für euch ins Hauptgebäude ausweiche, damit ihr Haus 3 haben könnt.“ Ihr Blick traf Setos. Hieß das, dass er ihre Bedingungen erfüllt hatte? Er konnte es nicht so ganz glauben, doch vertraute er ihr, dass sie Mokuba keine falschen Hoffnungen machen würde. Also ging das alles in Ordnung, oder? „Welches Drachenzimmer?“, fragte er verwirrt. „Nur so ein Zimmer, an dessen Wand ein weißer Drache mit eiskaltem Blick gemalt ist. Da willst du definitiv nicht rein. Bis später!“, sprintete Mokuba in Richtung Garage davon, bevor sein Bruder ihm genau das Gegenteil beteuern konnte. Fassungslos starrte Seto ihm hinterher. Erinnerungen an Februar kamen in ihm hoch, die Gedanken, die er zu eben diesem Gemälde gehabt hatte. „Danke“, flüsterte er leise, doch Martine verstand ihn. „Bitte. Können wir?“ Er nickte und führte sie nach draußen zur Auffahrt, wo Roland bereits auf sie wartete und ihnen die Türen aufhielt, als sie an der Limousine ankamen. Noch beim Anschnallen nannte Martine ihm eine Adresse in der Innenstadt und ließ dann die Trennwand nach oben fahren. Seto wusste nicht so recht, was er davon halten sollte und zog eine Augenbraue hoch. „Ich gratuliere Ihnen“, sagte sie und reichte ihm die Hand. „Sie haben meine Anforderungen erfüllt.“ Er schlug nicht ein, sondern fragte: „Woher wollen Sie das wissen?“ „Mokuba hat mir einiges erzählt und auch von anderer Seite kam der ein oder andere besorgte Anruf. Den Rest besprechen wir, wenn wir unser Ziel erreicht haben.“ Sie verfielen in Schweigen, bis Roland zwanzig Meter vor einer vollverspiegelten großen Gebäudefassade hielt. „Die Bar befindet sich im obersten Stock. Gehen Sie ruhig schon vor – ich komme in ein paar Minuten nach.“ Es war keine Bitte. Also stieg er aus und näherte sich den Eingangstüren, die geräuschlos zur Seite glitten. Auf der Fahrt nach oben konnte er sich in der Spiegelung der blanken Metallwände betrachten. Wider Erwarten sah er nicht müde aus, obwohl die letzte Zeit anstrengend gewesen war. Dann öffneten sich auch diese Türen und entließen ihn in den großen Raum, der auf beinahe beängstigende Art und Weise die äußere Glasfassade nutzte. Nur die Wand gegenüber des Ausstiegs war undurchsichtig und hatte einzelne Sitzgruppen so davor positioniert, dass man sich mit dem Rücken zu ihr setzen konnte und somit den ganzen Raum im Blick hatte. Auf einen solchen Platz ging er nun zu und setzte sich in seiner üblichen Manier – aufrecht, die Beine übereinander geschlagen und durch seine bloße Präsenz sein Umfeld frei von ungebetenen Gästen haltend. Letzteres wäre nicht notwendig gewesen. Die anderen Gäste – meist Büroangestellte in teuren Anzügen, die Krawatten gelockert, manche mit hochgekrempelten Ärmeln – nahmen keine Notiz von ihm. Seto warf einen Blick auf die Karte und hatte es noch nicht geschafft, eine Bedienung auf sich aufmerksam zu machen, als sich die Aufzugtüren ein weiteres Mal öffneten. Das Geräusch selbst hörte er nicht, was er dafür wahrnahm, war das sofortige Verebben der Gespräche. Einige verrenkten sich sogar die Hälse, um einen besseren Blick auf die Person zu erhaschen, die hinein schwebte und direkt auf einen leeren Hocker am Ende des Tresens zuhielt. Die wenigen anderen anwesenden Frauen verblassten gegen sie. Kleider wie ihres hatte Seto schon oft an seinen weiblichen Angestellten im Sommer gesehen, doch irgendetwas war anders an ihr. Irritiert verbuchte er es unter Eleganz und Niveau. Ein erlösendes Seufzen ging durch den Raum, sobald sich der Barkeeper ihr zuwandte, ein paar Worte mit ihr wechselte und umgehend mit dem Mixen ihres Drinks begann. Seto selbst hatte immer noch nicht seine Bestellung aufgegeben. Geschlagene fünf Minuten dauerte es, bis er endlich ebenfalls sein Getränk hatte und etwas entspannter seine Umgebung beobachten konnte. Alles schien wieder so zu sein wie vor Martines Auftritt, doch wenn er genauer hinsah, bemerkte er hier und da Männer, die etwas angespannter schienen oder einfach unverhohlen glotzten, während ihr Gesprächspartner ihnen von dem ach so tollen Golfclub vorschwärmte. Inzwischen erhielt Martine ihren zweiten Drink und drehte nun dem Barkeeper den Rücken zu. Das Glas noch auf dem polierten Stein, dennoch bereits in der Hand, schweifte ihr Blick einmal beiläufig durch den Raum, um dann wie zufällig an Seto hängen zu bleiben. Einem Raubtier gleich, das sicher wusste, dass seine Beute nicht fliehen konnte, kam sie gemütlich auf ihn zu geschlendert und fragte zuckersüß: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Seto deutete nur stumm auf den Sessel ihm gegenüber, wobei er von feindseligen Blicken durchbohrt wurde. Sie bedankte sich und prostete ihm dann zu. Zaghaft nippte er an seinem Glas. Was war nur an dieser Situation, dass er nicht spielend leicht mit all dem Hass, den Martine nicht mitbekam, weil sie mit dem Rücken zu den anderen Gästen saß, fertig wurde? „Beunruhigend. Nicht wahr?“ „Wie bitte?“ Ihre sanfte Stimme hatte ihn aus seinen Überlegungen gerissen. „Die Blicke. Dass sie sich nicht zurückhalten, obwohl einige davon sehr wohl gemerkt haben sollten, wer Sie sind.“ Woher wusste sie davon? „Keine Angst, dass vergeht. Ich wollte nur, dass Sie einen Vorgeschmack darauf haben, was auf Sie zukommt, wenn Sie mit Chef ausgehen. Dagegen ist das hier noch eine kleine nervige Fliege, die man mit einem Handstreich verscheucht hat.“ „Wenn ich mit Chef ausgehe? Sie sprechen davon, als wäre es beschlossene Sache. Wie können Sie sich da so sicher sein?“ „Ich bin mir nicht sicher. Aber ich habe mir die ganze Sache sehr lange durch den Kopf gehen lassen. Und ich muss sagen, Sie haben mich beeindruckt. Nicht jeder wäre in der Lage gewesen meinen Anforderungen gerecht zu werden. Daher werde ich Sie auch nach dem Urlaub, falls Ihr Plan nicht aufgehen sollte und Sie nicht an seinem Scheitern Schuld sind, in Ruhe lassen. Man kann niemand zu seinem Glück zwingen. Und ich kann Sie wohl schlecht bestrafen, wenn Chef es dieses Mal ist, der es nicht versteht, eine Chance zu ergreifen. Ich hoffe, der KC geht es trotz meiner Sanktionen gut.“ Sie meinte es ehrlich. Das konnte Seto sehen. Sobald sie sich zu ihm gesetzt hatte, war ihre Maske verschwunden. Unnötig geworden in dem Moment, in dem nur noch er ihr ins Gesicht sehen konnt. Doch dann stockte er. „Ihre Sanktionen? Soll das heißen...?!“ „Ja. Das war alles von mir eingefädelt. Und außerdem ist das nur ein Vorgeschmack auf das, was Ihnen blüht, sollten Sie es ein zweites Mal verbocken.“ Sie nahm einen Schluck. „Aber damit es soweit gar nicht erst kommt, habe ich ein Paar Tipps für Sie.“ Wie konnte man so schnell von angsteinflößenden Drohungen zur puren Liebenswürdigkeit wechseln? Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, den er nur zu gerne auf die Klimaanlage geschoben hätte. „Tipps welcher Art?“ „Zum Beispiel für Ihre Kleidung. Keine Angst. Mokuba bekommt von mir noch eine Liste, auf was zu achten ist im Sommer. Aber von diesen allgemeinen Dingen einmal abgesehen... Ich hoffe Sie besitzen enganliegende Badehosen.“ Seto verschluckte sich fast an seinem Drink. Er hatte sich jetzt bitte verhört. „Wieso?“, krächzte er. „Weil ich nicht zulassen werde, dass Chef sich wieder den ganzen Tag in sein Arbeitszimmer verzieht und wenn er schon draußen ist, sollte er auch sehen, was ihm entgeht“, antwortete sie so beiläufig als plauderten sie über das Wetter. Er nahm sich noch einen kleinen Augenblick, um sich zu sammeln, dann antwortete er genauso beiläufig: „Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Sollten Sie ihn nicht eher mit einem knappen Bikini bezirzen?“ Ihre Augen blitzen auf, als sie ihr leeres Glas auf den Tisch abstellte. „Keine Angst. Müssten Sie mit mir konkurrieren, hätten Sie schon längst verloren. Aber ich habe Jo lieber als meinen Neffen, statt als meinen Liebhaber. Für solche Zwecke gibt es Männer, die dafür bei Weitem passender sind. Männer, die man sich anlacht, sie subtil verführt, sodass sie denken, sie wären die Verführer. Dann vernascht man sie in aller Ruhe und wenn sie beginnen schal zu schmecken, lässt man sie morgens allein aufwachen. Er ist viel zu kostbar für diese Art von Spielzeug.“ Seto starrte entsetzt auf die leicht schwappende Flüssigkeit in seinem Glas. Und wieder lag sein Zittern nicht an der Klimaanlage. Ihre Beschreibung passte so perfekt. Zu Perfekt. All die Grausamkeit, die für ihn in der E-Mail nach seinem Urlaub gelegen hatte, verblasste mit der Erkenntnis, welches Spiel mit ihm gespielt worden war. Und für so jemanden stellte er all das an? Für so jemanden fühlte er sich schuldig? Wieso saß er überhaupt noch hier? Wieso verschwendete er seine Zeit? Mokuba sollte allein in Urlaub fahren, er selbst würde... „Er hat es nicht durchgezogen. Es ist vielmehr eine Lüge, die er sich selbst erzählt, um sich nicht eingestehen zu müssen, was wirklich in ihm vorging. Sie haben ihn nicht gesehen, bevor wir nach Domino kamen.“ Wie hatte sie wissen können, was er dachte? „Ich sollte trotzdem besser gehen“, wollte er sich erheben, hielt jedoch inne, als sie weitersprach. „Verzeihen Sie. Ich war ein schlechtes Vorbild. Und ich kann nur hoffen, dass Sie meine Fehler ihm nicht anlasten. Er... Was hätten Sie getan, wenn Sie damals schon gewusst hätten, wer er ist?“ Die Frage blieb zwischen ihnen im Raum schweben. Unbeantwortet. Zu oft hatte er sie sich schon selbst gestellt und dennoch kam er immer wieder zur selben erschreckenden Antwort. Er wäre noch am gleichen Tag abgereist, hätte das Geld für die entgangenen Aufenthaltstage zurückgefordert und vermutlich noch einige Schritte mehr unternommen, aber nie im Leben hätte er sich darauf eingelassen, diesen so faszinierenden Mann genauer kennenzulernen. „Entschuldigen Sie, aber ich soll Ihnen diesen Drink vom Barkeeper bringen.“ Der Typ, der Martine ansprach, war – um es in einem Wort zu sagen – schleimig. Alles an ihm schrie danach. Von den blankpolierten Schuhen bis zu den versucht modisch gegelten Haaren. Und ein Blick von Martine genügte, um ihm deutlich zu machen, wie viel Stufen unter ihr er tatsächlich stand. „Sie bringen ihn zurück und richten dem netten Herrn hinter der Bar aus, dass er von Ihnen ein großzügiges Trinkgeld am Ende des Abends zu erwarten hat.“ Es hätte Seto nicht gewundert, den Mann in diesem Moment am Grunde des Aufzugschachtes zu sehen, so sauber hatte Martine ihn abblitzen lassen. Sie wartete noch kurz, bis sie sich sicher sein konnte, dass der Drink wirklich zurückging, dann drehte sie sich wieder zu Seto um. Genervt verdrehte sie die Augen. „Und so was wird auf die Menschheit losgelassen.“ Da musste er ihr stumm beipflichten, aber eine Sache verstand er nicht. „Aber Sie sitzen vor einem leeren Glas. Was, wenn es eine reine Höflichkeit war – von der Bar.“ Amüsiert blickte sie zu ihm auf. „Sie müssen wirklich noch viel lernen. Es gibt nur eine Reihe von Bars in Domino, in die ich gehe – abhängig von den Dienstplänen der Barkeeper, denen ich vertraue. Wir könnten eine Wette abschließen, die Sie bereits verloren hätten, dass dieser Drink Alkohol enthält. Wir haben einen heißen Sommertag, ich habe heute kaum etwas gegessen. In diesem Raum wissen viele, wer ich bin. Manche könnten sogar den Vater meiner Kinder kennen. Alles keine Zutaten für einen entspannten Abend, oder wie sehen Sie das?“ Er verstand, und verstand dann doch wieder nicht. „Aber was trinken Sie dann?“ „Lust es zu probieren?“ Noch bevor er etwas erwidern konnte, hatte sie den Arm gehoben, Blickkontakt zum Barkeeper hergestellt und mit zwei Fingern nachbestellt. Noch während Seto sich darüber wunderte, wie grazil diese Geste wirken konnte, erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Eine feine Linie führte gerade von ihrem Handgelenk hinunter bis zu ihrer Armbeuge und zeichnete sich silbern vor der leicht gebräunten Haut ab. „Was ist das?“ „Was meinen Sie?“, versuchte Sie die Ahnungslose zu spielen, scheiterte jedoch erstaunlich kläglich bei dem Versuch. „Achso, das.“ Seufzend ließ sie sich nach hinten an die Rückenlehne sinken. „Das ist eine längere Geschichte.“ „Ich würde sagen, wir haben Zeit.“ „Aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Ihnen keine Wahl gelassen.“ Ihre Wortwahl brachte ihn zum Schmunzeln. Sie hatte ihm bei so vielem keine andere Möglichkeit gelassen und jetzt wollte sie ihm eine solche gewähren? „Werde ich nicht.“ „Gut.“ Sie holte ein letzte Mal Luft und fing dann an zu sprechen, vielmehr zu flüstern: „Als ich dreizehn war, starb erst Cecelia, die Frau meines Bruders, dann unsere Eltern. Maximillion hatte mit seinen siebzehn nicht nur seine Trauer zu verarbeiten, sondern auch für mich zu sorgen und die Firma weiterzuführen. Ja, Industrial Illusions – auch wenn es damals noch nicht so hieß – existiert schon eine Weile. Aber irgendwie funktionierte es. Wir waren einfach noch enger zusammengerückt, hatten wir doch jetzt nur noch uns. Anfangs zumindest tat es das. Dann gab er, wie es seine Pflicht als Firmenleiter gab, einen Empfang. Dass die meisten geladenen Gäste ihn wegen seines Alters nicht ganz für voll nahmen, brauche ich Ihnen vermutlich nicht zu erzählen. Wie dem auch sei. Das, was ihn an diesem Abend mehr als das beunruhigte, waren die Blicke, die mir galten. Manche davon zu interessiert, viele davon eindeutig zu lüstern. Seit diesem Moment hatte er nur noch Angst um mich und wollte mich vor dem Schlechten in der Welt um jeden Preis beschützen. Sagen wir einfach, er übertrieb etwas. Während er in Ägypten die Milleniumsgegenstände entdeckte, lebte ich in einem goldenen Käfig und konnte nur von der Welt draußen träumen. Genoss seltsamerweise sogar diese Zeit. Dann kam er zurück und wir arbeiteten gemeinsam an Duel Monsters. Malten bis in die Nacht, schliefen, wenn wir müde waren. Es war mit die glücklichste Zeit für uns. Doch um die Firma musste er sich auch kümmern. Irgendwann hatte er gar keine Zeit mehr für mich. Kam nicht einmal mehr zu Besuch. Die einzige Ablenkung bot mir die Ausbildung, die einer meiner Bodyguards mir angedeihen ließ. Ein Jahr später konnte ich ihn und seine Kollegen mit Leichtigkeit besiegen. Ich weiß bis heute nicht genau, wie er es rausgefunden hat, doch irgendwie bekam Maximillion trotz seiner Abwesenheit mit, dass ich mich in diesen einen verliebt hatte. War es denn ein Wunder? Ein pubertierendes Mädchen, dessen menschliche Kontakte sich auf Angestellte ihres Bruders beschränkten. Da klammert man sich eben an die einzige Seele, die einen wirklich mag!“ Ihr Blick rückte in weiter Ferne, füllte sich mit Traurigkeit, die auch nach all den Jahren nicht ganz verschwunden war. „Mit welchen Mitteln auch immer. Meinem Bruder gelang es, dass mein Bodyguard kündigte und ohne ein weiteres Wort verschwand. Einen Tag vor meinem siebzehnten Geburtstag. Und ich reagierte über, war so überwältigt von meinem Schmerz, dass ich nicht mehr wusste wohin oder was aus mir werden sollte. Einen Weg fand ich dann aber doch. Einen, von dem ich bis heute nicht weiß, ob ich tatsächlich bereuen soll. Ich war bereits ohnmächtig, als … als Maximillion mich in der Wanne fand. Das sagten sie mir zumindest, als ich im Krankenhaus aufwachte. Wie viel Glück ich doch gehabt hätte. Dass er gerade noch rechtzeitig gekommen wäre. Dass dank ihrer achso tollen Chirurgen nur ganz kleine Narben zurückbleiben würden. Aber all ihr geheucheltes Mitleid hielt sie nicht davon ab, mich zurück in mein Gefängnis zu schicken. Drei verdammte Jahre musste ich ausharren. Mein Bruder kam nicht mehr zu Besuch. Nur aus den Medien, zu denen ich immer noch Zugang hatte, erfuhr ich, wie erfolgreich unser Projekt inzwischen geworden war. Und ich vergrub mich immer weiter in dem Bisschen, was von mir übrig geblieben war. Hörte auf zu malen. Sang nicht mehr. Meine Haare wurden länger und länger, wie ich mir selbst das Fotografieren beibrachte. Den Garten jeden Tag durchschritt, die Augen offen nach einem Aspekt von ihm, der mir bis dahin verborgen geblieben war. Duellist Kingdom kam und ging. Laut dem Serverprotokoll haben Sie die Partie zwischen den Geschwistern Pegasus gesehen. Anschließend sperrte ich ihn sechs Monate auf eben dieser Insel ein, damit er begriff, was er mir angetan hatte. In der Zwischenzeit begann ich zu leben, leitete die Firma unter unserem Familiennamen weiter, genoss nachts die Anonymität, die mir der Mädchenname meiner Mutter garantierte. Als ich ihn endlich freiließ, war er ein anderer. Ruhiger, nachdenklicher. Und er hatte verstanden, dass ich mir unter gar keinen Umständen meine Freiheit noch einmal nehmen ließe. In irgendeiner Bar hier in Japan stolperte ich dann über den Vater der Zwillinge. Der Ausgang dieser Beziehung hätte mich nur wenige Jahre zuvor noch vollkommen zerstört. Aber jetzt? Ich hatte so viel gesehen, so viel erlebt, hatte drei Jahre wie neun gelebt. Ich zerbrach nicht, akzeptierte, dass ich nun für jemand anderen die Verantwortung trug. Und statt selber sterben zu wollen, war ich nun bereit zu töten. Ironischerweise war es mein Bruder, der mich davon abhielt, mir deutlich machte, dass es nichts brachte, den Vater meines ungeborenen Kindes – damals wusste ich noch nicht, dass es Zwillinge werden würden – umzubringen. In die Hölle schicken könnte ich ihn auch auf andere Art und Weise... Es ist komisch, aber jedes Mal, wenn ich die Narben spüre oder sehe, erinnern sie mich daran, dass ich trotz allem eigentlich nur leben wollte. Paradox, nicht wahr?“ Mittlerweile war Seto die Klimaanlage endgültig egal geworden. Er ließ die Kälte einfach zu, die sich um ihn gelegt hatte, aber vor seinem Herzen zurückwich, in dem sich Verstehen ausbreitete. Sein gesamtes Bild von ihr war auf den Kopf gestellt worden, nur damit er feststellen konnte, dass es die ganze Zeit über verkehrt herum an der Wand gehangen hatte. Nachdem er sich nach einer Weile immer noch nicht zu Wort gemeldet hatte, zu sehr beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen an die Erlebnisse, durch die er wurde, wer er war, bat sie ihn: „Wären Sie so nett die Getränke von der Bar zu holen?“ Stumm gehorchte er und schritt auf die Bar zu. Als ihm dort ohne weitere Probleme zwei Gläser überreicht wurden, spürte er wieder die Menge der bösen Blicke. Und der ganze Aufstand nur wegen eines Botenganges, für den er sich unter normalen Umständen zu schade gewesen wäre. Aber er wollte ihr Zeit lassen, sich ein wenig zu erholen. Natürlich hatte er reichlich Fragen, doch im Moment zog er es vor sie auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Umso erleichterter war er, sie wieder aufrecht sitzend vorzufinden, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen. „Wo waren wir stehen geblieben? Ah, ja. Meine alkoholfreie Alternative für den Sommer.“ Sie nahm das Glas, das er ihr reichte entgegen. „Auf einen wundervollen Urlaub. Zum Wohl!“ Vorsichtig nahm Seto einen Schluck von dem trüben Getränk. Es war süß und gleichzeitig zog sich eine gewisse Schärfe durch seinen Mund in seinen Rachen. Erfrischend. Ganz leicht säuerlich. „Was genau ist das?“, fragte er, bevor er sich einen weiteren Schluck genehmigte. Kein Wunder, dass sie das erste Glas so schnell gelehrt hatte. „Einfach Wasser mit einem Ingwer-Zitronen-Sirup. Ähnliche Wirkung wie alkoholische Drinks, jedoch ohne die Rauschwirkung. Und von außen nicht zu durchschauen. Apropos. Wir sollten zu unserem Lieblingsthema zurückkehren, bevor der Abend vollkommen vorbei ist.“ „Und das wäre?“ „Mein Lieblingsneffe. Chef. Jo. Joey. Suchen Sie sich etwas aus.“ „Jo.“ Seine Zunge stolperte ein wenig über die einzelne Silbe. Dennoch gefiel ihm der Klang. Daran könnte er sich gewöhnen. „Was gefällt ihm noch? Also, außer Männerhintern in engen Badehosen.“ „Knackige Männerhintern“, korrigierte sie ihn. „Meinem knackigen Hintern in enger Badebekleidung“, spielte er das Spiel zu seiner eigenen Überraschung mit. War in dem Drink wirklich nichts anderes beigemischt? „Mal schauen. Er liebt Schokolade mit Chili oder rotem Pfeffer. Hat damals Katze fast zu Tode gedrückt, als sie ihn ihre Kreation probieren ließ. Aber von dieser Vorliebe wissen Sie ja bereits. Was Sie dafür wahrscheinlich nicht wissen, ist dass seine Lieblingsfarbe blau ist.“ „Und was ist mit rot?“ „Nur in bestimmten Situationen. Vielleicht trägt mein Bruder diese Farbe einfach zu oft. Wer weiß.“ In dieser Art ging es weiter. Sie sprachen über Bücher und Filme. Tauschten sich über Klassik aus. Und Seto erfuhr einiges über Chef, dass ihn verblüffte, nicht mehr zu Joey Wheeler passte, dafür aber so gut zu dem Mann, dem er wenige Monate zuvor begegnet war. Zwischendrin sprachen sie über das, was er seit ihrem Ultimatum gemacht hatte. Zaghaft ging er auf ihren spontanen Sprachwechsel mitten im Gespräch ein. Vokabeln, die er noch nicht kannte, nannte sie ihm leise. Zurück ins Japanische wechselnd lauschte er ihren Schwärmereien für Nereidas Art Tango zu tanzen. Dann sprachen sie über Mokuba und er ließ sich sogar dazu hinreißen ein paar Anekdoten aus ihrer Kindheit zu erzählen, auf die sie mit einem warmen Lächeln reagierte und ihm beipflichtete, dass manche Dinge nur von jüngeren Geschwistern kommen konnten. Auf seine übermütige Frage, ob sie sich nicht duzen wollten, erwiderte sie schlicht: „Nur über Ihre Leiche. Ich fürchte, wir werden das noch früh genug tun müssen.“ Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ihr den Vortritt in dieser Angelegenheit hätte lassen müssen. Schuldbewusst sprang er auf und holte ihre dritte Runde vom wissend grinsenden Barkeeper. Er wollte lieber nicht wissen, was für Geschichten dieser über Martine hätte erzählen können. Dann wechselten sie begeistert zu Kommunikationstechnik und die Sprünge, die diese in den letzten Jahren gemacht hatte. Doch dann fragte Martine plötzlich: „Wenn Sie Jo ein Geschenk machen könnten – einfach so – was wäre es?“ Den Ansatz seiner Antwort unterbrach sie jedoch. „Ich möchte nur, dass Sie sich darüber Gedanken machen. Ich brauch es nicht zu wissen.“ Mit nur kurzer Bedenkzeit für ihn, fuhr sie fort: „Und Sie haben wirklich für Mokuba gestrickt?“ „Ja, habe ich. Jos alte Nachbarin hat es mir gezeigt. Sie können auch stricken, oder? Ich hab im Februar Chefs roten Schal gesehen. Er meinte er stamme von seiner Tante.“ „Stimmt. Unser erstes Weihnachten. Ich hatte ganz lange keine Idee und dann hab ich immer gestrickt, wenn die Zwillinge geschlafen haben – wenn sie das denn mal beide gleichzeitig getan haben. Alleine hätte ich wohl in einer Woche vielleicht 7 Stunden Schlaf bekommen. Zum Glück hatten Lion und Jo vom ersten Moment an einen Narren an ihnen gefressen.“ Stück für Stück erzählte sie ihm mehr von ihren Kindern. Ihren ersten Worten, den ersten Gehversuchen, die Streiche, die sie unabsichtlich spielten, wie sehr sie Chef vergötterten. Die Nacht war tief schwarz, soweit dies in Domino mit all seiner Beleuchtung möglich war, als sie endlich von der Bar wieder nach unten fuhren. Seto hatte es sich nicht nehmen lassen, ihre Rechnung komplett zu begleichen und war positiv überrascht worden über die doch eher geringe Summe. Trotzdem blieb ihm der Gesichtsausdruck des Barkeepers suspekt, der ihm mit einem schelmischen Unterton einen guten Nachhauseweg gewünscht hatte. Roland sprang aus der Limousine, als sie auf den Gehweg traten und hielt pflichtbewusst die Tür zur Rückbank auf. Seto wollte Martine zuerst einsteigen lassen, doch sie lehnte dankend ab. Der Weg zu ihrer Wohnung sei nicht weit genug, um dafür Auto zu fahren. Zum Abschied reichte sie ihm die Hand und flüsterte ihm zu, dass sie sich ja in Bälde wieder sehen würden und sie sich schon darauf freue. Dann trat sie zurück, damit die Autotür geschlossen werden konnte, winkte Roland noch kurz zu und war dann mit anmutigen Schritten auf dem Weg zu nächsten Ecke. Eine einsame Erscheinung in der Nacht. Kapitel 6: Samstag 23.7. ------------------------ Zufrieden seufzte er. Seine kleine Schwester hatte sie nicht nur zu viert wohlbehalten an ihr Ziel gebracht, sondern dabei auch sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen eingehalten. Das tat sie immer, wenn ihre Kinder mit im Wagen saßen. Was zu seinem großen Bedauern nicht hieß, das sie es auch tat, wenn sein Sohn auf dem exponierten, gefährlichen Beifahrersitz saß, wie er ganz genau wusste, weil er die üblichen Strecken gut genug kannte, um zu wissen wie lange man für sie brauchte. Wenigstens hatte sie bis jetzt noch keinen Unfall mit ihm gebaut. Erwartungsvoll blickte er aus dem Fenster des grauen Kombis. Sie hatte darauf verzichtet ihren eigenen Toröffner zu verwenden und so sollte ihre Ankunft bemerkt worden sein. Die Hoffnung auf ein großes Empfangskomitee hatte er nach dem ersten Jahr aufgegeben, doch in Wahrheit ging es ihm eh nur um den jungen Mann, der sie bereits breit grinsend erwartete. Er wusste nicht warum, denn eigentlich trennten sie gerade einmal acht Jahre, aber er fühlte sich in Josephs Gegenwart immer deutlich älter als dieser, so als ob sie wirklich den Altersunterschied zwischen sich hatten, der es rein theoretisch erlauben würden, dass er sein Sohn war. „Hallo, Dad“, wurde Maximillion begrüßt und das zweite Wort war Balsam für seine Seele. Joseph hatte erst im März damit angefangen ihn so zu nennen und er genoss es jedes Mal, wenn er diese Bezeichnung hörte. Seinem Neffen und seiner Nichte ersetzte er zwar den Vater, doch nannten sie ihn immer artig – meistens zumindest - „Onkel Maximillion“. Vielleicht, wenn sie älter waren, würden sie einen weniger formell klingenden Namen für ihn finden. Aber Joseph nannte ihn Dad und brachte damit endlich zum Ausdruck, was für ein fester Bestandteil dieser Familie er tatsächlich war. Glücklich sah er wie sich Ethan und Clara auf seinen Sohn stürzten und ihn fast umrissen, er dem Jungen durch die weißen Haare wuschelte und dem Mädchen spielerisch vorwarf, noch ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. Seine Familie. Er warf einen Blick hinüber zu seiner Schwester, die die Szene genauso amüsiert wie er betrachtet hatte, und er war froh sich auch dieses Jahr die zweiwöchige Auszeit zu gönnen, in der Sandburgen wichtiger waren als der nächste Quartalsbericht. Sie ließen ihr Gepäck noch im Wagen und folgten Joseph in die angenehme Kühle des Hauptgebäudes. Drinnen erwarteten sie Cian und Shin. Wie immer erwiderte Maximillion die Umarmung des Iren, der seinem besten Freund so gut tat. Er war sich des Privilegs durchaus bewusst. Währenddessen bestach Shin die Kinder bereits mit dem ersten Eis am Stiel, bevor er sich Martine zuwandte, um sie ebenfalls zu begrüßen und sein kleines Geschenk zu verteidigen. „Das ist reiner Orangensaft. Kein Zucker!“ „Bis auf den, der schon im Saft selbst enthalten ist.“ Die Missbilligung klang in jeder einzelnen Silbe mit. Dann schien sie sich aber umzuentscheiden, denn sie fragte: „Bekommen wir auch eins?“ Stumm deutete Shin auf den Tisch und den Eiskaffee der dort bereitstand. „Wenigstens etwas.“ Maximillion wandte sich kurz von Cian ab und betrachtete sie genauer. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie war viel zu kühl im Umgang mit Shin. Kein Danke kam ihr über die Lippen, die sie auf einander presste. Wieso war sie so angespannt? Weil er keine Antwort auf die Frage fand, unternahm er den verzweifelten Versuch selbst zum Stimmungsaufheller zu werden und sagte gespielt unverkrampft: „Dann sollten wir uns mal bedienen, bevor das Eis geschmolzen ist!“ Er setzte sich auf einen Stuhl und nahm sich das einzige Glas mit Erdbeereis im Kaffee. Joseph folgte seinem Beispiel und auch die anderen gesellten sich zu ihnen, wobei die Kinder zu beiden Seiten von Cian auf der Bank glücklich an ihrem Wassereis leckten. Auch ihn sprachen sie mit Onkel an, ebenso Shin und den Rest des Teams – bis auf Yuki natürlich. Doch war sie nicht zur Tante erklärt worden, sondern durfte ihren Vornamen unverändert behalten. Martine versuchte ihre Kugel Eis in der braunen Flüssigkeit zu ertränken. Nach außen hin wirkte sie normal, aber es waren schon immer die Kleinigkeiten gewesen, die ihm verrieten, wie es in ihr wirklich aussah. Seit einer Woche schien sie ab und zu nervös zu sein, reagierte seltsam, wenn er sie auf den Urlaub ansprach, also während der Hälfte ihrer Gespräche, und dennoch rückte sie nicht mit der Sprache heraus. „Frisch gestärkt können wir nachher gleich Dads Koffer nach oben bringen, dann könnt ihr weiter zu Haus 3 und euch dort einrichten. Keine Angst, Martine, ich schick euch Yuki mit etwas zu Essen vorbei“, missdeutete Joseph die Miene seiner Tante. „Und nachher essen wir gemeinsam zu Abend. Die Planung für die nächsten Tage können wir ja dann machen und dann“ „Wir schlafen hier, im Hauptgebäude“, schnitt ihm Martine das Wort ab. Joseph machte große Augen – als einziger neben Maximillion selbst am Tisch. Sogar seine Nichte und sein Neffe waren nicht überrascht. Er ging zumindest davon aus, dass sie sonst laut protestiert hätten. Sie liebten ihr gemeinsames Zimmer, dessen eine Wand ein Bild des von ihrem Großvater inspirierten Monsters zierte. „Wie bitte?“, fand er selbst als Erster wieder die Stimme. „Wieso?“, wollte nun auch sein Sohn wissen. „Yuki hatte mich Ende März angerufen und mich gebeten darüber nachzudenken, ob wir nicht zumindest für ein paar Tage Platz machen könnten. Und wir nutzen die Zimmer hier im Gebäude eh viel zu selten.“ Sie war von ihren eigenen Worten nicht überzeugt, das hörte er sofort, trotzdem schien ein Teil der Anspannung von ihr abzufallen. Das hatte sie also beschäftigt. Bei Eröffnung des Hotels hatten sie sich geeinigt, dass sie Joseph nicht in die Leitung hineinreden würden. Und jetzt traf sie einfach ohne ihn eine Entscheidung über die Raumbelegung. Insgeheim fragte er sich, für wen sie freiwillig den Platz räumte, aber sein Sohn hakte nicht nach und er wollte nicht riskieren ein Thema aufzubringen, das Martine so offensichtlich vermeiden wollte. Unter anderen Umständen hätte sie nämlich genau angegeben, wer zu Gast war in dem mysteriösen Zeitraum, den sie auf ein paar Tage verniedlicht hatte. Wer war ihr wichtig genug, außer den Anwesenden, dass sie … Ihm kam eine Idee und er musste an sich halten, sie nicht gleich wieder auszuplaudern. Nein. Das konnte nicht... Sie hatte nicht... Oder doch? Auf jeden Fall war der Rest eingeweiht und es fiel ihm niemand sonst ein, der einen solchen Aufwand notwendig gemacht hätte. Nach all diesen Jahren konnte sie es also immer noch nicht lassen und er war ihr seltsam dankbar dafür. Beruhigt kümmerte sich Shin um den Fisch, den es zum Abendessen geben sollte. Im Sommer aßen sie immer erst spät richtig, obwohl sie eigentlich alle die Extraenergie tagsüber gebrauchen könnten, aber sie bekamen kaum warme Speisen hinunter unter dem Zenit der Sonne. Da half auch keine Klimaanlage. Er hatte es also einfach geschluckt, nicht aufgehorcht. Und soweit er es mitbekommen hatte, hatte es noch keine Beschwerde gegeben, dass Yuki keinerlei Hinweis für diese ungewöhnliche Umbelegung in den Unterlagen hinterlassen hatte. Gut so. Schließlich hatte er ihr bereits ausreichend den Kopf abgerissen und für diese Handlung mit jeder Menge Lieblingsgerichte gebüßt. Wohlige Wärme machte sich in seinem Magen breit, wenn er an ihr Strahlen dachte, mit dem sie ihm jedes Mal gezeigt hatte, dass sie seine Entschuldigung annahm, oder an ihre Verlegenheit, als sie ihn endlich darum bat, wieder normal zu kochen. Sie hätte Bedenken, es würde allmählich auffallen. Sie wussten beide, dass das nicht wahr war. Dennoch war er ihrer Bitte gefolgt und kochte nur noch einmal in der Woche speziell für sie, gab sich dann aber doppelt so viel Mühe. Es war schwer gewesen, dafür zu sorgen, dass sie unterwegs war, während die Pegasus Familie ankam. Aber zu zweit in einem Zimmer mit Chef hatten beide Frauen zu viel Angst, sich zu verplappern. Es war schon Martine allein schwer genug gefallen. Er war ihr für ihre abweisende Art nicht böse – auch weil sie ihn danach geknuddelt und sich entschuldigte hatte. Inzwischen waren sie oben mit Chef und packten aus. Die einzelnen Gepäckstücke waren schnell oben gewesen. Jeder diszipliniert nur mit einem Koffer und einer Tasche, wobei die Zwillinge noch eine eigene Tasche für ihr gemeinsames Spielzeug hatten und ihre Fahrräder im Fahrradschuppen untergebracht worden waren. Martine und Maximillion hatte dauerhaft Fahrräder im Hotel, aber solange die Kinder noch wuchsen, sah ihre Mutter es nicht ein von jeder Größe mehrere Fahrräder auf Vorrat zu halten. Es war doch jedes Mal erstaunlich, was sie alles in den Kombi bekamen, der nun brav in der Garage neben Chefs Oldtimer, dem modernen Sportwagen und dem Teamfahrzeug stand. „Hier, das ist die Kiste aus Haus 6.“ Yuki. Er lächelte sie an und sprach dann: „Danke. Ich kümmer mich drum, sobald der Fisch fertig ist.“ Gespannt sah sie zu, wie er seiner Arbeit nachging, ein Stück Wassermelone von der Anrichte vertilgend. Als er endlich das Messer zur Seite legte, traute sie sich zu fragen: „Und? Wie ist es gelaufen?“ „Gut. Besser sogar, als wir alle gedacht haben. Sei froh, dass du nicht dabei warst. Sogar Martine war nervös. Sie hatte Maximillion nicht eingeweiht, aber dafür waren die Zwillinge brav, was wohl den Ausschlag gegeben hat, dass Chef keine Details wissen wollte. Karotten oder Kohlrabi als Gemüse?“ „Beides. Und leider muss ich auch schon wieder los. Haus 1 braucht Hilfe bei den Sonnensegeln. Bin mit Matt dort verabredet.“ Sie stellte sich kurz auf die Zehenspitzen, zögerte, überlegte es sich anders und stieß in der Tür fast mit Hans zusammen, der von einer Einkaufstour gerade zurückkam. „Achtung! Schwer beladener Koch!“, rief er noch aus, doch da war sie schon sicher an ihm vorbei und draußen in der Sommerluft. „Stürmische junge Frau“, meinte er an Shin gewandt, der ihm half die Zutaten, die ihre Vorräte aufstocken sollten, zu verstauen. Auch waren ein paar Dinge darunter, die sie speziell für das Essen am Dienstag brauchen würden. „Lief alles glatt?“ „Ja.“ „Was lief glatt?“, wollte Chef vom Türrahmen aus wissen. Er war auf dem Weg zurück in sein Büro und hatte sich nur noch ein Stück Wassermelone zur Stärkung nehmen wollen. „Die Bestechung der Zwillinge mit dem Orangeneis“, log Shin und musterte angestrengt das Marzipan, das er für die Verzierung der Torte verwenden wollte. „Achso. Ich dachte schon es hätte was mit der Geburtstagsüberraschnung zu tun.“ Hans verschluckte sich beinahe an seiner Melone. „Geburtstagsüberraschung“ war das Codewort für Yukis Plan geworden, da Martine es wohl so ihren Kindern schmackhaft gemacht hatte, auf ihr Lieblingszimmer zu verzichten. Leider hatte sie Chef das ein oder andere Mal dieses Wort verwenden hören und war nun gespannt, was sich dahinter verbarg, auch wenn er nicht den vollen Umfang des Komplotts erahnte. Vor sich hin summend steuerte er die zweite Tür des Raumes an, nichts ahnend, dass er zwei panische Köche zurückließ. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Geräusch der Wellen, in das sich das Getrappel kleiner Füße mischte. Im Gegensatz zu den Kindern seiner Schwester hatte er schon längst ausgeräumt und wartete nun darauf, dass es bald Abendessen geben würde. Von seiner Position am offenen Fenster konnte er beobachten, wie Yuki den großen Tisch beim Pool eindeckte – auch wenn er sich mehr auf die klappernden Teller verließ. Lange würde es dann wohl nicht mehr dauern, bis Hans oder Shin sich melden würden. Das hatten sie früher nicht gehabt. Denn obwohl das Haus bereits damals schon groß genug gewesen war, um der Familie und Personal genug Raum zu bieten, hatten sie die Sommer hier allein verbracht. Nur er, Martine und ihre Eltern – und Cecilia in den späten Jahren. Manchmal spielte ihm seine Vorstellung einen Streich und er hörte über den Wind und die Wellen ihr Lachen, wie sie ihn aufforderte doch auch endlich ins Wasser zu kommen. Seine Mutter hatte dann für sie alle gekocht und so dafür gesorgt, dass sie abends zusammen saßen. Selbst wenn er lieber Zeit mit Cecilia allein verbracht hätte, so hörte er doch immer gespannt zu, wenn seine kleine Schwester ihm erzählte, was sie tagsüber alles erlebt hatte. Ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Noch einmal die Welt durch Kinderaugen sehen. All ihre Wunder nicht für selbstverständlich nehmen, sondern sie mit großen Augen bestaunen. Aber er war erwachsen. Daran konnte er nichts ändern und, wenn er sich gegenüber ehrlich war, wollte es auch nicht. Der Weg dorthin war viel zu beschwerlich gewesen als dass er ihn ein weiteres Mal auf sich nehmen wollte. Es war gut so wie es war. Irgendwie zumindest. Schließlich hatte er noch genug Sorgen mit den Zwillingen, seiner Schwester und seinem Sohn. Maximillion kippte das Fenster, damit die hoffentlich bald kühler werdende Luft auch hineingelangen konnte, während er selbst noch draußen saß, und sah nach wie weit der Rest der Familie mit dem Auspacken war. Aktuell versuchte Martine zwischen Ethan und Clara zu vermitteln, die sich nicht darüber einig wurden, wie sie schlafen wollten. Er hätte ihnen wohl keine Wahl gelassen, sondern sie einfach in ihr jeweiliges Bett gesteckt, doch seine Schwester wollte, dass sie so früh wie möglich lernten eigene Entscheidungen zu treffen. Na gut, dann eben so. Anscheinend wollte Clara einen auf „großes Mädchen“ machen und hatte Ethan vor den Latz geknallt, dass sie nicht in einem Bett mit ihm schlafen wolle – obwohl sie beide bequem darin mehr als genug Platz hätten. Martine hatte ihm von irgendwelchen Kommentaren von Klassenkameradinnen berichtet, die sich darüber lustig gemacht hätten, dass die Zwillinge so schwer zu trennen seien. So schmollte nun Ethan vor sich hin, die Unterlippe nach vorn geschoben. „Dann bekomme ich aber Blaubär!“, meinte er schließlich. „Aber den wollte ich!“, protestierte Clara. Tatsächlich lag der große blaue Teddy schon bei ihr drüben. „Und wenn ihr ihn euch teilt?“, ging ihre Mutter dazwischen, bevor die beiden sich unnötig um das Kuscheltier zankten. Beide sahen verständnislos zu ihr auf. „Ich frage Cian nach der großen Schere und schneide ihn einmal in der Mitte durch.“ Synchron schnappten die Kinder nach Luft, rannten rüber zu Claras Bett und warfen sich beschützend über das Objekt der salomonischen Rechtsprechung. „Nein!“, jammerte Ethan ängstlich. „Nicht kaputt machen“, unterstützte ihn seine Schwester. Ungläubig schüttelte Maximillion ob dieser Szene den Kopf. Es war doch wie immer. Kaum hatten sie einen gemeinsamen Feind – und sei es ihre eigene Mutter - verstanden sie sich plötzlich wieder. „Dann macht mir einen Vorschlag, wie ihr das Ganze regeln wollt“, schlug Martine sanft vor. Clara traute sich als erstes, sobald ihr klar wurde, dass die Gefahr für den Moment gebannt war, und sie sich hoffentlich daran erinnerte, dass ihre Mutter noch nie ihr Spielzeug zerstört hatte. „Er könnte ja heute Abend bei Ethan liegen... und wenn ich ihn vermisse, schau ich nach den beiden.“ Kurz dachte sie nach, war von ihrer eigenen Idee so begeistert, dass man es im Funkeln ihrer braunen Augen sehen konnte und nickte bestimmt. Dann drückte sie Ethan, dem sein Sieg allmählich bewusst wurde, den Teddy in die Arme. „Na, dann können wir jetzt auch runter und Shin und Hans in der Küche belagern“, machte Maximillion auf sich aufmerksam. Clara und Ethan sprangen auf und waren schon bis zum ersten Treppenabsatz gekommen, bis Martine auf Höhe ihres Bruders war. Gemeinsam folgten sie den Zwillingen in einem etwas gemütlicheren Tempo. „Vierteilung von Kuscheltieren. Wirklich?“, flüsterte er ihr leise zu. „Zweiteilung bitteschön. Und du weißt, dass ich es nie so weit hätte kommen lassen“, antwortete sie ihm genauso ruhig. „Hast du ein Glück, dass sie beiden nicht so ticken, wie wir damals.“ „Hey, das war ein Unfall! Und du hattest mir meinen Teddy weggenommen. Ich hatte ihn nur zurück gewollt.“ „Wie gut, dass Mum so gut nähen konnte.“ „Ja. Sonst hättest du ein echtes Problem gehabt.“ „Ich weiß.“ Ihren wütend funkelnden Blick ignorierend drückte er sie kurz an sich. „Hab dich lieb, kleine Schwester. Und was immer du dieses Mal ausgeheckt haben solltest, wir kriegen das schon hin – nachdem du deine beiden Wirbelwinde zurückgepfiffen hast. Denn aktuell sieht das schlecht für unser Essen aus.“ „Ich dich auch, Nervensäge.“ Kapitel 7: Sonntag 24.7. ------------------------ Gegen alle Proteste hatte er nicht Mokuba fahren lassen. Zwar betonte er immer, wie wichtig es ihm war, dass sein kleiner Bruder ausreichend Fahrpraxis hatte, doch es war ihm nicht so recht gewesen, als er plötzlich die große Limousine fahren wollte, die Mokuba mit seiner chaotischen Packtechnik tatsächlich randvoll bekommen hatte. Es war Seto ein Rätsel, wie man im Sommer zu zweit nicht das doppelte, sondern vierfache von dem brauchen konnte, was ihm im Winter gereicht hatte. Irgendwann hatte er es aufgegeben seinen kleinen Bruder darauf hinzuweisen, dass er dies oder jenes nicht brauchen würde, und sich lieber auf seine eigenen Vorbereitungen konzentriert. Einen vollen Nachmittag war er durch Domino getigert, um alles einzukaufen, was ihm noch fehlte. Allmählich kam die Wand aus sattem Grün immer näher und Seto wandte sich an Mokuba, der die letzten Stunden lesend auf dem Beifahrersitz verbracht hatte: „Wenn du Midori mitteilen willst, dass wir gut angekommen sind, solltest du das jetzt tun.“ „Wieso?“ „Weil du drinnen keinen Empfang haben wirst.“ „Ernsthaft?“ Mokubas Entsetzen verblüffte Seto dann doch ein wenig. Er war bis jetzt davon ausgegangen, dass ihm das bewusst gewesen war, als er ihn im Februar dorthin geschickt hatte. „Weswegen war ich wohl zwei Wochen nicht erreichbar.“ „Ich hatte nicht gedacht, dass es auf dem ganzen Gelände so ist...“, murmelte er leise und zückte dann sein Handy. So schnell wie er sich den Hörer ans Ohr hielt, musste er Midori als Kurzwahl gespeichert haben. „Ja, ich bins. Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass wir fast da sind. Seto meinte, dass man auf dem Hotelgelände nicht telefonieren kann... Ja, hatte ich, aber ich hab das eigentlich immer noch für einen Scherz gehalten... Ja, ich weiß. Ich wollte auch nur kurz sagen, dass ich nicht weiß, wann ich mich wieder melden kann. Ist das okay für... Du bist die Beste! … Ja, ich dich auch.“ Inzwischen hatte Seto vor dem Tor im Zaun gehalten. Es war ein anderes als letztes Mal, auch wenn es baugleich war. Während Mokuba das Handy wieder wegsteckte, ließ er die Scheibe herunter und drückte auf den Knopf. Jetzt kam es wirklich darauf an, ob Martine und Yuki alles hatten vorbereiten können. Er hatte seit einer Woche nichts mehr von ihnen gehört. Es dauerte ein paar Sekunden, dann schwang das Tor lautlos nach innen auf. Das Fenster offen lassend folgte Seto dem Weg durch den Wald und hielt dann vor Haus 3. Er schaltete den Motor aus und drehte sich zu Mokuba, der mit offenem Mund auf seinem Sitz saß. „Einmal Hotel“, sagte er trocken, fuhr die Scheibe hoch und stieg dann aus. Glücklicherweise hatte er die Sonnenbrille bereits für die Fahrt aufgesetzt, sonst wäre er geblendet gewesen. Der Himmel war blau und klar, die Sonne wärmte und spielte mit den grünen Blättern an den Bäumen. Am liebsten wäre er gleich zum Strand gestürmt um sich das Meer anzusehen, doch erschien es ihm vernünftiger, zuerst den Wagen auszuräumen. Dann könnten sie den restlichen Nachmittag problemlos in den Liegestühlen verbringen. Er ging hinüber zur Haustür und holte den Schlüssel aus seinem Versteck. Anschließend schloss er auf und machte die ersten Schritte hinein. Augenblicklich nahm ihn der Blick quer durchs Wohnzimmer auf die blauen Wellen so gefangen, dass er beinahe über eine der grauen Transportkisten stolperte. Fluchend las er den kleinen Zettel, der auf dem Deckel lag. Euer Mittagessen. Yuki „Machst du mir mal Platz? Ich will auch was sehen!“, quengelte Mokuba hinter ihm, bevor er aus dem Durchgang zum Wohnzimmer trat, um die Kiste in die Küche zu bringen. „Wow! Das ist ja noch cooler als ich es mir vorgestellt habe!“ Er stieß einen Pfiff aus. „Und die Terrasse ist ja riesig!“ Er hatte bereits die Glastür aufgerissen und starrte wie zuvor sein Bruder aufs Meer hinaus. „Da drunter ist ja auch unser Pool. Das Meer hat eine ziemlich starke Strömung hier und durch die Gezeiten können wir nicht immer darin schwimmen“, erläuterte Seto als wäre sein Bruder noch 10 Jahre alt. „Achso.“ Dann drehte sich Mokuba um und musterte kritisch das offene Schlafzimmer ganz rechts. „Das sieht aber nicht so aus, wie Martine es beschrieben hat.“ Mit wenigen Schritten hatte er sich an den Möbeln im Wohnzimmer vorbei geschlängelt und blickte kritisch um sich. „Ich würde ja auch die Tür neben der Küche nehmen an deiner Stelle.“ Prompt machte Mokuba auf dem Absatz kehrt und guckte an besagter Stelle nach. „Stimmt. Unglaublich! Der sieht so real aus!“ „Ja, tut er. Und das untere Bett ist meins.“ „Warum?“ „Weil ich den Aufenthalt bezahle und es so sage.“ „Ach, Seto...“ Mokuba schüttelte schmunzelnd den Kopf. Sein Bruder musste einfach immer den Boss heraushängen lassen. Aber wenigstens hatte er nicht gleich das gesamte Zimmer für sich beansprucht. Apropos Boss. „Woher weißt du eigentlich wo hier alles ist?“ „Was meinst du?“ „Naja, du wusstest, wo der Schlüssel war, das unter der Terrasse ein Pool ist und das mit dem Zimmer hier auch. Hat dir das alles Martine erzählt?“ „Nein. Ich war im Februar hier. Schon vergessen?“ „Nein, das nicht. Aber ich dachte du wärst da in einem Haus für zwei Personen gewesen. Deswegen bin ich auch etwas verwundert, dass...“ „Chef hat es mir gezeigt, weil ich wegen einer Niederlage beim Go geschmollt habe. Zufrieden? Und jetzt hilf mir beim Auspacken. Das ist eh größtenteils dein Krempel.“ Die Antwort war schnippischer ausgefallen als er gewollt hatte, doch verfehlte sie wenigstens nicht ihre Wirkung. Brav wurde im wieder nach draußen gefolgt. Nach einigem Überlegen hatte Seto den Schrank im Schlafzimmer für seine Sachen erhalten und Mokuba hatte sich im Schrank des Drachenzimmers ausbreiten dürfen. Dann hatten sie sich an dem großen Salat mit Putenbruststreifen gestärkt. Mokuba hatte nicht schlecht gestaunt mit welcher Selbstverständlichkeit Seto danach abgewaschen, die Transportkiste eingeräumt und dann in den Flur gestellt hatte. Heimlich hatte er zwischendurch den Kühlschrank und die restlichen Schränke kontrolliert. Es war genug Essen vorhanden, dass sie die nächsten Tage problemlos überstehen würden. Denn das war eine von Yukis größten Sorgen gewesen. Was sollten sie machen, wenn Seto sich über die Sprechanlage in der Küche meldete und Chef es zufällig mitbekam? Leider ging sein eigener Plan kaum über den aktuellen Zeitpunkt hinaus. Irgendwie hatte gehofft, dass ihm schon etwas einfallen würde, wenn er erst einmal da war. Mokuba hatte sich sein Buch, das er bereits im Auto gelesen hatte, geschnappt und fläzte sich bereits in der Sonne, während Seto noch etwas unschlüssig vor dem Bücherregal stand. Martine hatte keinen schlechten Geschmack, doch war sein eigener deutlich näher an Chefs dran als an ihrem. Spontan entschied er sich für eine Zusammenstellung von europäischen Märchen. Dann verschwand er kurz ins Bad, um sich einzucremen. Obwohl seine Haut mehr Sonne abbekommen hatte als in den Jahren zuvor, war sie immer noch bleich und er wollte einen Sonnenbrand am ersten Urlaubstag unter allen Umständen vermeiden. So geschützt und bewaffnet mit Buch und einer großen Wasserflasche kam er schließlich auch auf die Terrasse. Sich entspannend schloss er die Augen. Wenn es die nächsten zwei Wochen so weiter gehen würde, könnte er es in der Tat genießen im Urlaub zu sein. „Shin, ich brauch einen Kaffee!“, rief Chef durch den Raum und streckte sich dann auf der Sitzbank aus. Wie hatte er nur vergessen können, wie anstrengend so ein Tag mit den Zwillingen war? Morgens war noch alles in Ordnung gewesen, doch dann war sein Vater mit Migräne die Treppe hinunter gewankt und hatte gefordert, dass es halbwegs ruhig im Haus sein sollte – ein unmögliches Unterfangen mit den beiden Wirbelwinden. Martine hatte deshalb kurzerhand die beiden ins Auto gepackt und war mit ihnen zum nächstgrößeren Aquarium gedüst. Bedauerlicherweise hatte er selbst aber als Unterstützung mitgemusst. „Bitte sehr“, stellte Shin ihm die Tasse hin. „Ich bin überrascht, dass ihr so lange gebraucht habt.“ Sie waren gegen elf losgefahren und mittlerweile war es.... Kurz vor sechs. Na spitze! Es hatte ihn tatsächlich den ganzen Tag gekostet! „Ich auch. Aber sobald wir Ethan davon überzeugt hatten, dass ihm wegen der Glasscheibe nichts passieren kann, wollte er gar nicht mehr weg vom Becken mit den Haien. Das gleiche Problem hatten wir mit Clara dann bei den Seeanemonen und den Trilobiten. Und natürlich gab es weil Sonntag ist noch irgendsoeine Bastelaktion, bei der sie unbedingt mitmachen wollten. Oh, und ich wurde heute ganze 10 mal für ihren Vater gehalten! Die Blicke hättest du sehen sollen, wenn ich erklärt habe, dass ich nur der Cousin bin!“ Der erste kräftige Schluck Kaffee half den Redeschwall etwas zu stoppen. „Naja, wie dem auch sei. Wie weit seid ihr mit dem Abendessen?“ „Fast fertig, aber wir werden wohl erst in einer Stunde essen.“ „Prima, dann trinke ich noch kurz aus und suche dann Yuki, damit sie auch weiß, dass ich wieder da bin. War heute irgendetwas Ungewöhnliches?“ Kurz schien es ihm als zögere Shin, doch dann kam die Antwort so überzeugend wie eh und je: „Nein. Es war ziemlich ruhig heute. Bis auf Unmengen an Eis gab es auch keine Spezialwünsche an die Küche. Magst du auch eins?“ Kritisch musterte Chef den Koch. „Wie alt bin ich? Fünf?“ Doch dann hellten sich seine Züge auf. „Himbeer, wenn wir noch haben. Mit Schokosoße!“, forderte er, plötzlich doch ein wenig hibbelig. „Für mich bitte auch, Shin. Aber mach die Portionen nicht zu groß – sonst schafft mein Sohn das Abendessen nicht mehr.“ Shin nickte schlicht und ließ dann Vater und Sohn alleine im Angestelltenraum. „Seit wann hast du das Recht mir in meine Essgewohnheiten reinzureden?“, schmollte Chef, während Maximillion ihm gegenüber Platz nahm. „Seitdem ich von Martine die strikte Order habe auf den Süßigkeitenkonsum der Zwillinge zu achten. Natürlich bist du schon erwachsen und solltest selbst wissen, was gut für dich ist, aber irgendwann werden die Kalorien auch bei dir ansetzen und das Gejammer darf im Endeffekt ich mir dann anhören.“ „Wie schön, dass deine Migräne weg ist.“ Seine Stimme triefte vor Ironie. „Ja, nicht wahr?“ Eine Weile sinnierten beide vor sich hin, dann kam Shin zurück und drückte ihnen die kleinsten Schälchen in die Hand, die er in der Küche hatte finden können. Chefs vorwurfsvollen Blick ignorierte er, als er sagte: „Yuki hat sich gemeldet. Sie müsste gleich hier eintreffen. Und wenn ihr aufgegessen habt, könnt ihr zwei ihr beim Tischdecken helfen.“ Beide stöhnten. So hatten sie sich das nun wirklich nicht vorgestellt. Eine Stunde später konnte Chef beobachten, wie Shin die Zwillinge keine auch noch so kleine Sekunde aus den Augen ließ. Ganze drei Mal hatte er sie bereits gefragt, ob sie nicht etwas anderes essen wollten, doch sie hatten darauf beharrt das Gleiche zu essen wie der Rest am Tisch. Natürlich war es irgendwie auch ziemlich niedlich wie die beiden mit ihren knapp sieben Jahren für ihre Überzeugung eintraten, doch so ganz glaubten die Erwachsenen es immer noch nicht. Denn trotz ihres Ausflugs ins Aquarium aßen sie brav ihren Fisch. Selbst als ihre Mutter ihnen noch einmal erklärte, was genau sie da aßen, zuckten sie nur mit den Schultern und aßen weiter. Mehrmals sah er Martines Hand zur Kamera zucken. In manchen Becken waren auch Speisefische gehalten worden und natürlich hatte Martine den ganzen Tag über fleißig fotografiert. Wollte sie wirklich solch drastische Mittel ergreifen? Schließlich gab es genug Kinder, die ihr Leben lang nur Fischstäbchen aßen und die Zwillinge hatten jetzt schon keine Probleme mehr, wenn der Fisch unfiletiert serviert wurde. Aber das war ihre Entscheidung. „Yuki, kannst du mir bitte noch mal die Schüsseln mit den Kartoffeln reichen?“ Irrte er sich oder wich sie wirklich seinem Blick aus? Er tat sich reichlich auf den Teller und versorgte dann Clara, die neben ihm saß und ihm den Teller fordernd entgegen gestreckt hatte. Anschließend schob sie fast die Hälfte der gut angebratenen Scheiben zu Ethan auf den Teller. „Du musst ja schließlich noch wachsen!“, wiederholte sie sorglos den Spruch, den sie wohl irgendwo aufgeschnappt hatte. Maximillion lächelte warm und Chef glaubte zu wissen, woran er gerade dachte. Serenity hatte immer große Augen gemacht, wenn er den leckersten Teil des Essens mit ihr teilte oder ihr sogar ganz gab, und dann hatte sie ihn so breit angestrahlt, dass selbst das schlechteste Wetter keine Chance gegen sie gehabt hätte. Ethan hingegen machte ein Gesicht als hätte er seiner Schwester am liebsten die Zunge herausgestreckt, traue sich aber nicht das vor allen zu machen. „Du wirst schon sehen – irgendwann bin ich größer als du“, sagte er statt eines Danke. Jetzt lachte wiederum Clara. „Nö, ich werde immer ein Stück größer sein als du!“ „Überhaupt nicht!“ „Doch!“ „Ethan. Clara. Ihr könnt das gerne später besprechen. Auch wenn ich der Meinung bin, dass wir einfach abwarten und dann sehen, wer von euch beiden länger wird. Aber jetzt würde ich vorschlagen, dass ihr weiter esst. Chef sitzt nämlich schon wieder vorm fast leeren Teller und sieht mir noch ziemlich hungrig aus“, unterbrach sie ihre Mutter sanft, bevor sie sich richtig streiten konnten. Eingeschnappt und ängstlich zugleich blickten sie zu ihrem Cousin hinüber und aßen dann brav und still weiter, was Chef Zeit gab sich auf die anderen Gespräche zu konzentrieren. Matt diskutierte immer noch mit Maximillion über das neue Bewässerungssystem, das er plante und mit dessen Hilfe er auch in der Nähe der Häuser schöne Beete bepflanzen könnte. Shin und Hans wurden von Cian belagert, den seit morgens die Sehnsucht nach der heimischen Küche plagte. Augenscheinlich hoffte er auf ein paar kulinarische Genüsse außer der Reihe und zumindest Hans war gewillt sich etwas einfallen zu lassen, während Shin leise Andeutungen auf den übernächsten Tag machte und wie viel Arbeit sie bis dahin noch hätten. Yuki und Martine sprachen nicht, obwohl sie direkt nebeneinander saßen und sonst kaum zum Schweigen zu bringen waren. Er wusste nicht wieso, doch überfiel ihn erneut das Gefühl, dass irgendetwas im Busch war. Aber vor den Zwillingen konnte er natürlich nicht nachhaken, falls alles nur wegen ihrer Geburtstagsüberraschung sein sollte. Vielleicht ergab sich im Laufe des Abends eine Gelegenheit genaueres zu erfahren. Endlich hatten sie alle aufgegessen und Matt half Shin beim Abräumen und bringen des Obstsalats, den es als Nachtisch gab. Die kurze Unterbrechung nutzten die Zwillinge sogleich um ihren Größenwettstreit fortzuführen – dieses Mal ununterbrochen. Martine besprach leise mit ihrem Bruder ihre Planung für den nächsten Tag, doch er konnte nicht verstehen, was sie genau vorhatten. Auch gut. Er würde morgen eh wieder arbeiten müssen. Um halb neun gab Martine ihren Kindern das Zeichen, dass es höchste Zeit war zu Bett zu gehen. Ohne Protest standen sie brav auf und gingen zu Yuki hinüber. Vorsichtig zupfte Clara an ihrem Top. „Du, Yuki?“ „Ja, Clara?“ „Bringst du uns heute ins Bett?“ „Natürlich mach ich das. Aber erst müsst ihr den anderen alle eine Gute Nacht wünschen, eure Schlafanzüge anziehen und Zähne putzen!“, bestimmte Yuki. „Und euch selbstverständlich überlegen, was für eine Geschichte ihr hören wollt.“ „Das wissen wir schon!“, mischte sich Ethan ein. „Wirklich?“ Yuki tat so als wäre sie überrascht. „Ja. Das Märchen mit dem Eisbären aus dem großen Märchenbuch.“ „Okay, dann macht ihr euch brav fertig und ich suche schon einmal das Märchen raus.“ „Das Buch müsste in Haus 3 sein“, kam der Einwurf von Martine. „Dann hole ich es schnell und du kannst aufpassen, dass die beiden Lauser ihre Zähne auch gründlich putzen!“, schlug Chef vor und erhob sich von seinem Stuhl. „Ich brauch nach dem ganzen Essen eh ein wenig Bewegung.“ „Nein!“ Yukis Reaktion wirkte auf ihn leicht panisch. „Nein, mach dir keine Umstände. Das ist sowieso nicht nötig. Ich kann das Märchen das die beiden wollen auswendig. Bleib ruhig sitzen.“ „Bist du sicher? Ich brauch wirklich nicht lange.“ „Ganz sicher. Setz dich wieder.“ Als er keine Anstalten machte, ihr zu gehorchen, fasste sie nach: „Sitz. Platz.“ „Ich bin kein...“, fing er an, ließ den Satz aber dann unbeendet verklingen und tat schließlich doch wie ihm geheißen. Dann knuddelte er noch Ethan und Clara, bevor die beiden an der Seite von Yuki ins Richtung Haus sprangen. Wieso kam er immer noch nicht davon los? Kapitel 8: Montag 25.7. ----------------------- Gegen seinen Willen kitzelten ihn die Strahlen der frühen Morgensonne aus dem Schlaf. Sie hatten beim Zubettgehen die Tür zum Wohnzimmer offen gelassen, um noch aufs Meer hinausschauen zu können. Ein Fehler, wie Seto nun fand, als er mit leicht zusammengekniffenen Augen aufstand. Den Start in seinen ersten Urlaubstag hatte er sich eigentlich etwas anders vorgestellt. Aber wenn sein Körper meinte, er müsse seinen alltäglichen Rhythmus beibehalten, konnte er dagegen erstmal schlecht etwas unternehmen, denn Schlafmittel kamen für ihn nicht in Frage, auch wenn er ohne schlecht würde weiterschlafen können. Der Blick ins obere Bett zeigte ihm wenigstens Mokuba als ein Knäuel aus schwarzen Haaren und für seine Schlafposition viel zu langen Armen und Beinen. Sah er selbst etwas auch um Jahre jünger aus, wenn er schlief? Die Antwort würde er wohl nie erhalten. Leise schlich er sich ins Wohnzimmer und machte es sich mit dem nächsten Märchenbuch auf dem Sofa bequem. Die Tür ließ er offen, weil er nicht wusste, ob sie quietschen würde, und solange Mokuba trotz der Helligkeit schlafen konnte, wollte er ihn nicht wecken. Zudem brauchte er etwas Zeit für sich, um nachzudenken. Eine geschlagene halbe Stunde starrte er auf den Deckel des Buches in seinen Händen, bevor er endlich realisierte, dass sein Gehirn ohne Kaffee an diesem Morgen nicht in Schwung kommen würde. Nur bedeutete Kaffeemachen, dass er heißes Wasser brauchte. Keine gute Idee, wenn der Wasserkocher hier nicht eine besonders ruhige Spezialanfertigung war. Aber er könnte sich ja noch später sein Lieblingsgetränk brauen und nachdenken. Mokuba kroch erst gegen 10 Uhr aus den Federn und torkelte etwas schlaftrunken Richtung Badezimmer. Das Gesicht noch nass trottete er danach der Nase nach in die Küche, goss sich Kaffee ein und trank einen Schluck, dann noch einen. „Oh, Morgen, Seto“, grüßte er anschließend seinen großen Bruder, der an die Arbeitsplatte neben ihm gelehnt stand. Doch dieser schüttelte nur stumm den Kopf und fragte: „Frühstück?“ „Ja! Ich verhungere noch fast!“ „Schlafen verbraucht eben eine Menge Kalorien.“ „Gar nicht wahr!“ „Und weswegen hast du dann solchen Hunger?“, neckte Seto und setzte sich an den Esstisch, der selbst für sie beide gemeinsam viel zu groß wirkte. Selbst das großzügige Verteilen der einzelnen Müslibestandteile konnte darüber nicht hinwegtäuschen. Selbst seine Zeitung, die er immer noch beim gemeinsamen Frühstück las, hätte es nicht vertuschen können. Dieser Tisch war einfach zu groß – eine Tatsache, die ihn bei sich zu Hause nie störte, aber jetzt im Urlaub deutlich auffiel. Irgendwie müsste es voller auf dem Tisch sein, oder eher am Tisch. Mindestens noch ein Gedeck und es wäre schon etwas erträglicher. „Weil ich noch wachsen muss“, konterte Mokuba todernst und bediente sich bei den Frühstücksflocken, die Seto als pures Zuckerzeugs nie ins Haus gekommen wären, reichlich. Na gut, wenn er wenigstens Obst dazu nahm. Mokuba übergoss sein Werk mit Milch, probierte kurz und griff dann nach der Tube mit Sirup, die nur auf dem Tisch stand, um den Diät Cornflakes etwas Geschmack zu geben. Nach zwei Esslöffeln der fragwürdigen Substanz schien er endlich zufrieden und begann mit der strahlenden Freude eines Kleinkindes zu essen. Seufzend nahm sich Seto das gesamte Obst, das er extra für sie zwei kleingeschnitten hatte und mengte alles mit einem Joghurt unter. Er hätte wirklich stärker auf Mokubas Essgewohnheiten achten sollen, als er noch die Chance hatte, sie im Positiven zu beeinflussen. Nach dem Frühstück räumten sie gemeinsam den Tisch ab und Mokuba machte sich daran die Schüsseln und Tassen abzuspülen, während Seto sämtliches Müsli wieder in den Schränken verstaute. Der Kaffee war leer, doch kochte er sich noch keinen neuen, da er im Urlaub die Koffeindosis niedrig halten wollte. Beim Abtrocknen stellte er erfreut fest, dass Mokuba nichts zerbrochen hatte, obwohl er sich nicht gerade geschickt mit dem Porzellan angestellt hatte. „Was machen wir heute eigentlich?“ „Das Gleiche wie gestern.“ „Aber das ist doch langweilig! Nur die ganze Zeit im Liegestuhl sitzen und lesen. Ich glaube, ich werde mal Martine suchen.“ Er wollte bitte was?! Keine gute Idee! Trotzdem gelang es Seto ruhig und wie nebenbei zu antworten: „Ich glaube, das wird schwer möglich sein. Gestern waren die Geschäfte zu und sie hat mir erzählt, dass sie dringend ein paar Dinge zur Umgestaltung eines der Häuser einkaufen wollte – und dass sie wohl eine Weile deswegen unterwegs sein wird.“ Mokuba schien es zu schlucken, war die Notlüge doch nicht so abwegig. Aber dann beging Seto einen strategischen Fehler. „Wenn du magst, können wir dafür etwas spazieren gehen, wenn dich das ständige Rumsitzen langweilt.“ Mokubas Augen leuchteten auf. Sie hatten gerade die erste Gabelung erreicht, die sie direkt an den Häusern vorbei weiter Richtung Süden führen würde, ohne dass sie Gefahr liefen, jemand anderem zu begegnen, als die Stille des Waldes von dem Schrei einer Frau zerrissen wurde, gefolgt von einem lauten Platschen. Dann herrschte wieder Stille und ein zweites Klatschen folgte. „Das war doch Martine!“, rief Mokuba aus und war auch schon in den Büschen verschwunden, ohne sich um irgendeine Form von Weg zu kümmern. Seto stürmte ihm hinterher. Zum einen gefiel ihm der Gedanke nicht, Mokuba könnte sich verlaufen, zum anderen war er geradewegs nach Norden zum Hauptgebäude gerannt. Hoffentlich holte er ihn noch ein, bevor er... Beinahe wäre er unsanft in seinen kleinen Bruder gestolpert, der das Ende der Bäume erreicht hatte. „Onkel Moki!“, brüllte ein kleines Mädchen von vielleicht sechs Jahren, dessen blondes Haar in zwei Zöpfen gebändigt war. Das war gerade noch Vorwarnung genug, um sich umdrehen zu können und es und einen weiteren Wirbelwind mit beiden Armen abzufangen. „Clara! Ethan!“, rief eine Frau sie zur Ordnung, bevor sie Mokuba tatsächlich noch umrissen. „Bist du unsere Geburtstagsüberraschung?“, wollte Ethan vorsichtig wissen. „Keine Ahnung. Bin ich ihre Überraschung?“, wandte sich der Ältere an Martine, die sich gerade aus dem großen Pool stemmte. Seto fielen in diesem Moment drei Dinge auf. Sie ignorierte ihren besten Freund. Sie trug eine lange, blaue Tunika, die wenig nach adäquater Badebekleidung aussah. Hinter ihr im Becken, sich nun ebenfalls dem Beckenrand nähernd, schwamm ein junger Mann in Hemd und Hose. Ein blonder junger Mann, dessen Miene sich mit jedem Zentimeter, den er sich der Gruppe vor Seto näherte, mehr verfinsterte. Dennoch hielt Seto ob des Anblicks, den er bot, als er nun ebenfalls aus dem Wasser kam, den Atem an. Das weiße Hemd war nahezu durchsichtig und ließ wenig Fragen zum Körperbau seines Trägers offen, ebenso wenig die dunkle Hose, die weniger preisgab, aber dennoch die langen Beine betonte. „Ich arbeite weiter. Ich hab wegen gestern eh schon zu viel Zeit verloren“, sagte Chef zu Martine, bevor er mit aufrechter Haltung und energischen Schrittes zum Haus hinüberging. Weder Mokuba noch Seto hatte er auch nur eines Blickes gewürdigt. Während auf der anderen Seite des Beckens ein Mann aufstand, den Seto von der Ferne für einen Rettungsschwimmer hielt, entlud sich Martines geballte Wut still über ihm. Wenn er nicht irgendetwas unternahm würde er in dieser Nacht Albträume von einem Paar mordlustiger, bernsteinfarbener Augen haben. Trotzdem wusste er nicht weswegen. Mokuba war doch eingeweiht gewesen. Klar, das Ganze war jetzt mehr als ungünstig verlaufen, aber das war doch wohl noch lange kein Grund ihn so anzusehen! Moment. Irgendetwas stimmte da nicht in seinen Überlegungen. Mokuba war nicht eingeweiht gewesen! Und genau deswegen war Martine nun sauer. Er hatte einen einzigen Job gehabt in ihrem Plan und es schlichtweg versaut. Yuki hatte ihn sogar noch gefragt, ob er vorhätte Mokuba einzuweihen! Und er hatte es einfach vergessen. Na toll, er war ein toter Mann! Aber statt ihn gleich an Ort und Stelle umzubringen, wandte sich Martine jetzt endlich Mokuba zu und umarmte ihn, nachdem er zu verstehen gegeben hatte, dass ihn das bisschen Wasser nicht störe. So schnell wie das Klopfen an seiner Tür kam, wusste er, dass sich sein Dad gar nicht erst die Mühe gemacht hatte, im Büro nach ihm zu sehen. „Nein“, grummelte er laut genug, um durch die geschlossene Tür hörbar zu sein. „Gut, dann bleibe ich eben draußen. Ich wollte nur kurz sicher gehen, dass du dir nichts gemacht hast, als Martine dich ins Wasser gezogen hat.“ Chef schnaubte. „Wer's glaubt! Aber danke, mir geht’s gut.“ „Bist du dir sicher? Es zeugt nicht gerade von Gesundheit, wenn man sich mit nasser Kleidung in einem Raum einschließt, in dem keine Sachen zum Wechseln sind.“ Chef schnaubte noch einmal, resignierend. „Okay, komm rein – mach aber gleich wieder zu.“ „Danke.“ Maximillion nahm ihm gegenüber auf dem Schreibtischstuhl Platz und musterte ihn kritisch. „Cian wird es nicht freuen, wenn die Bettwäsche durchnässt ist.“ „Mir egal.“ Er blickte an die Decke seines Zimmers im dritten Obergeschoss. Ein Eimer Farbe würde ihr ganz gut tun. Wie lange es wohl dauern würde sie weiß zu streichen? „Ich wollte es nur gesagt haben.“ „Auch das ist mir egal. Mit mir spricht hier sowieso keiner mehr.“ „Außer mir“, antwortete sein Dad weiterhin ruhig. „Und es wäre schön, wenn du auch mit mir sprechen würdest.“ „Kein Bedarf.“ „Wirklich?“ Anstelle einer Antwort herrschte eine Weile Schweigen zwischen ihnen. „Hast du es gewusst?“, wollte Chef dann wissen. „Was genau?“ „Das er hier ist.“ „Nein. Ich hab zwar gemerkt, dass sich Martine seltsam aufführt, hatte aber keine Ahnung weswegen. Warum fragst du?“ „Ich wollte nur wissen, ob ich dich dafür anschreien kann oder nicht.“ „Ein wenig kindisch. Findest du nicht?“ Er stieß die Luft zwischen seinen lose auf einander liegenden Lippen hervor und verdrehte dann die Augen. „Hast du eine Theorie dazu?“ „Ja, die habe ich.“ „Verrätst du sie mir?“ „Nein.“ „Wieso?“ „Weil mich deine vielmehr interessiert. Schließlich hast du einfach so Reißaus von einem Gast genommen.“ Das vorletzte Wort betonte Maximillion und entlockte seinem Sohn damit einen Gesichtsausdruck, der fast als schuldbewusst durchging. „Keine Ahnung. Ich hab ihn gesehen und wollte einfach nur weg.“ „Aha.“ „Was 'Aha'?“ „Aha, ich habe einen Feigling zum Sohn, der lieber gleich wegrennt als sich tapfer ein paar Sätze abzuringen, seinen Gegner dabei zu besiegen und dann triumphal davon schwebt, um das Häuflein Elend allein zu lassen.“ Nun knurrte Chef. „Er hat mich als deinen Toyboy bezeichnet!“ „Na und?“, zuckte Maximillion mit den Schultern. „Da wäre er nicht der Erste und wird, fürchte ich, auch nicht der Letzte sein. Was ist jetzt so schlimm daran?“ „Es war während einer Verabredung mit ihm. Ich hatte ihn eingeladen.“ „Oh. Das hat mir keiner gesagt. Und du beschwerst dich, dass keiner mit dir sprechen würde. Gibt es irgendetwas, was ich dazu wissen sollte?“ Sein Dad setzte sein liebenswürdigstes Lächeln auf. Wie konnte man nur so neugierig sein? „Nein, außer vielleicht, dass mir der Abend geholfen hat, endlich über ihn hinwegzukommen. Mehr war da nicht. Wir haben es noch nicht einmal zur Hälfte durch das Menü geschafft!“ „Gut. Und warum bist du dann nochmal jetzt hier oben, statt draußen oder in deinem Büro. Oder hast ihm nicht auch ein Bad im Pool verpasst?“ „Wie bitte?“ Chef blinzelte ihn verwirrt an. Er hatte sich doch gerade eben verhört, oder? Sein Dad würde nie im Leben vorschlagen, sich so rüpelhaft gegenüber einem Gast aufzuführen. Natürlich hatte er Martine zuerst ins Wasser geschubst, als sie unaufmerksam war, aber sie war Familie, das zählte nicht. „Vorschlag“, überging Maximillion die Frage elegant. „Du wolltest doch vorhin meine Theorie hören, oder?“ Chef nickte. „Du lässt die Kaiba Brüder ihren Urlaub hier im Hotel verbringen und wartest einfach ab, was sich ergibt.“ Ungläubig starrte Chef ihn an, dann grummelte er ein „Meinetwegen“, stand auf und ging aus dem Zimmer. Maximillion konnte seine Schritte auf der Treppe nach unten hören und erlaubte sich ein Grinsen. Das würde keineswegs ein langweiliger Sommer werden. Seto war froh, dass sie draußen auf der Terrasse saßen, denn sonst hätten die finsteren Gewitterwolken, die sich über Mokuba allmählich auftürmten schon längst den Rauchmelder ausgelöst. Nach ein paar weiteren Worten mit Martine waren sie wieder in den Wald gegangen und hatten schweigend eine Stunde laufend verbracht. Dann hatten sie Hunger bekommen und waren umgedreht, immer noch ohne ein Wort mit einander zu wechseln. Ihr Mittagessen, das Yuki ihnen wieder hingestellt hatte, war ebenfalls nicht gesprächig gewesen. Erst nach dem Abwasch, den dieses Mal Seto komplett übernahm dem Geschirr zuliebe, hatten sie angefangen miteinander zu reden. Mokuba hatte von ihm gefordert, endlich zu erfahren, was tatsächlich Sache war. Statt seines Hündchenblickes bekam Seto einen Blick zu spüren, der ihm ihre Verwandtschaft deutlich vor Augen führte. Warum sahen sie ihn alle nur an diesem Tag so böse an? Was hatte er bitte so schweres verbrochen, dass er so eine Behandlung verdiente? „Also“, meinte Mokuba behutsam nach einer Weile. „Ich fasse das nochmal zusammen – nur damit ich das richtig verstehe. Du stehst auf Joey und zwar so richtig.“ Seto nickte kaum merklich. Es fiel ihm immer noch schwer das zuzugeben, obwohl er sich selbst seit einer Weile darüber im Klaren war. „Und du bist der größte Idiot auf Erden, weil du ihn statt zu vernaschen bei Eurem Date mit haltlosen Unterstellungen beleidigt hast.“ „Das schon, aber...“, setzte Seto zu seiner Verteidigung an, doch Mokuba unterbrach ihn barsch. „Hab ich dir erlaubt etwas zu sagen? Ich bin noch nicht fertig!“ Er rutschte etwas auf seiner Liege zurecht und fuhr dann fort: „Du bist ein Idiot und hast Martine und Joeys Hostess davon überzeugt, dass du unverdienterweise noch eine Chance verdienst, um die ganzen Nettigkeiten zwischen euch zu klären. Und dein seltsames Verhalten der letzten Monate war nur eine Marotte, die du ganz schnell ablegen wirst, sobald wir wieder in Domino sind, obwohl dir die eine oder andere Änderung ganz gut getan hat. Und ich habe vorhin deinen genialen Masterplan durchkreuzt, Joey nach Jahren doch endlich flachzulegen.“ „Mokuba!“ „Was?“, fragte dieser unschuldig. „Könntest du bitte auf deine Wortwahl achten!“ „Wieso? Es stimmt doch!“, schmollte er und machte es sich wieder im Schneidersitz gemütlich. „Es stimmt eben nicht! Ich will einfach nur alles zwischen uns regeln und klären, damit wir... Ach, keine Ahnung! Ich will einfach nur nicht, dass er sauer auf mich ist und immer grollend an mich denkt.“ Fahrig fuhr er sich durch die Haare, die Ellbogen weiterhin auf den Oberschenkeln abgestützt. Mokuba fiel währenddessen die Kinnladen hinunter. Er musste träumen, oder? Es war eine Sache, wenn sein großer Bruder es nicht länger als zwei Tage aushielt, wenn er auf ihn wütend war, aber dass er scheinbar ohne Hintergedanken – der einzige, der das wirklich glaubte, war wahrscheinlich Seto – es nicht ertrug von jemandem außerhalb der Familie nicht gemocht zu werden, das war etwas vollkommen anderes. Wobei, wenn er es sich recht überlegte, wäre er mit Midori nach so einen Streit einfach auseinander gegangen, würde er verrückt werden vor Reue. „Wenigstens wirst du langsam ehrlich zu dir selbst. Es wäre nur nett gewesen, wenn ich vorher Bescheid gewusst hätte. Mach dir einfach deine Gedanken dazu, was du hier tatsächlich erreichen willst. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen – weil so fies wie du könnte ich nie zu der Person sein, die ich liebe.“ „Von Liebe war nie die Rede!“, protestierte Seto augenblicklich. Mokuba kicherte und erwiderte schlicht: „Wie dem auch sei. Wie fandest du die Zwillinge?“ „Stürmisch. Sind die beiden immer so wild?“ „Meistens. Es dauert eine ganze Weile bis sie ausgepowert sind. Aber danach sind sie ganz umgänglich.“ Maximillion war stolz auf sich. Ein weiteres Mal war es ihm gelungen die beiden Monster, die seine Schwester als Kinder bezeichnete, ins Bett zu bringen. Seit sieben Jahren übernahm er regelmäßig diese Aufgabe und dennoch blieb es ein Abenteuer, sie davon zu überzeugen, dass es Zeit zum Schlafen sei. Aber an Abenden wie diesem war es besonders schlimm. Clara und Ethan waren so aufgeregt gewesen wegen des nächsten Tages, dass sie kaum daran dachten, die Zähne gründlich zu putzen. Das Märchen von der Zahnfee hatte sie wohl nicht zur Gänze überzeugt. Schade. Es hätte ja auch so schön einfach sein können. Und ausgerechnet heute, hatten sie gewollt, dass er das ehrenvolle Amt übernahm, das jedes Mal in einen kleinen Kampf ausartete. Aber jetzt lagen sie brav unter ihren Decken und blickten mit großen Augen zu ihm auf. Er stellte das Buch mit den Gute-Nacht-Geschichten zurück ins Regal und streckte sich dann. Er hatte ihnen insgesamt fünf Geschichten vorgelesen, bis sie halbwegs zufrieden waren. „Bist du auch müde, Onkel Maximillion?“, wollte Ethan wissen. „Ein wenig. Ich sollte wohl auch bald Schlafen gehen. Aber zuerst“, hob er mahnend die Hand, „wünsche ich euch süße Träume.“ Er beugte sich hinunter zu Ethan und gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn. „Gute Nacht, Ethan. Schlaf gut. Und vergiss nicht: das was du heute träumst geht in Erfüllung“, verkündete er todernst. „Das hat uns Maman auch schon gesagt“, sagte Clara, bevor sich ihr Onkel zu ihr umdrehte. „Dann wisst ihr ja, worauf ihr heute Nacht achten müsst.“ Er gab auch seiner Nichte einen Gute-Nacht-Kuss und wünschte ihr das Gleiche wie ihrem Bruder. „Mach ich. Aber nur, wenn du mir versprichst auch was schönes zu träumen.“ „Mach ich. Versprochen.“ Er stand auf und ging zur Tür. Im Rahmen wandte er sich noch einmal zu ihnen um. „Gute Nacht ihr zwei. Schlaft gut.“ „Gute Nacht, Onkel Maximillion“, antworteten zwei bereits nicht mehr ganz so wache Stimmen. Spätestens in fünf Minuten würden sie friedlich schlafen und hoffentlich von einer riesigen Geburtstagstorte träumen. Kapitel 9: Dienstag 26.7. ------------------------- Die Sonne konnte noch nicht lange aufgegangen sein, denn ihr Zimmer lag immer noch im Dunkeln, als Martine im Dämmerzustand wahrnahm, dass sich etwas auf ihre Matratze setze. Zwei Etwas um genau zu sein. Blinzelnd und noch halb schlafend öffnete sie die Augen und murmelte: „Alles Gute zum Geburtstag, ihr zwei. Was macht Ihr schon hier?“ Ethan blickte zu Clara, die den Kopf schüttelte und mit dem Kinn auf ihn zeigte. „Wir sind aufgewacht und wollten Onkel Maximillion nicht wecken, weil er gestern meinte, er sei ganz furchtbar müde.“ Hätte sie wohl besser auch getan. Dann hätten sie jetzt wahrscheinlich Chef genervt. Shin war um diese Uhrzeit vermutlich schon wach, aber bis zum Frühstück hatten ihre Kinder an diesem speziellen Tag immer das Verbot in die Küche zu gehen. Zu ihrem Glück gähnte Clara so ausgelassen, dass sie fast vergaß die Hand vor den Mund zu halten. Da war wohl jemand noch nicht ganz ausgeschlafen. „Aber deine Schwester – und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit du auch – ist auch noch ziemlich müde. Was haltet ihr von einer Runde Kuscheln?“ Ihre Zwillinge antworteten nicht einmal, sondern legten sich brav neben sie. Clara in ihren linken Arm und Ethan in ihren rechten. Wenn die beiden weiterhin so schnell wuchsen, würde sie doch bald ein größeres Bett brauchen. Sie lächelte, als sie merkte, dass die beiden fast augenblicklich wieder eingeschlafen waren. Martine selbst hatte damit ein wenig mehr Probleme, da sie normalerweise nicht auf dem Rücken schlief, was sich jetzt aber nicht vermeiden ließ. Schließlich konnte sie sich nicht einen Zentimeter bewegen, ohne Gefahr zu laufen ihre Kinder wieder zu wecken. Doch nach einer Weile, in der nur das gleichmäßige und synchrone Atmen zu hören war, war auch sie wieder eingenickt. „Denkst du nicht, dass du etwas übertreibst?“ Seto verneinte und band sich seine Krawatte zu Ende. Das wäre ja auch noch schöner, wenn er bei ihrem Termin nicht angemessen gekleidet wäre! Und wenn er schon Mokuba nicht davon überzeugen konnte, dass Jeans und ein nicht bis zum Kragen geschlossenes Hemd zu leger seien, dann sollte wenigstens er selbst mit gutem Beispiel voran gehen. Er musterte sich ein letztes Mal kritisch im Badezimmerspiegel und nickte seinem kleinen Bruder dann zu, um ihm zu zeigen, dass auch er fertig war. Endlich, wie dieser fand. „Hast du alles?“, fragte er kühl. „Nicht, dass wir zum Schluss mit leeren Händen dastehen!“ Wie peinlich ihm das wäre, musste er nicht hinzufügen. „Ganz ruhig, Seto. Ohne mich hättest du noch nicht einmal etwas, dass du vergessen könntest mitzubringen. Also würde ich an deiner Stelle ein paar Gänge runter schalten, dich entspannen und dich einfach auf nachher freuen“, empfahl Mokuba, während er sich seine Turnschuhe zu band. Knirschend blieb Seto still und tat so als würde er nicht fast durchdrehen vor Angespanntheit als sie den Waldweg entlang gingen. Wieder einmal war es Yuki, die ihnen die Tür öffnete und sie dabei erleichtert anstrahlte: „Da seid ihr ja endlich! Die Zwillinge sind jetzt kaum noch zu bändigen vor Ungeduld, weil Martine darauf besteht, dass wir erst mit euch beiden anfangen.“ „Aber es hieß doch halb elf“, sagte Seto etwas verunsichert. „Ja, keine Angst. Alles perfekt. Ihr seid auf die Minute pünktlich. Aber die beiden sind natürlich aufgeregt wegen heute und können es kaum erwarten endlich ihre Geschenke auspacken zu dürfen. Folgt mir einfach.“ Mokuba musterte Seto skeptisch von der Seite. Nie im Leben hätte er gedacht, dass er eine so lockere Anrede von einer Angestellten zulassen würde. Sein eigenes Personal hätte er schon längst für eine solche Frechheit runter gemacht. Doch jetzt folgte er der jungen Frau einfach gehorsam in den ersten Stock, wo Mokuba große Augen machte. „Das ist euer altes Esszimmer?“, rief er verblüfft aus und ließ sich von Martine umarmen. Zuvor hatte er die beiden Päckchen, die er mitgebracht hatte, an Maximillion weitergereicht, der sie auf jeweils einen Stapel auf einem Tisch quer zum Fenster legte. Parallel dazu stand ein weiterer Tisch mit Gedecken für zwölf Personen. Das restliche Mobiliar stand an den Wänden und ließ den Raum noch großzügiger wirken. Doch Setos Blick wanderte wieder zu dem Geschenktisch zurück. Er zählte mehrmals die Stapel, kam aber immer wieder zum gleichen Ergebnis. Vier. Wieso gab es vier Stapel? Einer machte für ihn Sinn. Zwei auch noch. Drei, falls es Geschenke für jeden einzeln gab und manche für sie zu zweit. Aber vier? Was sollte man mit vier Geschenkstapeln? Über seinen Betrachtungen vergaß er die anderen Anwesenden zu grüßen, was aber eh hinfällig wurde, als sich die schwere Holztür hinter ihm erneut öffnete. „Entschuldigt, dass ihr auf mich warten musstet – ich hab nur noch kurz die Bestellung der neuen Sonnenschirme rausgegeben, damit wir sie bis Ende der Woche haben. Falls der Wetterbericht Recht behält, haben wir spätestens Sonntag Hochsommer.“ „Und als was bezeichnest du das da draußen?“, wollte Cian wissen, der etwas mit der Wärme zu kämpfen schien, die von den offenen bodentiefen Fenstern herein sickerte. Maximillion überging den Kommentar und antwortete charmant wie immer: „Bei uns musst du dich nicht entschuldigen, Geburtstagskind – außer natürlich bei deiner Cousine und deinem Cousin, die endlich ein Stück Torte haben möchten.“ Seto war sich ganz sicher, nicht richtig gehört zu haben. Geburtstagskind? Aber sein Hünd... Joseph Wheeler hatte doch im Januar Geburtstag! Da war er sich zu hundert Prozent sicher. Irrtum ausgeschlossen. Jedoch war der Zweifel an seinem eigenen Gedächtnis nicht das Schlimmste, als nun Chef an ihm vorbeiging und sich mit ernster Miene bei Clara und Ethan entschuldigte, die als einzige ähnlich schick angezogen waren wie er selbst. Sogar Pegasus trug nur ein weißes, rüschenfreies Hemd zu seinen roten... Jeans?! Viel schlimmer war, dass sie für ihn kein Geschenk hatten! Er hatte nicht gewusst, dass er so etwas brauchen würde und auch Mokuba schien überrascht. Nervös dachte er an das kleine Paket in seinem Koffer. Sollte er sich vielleicht kurz entschuldigen, um es zu holen. Konnte er es wagen es bereits jetzt zu präsentieren? Nein. Nein, ausgeschlossen. Es würde nur zu viele Fragen aufwerfen, die er noch nicht bereit war zu beantworten. Also sah er einfach nur zu, wie Shin und Hans aus dem Nichts eine stattliche Torte hervorzauberten die auf ihrer weißen Hülle oben zwölf kandierte Kirschen sitzen hatte. Yuki brachte währenddessen zwei große Schaumstoffwürfel herbei und überreichte je einen den Zwillingen. Clara drückte ihren Würfel Ethan in die Hand, der beide einfach von sich schleuderte, weil sie zu groß waren als dass er richtig mit ihnen hätte würfeln können. Eine Elf. Alle bis auf Seto applaudierten, während Ethan die Würfel wieder einsammelte und an Clara weitergab. Auch sie würfelte eine Elf. Dann war Chef an der Reihe. Ein Fünfer-Pasch. Es folgten Martine und Maximillion. Matt und Cian. Yuki. Hans, Mokuba und schließlich Shin, der mit nur drei Augen die niedrigste Zahl erreichte. Weil er nicht genau wusste, was er machen sollte, griff danach Seto nach den Schaumstoffungetümen und versuchte sie möglichst elegant in eine Richtung zu rollen, in der alle sie noch sehen konnten, sie aber weit genug von ihm entfernt waren. „Gratuliere!“, sagte Hans neben ihm. „Ihnen wird die große Ehre zu Teil, die Torte aufzuschneiden.“ Er konnte gar nicht so schnell schauen, wie er mit einem scharfen Messer in der Hand vor der Torte auf dem gedeckten Tisch stand. Tief durchatmend versuchte er das Messer exakt zwischen zwei Kirschen zu platzieren. „Langweilig!“, kam es von Yuki. Also setzte er das Messer möglichst knapp an der linken Kirsche an und halbierte den Kuchen einmal sauber. So fuhr er fort, bis es zwölf Stücke gab. Aber dann wusste er nicht mehr weiter. Er glaubte, dass jetzt üblicherweise die ersten mit ihren Tellern kämen, aber so wirklich machte keiner von ihnen Anstalten sich zu bewegen. „Das erste Stück geht an Sie“, half ihm Martine und reichte ihm den Teller von dem Platz, hinter dem er seinen Namen auf einem leuchtend bunten Namensschild entdecken konnte. Mit dem Kuchenheber gab er sich selbst das Stück, das ihm am nächsten war, und reichte den Teller an Martine zurück. Sie stellte ihn auf seinen Platz und kurz zuckten seine Augenbrauen zusammen. War das Innere der Torte nicht hell gewesen? Aber er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn nun stand Clara bei ihm und forderte ihr Stück vier weiter links von der Lücke seines Stücks. Ethan nahm das vier weiter rechts. Und wieder war das Torteninnere anders als Seto es zunächst gesehen hatte. Durch die Zwillinge blieben jetzt noch drei Bereich mit je drei Stück Torte übrig. Chef trat an ihn heran und deutete auf das Stück, das am weitesten von Seto weg war. „Bitte“, fügte er hinzu, nachdem Seto sich ein paar Augenblicke nicht gerührt hatte. Wie lange war es her, dass sie sich so nahe gewesen waren? Er mochte es noch immer nicht, dass er aufsehen musste, um in diese dunklen Augen sehen zu können, dennoch hätte er in ihnen versinken können... „Natürlich“, räusperte er sich. Nach einander bekamen nun auch die anderen ihren Teil der Torte und setzten sich auf ihre Plätze. Seto war Stolz auf sich, dass es ihm gelungen war, alle Stücke stehend zu drapieren, trotzdem schien keiner seine Mühe zu schätzen. Denn kaum saß er, da fing Shin auch schon an: „Ich tausche ein vollständiges Himbeerstück gegen eines mit anteilig Schokolade. Die zweite Hälfte ist mir egal.“ Yuki musterte kritisch ihr Stück. Seto konnte, weil sie direkt neben ihm saß, sehen, dass sie einen Teil Schokolade hatte. „Meinetwegen. Aber die Kirsche behalte ich.“ „Du bist eine knallharte Verhandlungspartnerin. Weißt du das?“ Er nahm ihren Teller schräg über den Tisch entgegen, entfernte die Kirsche von ihrem Stück, legte sie zu dem Stück Himbeertorte. Dann ging der Teller Retour. Nun begannen auch die anderen eifrig das Feilschen und Tauschen, während die zwei bereits mit ihrer Torte begannen. Wie sich herausstellte konnten auch schon angeknabberte Stücke ihren Besitzer wechseln. Zumindest beobachtete Seto dies zwischen Matt und Cian. Er selbst war mit seiner Ausbeute zufrieden – Schokolade und etwas, dass er für Passionsfrucht hielt – bis Chef von seinem Platz am entlegenen Kopfende von seinem Stück mit Kirschen zu schwärmen begann. Seto mochte Kirschen. Sie waren sein Lieblingsobst. Kurz checkte er seine Optionen. Er selbst hatte noch zwei Drittel und Chef nur noch die kirschige Hälfte. In dem Moment wo er den Mund öffnen wollte, um sein Angebot zu unterbreiten, presste er sofort die Lippen kurz und fest aufeinander. Das war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, so gerne er auch probiert hätte. Als ihm Bilder in den Kopf schossen wie er auch noch später eine Kostprobe erhalten könnte, trank er ganz schnell einen Schluck Kaffee und fragte dann Shin ihm gegenüber: „Wie kommt es eigentlich, dass die Torte so viele Geschmacksrichtungen umfasst?“ „Musst du die da oben fragen“, ruckte dieser mit dem Kopf in Richtung Familie Pegasus. „Martine konnte sich vor ein paar Jahren nicht auf eine Torte festlegen und da hab ich einfach halb halb gemacht – abwechselnd, sodass die Stücke variierten. Danach war es ein Selbstläufer und ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Aber jedem schmeckt es und alle sind glücklich. Apropos, wenn ihr fertig seid, können wir mit dem Buffet beginnen.“ „Und was ist mit Geschenke auspacken?“, übernahm Chef für die beiden Kinder, die etwas enttäuscht drein blickten. „Okay. Erst Geschenke. Dann Buffet“, resignierte der andere. Nach der Art und Weise wie die Verteilung der Torte vonstatten gegangen war, hätte Seto erwartet, dass auch hier die Reihenfolge ausgewürfelt wurde, doch die Zwillinge standen einfach auf, nachdem sie von ihrer Mutter die Erlaubnis bekommen hatten, und fingen an sich ihren jeweiligen Stapeln zu widmen. Im Großen und Ganzen blieb der Rest am Tisch sitzen und bejubelte sie zu dem ein oder anderen Geschenk. Nur Martine und Pegasus standen bei ihnen und erklärten hier und da etwas. Ethan flippte aus vor Freude, als er eine Staffelei auspackte. Die Geschenke von Yuki und Matt hatten zuvor Zeichenpapier und Aquarellkreide zu Tage gefördert und Pegasus versprach ihm, noch während des Urlaubs zu zeigen, wie man sie richtig aufstellte und die Materialien korrekt anwandte. Zu Setos Überraschung schien Clara kein bisschen neidisch, was vielleicht auch daran liegen könnte, dass sie in diesem Moment das Papier von einem großen Karton entfernte, der sich als Holzbaukasten herausstellte. Es blieb nur zu hoffen, dass ein Erster-Hilfe-Set integriert war. Sobald die getrennten Stapel ausgepackt waren und Spielzeug und Kleidung auf dem Tisch verstreut lag, machten sie sich gemeinsam an den Stapel in der Mitte und freuten sich gemeinsam über das Spielzeug dort. Wenn es von Mitgliedern des Teams war, bedankten sie sich artig. Auch Mokubas Geschenk kam gut an – zwei einzelne Spielsets mit Figuren, die man kombinieren konnte. Er selbst ging leer aus. Dann kamen eine ganze Reihe von Karten, die sie mit größtem Ernst lasen. Eine davon reichte Clara an ihre Mutter weiter. „Maman, die ist für dich. Von deiner Freundin, die im Anfang April bei uns war.“ Martine nahm sie entgegen und schmunzelte beim Durchlesen der Zeilen. „Danke, Clara. Aber eigentlich ist das nur die Information an mich, dass sie mit euch einen Tag lang etwas Tolles unternehmen möchte. Ich an deiner Stelle, würde jetzt aber diesen Brief hier öffnen.“ Mit diesen Worten reichte sie ihrer Tochter einen großen blauen Umschlag, den sie mit ihrem Bruder zusammen öffnete. Die Karte darin war zwar groß, aber schlicht. Außen stand nur eine simple „7“ und innen stand etwas in einer sauberen, schnürkellosen Handschrift, wie Seto von seinem Platz aus sehen konnte. Es dauerte einige Augenblicke, dann rissen die Zwillinge Chef von den Füßen, der bei seinem Stapel soeben das letzte Päckchen öffnete. „Danke!!!! Wann können wir das machen?“ „Machen wir das heute noch?“ „Dürfen wir sie dann behalten?“ „Könne wir dann jeden Tag drauf spielen?“ „Heute nicht mehr. Die Anlieferung hat sich verspätet“, argumentierte Chef von seiner Position mit dem Rücken auf dem Boden aus. Enttäuscht verzogen die beiden die Mine. „Eigentlich hättet ihr sie erst für die Feier mit euren Freunden bekommen sollen als Überraschung, doch Cian meinte, es wäre gemein euch so lange darauf warten zu lassen.“ „Achso. Und wann ist sie dann da?“, fragte Ethan, während sich sein Cousin langsam wieder aufrichtete. „Ich hoffe bis zum Wochenende. Und dann probieren wir sie gemeinsam aus!“ „Versprochen?“, wollte Clara wissen. „Versprochen.“ „Worum geht es eigentlich?“, fragte Mokuba Martine, die ihm die Karte zu lesen gab. Rasch überflog er den Text und lachte dann: „Eine Hüpfburg! Jo muss verrückt sein. Ihr bekommt die beiden da doch nie wieder raus! Aber wieso dauert die Lieferung so lange?“ „Weil es eine Spezialanfertigung ist“, erklärte Pegasus. „Komplett nach einem Entwurf meines Sohnes. Er hat den Auftrag bereits letztes Jahr vergeben.“ „So, so. Sonnenschirme“, meinte Mokuba daraufhin zu Chef. „Was hätte ich denn sonst sagen sollen? Mir ist spontan nichts besseres eingefallen.“ „Auch wieder wahr. Unser Geschenk bekommst du in den nächsten Tagen. Uns hatte leider nur keiner gesagt, dass du heute auch deinen Geburtstag feierst. Sonst hätte ich selbstverständlich ein paar Liebesknochen für dich besorgt. Die magst du doch immer noch, oder?“ Nur mit Mühe konnte Seto seinen Kaffee bei sich behalten und nicht über den gesamten Tisch prustend verteilen. „Ja, ich mag sie immer noch. Und wenn ich dieses Jahr ganz artig war, hat Hans mir wieder Eclairs fürs Buffet gemacht. Denn deinen guten Willen in Ehren – du bekämst sie nie heil hier her von Domino. Schenk mir lieber ein gutes Buch.“ „Aber das hat der Rest doch schon getan!“ „Na und? Ich lese wirklich viel. Das wird mit Mühe und Not durch den Sommer reichen.“ Er deutete auf den Stapel mehrerer tausendseitiger Wälzer, die sich auf seiner Tischecke befanden. Sie diskutierten noch eine Weile weiter, während Seto versuchte sich anderweitig abzulenken. Es tat ihm seltsam weh, dass Mokuba sofort wieder Anschluss zu Joey gefunden hatte, und er selbst sich in der gesamten Gruppe wie ein Fremdkörper fühlte und Meilen von irgendeiner Annäherung mit dem Objekt seiner Begierde entfernt war. So hörte er Clara und Matt sich leise auf Französisch unterhalten. Er fragte sie nach irgendeinem Lied und sie antwortete mit „As“, was ihn noch mehr verwirrte, aber wenigstens hatte er einen Teil des Gesprochenen verstanden. Irgendwann schien es Hans zu reichen und er eröffnete schwungvoll das Buffet. Yukis Blick wanderte kurz zu Shin, nachdem sie sich alle Leckereien in Ruhe angesehen hatte. Doch dieser zuckte nur unschuldig mit den Achseln und drückte ihr einen frischen Teller in die Hand, den sie sogleich grinsend füllte. Nach einer Weile traute sich auch Seto an das, was stellenweise bereits nach dem mageren Rest aussah. Prompt nahm er sich gleich zwei Minischokocroissants und ergatterte einen zweiten Teller, auf den er sich vom Rührei auftat. Dazu gesellten sich Würstchen im Schlafrock, gefüllte Champignons, knuspriger Bacon, mehrere Frischkäsepasten und Baguette. Orangensaft, Honig und Marmelade vervollständigten die süße Hälfte. Zufrieden verteilte er alles an seinem Platz und setzte sich wieder. „Da scheint wohl jemand Angst zu haben, nichts mehr abzubekommen“, neckte ihn eine Stimme hinter ihm, die seinen Herzschlag ins Stolpern brachte. War wirklich er gemeint? Vorsichtig drehte er sich nach hinten um und blickte direkt Chef an, dessen Teller deutlich beladener war als sein eigener. „Naja, sobald du am Buffet warst, muss man wirklich Angst haben zu verhungern“, nahm Yuki Seto in Schutz, als sich der Blonde frech eine frittierte Krebsschere in den Mund steckte und abknabberte. Seto hatte gar nicht gesehen, dass es sie gab. „Sei mal ganz ruhig. Ich hab sehr wohl bemerkt, dass dieses Jahr ziemlich viel von deinem Lieblingsessen auf dem Tisch gelandet ist.“ Daraufhin erwiderte Yuki nichts, sondern drehte sich plötzlich ziemlich stumm wieder um. Und Chef schlenderte zur anderen Seite des Raumes, wo sich bereits Cian und Martine angeregt unterhielten. Dafür ließ sich sein Dad auf Shins Stuhl nieder und lächelte seinen Gegenüber äußerst liebenswürdig an. „Soso. Sie haben diesen Trip Ihrem Bruder als Geburtstagsgeschenk verkauft. Wirklich clever. Besonders in Anbetracht der Tatsache, was Sie eigentlich planen.“ „Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen.“ Yuki erhob sich fluchtartig und war verschwunden. „Das wissen wir beide doch. Sie sind wohl kein Freund von Fliegen, denn sonst wäre eine solche so viel passender gewesen.“ Seto antwortete nicht und starrte Pegasus nur verwirrt an. „Geschenke, und seien sie nur Überraschungen, sollten schließlich eine Schleife haben.“ Diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstand er wiederum. „Ich war mir nicht sicher, ob es richtig rüber käme beim Beschenkten. Außerdem scheint mir die Anwesenheit meines Bruders die gelungenere Überraschung, schließlich waren die beiden früher eng befreundet.“ Er trank einen Schluck Saft. „Aber wo wir gerade dabei sind. Ich glaube ich habe Ihr Geschenk an Ihren Sohn verpasst, oder kommt der Autoschlüssel zum neuen Sportwagen erst später?“ Er wähnte sich schon als Gewinner ihres kleinen Gefechts, da stahl ihm der andere gekonnt die Show. „Nein, das haben Sie bestimmt einfach nur übersehen. Es gab wie jedes Jahr zwei CDs zur Erweiterung seiner klassischen Sammlung. Und sollte er ein neues Auto wollen – wobei ich glaube, er ist mit seinen derzeitigen glücklich genug - dann sollte es für ihn kein Problem sein, das Problem selbst zu lösen. Immerhin gehören ihm als kleiner Vorgeschmack seit fünf Jahren zwanzig Prozent von Industrial Illusions.“ Pegasus wartete exakt lang genug, um Setos Gesichtszüge für den Bruchteil eines Momentes entgleisen zu sehen, dann drehte er den Kopf leicht und sprach etwas lauter: „Ja, Clara, ich komme.“ Mittag war schon längst durch bis Seto seine Umgebung wieder deutlicher wahrnahm. In seinem Delirium hatte er viel zu viel gegessen und er war noch am Ringen mit sich selbst, ob ihm jetzt schlecht war oder nicht - einem Kaiba wurde schließlich nie schlecht – als Matt das Wort ergriff und sich zu den Geburtstagskindern wandte, die vor ihrem Gabentisch knieten und die ersten Ideen für kleinere Holzbauarbeiten austauschten. „Liebe Geburtstagskinder, Boss“, sagte er ihm feierlichen Ton, „wie jedes Jahr durftet ihr euch ein Lied wünschen, dass das klassische, unglaublich langweilige, weil bereits so oft gehörte Geburtstagsständchen ersetzt. Und die liebreizende Clara hat mir vorhin mitgeteilt, dass Eure Wahl auf „As“ gefallen ist.“ Chef murmelte etwas davon, dass er nicht gefragt worden war, doch die Kinder nickten eifrig. „Also dann“, fuhr Matt fort. „Hier kommt der Hotelchor, extra für Euch drei.“ Damit gesellte er sich zu den anderen, die sich im Halbkreis aufgestellt hatten und nun zum einen die drei auf dem Boden, zum anderen aber auch die Kaiba-Brüder auf ihren Stühlen ansahen. „As around the sun the earth knows she's revolving And the rosebuds know to bloom in early May Just as hate knows love's the cure You can rest your mind assure That I'll be loving you always As now can't reveal the mystery of tomorrow But in passing will grow older every day Just as all is born is new Do know what I say is true That I'll be loving you always“, sang Pegasus die erste Strophe. Beim Refrain wurde deutlich wie musikalisch das Team tatsächlich war. Und Mokuba stand der Mund offen, während sein großer Bruder noch vom Valentinstag vorgewarnt gewesen war. Trotzdem traf es ihn, als Martine weiter sang: „Did you know that true love asks for nothing?“ Dabei sah sie zuerst ihn an, doch dann wanderte ihr Blick zu ihrem Neffen, der sie anstarrte als hätte er eben erst das Lied erkannt. Cian übernahm und ging mit ihr im Duett in den Refrain, während der Rest wieder den Chor gab. Im weiteren Verlauf teilten sich Yuki und Martine die weibliche Hauptstimme und jeder der Männer übernahm den männlich Part. Währenddessen wurde das Lächeln auf den Gesichtern der Zwillinge immer strahlender, je länger sie ihrer Familie lauschten, die ihnen beteuerte, dass sie sie immer lieben würden. Aber auch Chef lächelte glücklich und wippte leicht im Takt mit. Als das Lied zu Ende war, war er der erste der stand und Martine und Pegasus an sich drückte. Seto konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine gesamte Haltung erzählte davon wie tief in das Stück berührt hatte. Dann wandte er sich an den Rest des Teams, umarmte jeden einzeln und ließ es sogar zu, dass Matt ihm die Haare ein wenig verwuschelte wie er es zuvor auch bei Ethan getan hatte. Dieser hüpfte ausgelassen herum und summte die Melodie vor sich hin. Ihn nicht aus den Augen lassend, schlug seine Mutter vor: „Ich würde sagen, es ist an der Zeit, das Ganze hier nach draußen zu verlagern.“ Die anderen stimmten jubelnd zu und Seto sah nur noch aus dem Augenwinkel wie Mokuba von den Zwillingen Richtung Tür gezogen wurde. Schneller als er gucken konnte, war er der einzige im Raum. Oder der fast einzige, um genau zu sein. Denn als er aufstand, erblickte er Chef, der mit ernster Miene den Stapel an Büchern, den er bekommen hatte, durchsah und sich die Texte auf den Rückseiten der Umschläge durchlas. Gedämpft vom Teppich fiel der Stuhl nach hinten um und ließ ihn erschrocken aufsehen. „Entschuldigung“, kam es Seto fast ängstlich über die Lippen, als hätte er gerade eine teure Vase von ihrem Tischchen herunter geschmissen und er beugte sich schnell hinab, um den Stuhl wieder hinzustellen. „Kein Problem. Die Stühle halten ein bisschen was aus. Müssen sie bei den Wirbelwinden, die hier normalerweise toben.“ Chef folgte jeder Bewegung des anderen mit seinen Augen. „Eine kluge Wahl. Wegen Mokuba habe ich einmal das komplette Wohnzimmer renovieren lassen müssen.“ „Glastische und Teenager verstehen sich eben nicht immer.“ Die Stille zwischen ihnen war mehr als nur unangenehm. So rang sich Seto dazu durch erneut zu sprechen: „Ich wusste nicht, dass Sie heute...Sonst hätte ich...“ „Nicht schlimm.“ „Aber...“ „Es ist nicht der Rede wert. Wo nichts erwartet wird, kann keine Enttäuschung entstehen.“ Der Blick der braunen Augen strafte diese Worte Lüge. Das war mehr als Seto in diesem Moment ertragen konnte. „Na dann.“ Er schluckte schwer. „Ich sollte nach Mokuba sehen. Er hat sich bestimmt nicht eingecremt.“ Es war beiden bewusst, dass wohl eher er selbst sich eincremen müsste, sobald er nach draußen ging. Doch es war eine willkommene Ausflucht aus dieser seltsamen Situation, in der sich beide mehr als steif verhielten. Also steuerte Seto so schnell wie möglich, ohne dass es zu hektisch wirkte auf das Treppenhaus zu und zwang sich bei jedem Schritt ruhig zu atmen und sein wild schlagendes Herz zu ignorieren. Am Pool passte ihn Shin ab und wollte alles über seine Kochversuche zu Hause hören. Anscheinend hatte Mokuba ihn verraten. Eine Wohltat, die ihn weit bis in den frühen Abend beschäftigte und ihm neue Erkenntnisse zu Pfannen, Bratfett und Fisch bescherte. Es blieb zwar eine unlösbare Aufgabe Chef zu ignorieren, der mit seiner Cousine und seinem Cousin tobte, manchmal unterstützt von Mokuba, doch bis zum Abendessen schlug er sich tapfer. Nach dem leichten Salat konnte er sich wenigstens mit der Begründung, dass er müde sei, zurückziehen. Im Haus angekommen legte er sich tatsächlich sofort hin und starrte abwechselnd an die Decke, nach draußen an den Strand und hinüber zum weißen Drachen mit eiskaltem Blick. Es war seltsam, dass er bei seinem Anblick automatisch an Ethan denken musste. Vielleicht eine Chibi-Variante des Drachen... Seine Gedanken wurden davon nur leider nicht zerstreut. Wie um alles in der Welt sollte er die nächsten Tage überstehen? Geschweige denn den Kontakt zu seinem Hündchen wieder aufbauen? In den wenigen Worten, die sie gewechselt hatten, war ständig dieser Unterton gewesen, den er nicht korrekt zuordnen konnte. Kälte war es nicht gewesen, sie hätte er ohne Probleme erkannt. Es musste etwas anderes sein. Aber als er endlich seine Antwort hatte, gefiel sie ihm noch weniger. Gleichgültigkeit. Als würde er im Leben des anderen keinerlei Rolle spielen. Kapitel 10: Mittwoch 27.7. -------------------------- Barfuß schlich er durchs Wohnzimmer und schob so leise wie möglich die Tür zur Terrasse auf. Seit einer halben Stunde versuchte er wieder einzuschlafen und hatte es endlich aufgegeben, als er den ersten hellen Steif am Horizont sah. Er wusste selbst nicht, was ihn geweckt hatte, doch hielt es ihn penetrant davon ab, wieder in Morpheus Arme zu sinken. Das Holz war kühl unter seinen Sohlen, ebenso der Sand, der gleich danach folgte, aber es störte ihn nicht, denn die Luft war angenehm und versprach bereits jetzt einen warmen Tag. Langsam ging er weiter und lauschte auf die Geräusche des Waldes um ihn herum. Die ersten Vögel hatten zu zwitschern begonnen als wüssten sie schon längst, welches Naturschauspiel sich bald wieder ereignen würde. Doch das Meer war ruhig. Nur gelegentlich brachen sich die Wellen, bevor sie den Strand erreichten und Seto an den Zehen kitzelten. Es war ein langer Abend gewesen. Einer von diesen Abenden, die erst endeten, wenn man den neuen Tag begrüßte. Chef hatte seinem Vater und seiner Tante eine Gute Nacht gewünscht, als sie ins Hauptgebäude gegangen waren, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen, bevor die Kinder wieder erwachten. Aber er selbst war noch nicht müde, vielmehr brauchte er noch ein wenig Bewegung nach dem langen Sitzen und Erzählen. Die Stühle ordentlich an den Tisch stellend, machte er sich auf runter zum Strand, zog seine Schuhe aus und grub die Zehen in den kalten Sand. Wie gerne wäre er jetzt im Meer schwimmen gegangen. Doch bei Ebbe war es einfach zu gefährlich, selbst in den Bereichen, in denen er noch stehen konnte. So musste er sich mit einem Strandspaziergang begnügen, bog nach rechts ab und blieb am Waldrand. Schon aus einiger Entfernung konnte er die andere einsame Gestalt erkennen, die in langer Schlafanzughose und T-Shirt am Flutsaum stand und erwartungsvoll nach Osten hinaus aufs Meer blickte. Noch ein paar Schritte näherte er sich dem anderen und blieb dann stehen, um ebenfalls das Schauspiel über dem Meer zu beobachten. In leuchtendem Orange schob sich die Sonne langsam über den Horizont und tauchte den Himmel in ihre Farben, beleuchtete einzelne Wolkenfetzen, die von der Nacht übrig geblieben waren. Der helle Sand verwandelte sich in einen Hauch von Gold. Nur mit Mühe konnte Chef den Blick abwenden und sich langsam auf den Rückweg machen, sobald sich die gleißende Scheibe vollständig vom Horizont gelöst hatte. Leise und im Schatten der Bäume. Er wollte nicht entdeckt werden, was unweigerlich den unglaublichen Anblick zerstört hätte, den er die letzten Minuten genossen hatte. „How do you rate the morning sun?“, sang er in Gedanken für sich. „After a long and sleepless night how many stars would you give to the moon?“ „And you could happen to me 'Cause I've been close to where you are I drove places you have seen“ „Wie bitte?“ Verwirrt sah er zu Shin rüber, der in der Pfanne rührend zu singen begonnen hatte. „Das ist der Text zu dem Lied, das du vor dich hinsummst.“ „Ich summe nicht.“ „Doch tust du. Kaffee? Ich bin überrascht dich überhaupt schon hier unten zu sehen. Bist du aus dem Bett gefallen?“ Dankbar nahm Chef die Tasse entgegen und lehnte sich an die Arbeitsplatte. „Nein. Ich bin seit gestern auf.“ „Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt wie Cian klinge“, begann Shin vorsichtig, überlegte es sich dann aber anders: „Junge! Du bist auch nicht mehr der Jüngste. Abmarsch in die Falle!“ „Ich bin erst 26!“, protestierte Chef lachend über die gelungene Imitation. „Umso schlimmer! Kinder müssen rechtzeitig ins Bett!“ „Mach ich, Mama – nach dem Frühstück. Denn solange die Zwillinge noch oben sind, weiß ich, dass ich nicht werde schlafen können.“ Damit klaute er sich ein Croissant vom Tresen und verschwand den Kaffee in der Hand Richtung Arbeitszimmer. Shin schüttelte einfach den Kopf hinter ihm. Der würde schon noch merken, dass er seinen Plan vergessen konnte. Sie waren keine zehn Sekunden aus dem Hotelgelände draußen, da zog Mokuba auch schon sein Handy aus der Hosentasche und erfreute sich an dem Dauervibrieren, das anzeigte wie viele Nachrichten er in den paar Tagen Hotelaufenthalt verpasst hatte. Setos eigenes Handy blieb dagegen still, während sie die Straße zum Dorf entlang fuhren. Bewusst hatte er nur sein Privathandy mitgenommen und diese Nummer besaßen nicht gerade viele. Bis vor wenigen Monaten wäre die eine Hälfte davon mit ihm jetzt im Auto gesessen. Die andere Hälfte wäre Roland gewesen. Doch die Zeiten änderten sich. Als er an der gleichen Stelle wie das letzte Mal parkte, war sein Bruder noch immer damit beschäftigt die Nachrichten zu lesen. Auf dem Weg ins Dorfzentrum hob er nicht einmal den Kopf, sondern tippte fleißig Antworten. „Du kannst doch Midori auch einfach anrufen“, sagte Seto kühl, den Jüngeren sanft, aber bestimmt aus der Bahn des nächsten Laternenpfahls ziehend. „Aber es sind noch Stunden bis zu ihrer Mittagspause. Und sie bekommt Ärger, wenn ich sie vorher anrufe.“ „Dann solltest du das Handy erst recht wegpacken. Außerdem wolltest du doch hier hin, statt gemütlich am Strand zu liegen.“ Das wirkte und Mokuba hatte erstaunlich schnell die Hände wieder frei. „Also,... wo fangen wir an? Wie wär's mit Torte in dem Cafe da drüben?“ Er deutete auf die Bäckerei und war schon auf dem Weg dorthin, als Seto bestimmt auf eine Buchhandlung deutete. „Wir fangen dort an. Du hattest vor nicht einmal zwei Stunden Frühstück!“ „Na und? Ich muss eben noch wachsen!“ „Wo musst du bitteschön noch wachsen? Du bist ja jetzt schon fast so groß wie ich.“ Das war eine Lüge. Er hatte ihn bereits eingeholt. „Angst, dass ich dir über den Kopf wachse?“ „Davon träumst aber nur du. Wenn du noch weiter wächst, muss sich Midori ja auf die Zehenspitzen stellen, um dir einen Kuss zu geben.“ „Muss sie jetzt schon. Und seit wann interessierst du dich für so was?“ „Was?“ „Größenunterschiede beim Küssen.“ Statt zu antworteten flüchtete Seto in das Geschäft. Doch statt der Peinlichkeit zu entgehen, schlitterte er geradewegs in die nächste. Die Dame an der Kasse schien sich nämlich an ihn zu erinnern und dieses Mal ganz genau zu wissen, wen sie da vor sich hatte. Sie machte zumindest keine Andeutung, Mokuba könne etwas anderes als sein Bruder sein, als sie ihn mit einem Zwinkern diskret auf die Neuheiten in der Shonen-Ai-Ecke verwies und sich dann um den anderen Kunden kümmerte. Das war auch gut so. Denn dieser brabbelte irgendetwas zusammen, dass er ein Geschenk für einen Freund suche, dass dieser ganz viel lese und so. Dass er selbst keine Ahnung hätte, was er noch nicht gelesen habe und deswegen etwas hilflos sei. „Was liest ihr Freund denn sonst so?“, versuchte es die Verkäuferin, sobald Mokuba einmal Luft holte. Das wusste er auch nicht so richtig. Irgendwelche Geschichten mit Monstern, glaube er. Als die beiden nun auf die Ecke mit den Kinder- und Jugendbüchern zusteuerten, griff Seto ein. „Er ist philosophisch gebildet, mag Science Fiction und gutes Essen.“ Dabei sah er nicht von dem Buch auf, dass er gerade selbst in der Hand hielt. Es klang interessant, nur wie bekam er es an Mokuba vorbei aus dem Laden? Wenigstens die Verkäuferin hatte nun eine genauere Vorstellung. Zielsicher ging sie hinüber zu den Krimis und reichte Mokuba eines davon. „Dies hier aus einer Reihe so genannter Gourmet-Krimis. Dieser Band spielt in Schottland und beinhaltet daher eine Menge Wissen um Whiskey, im hinteren Teil stehen verschiedene Rezepte. Aber es gibt auch einen anderen in Brüssel und...“ „Wir nehmen ihn.“ Seto hatte inzwischen noch ein vielversprechendes Buch entdeckt und suchte nun weiter nach etwas mit dem er es tarnen könnte. Doch zu spät. „Ui!“, entfuhr es Mokuba, der über seine Schulter auf den Klappentext gelinst hatte. „Und wieso nehmen wir nicht so was?“ „Weil du es ihm schenkst.“ „Weil er von dir ja etwas anderes bekommt. Richtig?“ Er wartete nicht die Antwort ab, sondern sah sich die restlichen Krimis und Thriller an. So merkte er nicht, wie sein Bruder erst eine ziemlich ungesunde rote und dann sehr weiße Gesichtsfarbe annahm. Denn dieser brachte es einfach nicht über sich zuzugeben, dass Chef am Vortag deutlich gemacht hatte, dass er nicht nur nichts von ihm erwartete, sondern auch nichts wollte. Seinen düsteren Gedanken nachhängend ergänzte sich sein Stapel an der Kasse um einen französischen Roman, ein Buch über einen seltsamen Mann, der den Jakobsweg gelaufen war, und ein kleines Buch übers Stricken, von dem er behaupten würde, es sei für die alte Dame, die es ihm beigebracht hatte, wenn jemand fragen würde. Doch für den Augenblick war Mokuba viel zu sehr mit seiner eigenen Auswahl beschäftigt, hatte er doch das erste Urlaubsbuch schon fast durch. So war sein Stapel letzten Endes sogar höher als Setos. Er bezahlte und sie verließen beide mit je einer Stofftasche voller Bücher das Geschäft gegen elf Uhr. „Und jetzt ein Stück Torte!“ „Wieder nein. Ich möchte dir noch erst einen anderen Laden zeigen, bevor er wegen Mittagspause geschlossen ist.“ „Und welchen?“ „Lass dich überraschen.“ Seto führte ihn wieder quer über den Platz und in die Seitenstraße neben der Bäckerei. Enttäuscht stellte er fest, dass die Auslagen so gut wie leer waren – nur ein paar getrocknete Sommerblumen waren an der Stelle, wo er ausladende Schokoladenfiguren erwartet hatte. Aber hinter den Scheiben sah er jemanden sich bewegen, weshalb er doch die Tür prüfte. Es klingelte leise – was unter ging in den fröhlichen Ausrufen der beiden Kinder, die vor der Theke standen und der jungen Frau dahinter ihre Wünsche mitteilten. „Guten Tag. Ich kümmere mich noch kurz um diese Kunden, dann habe ich Zeit für Sie“, begrüßte ihn die Katze und platzierte eine dritte Kugel Eis auf einer Waffel, die sie dann dem Kind mit den kürzeren Haaren reichte. Mit fast weißen Haaren. Die blonde Frau daneben drehte sich zu ihm und fragte: „Wie sagt man?“ „Danke“, quäkte der Kleine und begann glücklich an seinem Eis zu lecken, während seine Schwester endlich an die Reihe kam. Am liebsten hätte Seto sofort wieder den Laden verlassen, aber da war leider noch Mokuba, der sich sofort auf Martine stürzte, um ihr ihre Einkäufe zu zeigen und ihre Meinung zu dem Geschenk für ihren Neffen einzuholen. „Der Herr“, hielt die Chocolatier ihm ein Eis über die Theke hin. „Ich hab im Sommer leider keine Schokolade, aber ich wette einem Kirscheis können Sie kaum widerstehen.“ Verdutzt nahm er die Waffel samt Inhalt entgegen, bedankte sich und kostete. Genau die richtige Mischung zwischen süß und fruchtig. „Schade. Aber das hier ist wenigstens fast genauso gut wie Ihre Schokolade.“ „Nur fast? Aber ich weiß, was Sie meinen. Mir wäre Schokolade jetzt auch lieber, aber die hält sich bei dem Wetter einfach nicht so gut. Sie wollten sich bestimmt damit für den Herbst und Winter eindecken, oder?“ „So in der Art. Wo ist der Rest hin?“ Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie vor die Tür gegangen waren. „Bastelsachen einkaufen. Sie können später im Cafe auf sie warten“, hielt Katze ihn zurück. „Verraten Sie mir lieber, wie Sie mit der Schokolade ankamen.“ „Sehr gut – glaube ich. Ich habe die Reaktion des Teams nicht mitbekommen. Trotzdem vielen Dank für das Ausliefern.“ „Bitte. Für Sie immer wieder gerne – vorausgesetzt Sie verraten mir endlich, wie Ihnen die Zartbitter mit Chili und rotem Pfeffer geschmeckt hat.“ Seto verschluckte sich am Eis und hustete so schwer, dass Katze sich hinter der Theke hervor begab, um ihm auf den Rücken zu klopfen. „Ich weiß nicht,...“ „... was ich meine? Doch das wissen Sie ganz genau. Er hat sich verraten, als er danach wieder bei mir war. Ich habe allerdings nicht in Erfahrung bringen können, ob sie gewirkt hat.“ Erwartungsvoll blickte sie zu ihm hoch. „Irgendwie schon. Aber das ist mittlerweile auch egal. Ich kann im Cafe warten, meinten Sie?“ Sie nickte und öffnete ihm dann selbst die Tür. Draußen schlang er die Waffel runter, dann zückte er sein Handy und wählte Mokubas Nummer. „Ja, ich bin's“, sprach er in das Gerät auf halben Weg über den Platz. „Hör zu. Ich fühl mich nicht so gut. Kannst du mit Martine zurück ins Hotel fahren? … Ja? Gut. Wir sehen uns später.“ Er wusste, dass Mokuba ihm diese Lüge nicht abkaufte, aber das war ihm egal. Er brauchte Zeit für sich. Viel Zeit. Er stieg in den Wagen und startete den Motor. Wie er jetzt seinen Sportwagen vermisste, als er die Bebauung hinter sich ließ und weiter nach Süden fuhr. Die Limousine war gut motorisiert, doch war sie insgesamt einfach ein wenig schwerfälliger. Gut eine Stunde fuhr er so, beachtete kaum die Landschaft, die an ihm vorbeirauschte. Immer wieder spürte er wie seine Verzweiflung ihm in Form von Tränen in die Augen steigen wollte, aber er durfte nicht nachgeben, musste immer noch die Straße vor ihm klar erkennen können. Was half es ihm, sich selbst umzubringen, wenn er seinem Hündchen gleichgültig geworden war? Es würde doch nicht seinen Schmerz lindern. Und was wenn er sich nur verletzte? Dann war der Wagen Schrott und er musste unter Umständen mit schweren Einschränkungen weiterleben. Nein. Er musste konstruktiv an das alles ran gehen. Aber wie? Bei der nächsten Tankstelle fuhr er raus, füllte den Tank und wendete dann. Wie konnte er nur Chef zurückgewinnen? Seto schnaubte. Wie sich das anhörte! Um ihn zurückzugewinnen, musste er ihn erst einmal gehabt haben! Wenn man der ein oder anderen Quelle glauben konnte, war dies zwar mal der Fall gewesen, aber noch zu einem Zeitpunkt, zu dem er den anderen nicht so sehr beachtet hatte, wie er es hätte tun sollen. Wie konnte er ihn also davon überzeugen, dass er sich geändert hatte? Besonders, wenn er es kaum in seiner Nähe aushielt? Ihm war klar, dass sie sich irgendwann würden aussprechen müssen, aber davor mussten sie sich wieder sympathischer werden. Doch das würde erst passieren, wenn er sich bei ihm entschuldigt hatte. Das war doch zum durchdrehen! Er drückte das Gaspedal bis zum Boden durch und genoss das Gefühl über die Straße zu fliegen. Beinahe wäre Seto am Tor vorbei gefahren, entschloss sich aber in letzter Sekunde dann doch dafür, ins Hotel zurück zu kehren, riss das Lenkrad herum und machte eine Vollbremsung, um nicht in die Metallstäbe zu knallen. Sein Puls ging ob dieser kleinen Stunteinlage nicht einmal schneller. Ruhig betätigte er die Fernbedienung und fuhr den Waldweg entlang. Hoffentlich war Mokuba noch unterwegs, denn im Moment wollte er einfach nur seine Ruhe. Einfach nur sich ein wenig in seinem Selbstmitleid suhlen und den Plan weiter ausarbeiten, der allmählich in seinem Kopf Gestalt annahm. Kapitel 11: Donnerstag 28.7. ---------------------------- Mokuba verdrehte schwärmerisch die Augen und biss ein Stück vom Toast ab. „Wie soll ich ohne diese Rühreier weiterleben?“, fragte er Shin gespielt theatralisch, der in der Küche an der Spüle stand und die Pfanne schrubbte. „Keine Ahnung. Wie wäre es, wenn du einfach mal deinen Bruder fragst, ob er es für euch öfter zum Frühstück macht? Schließlich kennt er das Rezept.“ Dieser fühlte sich jedoch nicht angesprochen, sondern trank stoisch seinen Kaffee weiter. „Hast du ihm das beigebracht? Er hat's zumindest schon ein paar Mal probiert“, wollte Mokuba nun weiter wissen. Der Koch schüttelte den Kopf, ein Grinsen auf den Lippen. „Nein, habe ich nicht. Dein Bruder hatte so weit ich weiß einen Privatkochkurs bei meinem Chef.“ Seto tat weiterhin so, als ginge ihn all das nichts an, sobald ihn die Erinnerung an besagten Kurs überrollte. Und erst all die kleinen Gesten, die danach folgten. Schlimm genug, dass er in der Nacht eh schon kaum ein Auge zubekommen hatte, jetzt mussten die beiden ihn auch noch daran erinnern! „Gibt es denn da keinen Unterschied im Rezept?“ Kaum zu glauben, dass Mokuba sich noch sauber artikulieren konnte, so voll wie sein Mund war. Was hatte er dem Kleinen mal über Tischmanieren beigebracht? „Ja, doch, den gibt es“, erwiderte Shin. „Ich koche alles mit mehr Liebe.“ Seto hätte beinahe seinen Kaffee über den Esstisch verteilt, als Mokuba plötzlich anfing lauthals zu lachen. Was sollte an dieser Aussage bitteschön so komisch sein? Er fand es jedenfalls nicht komisch! Chef konnte sehr wohl mit viel Liebe kochen, mit ganz viel Liebe! Da konnte Shin nicht mithalten – zumindest solange er für jemand anderen als Yuki kochte. Denn dass er auf sie stand, war wirklich offensichtlich. Mokuba hatte sich inzwischen wieder gefangen und wollte nun wissen: „Bist du nicht etwas zu hart zu ihm? Immerhin ist er ein netter Kerl...“ „...ohne Respekt vor Tomatensoße.“ „Tomatensoße?“ Die Verwirrung klang bei jeder Silbe mit. „Ja, Tomatensoße. Der Banause hat anfangs doch tatsächlich Tomatensoße aus dem Glas für das non plus ultra gehalten!“, echauffierte sich Shin. Seto hatte ihnen gelauscht und schaltete sich dann aber doch ein: „Aber den Zahn müsste Hans ihm doch inzwischen gezogen haben, oder?“ Stille. Zwei Paar Augen sahen ihn groß an. Ihre Besitzer schwiegen für mehrere Minuten, bevor Shin endlich seine Sprache wiederfand. „Woher wissen Sie das?“ „Ob ihr es glaubt oder nicht – ich kann tatsächlich zuhören.“ Damit stand er auf, griff sich seine Kaffeetasse und ein Buch und ging Richtung Terrassentür. „Ihr entschuldigt mich. Ich frühstücke draußen fertig.“ Er drehte sich nicht um, um ihre Reaktion zu sehen, sondern nahm einfach auf einer der Liegen Platz und schlug das Buch an der Stelle auf, wo er das Lesezeichen hineingeklemmt hatte. Aber es fiel ihm schwer die Bedeutung der Wörter zu erfassen, die er las. Die Gefühle vom Vortag brodelten wieder in ihm hoch und nur mühsam konnte er die äußere Fassade aufrecht erhalten. Was war so erstaunlich daran, dass er etwas über Chef wusste? Was hatten die beiden erwartet? Dass er hier einfach auf gut Glück herkam? Dass er das alles veranstaltete, um einen Mann für sich zu gewinnen, von dem er keinerlei Ahnung hatte? Gegen Mittag kam Yuki mit dem Mittagessen, einer einfachen Reispfanne mit Gemüse. Mokuba musste ihr wohl die Situation erklärt haben, denn sie kam anschließend um das Haus herum auf die Terrasse und setzte sich neben Seto auf die Holzdielen. Eine Weile betrachtete sie ihn, während er so tat, als sähe er sie gar nicht, dann sagte sie: „Wir sind heute Nachmittag alle am großen Pool. Ich an deiner Stelle würde auch vorbeischauen.“ „Und was ist, wenn ich keine Lust dazu habe?“, erwiderte Seto kühl. „Dann kann ich dir auch nicht mehr helfen.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Wie gesagt, wir werden alle dort sein. Inklusive eines gewissen Herren, der zu engen, kurzen Badeshorts tendiert. Aber ich kann dich verstehen, dass du den alleinigen Anblick des Meeres attraktiver findest.“ Yuki stand auf, klopfte sich imaginären Sand von der Hose und war am Absteigen, als Seto sie schließlich fragte: „Ab wann?“ „Drei, halb vier. Damit es nicht so auffällt, solltest du ab halb drei da sein.“ Seto nickte bloß und verschwand dann doch ins Hausinnere. So viele Dinge musste er vorbereiten – aber zunächst brauchte er erst einmal eine Uhr. Punkt halb drei bezog er seine Stellung am Pool vor dem Hauptgebäude. Der Blick auf die Uhr hatte ihn in Hektik versetzt. Ein Uhr war bereits durch gewesen. Und dennoch lag er nun langgestreckt auf der Liege wie die Ruhe selbst und ließ sich sonnen, während er interessiert den französischen Roman las. Selbst Mokuba würde diese Posse nicht durchschauen. Er hatte ihn lediglich kritisch gemustert, als er nur in Badehose, halb offenem Hemd und bewaffnet mit Sonnenbrille, Buch und Handtuch aus der Tür runter zum Strand gegangen war. Ja, sein eigener Anblick musste herrlich sein, wie er sich da so in der Sonne räkelte. Aber was brachte ihm das, wenn keiner da war, um ihn zu bewundern? Immer wider glitten seine Augen am gegenüberliegenden Beckenrand entlang Richtung Haus und zurück. Wo blieben die nur? Klar, Yuki hatte ihm gesagt, er solle eine halbe Stunde früher da sein, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Aber wieso musste das so verdammt lange dauern? Als kurz nach drei endlich Martine nach draußen kam, war seine Geduld mehr als nur strapaziert. Dennoch rang er sich so etwas wie ein Lächeln ab, während sie ihn höflich fragte, ob es für ihn in Ordnung sei, wenn sie sich in seiner Nähe aufhielten. Sprich seine Seite des Pools, die Kinder vielleicht 5 Meter von ihm entfernt bereits wieder am Toben. Er bejahte und wandte sich wieder seiner hoch spannenden Lektüre zu. Seto war versucht, einfach ein paar Seiten mehr hinzu zuschummeln, doch da kam auch schon das nächste Familienmitglied, gewohnt rot gekleidet und bester Laune. Er wählte die Liege neben seiner Schwester und entfaltete seine Zeitung, während sich nach und nach auch der Rest einfand. Selbstverständlich erschien die eigentliche Hauptperson ganz zum Schluss und erst nachdem Martine Clara und Ethan bereits dreimal zur Ordnung gerufen hatte. Chef sah ein bisschen erschöpft aus, dennoch war sein Hemd bis zum obersten Knopf geschlossen und seine dunkle Hose reichte bis über den Knöchel. Dankend nahm er das Glas Rhabarber-Schorle von Shin entgegen und drehte dabei Seto den Rücken zu. So war er ihm zwar am nächsten, aber er machte so auch deutlich, dass er ihn nicht in die Gruppe integrieren wollte. „Hans, haben wir noch alle Zutaten für den Meeresfrüchte-Cocktail? Er wurde für morgen von Haus 5 bestellt. Und Cian, wir brauchen ab dem Wochenende wieder die extra flauschigen Badehandtücher in Haus 1. Und Yuki...“ „wird sich heute Nachmittag einfach mal etwas erholen“, ging Maximillion zwischen die Anweisungen seines Sohnes. „Wenn du weiterarbeiten möchtest, mach das bitte drinnen. Ich dachte nämlich wir hätten eine Vereinbarung, was den Pool heute betrifft. Wenn du erst mal runter kommen musst, schwimm doch ein paar Bahnen.“ Seto konnte nicht Chefs Gesicht sehen, doch das leichte Schnauben und Grummeln verriet alles. So sehr hatte er sich dann doch noch nicht verändert. Auf den folgenden Anblick war er jedoch nicht vorbereitet. Denn Chef gehorchte und schlüpfte geschwind aus seiner Kleidung. Mit wenigen Schritten stand er am Beckenrand und machten einen eleganten Köpfer ins Wasser. Was seine bevorzugte Bademode anbelangte, war Seto definitiv nicht zu viel versprochen worden. Wie konnte man nur so verboten gut aussehen? Rasch vertiefte er sich wieder in den Roman, um nicht den gleichmäßigen Bewegungen im Pool zu folgen und sich ganz andere Dinge auszumalen, die die muskulösen Arme tun könnten. Eine Viertelstunde später war er Cian außerdem sehr dafür dankbar, dass er große Handtücher mit nach draußen gebracht hatte, sodass Chef nun eher bedeckt auf seiner Liege saß und ein Stück Wassermelone nach dem nächsten verputzte. Trotz der kleinen Sporteinlage wirkte er aber nach wie vor unruhig, was auch Martine nicht zu entgehen schien. „Gut, du hast gewonnen“, meinte sie nach einer Weile, nachdem er angefangen hatte mit dem Küchenmesser Muster in die Schalen zu ritzen. „Wir trainieren.“ Kaum hatte sie ihren Mund wieder geschlossen, sprang Chef auch schon auf, schnappte sich ein kleines schwarzes Gerät, das neben einem externen Lautsprecher lag und tippte darauf herum. Dann wandte er sich seiner Tante zu und fragte: „Darf ich bitten?“ Sie erhob sich und schritt an ihm vorbei zu einem zwei mal drei Meter großen Bereich, der am Poolrand schwach eingezeichnet war und drehte sich in dem Moment um, als die E-Gitarre einsetzte. Langsam kam Chef auf sie zu und wich geschickt einem Tritt aus, sobald er sich im Feld und ihrer Reichweite befand, ging seinerseits in den Angriff über. Doch Martine blockte und befand sich plötzlich hinter ihm. Noch bevor sie ihn in den Schwitzkasten nehmen konnte, hatte er wieder Sicherheitsabstand zwischen sie gebracht und eine stabile Position eingenommen. Erst mit den ruhigeren Tönen der Bridge fiel Seto etwas Elementares an ihren Bewegungen auf. Sie folgten in ihrer Geschwindigkeit perfekt auf die Musik angepasst. Die Schläge und Tritte erfolgten zu den Akzenten, während sie sich wie zwei Raubtiere umkreisten, jede Bewegung fließend als beobachtete man eine Zeitlupenaufnahme. Und so wirkten sie letzten Endes eher wie zwei Tänzer, landete doch keiner von ihnen einen Treffer beim anderen. Mit dem Ende des Liedes verbeugte sich Chef tief vor Martine. „Du hast dein Training definitiv nicht vernachlässigt“, äußerte sie anerkennend. „Damit ist der Ring für den Rest eröffnet.“ „Wie, du schwächelst schon?“, neckte Chef. Sie zuckte mit den Achseln und deutete auf ihr Strickzeug. „Ich möchte den anderen ja auch noch ihren Spaß lassen.“ „Okay, dann Freiwillige vor!“ Auf einmal war der Rest schwer beschäftigt oder schaute unbeteiligt in die Luft. Außer Seto. Sein Blick klebte immer noch an den Muskeln des Oberkörpers, rutschte zu den Bauchmuskeln und war kurz davor noch weiter südlich zu wandern, was jedoch vereitelt wurde. „Wie ich sehe, haben Sie Interesse.“ Es war ein Wunder, dass er nicht schlagartig rot wurde, und zudem verstand, was mit dieser Äußerung gemeint war. Nur sein Kopfkino hatte er nicht so gut im Griff, das ihm bereits sehr eindeutige Bilder schickte. „Ein wenig Sport kann im Urlaub schließlich nicht schaden“, sagte er und zog sein Hemd aus. Sollte er ruhig sehen, was er zu bieten hatte. Aber er wurde keines Blickes gewürdigt. Sein Objekt der Begierde hatte sich nämlich wieder abgewandt und sprach mit Matt, der anscheinend zum DJ ernannt worden war, über das nächste Lied. „Bist du wirklich sicher? Ist das nicht ein wenig zu anspruchsvoll für den Anfang?“ „Nein. Wieso? Es ist doch auch das nächste Lied immer in eurer Trainingsliste.“ „Ja, aber wir machen das etwas häufiger und ...“ Dann verstummte er schlagartig und nickte nur noch, während Seto Stellung bezog wie es zuvor Martine gemacht hatte. Das Intro erklang, Chef bewegte sich nicht. Erst mit den ersten Worten des Gesangs kam wieder Bewegung in ihn. Mit geschlossen Augen genoss er die Musik und wiegte sich leicht im Rhythmus. Der Anblick gehörte verboten! Darüber vergaß Seto sogar sich über das gewählte Stück zu wundern. Langsam machte Chef den ersten Schritt auf ihn zu. In Kreisen ging er um seinen Gegner herum, der sich dabei die ganze Zeit mitdrehte, um ihn nicht aus den Augen zu lassen. Er war auf alles vorbereitet. Er würde sich verteidigen können, doch zögerte er den Anfang zu machen. Der Refrain setzte endlich ein. „Hold me“, flüsterte Chef leise mit. Thrill me. „Kiss me“, kam es über seine Lippen. Wie gerne würde Seto dieser Bitte nachkommen. Er war drauf und dran seine sichere Position aufzugeben. Doch wie sich zeigte, war dies gar nicht notwendig, denn bei den nächsten beiden Worten zuckten Blitze vor seinen Augen und es wurde schwarz um ihn herum. Kill me. Der Boden fühlte sich weicher an als er erwartet hatte oder lag er da gar nicht mehr? Sein Kiefer schmerzte. Also konnte er noch nicht tot sein, auch wenn er genau das in den letzten Augenblicken noch befürchtet hatte. In Sekundenbruchteilen hatte sich pure Mordlust in Chefs Gesicht breit gemacht. Glaubte er zumindest. Oder war das einfach nur Hass gewesen? Für einen kurzen Moment machte sein Herz einen Hüpfer ob dieser unerwarteten Emotion. Es war zumindest etwas anderes als die Kälte, die ihm zwei Tage zuvor entgegen geschlagen war. Sich darüber zu freuen war aber dennoch seltsam. Allmählich nahm er Gesprächsfetzen war. Da war die Stimme von Shin, der seinen Boss zusammenschiss. Die sporadischen Erwiderungen konnte er nicht verstehen, aber sie klangen nur begrenzt reumütig. „Dann geh gefälligst wenigstens rein und hol den Erste-Hilfe-Kasten!“, schloss Shin aufgebracht. „Nein, Matt soll das machen“, ging Cian dazwischen. „Aber Chef sollte wirklich gehen.“ Dann spürte Seto eine warme große Hand auf seiner Wange und der Ire fragte sanft: „Können Sie mich hören?“ Er traute seiner Stimme noch nicht, weshalb er leicht nickte. Auch lag er anscheinend doch immer noch auf dem Boden. „Dann öffnen Sie bitte langsam die Augen. Ich muss sicher gehen, dass Sie keine Gehirnerschütterung haben.“ Er gehorchte und blinzelte gegen den hellen Himmel, gegen den sich Cians Silhouette abzeichnete. Dann folgte er brav den weiteren Anweisungen und saß einige Minuten später wieder auf seiner Liege. „Zum Glück ist alles in Ordnung. Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist“, entschuldigte sich Pegasus, während Cian Matt zurück schickte, um Kühlpads zu holen. Denn Setos Kiefer hatte eindeutig etwas abbekommen und begann bereits anzuschwellen. „Kein Problem. Ich habe einfach nur zu spät reagiert. Nachdem er so lange mit dem Angriff gewartet hatte, dachte ich eigentlich, er lässt es komplett.“ Yuki reichte ihm ein Glas Wasser, das er in kleinen Schlucken trank. Heute würde es für ihn nur noch Flüssignahrung geben, das spürte er jetzt schon. „Trotzdem...“ Pegasus schien wenig überzeugt. „Nichts trotzdem. Es ist meine eigene Schuld“, beteuerte Seto, froh, dass wenigstens das Sprechen problemlos möglich war. Das hätte sonst sehr peinlich werden können. Wie hätte er sonst dem Team zu verstehen geben können, dass es ihm soweit eigentlich gut ginge? Sie waren wie ein Haufen aufgescheuchte Hühner, die um ihn herum hüpften. Zumindest hatte Martine Ethan und Clara rein geschickt – in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Trotzdem knirschte er mit den Zähnen, als im Cian das Kühlpad gegen die schmerzende Stelle drückte. „Ich sollte am besten zurück ins Haus und mich Hinlegen. Mokuba kann auf mich aufpassen.“ „Ich bringe Sie“, antwortete Cian sofort und gemeinsam mit Shin begleitete er ihn über den kurzen Strandabschnitt. Sie stützten ihn nicht, aber es entging ihm nicht, dass beide nah genug bei ihm blieben, um sofort reagieren zu können, sollte er auch nur ein bisschen schwanken. Shin trug zudem seine Sachen und richtete ihm die Liege auf der Terrasse her, während Cian Mokuba erklärte, worauf er in den nächsten Stunden würde achten müssen. Dieser schien gar nicht begeistert, als er hörte wie es zu der Verletzung gekommen war. Anklangend wanderte sein Blick zu seinem großen Bruder. Oh ja, sie würden noch ein Hühnchen miteinander rupfen, sobald sie unter sich waren, aber zunächst behielt er die Maske des besorgten kleinen Bruders. „Was hast du dir dabei gedacht?“, fuhr Mokuba Seto an. Unerwarteten zuckte er zusammen. So laut wurde der andere selten. „Ich hätte nie gedacht, dass du so tief sinken würdest, dich zu prügeln, um Körperkontakt zu bekommen!“ „Moki, ich...“, versuchte Seto es kleinlaut. „Nichts 'Moki'! Ich sag dir mal was. Weißt du wie nervenaufreibend das ist, dein kleiner Bruder zu sein? Ständig muss ich mir Gedanken und Sorgen um dich machen! Vor jeder Übernahme habe ich die schlimmsten Befürchtungen wegen der unter Garantie eintreffenden Morddrohungen. Jedes Mal, wenn du allein unterwegs bist, habe ich Angst, dass du entführt wirst! Klar, du kannst dich ein wenig verteidigen, aber das reicht bei Weitem noch nicht aus!“ „Ich hab aber wieder angefangen zu...“ „Du hast dein Training jahrelang vernachlässigt! Und dann legst du dich mit Joey an, der dich selbst als Zwölfjähriger besiegen würde! Sag mal, hast du sie noch alle? Weißt du, dass das noch ganz anders hätte ausgehen können?“ „Schon, aber mit Martine sah das so einfach...“ „Martine willst du nicht an einem Tag begegnen, an dem sie schlecht gelaunt ist! Idiot!“ Schnaufend ließ sich Mokuba auf die andere Liege nieder und funkelte Seto nach wie vor wütend an, der natürlich immer noch nicht den Ernst der Lage kapierte. Aber allmählich setzten sich die Puzzleteile zusammen und er verstand. Gelangweilt von ihrem Leben hatte Martine als Jugendliche angefangen zu trainieren und war mindestens so gut geworden wie ihre Bodyguards. Und Pegasus hatte unter Garantie keine Stümper eingestellt. Und Chef hatte ihm selbst erzählt, er würde mit seiner Tante trainieren. Er ließ - so weit er sich erinnerte – ihre Bewegungen schneller vor seinem geistigen Auge vorbeifließen und erschrak. „Auch mein Gehirn ist manchmal im Urlaub“, flüsterte er und erhielt dafür ein Schnauben als Antwort. „Ernsthaft? 'Manchmal'? Du willst nicht wissen an wie vielen Tagen im Jahr ich schon froh bin, wenn du es morgens schaffst dich richtig anzuziehen!“ Untypisch für ihn streckte Seto seinem Bruder die Zunge heraus und verzog augenblicklich das Gesicht, da auch diese kleine Grimasse mit dem geschwollenen Kiefer weh tat. Dafür lachte aber Mokuba wieder. Und nach einer Weile erlaubte er es sich mit einzustimmen. Es hatte etwas Befreiendes, auch wenn er um Schmerzreduktion bemüht war. Kapitel 12: Freitag 29.7. ------------------------- Er konnte nicht mit Gewissheit sagen, wie spät es war, als er am nächsten Tag aufwachte, nur, dass es deutlich später war als die bisherigen Tage seines katastrophalen Aufenthalts im Hotel. Woher er das so genau wusste? Es war bereits wieder hell und Mokubas Bett leer. Damit musste es mindestens nach zehn Uhr sein. Erstaunlicherweise ließ Seto sich davon aber nicht stressen, sondern tapste barfuß ins Bad, duschte sich kurz warm ab und trat nur mit einem Handtuch um die Hüften ins Wohnzimmer. Auf den Weg zum Schrank im Schlafzimmer rief er laut „Mokuba“, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. Es war viel zu still gewesen, als er ins Bad gegangen war. Wahrscheinlich war er bereits am Strand oder saß auf der Terrasse. Sein Blick wanderte nach draußen in feinstes Regenwetter. Das waren dann wohl die Wolken, die sich am Abend bereits zusammengezogen hatten. „Als ich mich auf den Weg gemacht habe, hat er gerade zugehört, wie Martine und Clara gemeinsam Klavier spielen.“ Setos Blick huschte weiter zum Sofa, auf dem er einen blonden Schopf ausmachen konnte, der sich nun langsam aufrichtete und sich zu ihm umdrehte. „Sie hatte ihn eingeladen bei dem Schmuddelwetter ihr mit den Zwillingen etwas zu helfen. Und ich bin für Yuki eingesprungen. Außerdem hat Shin heute frei“, klärte Chef ihn über die Gründe dieser seltsamen Situation auf. Zumindest schien es ihn nicht im mindesten zu irritieren, dass der andere nicht wirklich bekleidet war. „Gut zu wissen.“ Betont gleichgültig setzte Seto den Weg zu seiner rettenden Kleidung fort. Auch wenn es zum Erreichen seiner Sachen unnötig war, öffnete er beide Schranktüren, um einen Sichtschutz beim Anziehen zu haben. Ohne zu Überlegen griff er einfach nach dem Obersten auf den Stapeln und war froh, dass Hose und Hemd irgendwie zusammen passten. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück, sah auf dem Esstisch sein gerichtetes Frühstück und setzte sich kommentarlos hin. Aus den Augenwinkeln sah er, Chef irgendetwas lesen, aß aber einfach seinen Grießbrei mit roter Grütze und starrte hinaus in den grauen Tag. „Es tut mir Leid.“ Er hatte aufgegessen und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis Chef aufstehen und gehen würde. Mit banger Erwartung sah er zu ihm hinüber. „Was?“ „Alles.“ „Ich hatte gedacht, Sie hielten das für meinen Text“, erwiderte Chef, nicht auf das letzte Wort eingehend. „Sie sind doch eh nur hier, weil Martine oder Ihr Vater Sie hierher geschickt haben.“ Die familiäre Beziehung betonte Seto, was dem anderen anscheinend ein Lächeln entlockte. „Hätte einer der beiden es gewagt auf mich einzuwirken, wäre ich bereits gestern Abend hier aufgetaucht mit der teuersten Flasche, die der Weinkeller zu bieten hat.“ „Schade.“ „Wirklich schade, denn Dad hält die Hand auf diese Flasche. Ohne seine Erlaubnis darf ich da leider nicht dran. Aber vielleicht kann ich ihn überzeugen, dass Sie ihn ganz dringend zu Ihrer Genesung brauchen...“ „Wenn er wenigstens gut schmeckt.“ „Und wie er das tut! Ein vollständiger Karton zu Dads dreißigstem Geburtstag, damals wie heute ein kleines Vermögen, aber inzwischen ist nur noch eine Flasche übrig. Tut es denn noch sehr weh?“ „Nur wenn ich lache.“ Chefs Mundwinkel zuckten, doch er bemühte sich sachlich zu bleiben. „Dann sind Sie ja bereits wieder schmerzfrei! Und ich hatte mir noch Sorgen gemacht, dass...“ Als hätte er mehr gesagt als er wollte, brach er mitten im Satz ab. „Wie dem auch sei. Es tut mir Leid, was gestern vorgefallen ist. Sie erhalten natürlich eine entsprechende Rückerstattung ihrer Aufenthaltskosten anstelle des in diesem Falle üblichen Schmerzensgeldes und ...“ „Ist das wirklich der Grund, weswegen Sie hier sind?“, wollte Seto von ihm wissen. In diesem Kontext war ihm alles Geld der Welt egal. Chef war mit ihm in einem Raum und sie sprachen tatsächlich miteinander ohne, dass die Kälte der letzten Tage zwischen ihnen herrschte. „Das hätten doch auch Matt oder Yuki mit mir besprechen können.“ „Yuki hat heute viel zu tun.“ „Aber Matt wird bei diesem Wetter doch wohl kaum die Beete neu bepflanzen?“ Er spielte ein gefährliches Spiel, das wusste er. Ein falsches Wort von ihm und Chef war wieder zur Tür hinaus, aber er musste einfach der Sache auf den Grund gehen. „Naja, ich wollte wirklich wissen, wie es Ihnen geht. Sobald ich wieder etwas klarer denken konnte, war ich über mich selbst erschrocken, dass ich mich einfach so vergessen habe – schließlich sind Sie nach wie vor ein Gast“, gab Chef kleinlaut zu. Enttäuschung machte sich in Seto breit. Es ging also nur mal wieder um den Ruf des Hotels, nicht um ihn als Individuum. „Aber jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Was meinten Sie vorhin mit 'Alles'?“ Seto musste hart schlucken. Sollte er wirklich? Auf der anderen Seite würde er eine solche Chance nie wieder erhalten, also fing er leise an zu erklären, den Blick dabei auf seine Hände vor ihm auf dem Tisch gesenkt: „Ich meine damit wirklich alles, was ich Ihnen bisher angetan habe. Angefangen mit meinen Worten Ende März. Ich habe die ganze Situation nicht verstanden – und verstehe sie, um ehrlich zu sein, immer noch nicht. Wieso haben Sie sich adoptieren lassen?“ Chef antwortete nicht direkt, sondern stellte fest: „Aber Sie haben sich doch auch adoptieren lassen. Was waren Ihre Beweggründe?“ „Ja, das stimmt schon, doch es waren die Falschen. Damals dachte ich es wäre der einzige Weg aus dem Waisenhaus zu kommen, doch inzwischen... Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es damals die richtige Entscheidung gewesen ist und schwanke je nach Tag mit der Antwort. Ich hatte einfach nur erwartet, dass Sie aus meinen Fehlern etwas gelernt hätten. Und dann ausgerechnet Pegasus! Auch wenn wir mittlerweile viel zusammen arbeiten, herrscht doch immer noch eine gewisse Rivalität zwischen unseren Firmen. Und … Vermutlich war es aber zu einem großen Teil einfach nur die Eifersucht, dass er Ihnen so nahe steht.“ Es blieb still und so sprach Seto weiter: „Und dann ist da noch mein Verhalten Ihnen gegenüber während unserer Schulzeit. Wie viel Sie mir bedeuten, habe ich erst danach wirklich realisiert. Wie selbstverständlich Sie für mich waren.“ Allmählich konnte er seine Gefühle nicht mehr unterdrücken. All der Kummer, der sich in den vergangenen Tagen in ihm angehäuft hatte, bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche. Eine erste, einsame Träne rollte ihm über die Wange. „Und obwohl ich ein solches Scheusal war, war ich Ihnen anscheinend wirklich wichtig. Die ganzen Jahre über, auch noch nachdem wir uns nicht mehr gesehen haben. Und...“ Die nächsten Tränen traten ihre Reise an, wurden aber dann urplötzlich sanft weggewischt. Dass Chef so hinter ihm stand, als wäre er in der Tür zum Flur umgekehrt, war ihm in diesem Moment egal. Er vermied immer noch seinen Blick und starrte dafür lieber auf seine eigenen Hände. „Wie kommen Sie zu diesem Schluss“, fragte Chef leise. „Ich hatte Besuch von Ryan.“ Verblüfft ließ sich Chef auf den Stuhl neben Seto fallen. „Wie bitte?!“ „Die Ähnlichkeit zwischen mir und ihm ließ sich nicht leugnen.“ „Ja, das schon. Reiner Zufall. Ihr seit grundverschieden. Aber was wollte er bei Dir?“ „Mir alles Gute mit Ihnen wünschen. Danach war ich so durcheinander, dass ich leider Ihre Abfahrt verpasst habe und ...“ Doch weiter kam Seto nicht, denn Chef war schon wieder aufgesprungen und lief nun aufgebracht hin und her. „Wie kommt der Kerl dazu bei Dir einfach so aufzutauchen und Dir ein nettes Leben mit mir zu wünschen?!“ „Er hatte wohl schon eine ganze Weile einen Termin.“ „Achja? Super Timing! Immerhin hat er es so zwar geschafft, dass ich endlich von Dir loskomme. Aber das ist doch total bekloppt!“, wetterte Chef noch eine Weile vor sich hin, doch Seto hatte auf Durchzug gestellt. Es war vorbei. Alles zu spät und verloren. Langsam erhob er sich und ging hinüber zur Terrassentür. „Entschuldigung. Ich wollte mich nicht aufdrängen.“ Was kümmerte ihn schon das bisschen Regen? Oder dass seine Socken jetzt nass wurden, als er über das feuchte Holz lief? Ganz offensichtlich wollte ihn Chef nicht mehr. Fühlte nicht das geringste für ihn. Da konnte Marik ihm auch noch so sehr beteuern, wie verschossen er einst in ihn gewesen war. Es änderte an der derzeitigen Situation doch nichts. Ein starker, warmer Arm schloss sich um seine Hüfte. „Da geblieben!“, wurde ihm ins Ohr geflüstert, bevor er zurück ins Trockene gezogen wurde. Er sträubte sich nicht dagegen, war jedoch mehr als nur verwirrt, als er in eines der weichen Sofas gedrückt wurde. Ihm gegenüber nahm Chef Platz und musterte ihn kritisch. „Da lässt man dich einmal aus den Augen und du versuchst gleich dir eine Lungenentzündung einzufangen! Hast du eine Ahnung wie weit der nächste Arzt weg ist? Nur weil ich ein bisschen tobe, musst du doch nicht gleich Reißaus nehmen! Früher hättest du mich stattdessen doch einfach vor die Tür gesetzt und fertig – oder ignoriert.“ „Bei dem Wetter schickt man doch keinen Hund raus!“, schoss es Seto automatisch über die Lippen, was Chef ein Lächeln entlockte. „Na bitte, geht doch! So gefällst du mir schon gleich viel besser. Ich meine...“ Keiner von ihnen hätte sagen können, wie diese Situation plötzlich so peinlich geworden war. „Ist schon in Ordnung“, nuschelte Seto verlegen zurück. „Die Heulsuse steht mir nicht besonders, oder?“ „Nicht im Geringsten. Auch wenn es mal ganz nett war, zu sehen, dass du zu so viel Emotion in der Lage bist.“ „Das kommt halt davon, wenn man sich die ganze Zeit fragen muss, weswegen sämtliche Ihrer Ex-Freunde brünett und blauäugig sind.“ „Nicht alle“, warf Chef verteidigend ein. „In den letzten Monaten hat sich das ein bisschen geändert.“ Doch als er sah, dass Seto schon wieder aufspringen wollte, setzte er sich kurzer Hand auf dessen Knie, was ihm einen unfairen Größenvorteil verschaffte. Seto musst nämlich nun definitiv zu ihm aufschauen – oder auf seine sich hebende und senkende Brust. Dorthin, wo er nur das Herz erahnen konnte, von dem er nicht wusste, dass es so heftig schlug wie sein eigenes. „Tut mir leid. Die ganze Situation hier ist einfach auch für mich etwas seltsam. Anders als im Februar liegen jetzt alle Karten offen und – es ist einfach nur komisch, dass du, jetzt wo ich dich aufgegeben habe, auf einmal all die Dinge sagst, die ich all die Jahre von dir hören wollte.“ „Du brauchst mir nicht sagen, dass ich ein Arsch bin. Das haben schon andere für dich erledigt“, erwiderte Seto kühl. So sehr er auch Chefs Nähe wollte, im Moment nervte ihn eher seine eingeschränkte Bewegungsfreiheit. „Welche anderen?“ Er musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass Chef ihn mit den gleichen großen Augen wie früher ansah. Er tat es trotzdem. So zählte er nun auf: „Marik, Ryo, Ihr ehemaliger Französischlehrer, Ihre Nachbarin, der Koch des Traditionell. Sogar Nereida hat mir den Kopf gewaschen! Was auf High Heels nicht gerade lustig war.“ „Auf High Heels?“ Wieso war zu erwarten gewesen, dass er sich ausgerechnet diese Aussage herauspickte? „Das tut nichts zur Sache. Ich wollte einfach nur die Damenschritte lernen. Der Punkt ist folgender: Für eine Minute Gespräch über Sie durfte ich mich in der Regel fünf Minuten beschimpfen lassen. Oder bekam zumindest meine eigenen Fehler um die Ohren gehauen. Übrigens Entschuldigung für meine Worte am Tag der Beerdigung. Ich hatte keine Ahnung was vorgefallen war.“ Er hatte angenommen Chef würde ihn an dieser Stelle unterbrechen, doch es kam nichts. So sprach er einfach weiter: „Auf jeden Fall sahen Sie verboten gut aus in diesem Anzug. Nicht, dass Ihnen die Schuluniform nicht auch sehr gut gestanden hätte. Sie wollen nicht wissen, was für Fantasien ich heute noch dazu habe... Und Entschuldigung für all die anderen fiesen Sprüche. Ich hätte mir etwas anderes zum abreagieren suchen sollen. Und auch irgendwie lernen, meine Gefühle richtig zu deuten. Und besser hinzusehen. Aber Sie hatten sich so sehr verändert – zum Guten wie ich betonen will. Außerdem dachte ich, ich sehe dich nie wieder, nachdem ich dich nach dem Schulabschluss nicht mehr in Domino finden konnte.“ „Irgendwas? Nicht 'irgendwen'?“ „Wie bitte?“ Seto blinzelte verdutzt zu Chef hoch. „Du hast gerade eben gesagt ' Ich hätte mir etwas anderes zum abreagieren suchen sollen'. Nachdem ich wirklich für dich hoffe, dass du mich nicht einfach nur als Ding siehst, muss das wohl heißen, dass du dich dennoch an mir abreagieren wolltest.“ „Ja... ? Aber verstehen Sie das jetzt nicht falsch! Mit abreagieren meine ich nicht... Ich meine...“ Panik brach in Seto aus und er sah keinen Weg die Sache wieder richtig darzustellen. Vor allem nicht, als Chef einfach sein Gestammel unterbrach: „Seto Kaiba, du bist so ein verdammter Idiot!“ Merkwürdig war allerdings, dass er dabei nicht wütend klang. „Du kommst hierher, stiftest ein paar der Menschen, die mir am allermeisten auf dieser Welt bedeuten, an dir zu helfen, lieferst eine Entschuldigung aus dem Bilderbuch ab – es fehlt nur noch, dass du vor mir auf die Knie gehst – und dann bist du so leicht aus dem Konzept zu bringen. Ich fasse es nicht! Ich fasse es echt nicht! Ich muss im falschen Film sein! Wo sind die versteckten Kameras – oh bitte, ich hätte so gerne eine Aufnahme von diesem Gesichtsausdruck! Am besten mit Autogramm, um es in meinem Büro aufzuhängen.“ Ungläubig, mit offen stehendem Mund starrte Seto den anderen an, der wohl gerade den Verstand verloren haben musste. Immer noch auf seinen Knien – mittlerweile wohl eher dem Schoss sitzend – kugelte sich dieser vor Lachen. Minute um Minute. Irgendwann kippte er doch seitlich weg und plumpste neben ihm auf die Polster. Etwas ernüchtert, aber noch nicht wieder ganz Herr der Lage, wandte er sich erneut Seto zu. „Um es kurz zu machen – denn ich glaube darum geht es dir vor allem. Ich verzeihe dir – vorausgesetzt du kannst mir verzeihen.“ „Was soll ich Ihnen denn verzeihen?“, fragte Seto vorsichtig nach. „Verdammt nochmal! Hör endlich auf mich zu siezen! Das ist ja furchtbar mit dir!“ „Sag mal, bist du betrunken?“ „Nein, bin ich nicht. Aber du wirst vermutlich was zu Trinken brauchen, wenn ich fertig bin“, erwiderte Chef plötzlich ernst. Seto nickte nur und sah, wie sein Sitzpartner hart schluckte. „Dann fangen wir also mal von vorne an. Ich wusste vom ersten Moment an, dass du es warst. Ein Blick aufs Video vom Tor hat gereicht. Und auch wenn – keine Ahnung woher du das weißt – du Recht mit der Annahme hast, dass ich ziemlich lange ziemlich heftig auf dich stand, so wollte ich dich einfach nur leiden lassen. Deinen gesamten letzten Aufenthalt über habe ich dich nach Strich und Faden vorgeführt und mit dir gespielt, immer darauf lauernd, dass dir endlich ein Licht aufgeht. Das ich mir da wohl auch selbst was vorgespielt habe, ist mir erst in Domino aufgefallen. Aber so wie die Dinge nun mal gelaufen sind, hatte ich danach echt keinen Bock mehr auf dich. War eigentlich ganz angenehm beim Sex nicht ständig über dich zu fantasieren. Oh, und ich hab eines deiner Bilder als Zielscheibe fürs Messerwerfen missbraucht.“ Das brachte das Fass dann doch zu überlaufen. Es war eine Sache, wenn man mit seinen Gefühlen spielte, aber niemand, wirklich niemand, schmiss Messer nach ihm! Schwungvoll holte Seto mit der linken Hand aus und verpasste Chef eine schallende Ohrfeige. Anschließend stand er auf und ging in die Küche hinüber. „Was willst du zur Desinfektion?“ „Absinth!“ „Ist keiner da.“ „Dann nimm den Marillenschnaps, von dem müsste noch reichlich da sein.“ „Gefunden. Äußere oder innere Anwendung?“ „Innere. Ausschließlich innere. Und bring Gläser mit. Der Schnaps ist zu schade, um ihn direkt aus der Flasche zu trinken.“ Seto kam zurück, stellte die Gläser vor ihnen ab und goss dann sehr großzügig ein. „Worauf trinken wir?“ „Auf zwei Sturköpfe, die sich endlich sagen sollten, dass sie sich lieben. Au! Wieso musstest du so fest zuhauen?“ „Weil du lange darauf warten kannst, dass ich dir das andere ins Gesicht sagen werde. Außerdem sind wir jetzt so quitt. Zum Wohl!“, stürzte Seto seinen Schnaps in einem Zug runter und goss sich gleich nach. „Eisklotz!“, folgte Chef seinem Beispiel, kam aber nicht mehr dazu sich nachzuschenken. Sanft drehte Seto ihn mit der Hand, die ihn erst noch geschlagen hatte, zu sich hin. „Schon möglich, Hündchen. Aber du vergisst, dass man mit Eis wunderbar Wangen kühlen kann.“ Zaghaft, aus Angst er würde zurückzucken, küsste er die leicht geschwollene Backe. „Lüge! Deine Lippen sind definitiv zu heiß als Kühlpadersatz. Aber mir fällt da gerade was ein, wofür sie genau richtig sind.“ Ohne Vorwarnung saß Chef wieder auf Seto, nur, dass er ihn diesmal bestimmt an die Rückenlehne presste, seinen Kopf in den Nacken legte, die Hände in der Nähe dieses in die braunen Haare vergraben. Atmen wurde absolut überbewertet. Zumindest wenn es nach Seto ging, den noch nicht einmal mehr die Ameisen störten, die mit einer Horde Elefanten in und auf ihm eine Party feierten. Heiß und kalt fuhr es ihm den Rücken runter, als er den Kuss erwiderte. „Achtung! Kleiner Bruder im Anmarsch“, rief Mokuba vom Flur aus, während er die Haustür schloss. In seinem derzeitigen Gesichtsfeld war nichts Verdächtiges zu entdecken, dafür machte ihn allerdings die herrschende Stille nervös. Vorsichtig linste er an der Tür zum Wohnzimmer zuerst nach rechts und dann nach links. „Was macht ihr da!“, schrie er ungläubig auf und schreckte so seinen Bruder und den anderen jungen Mann aus ihrem Treiben auf. „Hallo, Mokuba. So früh hatte ich dich noch gar nicht zurückerwartet.“ „Es ist fünf Uhr nachmittags, Joey!“ Eine Reduktion der Lautstärke war anscheinend aktuell nicht im Rahmen des Machbaren. „Und? Das heißt nur, dass es in einer Stunde Essen geben wird – ergo sind die Zwillinge momentan besonders hibbelig und brauchen unbedingt Bespaßung.“ „Das hab ich schon den ganzen Tag über gemacht. Außerdem kann ich ja wohl mal kurz nach meinem Bruder sehen, ob er noch lebt. Seto, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Gekonnt ignorierte dieser den vorwurfsvollen Blick. „Ich weiß gar nicht, was du hast. Wir spielen Go, sind vollständig bekleidet, trinken Tee und essen ein paar Kekse.“ „Ja, aber das sind MEINE KEKSE.“ „Nö, Moki, um genau zu sein, sind das Martines. Aber verrat ihr nicht, dass wir an ihr Geheimversteck sind. Deine Kekse sind noch an ihrem sicheren Platz im hintersten Schrankfach im Kinderzimmer.“ „Woher...“ „Wie lang kennen wir uns? Aber gut, dass du da bist. Dein Bruder hat eh verloren und ich sollte noch ein wenig arbeiten, wenn die Planung für morgen funktionieren soll. Gute Nacht, Kühlschrank.“ Anmutig stand Chef auf, beugte sich quer über den Tisch zu Seto, küsste ihn auf den Mund und war nur Augenblicke später im Flur verschwunden. Sobald die Haustür ins Schloss gefallen war, brach es aus Mokuba endlich heraus: „Was. War. Das?!“ „Ein Kuss unter Freunden“, antwortete Seto kleinlaut. Daraufhin ließ sich Mokuba einfach dort, wo er stand, auf den Boden plumpsen. „Du machst mich echt fertig.“ Kapitel 13: Samstag 30.7. ------------------------- Klopf, klopf, klopf, klopf, klopf. Klopf. Ein kürzeres Klopfen und dann wieder ein langes. Nein, dieser Tag hätte gewiss nicht schöner beginnen können. Was wollte nur sein Personal bereits so früh am morgen von ihm? Noch fast schlafend schwang Seto seine Beine aus dem Bett und tapste barfuß Richtung Tür. „Kaffee. Schwarz. Sonst noch was?“, grummelte er daher, als er die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Die Frau vor ihm lächelte ihn an und... Moment! Seit wann wurde er von seinem Personal angelächelt? Irgendetwas stimmte hier nicht. „Selbstverständlich. Die Brötchen stehen schon auf dem Tisch. Aber eigentlich wollte ich zu Mokuba.“ Wieso Mokuba? „Mokubas Zimmer ist zwei Türen neben an. Das wissen Sie doch hoffentlich!“ „In Ihrer Villa vielleicht. Aber hier wäre ich nur wieder im Flur.“ Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht! Panisch riss er die Augen auf. „Was zum Teufel machen Sie hier?“, fuhr er Martine an, die nun nur noch breiter grinste. „Wie gesagt, Weckdienst für Mokuba. Er war gestern ganz begeistert, als ich ihm erzählt habe, dass ich heute mit den Zwillingen wandern gehe. Außerdem komme ich als Vorhut für Ihr heutiges Tagesprogramm. Sie haben laut meiner verlässlichen Quelle genau noch 15 Minuten Zeit, um sich umzuziehen.“ „Wie nur eine Viertelstunde für alles?“, mischte sich Mokuba von der oberen Etage des Bettes aus ein. „Nur fürs Anziehen, Kleiner – außer du willst Jo im Schlafanzug gegenüber stehen.“ Mokuba nickte nur, krabbelte zur Leiter, stieg hinunter, schnappte sich seine Sachen und drückte sich dann an seinem Bruder vorbei aus dem Zimmer. Wenige Augenblicke später war zu hören, wie die Badezimmertür abgeschlossen wurde. Das riss endlich auch Seto in die Realität zurück. „Jo kommt?“, fragte er entsetzt nach. „Ja, er wollte nur kurz noch etwas im Büro erledigen und dann nach kommen.“ Diese Ansage war nicht gut, sie war katastrophal! Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er seinen ältesten Schlafanzug trug, der doch etwas schlabberig war. Wieso hatte er das Ding überhaupt eingepackt? Ach ja, weil er so bequem war. Aber um darin vor Joseph Pegasus zu treten war er gänzlich ungeeignet. Wie besessen stürmte er aus dem Zimmer hinaus und hämmerte gegen die Tür zum Badezimmer. „Mokuba, mach auf. Ich muss da rein!“, bettelte er. „Dringend! Ich sag auch nichts mehr gegen diese übersüßten Frühstücksflocken! Bitte, komm raus! Meinetwegen darfst du auch den Wagen rückzugs fahren. Aber mach jetzt einfach endlich die Tür auf! Mokuba!!!“ Doch nichts half. Langsam konnte selbst Martine das Schauspiel nicht mehr mit ansehen und erbarmte sich seiner. „Ist ihre Kleidung im Bad?“ „Nein“, antwortete er verdutzt. Dass sie auch noch da war, hatte er vollkommen vergessen. Schnell straffte er wieder die Schultern und ging hinüber zum zweiten Schlafzimmer. Er hörte nicht, dass sie ihm folgte, also riss er einfach die Türen auf und griff sich das Nächstbeste und zog es an. Dann kam er zu ihr zurück und versuchte es probehalber noch einmal an der Badezimmertür. Vergeblich. Dafür drückte sie ihm ein nasses Küchenhandtuch in die Hand, um sich den „Schlaf aus den Augen zu reiben“. Wenigstens seine Haare seien in Ordnung. Während er vorsichtig mit den Händen diese Behauptung nachprüfte, brühte sie Kaffee auf und goss sich aus der Kanne eine große Tasse ein. „Sie sehen hervorragend aus, glauben Sie mir! Mein Neffe wird umfallen, wenn er Sie so sieht!“ Für seinen Geschmack war ihr Lächeln eine Spur zu doppeldeutig, als sie ihm eine eigene Tasse reichte, doch darüber konnte er sich keine langen Gedanken mehr machen, denn ein Arm schlang sich um seine Hüfte, während die zum anderen Arm gehörende Hand ihm die Tasse entwand. Sein Protest ging in einem gehauchten „Für das, was ich heute mit dir vorhabe, brauchst du eh nicht gestylt sein“ unter. Taktvoll tat Martine so als hätte sie nichts gehört und beschwerte sich stattdessen: „Du hattest mir zwanzig Minuten zugestanden. Nicht 10!“ „Ja, zwanzig insgesamt. Wenn du so lange brauchst, um hier her zu laufen, kann ich ja nichts dafür, oder? Heißt das eigentlich, dass du noch keine Zeit hattest, die ganze Sache mit Mokuba zu besprechen?“ „Wie denn? Der Herr blockiert seit seinem Erwachen das Bad und hört nicht!“ „Ich hatte dich damals noch gefragt, ob du wirklich ein schalldichtes Bad wolltest – erinnerst du dich?“ „Wofür braucht man ein...“, wollte Seto wissen, wurde aber gleich wieder von Chef unterbrochen, der ihn zum Esstisch schob, auf dem bereits das Frühstück bereitstand. „Ich an deiner Stelle würde gut frühstücken. Wir haben nämlich heute noch einiges vor.“ „Wie bitte?“ „Na, du wolltest doch schwimmen gehen. Oder haben sich deine Pläne etwa geändert?“ War Seto zuvor noch zu verwirrt gewesen durch den Überraschungsangriff auf seinen Kaffee, so erwachte er jetzt allmählich aus seiner Trance. „Natürlich nicht. Aber weswegen brauch ich dafür überhaupt deine Tante als Weckdienst?“ „Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dich geweckt?“ Es gab nur einen ehrliche Antwort darauf, doch Seto würde sich eher die Zunge abbeißen als sie laut auszusprechen. Wie schön wäre es gewesen, wenn sein Traum der vergangenen Nacht morgens einfach weiter gegangen wäre. Nur, dass dann Mokuba mit im Zimmer gewesen wäre. Mist. Das hätte nicht geklappt – zumindest nicht in dem Umfang wie er sich das gewünscht hätte. Außerdem... Klar, sie hatten sich versöhnt. Und ziemlich wild miteinander geknutscht. Sagte man das so? Es fiel ihm schwer sich seinen Namen mit diesem Wort in einem Satz vorzustellen. Seto Kaiba knutscht wild mit Joseph Pegasus. Das klang in seinen Ohren absolut seltsam. Oder musste er sich daran erst einmal gewöhnen? Aber sie hatten nicht besprochen, was genau das jetzt zwischen ihnen war. War es gestern nur ein Ausrutscher gewesen? Wollte auch Chef mehr? Durfte er ihn wieder als sein Hündchen ansehen? „Schickt mir Mokuba einfach nach, wenn er fertig ist und seine Sachen gepackt hat“, verabschiedete sich Martine, der wohl die Geduld fehlte auf ihren besten Freund zu warten. „Mach ich“, antwortete Chef ihr. „Ich muss ihm nur noch den Plan schmackhaft machen und dann...“ „Der Plan stammt von ihm.“ „Achso, dann muss ich mich nachher ja noch bei ihm bedanken. Aber erstmal: Frühstück!“ „Viel Spaß, euch Zweien!“ „Werden wir haben.“ Sein Grinsen war dabei so anzüglich, dass es Seto heiß und kalt den Rücken runter lief. Mit einem niedlichen Golden Retriever hatte das nichts mehr gemein. Also kein Hündchen. Sein persönlicher Höllenhund? Vielleicht etwas weniger dramatisch, doch auf die schnelle wollte ihm nichts einfallen, vor allem als die erste Brötchenhälfte zwischen den Lippen verschwand, die er für etwas ganz anderes haben wollte. Aber die Gefahr, dass Mokuba jeden Moment aus dem Bad kommen könnte, war einfach zu groß, weswegen er brav aß. Sogar das dritte Brötchen, dass ihm kommentarlos auf den Teller gelegt wurde. „Bad ist frei. Oh, guten Morgen, Joey!“ Wie konnte man nur so schamlos sein! Sein eigener Bruder schien sich keiner Schuld bewusst. „Morgen, Moki. Martine ist schon vor und lässt dir ausrichten, dass der Plan zum Einsatz kommt. Danke übrigens, dass du das Feld räumst.“ „Selbstverständlich. Noch mal so was wie gestern tu ich mir bestimmt kein zweites Mal an.“ Damit war er im Schlafzimmer verschwunden und kam mit geschultertem Rucksack kurz darauf wieder raus. „Viel Spaß, Joey. Seto, stell nichts Ungezogenes an.“ „Mokuba!“ „Was? Ich hab nichts gesagt“, klaute er sich frech beide erst geschmierten Brötchenhälften und verließ dann eilig das Haus, bevor seinem Bruder doch noch etwas einfiel, was er entgegnen konnte. „Das ist nicht lustig!“, schnauzte Seto Chef an, der lachend auf seinem Stuhl saß. „Selbst dann nicht, wenn Martine das immer zu mir sagt?“ „Selbst dann.. Mpf. … das...ist... unfair!“ „Aber es hilft bei dir.“ Schnell drückte Chef ihm noch einen Kuss auf die Lippen, und sagte dann: „Du solltest noch ein Brötchen essen und in der Zeit, die wir danach warten müssen, spül ich ab und du kannst dich in aller Ruhe umziehen.“ Wie gern hätte er dagegen protestiert, dass er nicht mehr geküsst wurde, aber hätte er dann nicht wie ein kleines, quengeliges Kind gewirkt? Also fragte er stattdessen: „Wieso umziehen?“ „Wolltest du nicht im Meer schwimmen gehen?“ Wann hatte er …? „Zumindest hast du mich im Februar danach gefragt. Und heute ist das Wetter gut und in ungefähr einer Stunde beginnt die beste Zeit zum Baden. Also, was ist?“ Das hatte er sich wirklich gemerkt? „Ja, können wir machen.“ Das hatte Chef also vorhin gemeint, das Styling sei egal. Schade. Er hatte auf etwas anderes gehofft – oder war er einfach zu ungeduldig? Und was war das eigentlich, dass er plötzlich alles hinterfragte und unsicher war? Das hielt er jetzt schon kaum im Kopf aus. Tief ein und ausatmend rief er sich in Erinnerung, dass er Seto Kaiba war, der Seto Kaiba, der immer einen Plan hatte, immer wusste, was zu tun war, und nur so vor Selbstbewusstsein strotzte. Dennoch hätte er sich fast an den letzten Bissen seines Frühstücks fast verschluckt, was er mit großen Schlucken Kaffee zu überspielen versuchte, während Chef in der Küche bereits das Wasser in die Spüle einließ. Anschließend fragte er betont lässig, ob er helfen solle. „Nein, du kannst mir zwar noch gerade dein Geschirr bringen, aber den Rest bekomm ich alleine hin. Zieh dich lieber schon mal um – am besten eine Badehose, die nicht zu weit ist. Manchmal ist die Strömung doch ziemlich tückisch.“ Grübelnd stand Seto also erneut vor dem Kleiderschrank. Seine Sachen hatte er schon wieder ausgezogen und ordentlich aufs Bett gelegt. Allein der Gedanke, dass Chef mit ihm in einem Raum war, sich quasi nur anzuschleichen bräuchte, um ihn so zu sehen, machte ihn nervös. Nicht zu weit also. Spontan griff er nach etwas in leuchtendem Blau, das noch nicht einmal mehr einen Beinansatz hatte. Das dürfte wohl der Strömung am wenigstens Angriffsfläche bieten. Dass er damit aber anderem sehr wohl mehr als genug Angriffsfläche bot, merkte er erst, als er zu Chef hinaus schlenderte. Immer noch in langer Hose und Hemd hatte er sich quer auf die Terrassendielen gelegt, als hielte er dort ein kleines Nickerchen. Doch seine Augen öffneten sich sofort, als sich Seto ihm näherte. „Lass dich mal ansehen“, forderte er und ließ seinen Blick von oben nach unten entlangwandern. „Du bist ziemlich blass“, befand er nach einer ausführlichen Musterung, die eine Drehung seitens Seto beinhaltete, damit dieser nicht mitbekam, wie Chef sich genüsslich die Lippen leckte. „Wir sollten dich eincremen, bevor es ins Wasser geht – nur um sicher zu gehen, dass du dir keinen Sonnenbrand holst.“ „Aber ich bin doch braun.“ „Für einen ewigen Bürohocker vielleicht. Aber es geht inzwischen stark auf Mittag zu und ich vermute, dass dein letzter richtiger Sonnenbrand schon eine Weile her ist. Ich hol kurz die Sonnenmilch aus dem Bad. Martine müsste da noch Wasserfeste gebunkert haben.“ Flink war er aufgesprungen und nach drinnen verschwunden. Gerade lang genug, damit sich Seto wundern konnte, was mit „wir“ gemeint war. „Ich fang bei deinem Rücken an, okay?“ Achso, er wollte ihm einfach nur bei den Stellen helfen, an die er selbst nicht dran kam. Daher überlegte er auch kein zweites Mal, sondern dreht ihm einfach den Rücken zu und konzentrierte sich darauf beim ersten Kontakt mit der Sonnenmilch nicht zusammenzuzucken. Aber eigentlich spürte er die Kühle kaum, da sie von zwei warmen Händen verstrichen wurde, die ihn gleichzeitig etwas massierten. „Arme ausstrecken.“ Wohl um Lücken beim Übergang zu vermeiden. Er gehorchte mit geschlossenen Augen. Doch dann wurde es plötzlich kühl an der Innenseite seiner Oberschenkel. Was?! Überrascht sah er nach unten. Chef hatte sich seines Hemdes entledigt und widmete sich gerade sehr ausführlich dem Sonnenschutz auf seinen Beinen, wobei sein Kopf gerade einmal nur noch zehn Zentimeter von der Stelle entfernt war, die durch den Stoff geschützt war – zumindest vor der Sonne. Vielleicht wäre etwas Weiteres doch sinnvoll gewesen, besonders da Chef bis zum jeweiligen Ende des Stoffes cremte, ganz sacht, ganz leicht. Trotzdem waren das eindeutig Chefs Finger, die da erst über seinen Po fuhren und dann sich fast unter den oberen Bund schoben. Fast hätte Seto protestiert, als sie damit fortfuhren seine Brust einzureiben. Erst als bis auf das Gesicht kein Zentimeter Haut mehr übrig war, der nicht juckte und prickelte ob der warmen Berührung, wurde er gefragt: „Willst du den Rest selbst machen?“ Chef stand ihm jetzt wieder ganz normal gegenüber und blickte ihm so tief in die Augen, dass er selbst glaubte mindestens drei neue Brauntöne entdeckt zu haben, von der die Welt bis dahin noch nichts wusste. „Dann könnte ich schon einmal die Handtücher von drinnen holen.“ Seto nickte nur. Wieso küsste ihn dieser verdammte Bastard nach so einer Behandlung nicht einfach? Doch um es selbst zu tun, fehlte ihm gerade die Kraft. Sich gerade auf zwei Beinen zu halten war schon anstrengend genug. Also spürte er wie ihm die Flasche in die Hand gedrückt wurde und versuchte sich schnellst möglich einzucremen. Selbst die Ohren vergaß er dabei nicht – zu gut erinnerte er sich an seinen letzten Sonnenbrand an dieser Stelle. „Fertig?“ „Ja.“ Allmählich vertraute er zumindest wieder seiner Stimme, zuvor war ihm die Gefahr zu groß gewesen, urplötzlich zu stöhnen. „Gut, dann komm mit.“ Die Handtücher in der einen Hand, Setos Hand in der anderen ging Chef hinunter zum Strand. Die Sandkörner klebten sich sofort auf die frisch eingecremte Haut, aber das hatte er schon mit eingerechnet. „Solange die Creme noch einzieht, erklär ich dir noch kurz das Gewässer. Einverstanden?“ „Meinetwegen.“ Seto fühlte sich zwar knieabwärts wie ein paniertes Schnitzel, aber das ständige Kribbeln seiner Hand ließ ihn das vergessen. „Also. Wir stehen direkt vor einem Priel. Bei Ebbe ist der ungefähr hüfttief, hat aber eine starke Strömung, die nach Norden zieht. Beim Wasserstand jetzt kann man nicht mehr drin stehen. Dafür gibt es aber ungefähr 30 Meter von uns entfernt eine ziemlich breite Sandbank. Drüber hinaus sollte man aber auf gar keinen Fall, denn danach wird es sehr schnell sehr tief und die normale Strömung nimmt dort wieder zu.“ Chef hatte die Handtücher in den Sand gelegt und deutete mit seiner freien Hand in die Ferne. „Oder, um es kurz zu machen, schwimm einfach nicht weiter hinaus als ich.“ „Wohl Angst, dass ich dich beim Wettschwimmen besiege?“, antwortete Seto trocken. „Wovon träumst du nachts? Aber wir können das gerne hier und jetzt klären“, konterte Chef angriffslustig und ging vor bis zur Wasserkante. „Den Beginn der Sandbank müsstest du auch alleine finden – ansonsten kannst du dich ja an mir orientieren. Bereit?“ „Selbstverständlich!“ „Drei, Zwei, Eins.“ Mit großen Schritten watete er ins Wasser, bis es ihm zur Hüfte reichte, ließ sich dann vollständig hineingleiten und begann zu kraulen. Sein Kontrahent wollte indes hinterher und erstarrte bereits beim ersten Schritt ins Nass zu Eis. Hilfe war das kalt! Das konnte nicht der Ernst des anderen sein! Aber der war schon ganz vergnüglich ein ganzes Stück voraus, inzwischen auf dem Rücken schwimmend. Kneifen galt also nicht. Die Zähne zusammenbeißend rannte er tiefer hinein, bis er schlagartig keinen Grund mehr unter den Füßen hatte, dann setzte er selbst an zu kraulen, immer sein blondes Ziel vor Augen. Doch kaum hatte er ihn nach schier endlosen Minuten erreicht, trat er einfach zur Seite. Die neckenden Worte trafen ihn, wenn er ehrlich zu sich wahr, weniger als die Tatsache, dass er ihm immer auswich, sobald er sich ihm auf Armeslänge näherte. Hatte da etwas jemand Angst er würde getunkt werden? Immerhin war er es nach zwei Stunden im Wasser endlich leid und schlug vor, dass sie zurück an den Strand sollten. Seto war das nur Recht. Trotzt der ganzen Bewegung, unter anderem durch drei weitere Wettschwimmen, war ihm inzwischen kühl. Der Sand hingegen brannte unter seinen Füßen, während er versuchte sich mit dem Handtuch abzutrocknen. Und schon wieder klebte er an ihm. Wunderbar! Der Traum seiner schlaflosen Nächte stand mit nach hinten gestrichenem nassen Haar und funkelnden Oberkörper neben ihm und er fühlte sich als wäre er ein Sandmonster. „Du solltest dir das Salzwasser abwaschen. Und auch versuchen es aus der Badehose zu bekommen“, riet Chef ihm. Doch Seto sah ihn nur verständnislos an. Sollte er etwa direkt auf dem Strand seine Badebekleidung auswringen? Seine Verständnislosigkeit war ihm wohl ausnahmsweise ins Gesicht geschrieben, denn Chef fasste nach: „Stell dich einfach unter die Dusche, um den Rest kümmer ich mich. Versuch aber bitte, bevor du das Haus betrittst mit dem Handtuch den gröbsten Sand los zu werden.“ Seto trottete ihm hinterher und beobachtete ganz genau, wie er sich geschickt vom Sand befreite. Unter strenger Aufsicht versuchte er es dann so gut es ging nachzumachen. Anschließend steuerte er mit größtmöglichen Schritten das Badezimmer an, öffnete die Tür und wollte sie schon schließen, als sich jemand zweites mit hinein schob. „Hast du schon mal was von Privatsphäre gehört, Köter?“ „Ja, habe ich. Ich will mir ja auch nur kurz ein Handtuch holen und aus der nassen Hose raus, wenn es denn dem Herren genehm ist.“ „Oh, bitte. Tu dir keinen Zwang an. Du kannst dich in aller Ruhe hier umziehen“, erwiderte Seto da gönnerhaft. „Von dir habe ich ja eh nichts zu befürchten.“ „Wie kommst du zu dem Schluss?“ Chefs Augen blitzten kurz gefährlich auf. „Wer den halben Tag die Finger von mir lassen kann, wird mich wohl kaum im Badezimmer überfallen. Also, dann mach. Zieh dich endlich um, Falls du mich suchst – ich bin in der Dusch-“ Das war eindeutig zu viel des Guten gewesen. Innerhalb weniger Augenblicke fand er sich mit dem Rücken an der Wand in der Dusche wieder. Wie er dorthin gekommen war, kapierte er erst, als er ein kleinwenig aufsah mitten in dunkle Augen, die nichts Gutes verhießen. „Nur, weil ich mich für dich in der Öffentlichkeit zurückhalte, heißt das noch lange nicht, dass mir nicht tausend Dinge durch den Kopf schießen würden, die ich gerne mit dir anstellen würde“, knurrte Chef, sich so an Seto pressend, dass dieser ihm nicht entkommen konnte. Nicht, dass er es gewollt hätte. „Weil unser Schwimmen ja so öffentlich war. Das ich nicht lache! Du hast dich einfach nur nicht getraut und bist die ganze Zeit über vor mir abgehauen!“ „Denkst du das wirklich?“ „Ja.“ „Und dich nenne sie ein Genie. Unfassbar! Da kapierst du noch nicht einmal, dass man uns ab einer bestimmten Entfernung vom Ufer von allen Häusern aus sehen kann, und hältst dich selbst für schlau genug, eine dicke Lippe zu riskieren.“ Kurz überschlug Seto das in einem Modell und kam zähneknirschend zu dem Ergebnis, dass es stimmte. „Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie viel Selbstbeherrschung es kostet, mehrere Stunden lang die Hände von deinem süßen, kleinen Hinterteil zu lassen?“, hauchte Chef ihm ins Ohr. Die anfängliche Empörung war fast vollständig gewichen, übrig blieb etwas, was bereits sehr verrucht klang. Aber egal was auch immer Seto darauf hatte erwidern wollen, er kam nicht mehr dazu. Mit einer Gänsehaut am ganzen Körper, die nur teilweise auf die kalten Fließen hinter ihm zurückzuführen waren, wurde er Zeuge wie einfach man seinen Kopf ausschalten konnte. Man brauchte einfach nur die Fähigkeit das Wasser einzuschalten und gleichzeitig wild und dennoch geschickt zu küssen. Vielleicht hätte er sich vorher über giftige Quallenarten im Meer informieren sollen, denn das ständige Kribbeln seiner Haut war schon nicht mehr normal. Oder etwa doch? Immerhin bemühte sich Chef um so viel Hautkontakt wie möglich, wobei seine Hände immer wieder auf dem Körper seines Opfers auf und abwanderten. Dieses wusste noch nicht einmal mehr wie schließlich ihre Badehosen auf dem Boden der Kabine gelandet waren. Fest stand für ihn nur, dass er eindeutig zu empfindlich reagierte, wenn ihn jemand anderes einseifte, und, dass es definitiv zu wenig Möglichkeiten zum Festhalten gab. Denn der Blondschopf vor ihm war dafür eine ganz schlechte Idee. „Wie war das? Du willst nicht, dass ich etwas überstürze?“, traute er sich in einem etwas klareren Moment zu fragen. Inzwischen war er zu fast allem bereit, der andere müsste nur danach fragen. Aber gerade war er wohl mit anderen Dingen beschäftigt, genauer gesagt, damit sich ein zweites Mal gründlich von oben bis unten einzuseifen. „Du willst wirklich, dass ich noch einmal darüber nachdenke?“ Energisch schüttelte Seto den Kopf und erhielt ein schelmisches Lächeln zur Antwort. „Dann tu mir den Gefallen und warte im großen Bett auf mich.“ Chef zog ihn noch einmal zu sich in einen langen Kuss, bevor er ihn von sich weg nach draußen schob. Nur äußerst widerwillig gehorchte Seto, unsicher was diese Aktion sollte. Einfach ein großes Handtuch um sich schlingend verließ er beinahe fluchtartig den Raum und verpasste so den tiefen Seufzer aus der Dusche. Allmählich wurde Seto unruhig. Mittlerweile lag er fast eine Viertelstunde auf dem Handtuch, dass er über die Bettdecke auf der linken Seite ausgebreitet hatte. Bereits mehrmals hatte er durchgerechnet, dass diese Zeit locker dazu gereicht hätte, sich abzubrausen, abzutrocknen und sogar noch einmal zu erleichtern. Dennoch hörte er nicht das leiseste Geräusch aus dieser Richtung. Dieser Schallschutz war Segen und Fluch zugleich. Gerade noch war er der sanfte Dämpfer seiner Sorgen um seine eigene Lautstärke gewesen, doch jetzt schon war sie ihm absolut zu wider. Natürlich hätte er schauen können, wo der Hotelmanager blieb, aber was hätte er dann von ihm gehalten, wenn er ihn direkt vor der Tür angetroffen hätte? Da! Was war das? Schnell raffte er sich in die Pose hoch, die er sich während der Pausen in seinen Berechnungen überlegt hatte: halb liegend, halb sitzend, den Oberkörper auf den Ellbogen abgestützt, ein Bein leicht angewinkelt, den Kopf herausfordernd gehoben, sodass er selbst einen guten Anblick bot, aber auch gleichzeitig alles sehen konnte, was da auf ihn zukam. „Du hast den Boden vollgetropft“, tadelte Chef, selbst vollkommen trocken bis auf die wieder ordentlichen Haare. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass es gar nicht so eilig ist. Wenn du drauf bestehst wische ich es später selbstverständlich weg“, meinte Seto daraufhin gelangweilt, um nicht zu sehr zu verraten, dass gewisse Stellen an ihm deutlich dringender Aufmerksamkeit brauchten als der Boden. „Achso, ist das. Na dann. Aber zumindest um die Tropfen hier vorm Bett sollte ich mich noch schnell kümmern.“ Mit einer leichten Hüftbewegung glitt sein Handtuch nach unten und offenbarte auch den Rest seines Körpers, der beim Schwimmen bedeckt gewesen war und während des Duschens nicht wirklich gut ersichtlich. Seto musste zugeben, dass es sich durchaus sehen lassen konnte. Vielleicht müsste er sich sogar einen anderen Kosenamen überlegen, zumindest kamen ihm die üblichen Hundvergleiche seltsam unpassend vor. Betont langsam krabbelte Chef nun vom Fußende auf ihn zu. Noch berührten sie sich nicht, auch wenn er sich bereits komplett über ihm abstützte. „Und du bist dir wirklich sicher, dass du es willst?“ Ungeduldig blickte Seto zu ihm hoch. „Du hast selbst gesagt, es sollte jemand Besonderes für mich sein – und besonderer als du geht ja wohl schlecht.“ „Dann bekommst du jetzt das Komplettprogramm – aber beschwer dich hinterher nicht.“ Vorsichtig ließ er sich so weit runter sinken, dass sie Körper auf Körper lagen, er aber noch einen Teil seines Gewichtes selbst trug. Unendlich langsam setzte er sich in Bewegung – als ob man Seto noch weiter hätte reizen müssen. Nur am Rande bekam er mit wie der Mann über ihm die Nachttischschublade öffnete und ihn ihr herumkramte. Oder vielmehr sie ausräumte bis er den Boden anheben konnte und mehrere Packungen verschiedener Kondome und eine Flasche Gleitgel zu Tage förderte. Inzwischen kneteten auffordernde Hände eine Pobacken, um zu verdeutlichen, was ihr Besitzer wollte. Doch wurde ihnen der Zugriff plötzlich erschwert, denn Chef richtete sich auf und rutschte ein Stück Richtung Knie, um den anderen genauer zu mustern. Nachdenklich griff er nach zwei der Packungen, las sich in Ruhe die Beschriftung durch und entschied sich dann schließlich für eine, aus der er eine dünne, rechteckige Verpackung holte. „Du bist dir immer noch sicher?“, holte er sich ein letztes Mal die Einverständnis des anderen ein. „Ja, verdammt! Und jetzt komm endlich her!“ Setos Geduld war bis ans Äußerste gespannt. Auf Gedeih und Verderb war er seinem Hündchen ausgeliefert. Vorherige Versuche die Position zu tauschen, waren gnadenlos gescheitert. Gleichzeitig betete er in einem Fort ein Mantra vor sich hin: Nicht zu früh kommen, nicht schon jetzt kommen. Kein leichtes Unterfangen, wenn der Typ, der einem wohl gleich die Jungfräulichkeit – wie sich das schon wieder anhörte! Vollkommen unpassend für einen weltgewandten Mann wie Seto Kaiba – nehmen würde, etwas langsamer und insgesamt enger fassend als notwendig das Kondom überzog. Anschließend spürte er nur noch Hitze und Enge, viel Hautkontakt, Lippen, ab und zu Zähne, fremde Haarsträhnen, die in sein Gesicht fielen, Schweiß, der nur für mehr Spiel in ihren Bewegungen sorgte, aber in keinster Weise so streng roch wie zum Beispiel nach dem Sportunterricht. Die Augen offen zu halten fiel ihm schwer. Wenn es ihm doch einmal gelang, sie zu öffnen, verdrehte er sie augenblicklich vor Lust, sich gewahr werdend, dass er die ganze Zeit aus diesen unheimlich tiefen, dunklen Augen beobachtet wurde. Letzten Endes war ihm auch das egal, als er endlich Erlösung fand. Berauscht von dem Gefühl, dass sich von seinen Lenden aus in seinem gesamten Körper ausbreitete, bekam er kaum mit, wie Chef sich neben ihn legte, bei Weitem nicht so außer Atem wie er selbst. Eine Weile lagen sie so nebeneinander, beide auf dem Rücken ihren eigenen Gedanken nachhängend. „Hättest du die Güte nun auch deinen Pflichten nachzukommen“, fragte Chef vorsichtig. „Pflichten?“ Seto verstand kein Wort. Er war doch keinerlei vertragliche Verpflichtung eingegangen. Was wollte man also von ihm? „Wenn dich das Wort so stört kannst du es auch gerne 'nette Geste zwischen zwei Personen, die miteinander schlafen' nennen“, versuchte Chef die Sache etwas genauer zu erläutern. „Nette Geste?“ „Nun ja, es ist ja ganz nett, dass dein erstes Mal mit einem Orgasmus für dich geendet hat, aber als Liebhaber musst du wirklich noch eine Menge lernen!“ Da dämmerte es Seto langsam und sein Blick wanderte von den noch leicht geschwollenen Lippen über die sich regelmäßig hebende und senkende Brust hinunter zu der Zone, die so tat als hätte es die Begebenheit zwischen ihnen nicht gegeben. „Ach das meinst du! Ich … war vielleicht ein klein wenig abgelenkt.“ Fieberhaft überlegte er, wie er am besten Herr über das Problem werden könnte, doch in den meisten Fällen war seine eigene Unerfahrenheit ihm im Weg. So entschied er sich schließlich für etwas, dessen Technik er jahrelang selbst erprobt hatte. Aber auf halben Weg nach unten wurden seine Hände abgefangen. „Was genau hast du vor?“ „Meine Pflichten einhalten.“ „Das ist mir schon bewusst, aber du wolltest doch vorhin das Komplettprogramm, wenn ich mich recht entsinne.“ Seto nickte und sofort saß Chef zwischen seinen Beinen, die hellen Hände immer noch in seinem Griff. „Und wo du schon einmal so schön unter mir liegst, kann ich dir gerne noch ein paar Dinge beibringen.“ „Wie bitte?!“, entfuhr es Seto. Das konnte wohl nicht ganz sein Ernst sein! Klar, die Situation war eindeutig, aber so hatte er sich das garantiert nicht vorgestellt! „Ich dachte eben, du wärst ein klein wenig neugierig...“ „Das schon“, knirschte Seto, „aber...“ Aber was? Was verlor er schon, wenn er es einmal zu ließ? Und genau genommen hatte Chef ja auch bei der vorherigen Runde die Zügel in der Hand gehabt. Er selbst war viel zu sehr mit all den neuen Eindrücken beschäftigt gewesen, um groß aktiv ins Geschehen einzugreifen. Trotzdem hatte es ihm gefallen. Wieso also mal nicht etwas ausprobieren, wo er gerade die Gelegenheit dazu hatte? „Also gut“, antwortete er schließlich, „du darfst oben liegen . Aber ich warne dich! Bist du nicht sanft genug mit mir, werde ich dir die gesamte Hotelanlage zusammen schreien!“ Verdutzt blinzelten sie sich gegenseitig an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Er wollte es sanft? Er war ein knallharter Geschäftmann, keiner dieser Waschlappen, die... „In Ordnung“, flüsterte Chef gegen seine Lippen. „Ich werde so sanft zu dir sein, dass dir selbst dein weichestes Hemd danach kratzig erscheinen wird.“ Zumindest war der darauf folgende Kuss unglaublich zart, so als hätte eine Feder über seinen Mund gestrichen. Und auch die weiteren Küsse, die sich immer mehr seinem Bauchnabel näherten, spürte Seto nur deswegen, weil jede einzelne Zelle in ihm gespannt die nächste Berührung erwartete. Dort angekommen, löste die Zunge kurz mit wenigen Stubsern ihre Torwärter ab, bevor diese ihre Reise in südlicherere Gefilde antraten. Unterbrochen wurde sie nur, als es mit geschickten Händen und weichen Taschentüchern an die Spurenbeseitigung ging. Dennoch war Chef anscheinend mit dem Ergebnis unzufrieden und half erneut mit der Zunge etwas nach. So hatte er als Nebeneffekt auch die Hände frei, um sich anderen Aufgaben zu widmen. Zunächst verkrampfte Seto sich. Ungeachtet all der Hinweise, die er inzwischen gelesen hatte, war es einfach unglaublich schwer sich zu entspannen, während ihn warme Finger mit kühlem Gel auf das Kommende vorbereiten wollten. Er wusste, dass ihm das einigen Schmerz ersparen würde, aber auf der anderen Seite fühlte es sich einfach nur seltsam an. „Soll ich aufhören?“ Das Ausmaß an Sorge in Chefs Blick verschlug Seto fast die Sprache, jedoch gelang es ihm ein „Nein, es geht schon. Mach weiter.“ hervor zupressen. Konnte er sich überhaupt daran erinnern jemals so betrachtet worden zu sein? Keine Sekunde wurde er aus den Augen gelassen und letzten Endes war dies ausschlaggebend. Gebannt versank er endlich vollends in ihnen, wagte kaum zu blinzeln aus Angst, eine Nuance der in ihnen widergespiegelten Gefühlen zu verpassen. Er erlaubte es sich, sich fallen zu lassen, ganz in den Emotionen, die ihn immer wieder überrollten zu versinken, die Kontrolle abzugeben und vollkommen in etwas anderem aufzugehen. Wie viel Zeit insgesamt vergangen war, konnte er nicht mehr mit Gewissheit sagen, doch als Chef endlich wieder neben ihm lag, mit dem zufriedensten Lächeln, dass er je an ihm gesehen hatte, äußerte er schlicht: „Unglaublich.“ Chef wandte den Kopf zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Dann wird es dir ja nichts ausmachen, von nun an immer unten zu liegen.“ Doch diesen Satz bekam Seto nur noch verschwommen mit. Warum hatte ihm keiner je gesagt, wie müde man wird, wenn man rund um glücklich war? Kapitel 14: Sonntag 31.7. ------------------------- Mühsam versuchte Seto sich auf den Rücken zu drehen, doch er konnte nicht. Etwas warmes, großes lag so nahe bei ihm, dass es in diese Richtung keine Möglichkeit gab. Probeweise versuchte er es mit Bauchlage und auch dieses mal gelang es ihm nicht, doch war es in diesem Fall ein starker Arm der sich um ihn geschlungen hatte und nicht losließ. Beruhigt schlief er wieder ein. Mehrere Stunden später wachte er wieder auf und wiederholte das Experiment. Auch jetzt gelang es ihm nicht. Also entschied er sich für einen Strategiewechsel und streckte die Beine nach vorn. Zumindest war es das, was er beabsichtigt hatte, denn stattdessen drückte er dabei eigentlich sein Becken nach hinten und war schlagartig wach. Entsetzt drehte er sich auf der Stelle um und fauchte den Mann neben ihm an: „Was machen Sie in meinem Bett?“ „Guten Morgen, Seto“, grummelte es ihm entgegen. „Ich fand gestern Nacht auch wunderschön.“ Anschließend erhielt der Ruhestörer sogar einen Kuss auf die Stirn, bevor sich Chef wieder an ihn kuschelte – wohl eher wieder zu sich zog – und einnickte. „He, ich hab dir eine Frage gestellt, Wheeler!“ Seto passte dieses Verhalten gar nicht. Wieso ließ sich sein Hündchen nicht mehr von ihm einschüchtern? „Wheeler!“ „Wenn schon Nachname, dann Pegasus“, wurde gegen seine Stirn gemurmelt. Die Flohschleuder besaß doch tatsächlich die Kühnheit einfach weiter zu schlafen, wenn er mit ihm streiten wollte! Dabei hatten sie sich doch gerade erst so schön gestritten und er hatte überlegt wie er die Situation zu seinen Gunsten drehen konnte, um seinem Hündchen endlich Manieren beizubringen. Erschrocken riss er die Augen auf. Das war nicht die Realität. Das war ein Traum gewesen. Eindeutig. Schließlich war er keine zwanzig mehr. Deswegen auch Pegasus und nicht Wheeler. Joseph Pegasus lag neben ihm wie Gott ihn geschaffen hatte, eng an ihn geschmiegt und döste selig vor sich hin. Hatten sie gestern Nachmittag wirklich...? Dann war das hier doch eindeutig der Traum. Nie im Leben hätte er es geschafft, dass Joey Wheeler, wie auch immer er jetzt heißen mochte, mit ihm schlief. Und dabei leise seinen Namen sagte, während er für jeden Meter, den er von anderen Menschen entfernt war, dankbar gewesen war. „Es muss dir nicht peinlich sein.“ „Was?!“ „Mit mir zu kuscheln. Es muss dir nicht peinlich sein.“ Chef war ein Stück runtergerutscht, um ihm in die Augen sehen zu können. „Oder kuschelst du nicht gern? Kein Problem. Dann...“ Hastig brachte er etwas Abstand zwischen sie. Aber Seto erwiderte nur so frostig wie möglich: „Da geblieben!“ Mühsam versuchte er Chef zu sich zu ziehen, wie er es zuvor bei ihm gemacht hatte, scheiterte jedoch. Allerdings quiekte er, als er seinerseits gezogen wurde – auf einen durchtrainierten Bauch. Zaghaft traute er sich die belustigten Lippen zu küssen. Selbstverständlich als Strafe für die Tat. Sachte bewegte er sich und beobachtete zufrieden, wie sich ein Paar dunkelbrauner Augen verdrehte. „Ich hatte nur noch nie die Chance zu testen, ob ich es mag.“ „Dann sollten wir das ganz schnell ändern!“ Die Bettdecke wurde bis zu seinen Hüften hinunter geschoben und Seto hätte nicht sagen können, ob seine Gänsehaut daher rührte oder von den Händen die kaum seine Haut berührten, während sie seinen Rücken hoch und runter fuhren. „Mehr!“, forderte er. „Du weißt aber schon, dass zum Kuscheln Genießen gehört – und ein klein wenig Geduld, da man nicht direkt über den Partner herfällt?“ Seine Antwort wurde ersetzt durch ein laut vernehmbares Knurren zwischen ihren Bäuchen. „Scheint so, als hätte dein Magen nicht die Geduld dazu“, stellte er trocken fest. „Was erwartest du denn auch. Ich hab seit dem Frühstück gestern nichts mehr gegessen, war schwimmen und hab dich nach allen Regeln der Kunst vernascht. Etwas mehr Nachsicht bitte. Hopp! Aufstehen! Ich hab Hunger!“ „Vergiss es! Ich mach dir doch kein Frühstück! So weit kommt's noch!“ Prompt landete er auf der Matratze. „Na, dann eben nicht.“ Chef stand auf und ging in den Wohnzimmerbereich hinüber. Eins musste Seto ihm schon lassen, selbst seine Rückseite sah äußerst verlockend aus. Nur diese roten Striemen auf dem Rücken störten etwas das Bild. „Was ist das?“, wollte er wissen. „Das da auf deinem Rücken.“ Chef wandte ihm den Kopf zu. „Das da? Immer drei bis vier Striche parallel von der Wirbelsäule ausgehend?“, präzisierte er. Seto nickte. „Das warst du.“ Damit setzte er sich wieder in Bewegung. Offensichtlich hatte er zur Kontrolleinheit gewollt, denn Seto hörte ihn folgendes sagen: „Morgen. Ich bin's. Ja, ich weiß, dass es fast schon Mittag ist. Bekomm ich trotzdem noch was zum Frühstücken? Yuki hat ungefähr eine halbe Stunde Zeit, in der sie gefahrlos das Haus betreten kann.“ „Gefahrlos heißt, ohne dass sich Shin mit dir duellieren muss, um ihre Ehre wieder herzustellen, weil sie einen nackten Mann gesehen hat?“, versicherte sich Hans. „Ja.“ „Gut, dann schick ich sie gleich los.“ „Danke.“ Währenddessen beschäftigte Seto eine ganz andere Frage. Wie hatte er das mit Chefs Rücken angestellt? Klar, er hatte sich im Eifer des Gefechts in dessen Rücken gekrallt, aber das konnte doch nicht solche Spuren hinterlassen. Oder etwas doch? „Nimmst du mit mir ein Bad? Die Wärme wird dir gut tun.“ „Ich kann auch einfach duschen.“ Waren seine Fingernägel wirklich so scharfkantig? „Das wird bei dir nicht reichen. Deine Muskulatur muss sich entspannen und da hilft Wärme nun mal am Besten. Auch bei Muskelkater übrigens.“ „Ich hab keinen Muskelkater!“ Wobei, … er schnitt sie in letzter Zeit, statt sie zu feilen... „Du liegst ja momentan auch noch im Bett! Wenn du es zu mir schaffst, ohne, dass dir irgendetwas weh tut, darfst du duschen, ansonsten heißt es Wanne für zwei!“ „Wenn du...“ Schwungvoll hatte Seto die Beine aus dem Bett befördert und war aufgestanden. Einen Augenblick später konnte er nicht mehr sagen, was ihm nicht wehtat. Sich keine Blöße geben wollend biss er die Zähne zusammen und wankte auf den anderen zu. An normales Gehen war momentan nicht zu denken. „Ich lass schon mal das Wasser ein“, entzog sich dieser seinem Griff und ging zur Badezimmertür. Bis Seto es dahin geschafft hatte, war der Boden der Wanne bereits mit Wasser bedeckt und eine schöne Schaumschicht stieg weiter an. Chef legte Handtücher neben den Rand und setzte sich hinein. „Und?“ „Wanne.“ „Sag ich doch!“ Er streckte die Hand aus, damit Seto leichter hineinsteigen konnte und nicht ausrutschte. Der Dank bestand darin, dass seine Hand beinahe zerquetscht wurde, doch er beschwerte sich nicht, achtete nur auf jede kleine Bewegung, jedes Schwanken. Als er ihm schließlich gegenüber saß, entschlüpfte ihm ein leises „Here we are again.“ „Wie bitte?“ „Naja, wir sitzen wieder in der Wanne. Gemeinsam. Das letzte Mal hast du mich über Joey Wheeler ausgefragt. Ich hab mich nur gerade gefragt, ob du das dieses Mal wieder tun wirst.“ Zur Antwort zuckte Seto mit den Schultern. „Mal sehen. Momentan beschäftigt mich eher die Frage, ob ich für dich nur eine Affäre bin, ein One-Night-Stand.“ Es erstaunte ihn, wie leicht ihm dieses Geständnis über die Lippen kam. Denn der Zweifel hatte sich allmählich in ihm breit gemacht, wie die Angst, dass er jeden Moment erwachen könnte. Was ein lächerlicher Gedanke war, denn für einen Traum tat ihm einfach viel zu viel weh. „Wieso glaubst du das?“ „Keine Ahnung. Aber es ist naheliegend, oder?“ „Vielleicht...“ Chef lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. „Mag sein, dass es für andere zutrifft. Aber bei dir bin ich mir noch nicht sicher. Doch wenn es dich beruhigt. Wärst du ein gewöhnlicher One-Night-Stand, wärst du heute morgen allein aufgewacht.“ „Seit wann ist etwas an mir gewöhnlich?“, entgegnete Seto sarkastisch. Das wäre ja auch noch schöner! „Sag ich doch. Außerdem kuschel ich mit denen nicht. Und keinen von denen hätte ich die Oberhand gelassen. Das war übrigens eine Ausnahme – selbst für dich.“ Was ihn eigentlich beruhigen sollte, versetzte ihn nun in helle Panik. Es war eine Ausnahme gewesen. Wollte er damit andeuten, dass er nun immer unten liegen würde? Das konnte er sich aber gleich mal wieder abschminken! Wenn hier jemand den Takt vorgab, dann wohl er selbst – ausschließlich er. Auf der anderen Seite... Es hatte ihm gut getan sich einfach fallen zu lassen, nur noch instinktiv zu reagieren und nicht darüber nachzudenken, wie er den anderen übertrumpfen könnte. „Wie fandest du es?“, fragte er vorsichtig nach einer Weile. „Du bist noch ziemlich grün hinter den Ohren.“ „Na danke! Das war schließlich mein erstes“ „Das ist mir bewusst. Und du machst es nicht gerade besser, wenn du mich nicht ausreden lässt. Immerhin will ich dich nicht mit einem nicht ernstgemeintem 'Spitze!' abfertigen. Ganz ehrlich? Ich könnte süchtig nach dir werden.“ Chef hatte immer noch die Augen geschlossen, sah ihn nicht an, ließ sich nicht anmerken, ob er Setos überraschtes Keuchen gehört hatte. „Ich finde es unglaublich, dass du mir einfach vertraut hast. Ich hatte immer erwartet, dass du bei unserem ersten Mal mehr rumzickst, alles kontrollieren willst. Allerdings könntest du ein kleinwenig aktiver werden.“ Das war wohl ein Scherz! Erst sich darüber freuen, dass er sich nicht eingemischt hatte und dann fordern, dass er aktiver wurde! Aber das konnte er haben wenn er wollte! Möglichst geräuschlos richtete er sich auf und setzte sich rittlings auf Chefs Schoß. „So in etwa?“ Chefs Blick sprach Bände. Seine Arme, die Seto noch näher zogen, erledigten den Rest. „Ja. Schon mal besser. Und jetzt?“ „Unterhalten wir uns.“ „Ich denke nicht, dass wir dazu körperlich schon wieder in der Lage sind.“ Zeige- und Mittelfinger wanderten Setos Brust hinauf bis zum Kinn, zogen es näher heran. Sanft küsste Chef Seto und fuhr fort: „Aber diese Art von Unterhaltung hast du nicht gemeint, oder?“ Seto musste tatsächlich schlucken. „Nein, nicht ganz. Ich dachte eher an die Fortsetzung unserer letzten Unterhaltung in der Wanne.“ Noch ein Kuss. „Einverstanden. Was willst du noch wissen?“ „Erst einmal wie ich dich jetzt eigentlich nennen darf.“ „Hatte ich dir das nicht schon einmal gesagt? Entweder du nennst mich Chef oder nimmst amerikanische Kosenamen – außer Pumpkin.“ „Weil du dich dann moppelig fühlst?“ Sanft streiften die Lippen des anderen seine eigenen wie zur Bestätigung. „Würde... Fällt Joe bei dir auch unter 'amerikanische Kosenamen'?“ Kurz überlegte Chef und lächelte dann. „Amerikanische Schreibweise?“ „Selbstverständlich!“ „Dann bin ich einverstanden. Und nun Herr Kaiba, was wollen Sie noch von mir wissen?“ „Seto.“ „Nun, Herr Seto Kaiba?“ „Jetzt stell dich nicht blöder an, als du bist, Joe! Du sollst mich ganz einfach beim Vornamen nennen!“ Aufgebracht riss Seto die Arme aus dem Wasser und bereute es sofort. „Dreh dich um. Ich massier dich ein bisschen. Und stell bitte das Wasser ab, sonst haben wir hier demnächst eine Überschwemmung im Bad!“ Grummelnd gehorchte Seto und setzte sich mit dem Rücken zu Joe auf die Bank. Die ersten, sachten Schläge mit der Handkante empfand er noch als schmerzhaft, doch allmählich wurde es angenehmer und die Wärme des Wassers tat das Übrige. „Also, Seto, was willst du wissen?“ Er hatte noch nie gehört, wie sein Name so geschnurrt wurde. Da könnte er sich fast dran gewöhnen. „Okay. Das mag jetzt seltsam klingen, aber wieso hast du von allen aus dem Kindergarten anscheinend den engsten Kontakt zu Marik?“ Die Hände begannen nun kräftig seine Muskulatur zu kneten, sodass er zwischendrin stöhnen musste. „Seltsam, in der Tat“, entgegnete Joe nach einer Weile. „Aber ich habe gefragt, also schulde ich dir jetzt auch eine Antwort. Ich gehe davon aus, dass du mit Marik gesprochen hast, wenn du nach ihm fragst.“ Seto nickte. „Da hätte ich wirklich gerne Mäuschen gespielt. Lass mich raten - er hat dich schamlos angeflirtet, nur um dir am Ende des Gesprächs zu sagen, dass es für ihn nur Ryu gibt, richtig?“ Wieder ein Nicken. Tatsächlich war es ziemlich genau so gelaufen. Aber für die Informationen die er erhalten hatte, war es Seto das wert gewesen. Außerdem musste er bei öffentlichen Veranstaltungen regelmäßig Schlimmeres über sich ergehen lassen. „Typisch Marik. Und nein, wir verstehen uns nicht deswegen so gut, weil wir mal was miteinander hatten. Vielmehr könnte man das Ganze unter 'verwandte Seele' verbuchen. Das Verhältnis zu unseren Vätern war nie wirklich leicht – naja, bei mir hat es sich zumindest im letzten Jahr deutlich gebessert gehabt - und irgendwie haben wir uns beide immer fehl am Platz gefühlt. Er hat mir jedes falsche Lächeln, jede Notlüge angesehen – und war fair genug mich erst unter vier Augen darauf anzusprechen. Als mein Vater starb, war er es, der wusste wie man mit mir am Besten umging, der sich um alle Formalitäten für die Beerdigung kümmerte, der mit mir über ihn sprach, mir gleichzeitig riet, trotzdem meine Träume zu verfolgen. Deswegen. Jedes mal, wenn mich während der Ausbildung die Zweifel überkamen, ob ich wirklich das Richtige tat, hat er mir wieder den Kopf zurecht gerückt. Das hat nicht einmal Yugi geschafft. Daher...“ Er ließ die Worte verklingen, massierte jedoch weiter. Mittlerweile war er bei der Mitte des Rückens angekommen und Seto spürte den ersten Effekt der Behandlung. Mit geschlossenen Augen versuchte er gleichzeitig die neuen Informationen zu verarbeiten. Er hatte nicht erwartet, dass es eigentlich so einfach war. Marik war es nur gelungen hinter die Fassade zu schauen, die Joey um sich herum aufgebaut hatte, war jemand gewesen, der ihn verstand. Eifersucht und Resignation machten sich in ihm breit. Er hätte das sein können, er hätte die unsichtbare Stütze seines Hündchens sein können. Mit vor der Welt getragenen Masken kannte er sich aus, ebenso mit äußerst schwierigen Vater-Sohn-Beziehungen. All die Jahre der Sehnsucht hätte er sich sparen können, wenn er es damals schon erkannt hätte, sich besser gekannt hätte. Er hätte Joey auffangen sollen, statt ihn nieder zu machen. Plötzlich war er froh, dass er mit dem Rücken zu ihm saß. Das Wort Scham traf es zwar nicht ganz, war jedoch auf der anderen Seite sehr nah dran, an dem, was er nun empfand. Es hätte so vieles anders laufen können zwischen ihnen! Und es war einfach unfassbar, dass Joe nun direkt neben im saß und ihn verwöhnte, sich um ihn kümmerte. „Lust auf Frühstück?“ Blinzelnd fuhr Seto herum. „Wie bitte?“ Eben war er noch vertieft in seine Gedanken gewesen, nun erhob sich Joe schon und stieg aus der Wanne. „Nun ja, wir sind jetzt bereits seit knapp einer Stunde hier drin, Yuki müsste längst da gewesen sein und wenn du weiter im Wasser bleibst, fängt deine Haut an zu schrumpeln – meine tut das zumindest. Also...?“ „Ja. Ja, Frühstück hört sich gut an.“ Leicht wandte er den Blick von Joe ab, als er ebenfalls aus dem Wasser stieg, ließ es zu, dass er ihn komplett in das große Badehandtuch hüllte und ihn dabei umarmte. Geborgenheit, die er seiner eigenen Meinung nach, nicht verdient hatte. Vollständig bekleidet setzte Seto sich an den Esstisch und musterte kritisch, was Yuki ihnen angerichtet hatte. „Da ist der Eiweißschock ja vorprogrammiert.“ „Aber notwendig, wenn du Muskeln aufbauen willst. Außerdem hast du kaum Fettreserven. Wie hältst du das eigentlich während der Arbeit aus? Du isst doch bestimmt noch immer so selten wie zu unserer Schulzeit.“ Mit leuchtenden Augen tat sich Joe vom geräucherten Lachs und Makrele auf und begann zu essen. „Erstens es ist besser geworden – dank Shin und Hans. Zweitens esse ich deswegen inzwischen eine Menge Schokoriegel. So wie du die früher weggeputzt hast, hätte ich nicht erwartet, dass sie eine so hohe Energiedichte haben.“ Am Kaffee nippend - Yuki war wirklich ein Schatz und hatte die Maschine durchlaufen lassen – wartete er darauf das die Spitze zündete. Beim Anblick des fetten Fisches wurde sein Magen momentan wenig zum Appetit angeregt. Doch er wartete vergebens. Stattdessen landeten Rührei und Brötchen auf seinem Teller. „Nochmal. Iss! Ich hab mit dir zwar heute keinen langen Märsche vor, aber du wirst trotzdem frühestens am Abend wieder was bekommen, so wie ich die Jungs in der Küche kenne.“ Also aß Seto, widerwillig und wenig begeistert, alles was auf seinem Teller aufgehäuft wurde, bis er endgültig nicht mehr konnte. „Stopp! Hör auf! Alles, was ich jetzt noch essen muss, fällt unter mästen!“ „Würde dir gar nicht schaden.“ „Aber dann passen die Anzüge nicht mehr!“ „Es gibt so etwas wie Änderungsschneidereien. Und sollte es ganz dringend sein, kann Martine die Hosen etwas weitermachen. Oder notfalls sogar ich – sie hat es mir mal gezeigt.“ „Das mein ich doch gar nicht!“ Wie drückte er am besten aus, dass er stolz war, dass ihm seine Anzüge seit von vor 10 Jahren immer noch passten, ohne eitel zu wirken? „Glaub mir, du würdest mir auch noch mit 15 Kilo mehr immer noch gefallen“, beteuerte Joe mit ernsthafter Miene, machte dann aber alles zunichte, indem er nachfasste: „Muskelmasse versteht sich. Aua! Wofür war das denn?“ Seto hatte ihm den Ellenbogen in die Rippen gejagt. „Für die Beleidigung. Ich bin dir also zu schmal.“ „Du bist du. Das reicht mir“, wurde ihm sanft jeglicher Wind aus den Segeln genommen. Vorsichtig linste Seto hinüber und war augenblicklich der Fähigkeit zu schmollen beraubt. „Hab verstanden, Hündchen.“ Diesen treuen, dunkelbraunen Augen konnte man nicht widerstehen – selbst nicht, wenn man Seto Kaiba hieß. Oder gerade dann? „Was hältst du davon den Eisklotz etwas weiter aufzutauen und mir zu verraten, was du noch so alles in den letzten Monaten hinter meinem Rücken angestellt hast?“ Widerstand? Was war das? Ohne Widerworte, ohne Gedanken an das dreckige Geschirr, ließ er sich auf die Terrasse ziehen. Die Sonne hatte die Liegen angenehm aufgeheizt und wenn er ehrlich sein sollte, hatte er auch nicht vor sich den Rest vom Tag von diesen zu erheben. Mit dem Blick aufs Meer sprach er von Abenden, die er in Restaurantküchen verbracht hatte, beim Französischlernen, wie er zwischen wichtigen Konferenzen Vokabeln gepaukt hatte, oder vor einem schier unlösbaren Knoten, den zu lösen er der alten Dame versprochen hatte, bevor er gelernt hatte, dass manches Rätsel selbst für ihn zu kompliziert war. Nur manchmal traute er sich hinüber zu der anderen Liege zu sehen, Jedes Mal wurde er mit einem warmen Lächeln belohnt. Kapitel 15: Montag 1.8. ----------------------- Gleichmäßig und tief wie die heranrollende Wellen des Ozeans, den Seto durch das große Fenster sehen konnte, ging Joes Atem neben ihm. Er hatte nicht darum bitten müssen, dass er blieb, der andere war einfach so aus eigenem Antrieb heraus geblieben, hatte sich neben ihn ins Bett gekuschelt. Nach einer Weile war er näher zu ihm gerutscht und hatte ihn fest in die Arme geschlossen. Auch dann hatte er nicht protestiert, sondern einfach die Nähe genossen, hieß es doch, dass weiterhin alles zwischen ihnen gut war. Zumindest hoffte er das, denn eine genaue Antwort darauf, wie seine kleine persönliche Recherche gewertet wurde, hatte er nicht erhalten. Vielleicht lag er genau deswegen jetzt stocksteif im Bett und starrte nach draußen, wo es langsam dämmerte, - oder, weil er es nicht gewöhnt war zum Kuscheltier degradiert zu werden. „Du bist ja schon wach“, flüsterte eine von der Nacht rauen Stimme neben ihm. „Naja, normalerweise wäre ich um diese Uhrzeit schon auf dem Weg in die Firma“, erwiderte er genauso leise, selbst nicht besser klingend. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen die Terrassentür über Nacht offen zu lassen. „Dann bist du ja vielleicht schon fit für unseren Ausflug heute?“ „Ausflug?“ Momentan wäre Seto am liebsten den ganzen Tag über im Bett liegen geblieben, schön eingekuschelt in die Bettdecke und mit seinem persönlichen Kuscheltier daneben, selbst wenn er aus dem Alter eigentlich längst schon draußen war. „Ja. Ich wollte eine kleine Radtour mit dir machen und dir dabei die Gegend zeigen. Dein Muskelkater ist doch inzwischen abgeklungen, oder?“ Am liebsten hätte Seto gelogen, einfach gesagt, ihm täte immer noch alles weh und er könne unter gar keinen Umständen aus dem Haus. Allerdings machte ihm sein Körper da einen gehörigen Strich durch die Rechnung. „Bin gleich wieder bei dir“, murmelte er nur noch und war dann auch schon hinter der Badezimmertür verschwunden. Als er fünf Minuten später wieder herauskam, war Joe gerade dabei aufzustehen. „Also ich würde sagen, um deine Muskulatur brauchen wir uns keine Sorgen machen, oder?“, stellte er lächelnd fest und stellte sich auf die Füße. Nein, Seto mochte es ganz und gar nicht, dass er, wenn sie sich gegenüber standen, zu ihm aufsehen musste. „Nein“, antwortete er zögerlich und hakte dann nach: „Aber müssen wir deshalb wirklich schon aufstehen?“ „Wie? Ich hatte immer gedacht du wärst ein absoluter Frühaufsteher und nur zum Schlafen im Bett“, fasste Joe den leicht mauligen Unterton richtig auf. „Das war ja auch, bevor...Hilfe!“ Blitzschnell stand Joe hinter Seto und schubste ihn zurück aufs Bett. Lachend und eher spielerisch versuchte dieser nun die Kuschelattacke abzuwehren, genoss es aber eigentlich viel zu sehr, als dass sein Widerstand ernst gemeint sein könnte. Zwei Stunden später hatten sie es tatsächlich geschafft aufzustehen, zu frühstücken und sich fertig zu machen. Seto zumindest war ins Bad gegangen, nachdem sich Joe von ihm kurz verabschiedet hatte. In den Sachen vom Vortag und glänzender Laune ging er aus der Haustür hinaus. Er hatte ihm erklärt, dass er noch andere Kleidung bräuchte und Shin von einer Lunchbox für sie überzeugen wollte. Deshalb hatte Seto sich Zeit gelassen, lange überlegt ob er nun das dunkel- oder doch eher das hellblaue T-Shirt anziehen sollte und war dann ohne Eile den Waldweg entlang geschlendert, um sich an der Garage wieder mit Joe zu treffen. Nun musterte er kritisch das langgezogene Gebäude, dass selbst ihm viel zu groß für das Wort „Garage“ erschien. Nach vorne und zur Seite hin gab es mehrere Türen und Tore, deren funktionaler Sinn sich ihm nicht ganz erschloss. Auch wunderte es ihn, dass die Straße bis dort hin komplett asphaltiert war, denn er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, während seines langen Spaziergangs im Februar über Asphalt gegangen zu sein. Lange konnte er jedenfalls nicht darüber nachdenken, denn vom Hauptgebäude kam Joe mit großen Schritten auf ihn zu und schwenkte triumphierend einen Picknickkorb. „Es ist immer gut zu wissen, wann die Familie einen Ausflug plant!“, erklärte er stolz ob seiner Errungenschaft. „Dad macht mit Martine und den Zwillingen heute auch eine kleine Tour, weswegen Hans bereits einiges vorbereitet hatte. Es war also kein weiterer Aufwand für uns notwendig. Oh, und wir sind übrigens fest für das Abendessen heute eingeplant.“ Die Frage, die Seto jetzt auf der Zunge lag, traute er sich nicht zu stellen. Am besten wartete er einfach ab, was der Abend brachte. Der Tag zumindest brachte ihm jetzt den ersten Einblick in den Teil der Garage, in dem die Fahrräder aufbewahrt wurden, gut gepflegt und nach Größe aufgestellt. Abschätzend lief Joe die Reihe lang, immer den Blick zwischen den Fahrrädern und Seto hin und her gleitend. Schließlich hielt er vor einem mit dunkelblauem Rahmen und winkte ihn zu sich. „Hier, nimm das mal mit raus.“ Seto gehorchte und bekam wenig später auch noch einen passenden Helm verpasst, als Joe mit seinem Fahrrad – und einem anderen Helm – ihm folgte. „Einfach aufsteigen und losfahren. Ich will nur sehen, ob alles passt.“ Das sagte sich so leicht! Unsicher stellte Seto den Fuß auf das linke Pedal, schob sich leicht an und schwang das rechte Bein über den Sattel. Gerade noch rechtzeitig saß er und fing an zu treten, um nicht einfach samt Rad umzukippen. Er fuhr unsicher und äußerst wackelig, was Joe auch nicht entging. „Wann bist du das letzte Mal Rad gefahren?“ „Ein paar Tage vor Urlaubsbeginn.“ „Ich mein ein richtiges Fahrrad, keines von diesen armen Dingern, die so tun müssen als wären sie eines, aber tatsächlich nicht von der Stelle kommen.“ „Ein paar Jahre...“ Vierzehn, fünfzehn, so genau konnte er es auch nicht mehr sagen. „Gut, dann machen wir es einfach von dir abhängig, wie weit und wo wir heute fahren. Können wir?“ Seto nickte nur und sah dann rasch zu, dass er hinter dem Blonden her kam, der zwar langsam, aber dafür sehr gleichmäßig in die Pedale trat. Es war unglaublich wie viele Details einem am Wegesrand auffielen, wenn man nicht mit dem Auto daran vorbei raste. Erstens hatte er zuvor nicht wahrgenommen, dass es überhaupt einen Fahrradweg gab – Joe erklärte ihm, dass er eher selten genutzt wurde – zweitens war er in gutem Zustand, sodass sie zügig voran kamen. Den ersten Kilometer hatte er noch seine Probleme mit dem Gleichgewicht gehabt, aber mittlerweile hatten er und Joe einen Rhythmus gefunden, der ihn nicht zu schnell erschöpfte und es ihnen erlaubte nebeneinander zu fahren. Hin und wieder erklärte Joe etwas zur Landschaft, erzählte von dem jeweiligen Bauern oder Landbesitzer oder sprach davon, wie empfindlich die Tore zum Hotel eingestellt waren, um zu gewährleisten, dass sie einfach hatten durchfahren können, ohne auf ihr Öffnen warten zu müssen. Allgemein sprachen sie über die technischen Feinheiten der Hotelanlage und Seto ertappte sich immer wieder dabei, dass er ihm so viel physikalisches und technisches Wissen gar nicht zugetraut hätte. Innerlich schalt er sich einen Idioten, weil er die Unterscheidung zwischen Damals und Heute immer noch nicht auf die Reihe bekam, aber nach außen hin genoss er einfach nur sichtlich das Gespräch. Es war unverfänglich und dennoch ziemlich interessant, da selbst für ihn ein paar neue Informationen vorhanden waren. Nach dem Nordende des Zauns, wechselte der Fahrradweg wieder die Seite und führte nun an der Küste entlang durch den dortigen Wald. Offensichtlich gehörte nur ein kleiner Teil davon zum Hotel. Doch irgendwann verschwand er vollständig und ließ den ungehinderten Blick aufs Meer zu. Inzwischen waren sie beim Thema Sport angekommen und Joe erzählte von den verschiedenen Wettkämpfen, an denen er in den letzten Jahren teilgenommen hatte, zeigte aber auch Anerkennung, als Seto seinerseits von seinem aktuellem Sportpensum berichtete. Der ein oder andere neckende Kommentar bezüglich Stubenhocker blieb jedoch auch nicht aus. Als sie schließlich den ersten kleinen Hafenort auf der Strecke hinter sich gelassen hatten, ließ Joe sich ausrollen und hielt schließlich. Sie hatten einen Picknickplatz erreicht, der mit einer Reihe von festen Bänken und Tischen ausgestattet war. Dennoch war er leer, was Seto nicht wirklich verstand. Es war ein schöner, nicht zu heißer Tag, die Sonne spielte mit den Wellen und die sanfte Brise vom Meer war lediglich erfrischend. Verunsichert sah er sich um. Irgendetwas konnte mit diesem Platz nicht stimmen. „Ist alles in Ordnung?“ Joe schloss gerade die Fahrräder zusammen und löste die Verspannung, die den Korb auf dem Gepäckträger gehalten hatte. „Ja, schon. Ich hab mich nur gefragt, weswegen es hier so leer ist.“ „Ach das.“ Joe schien fast von der Banalität der Antwort enttäuscht. „Ganz einfach: die meisten Touristen hier in der Gegend liegen lieber am Strand, als sich die Gegend mit dem Rad anzusehen. Die Distanzen sind groß und wenn man es nicht gewohnt ist, so lange Strecken zu fahren, ist es doch anstrengend, was nur die wenigsten in ihrem Urlaub wollen. Am Platz selbst kann es nicht liegen. Ich komm hier regelmäßig auf meinen Trainingsfahrten vorbei. Wasser?“ Beruhigt nickte Seto und nahm die Flasche entgegen. Er trank in langen Schlucken, während Joe den Korb auspackte und die Köstlichkeiten von Sandwiches über Käsespieße bis hin zu Obstsalat auf der Tischfläche zwischen ihnen verteilte und ihm gegenüber Platz nahm. „Lass es dir schmecken. Nach dem Essen machen wir noch etwas Pause und dann radeln wir auf dem gleichen Weg zurück, wenn du einverstanden bist.“ Und wie er einverstanden war. Bereits jetzt waren sie deutlich über eine Stunde unterwegs gewesen und ein vertrautes Ziehen machte sich bereits allmählich in seinen Oberschenkeln breit. „Hab ich was im Gesicht?“ Verunsichert wischte Seto sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Nein, hast du nicht. Ich hab einfach nur gerade über was nachgedacht“, antwortete Joe sanft. „Aber ich fürchte dein Fan-Club von früher wäre mehr als entsetzt, dass du dir einfach so mit der Hand die Lippen abwischst.“ Seto öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schnappte dann aber nur kurz nach Luft und zog es vor zu schmollen. „Hey, das war nicht böse gemeint. Ich freu mich einfach nur, dich so menschlich zu sehen.“ „Was soll ich denn bitte sonst sein?“ „Wenn man deinem Fan-Club glaubt sehr nah dran an göttlich.“ Seto fletschte die Zähne. „Und was glaubst du?“ Joe überlegte kurz und sagte dann bedächtig: „Ich glaube, dass du den Menschen in dir viel zu lange versteckt hast und es meine Aufgabe ist, ihn jetzt Stück für Stück aus dem kalten Geschäftsmann herauszuarbeiten, sodass du zumindest für mich dein wahres Ich bist.“ Er lächelte dabei als wäre es nicht ganz ernst gemeint, doch seine Augen verrieten ihn und in Setos Bauchgegend breitete sich ein warmes Gefühl aus. Schüchtern erwiderte er das Lächeln. „Ich kann ja mal versuchen, ob ich das für dich tun kann.“ Schweigend saßen sie sich eine Weile gegenüber und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Hatten sie zu viel gesagt? War es dafür nicht eigentlich noch zu früh? Auf der anderen Seite hatte es sich in diesem Moment richtig angefühlt und nur das zählte. Seto wollte gerade nach dem letzten Käsespieß greifen, aber Joe war schneller. „Hey! Du hast ganz genau gesehen, dass ich den wollte!“, protestierte Seto lautstark. „Dann hol ihn dir doch“, provozierte Joe ihn weiter. Vorsichtig nahm er den Käsewürfel zwischen die Zähne und zog den Spieß heraus. Seto musste nicht erst überlegen. Er wollte den Käse. Halb stehend beugte er sich über den Tisch und biss in dem Moment ab, in dem auch Joe die Zähne schloss, ihm aber das Stück dazwischen noch mit der Zunge zuschob. „Willst du die Traube?“ „Nein, die kannst du haben.“ Setos Lippen kribbelten ganz seltsam. Sie hatten sich quasi in aller Öffentlichkeit geküsst. Hoffentlich hatte niemand sie gesehen! Das könnte ziemlich unangenehm werden, vor allem wenn es fotografiert worden war. „Es ist alles in Ordnung. Niemand hat was gesehen. Hier ist es menschenleer, schon vergessen?“ Konnte Joe Gedanken lesen? „Aber wenn wir gerade beim Thema sind, gibt es deinen süßen Fan-Club noch? Die müssten doch inzwischen alle verheiratet sein.“ Langsam fing er an, die wenigen Reste ihres Picknicks im Korb zu verstauen. Seto schnaufte zur Antwort. „Ich wünschte es wäre so! Mindestens ein Viertel von denen belagert mich immer noch regelmäßig. Weißt du wie gruselig es ist, wenn sich Frauen um die Dreißig plötzlich wie Groupies verhalten? Nur die wollen dann gleich alle geheiratet werden! Am Valentinstag ist das immer besonders schlimm, aber auch unterm Jahr ist es furchtbar.“ „Na, dann weiß ich ja, was ich zu tun habe.“ Seto zog eine Augenbraue hoch. „Achja?“ „Ja“, erwiderte Joe trocken. „Ich oute mich einfach an deinem Geburtstag als dein Fan Nummer 1 und verscheuche sie alle wie eine eifersüchtige Freundin.“ „Wie bitte?“ „Na gut, Fan Nummer 1 ist natürlich immer noch Mokuba – dann halt Nummer 2. Aber was waren deine schlimmsten Erlebnisse mit dem Fan-Club?“ Der Korb wurde wieder fest auf den Gepäckträger verzurrt, während es Seto diesmal wirklich die Sprache verschlagen hatte. Geburtstag? Eifersüchtige Freundin? Outen?! Sie hatten nicht einmal darüber gesprochen, was das jetzt genau zwischen ihnen war und Joe hatte den Nerv so nebenbei mit solchen Themen ins Haus zu fallen? Oder interpretierte er da zu viel hinein? „Wenn du nicht magst, kann ich auch zuerst von ein paar meiner Erlebnisse berichten“, schlug Joe vor, während er das Fahrradschloss öffnete. „Da war zum Beispiel in Italien diese ältere Dame, die mich das gesamte Abendessen bei Freunden angehimmelt hat und mir wie sie dachte subtile Angebote gemacht hat – am Tisch mit allen anderen außen rum. Und zum Schluss hat sie mir sogar in den Hintern gekniffen! Die gute Frau war älter als meine Mutter!“ „Wie bitte?! Du hast dir das auch noch gefallen lassen?“ „Nicht wirklich. Martine hat sie dann höflich darauf hingewiesen, dass ich leider für immer für die Damenwelt verloren sei, hat sich dabei dramatisch ans Herz gefasst und eine gequälte Miene gezogen. Die Dame hat sich daraufhin noch nicht mal mehr vom Gastgeber richtig verabschiedet... Aber ich würde vorschlagen, dass wir jetzt zurückfahren und du mir nebenher endlich was von dir erzählst!“ Da konnte Seto schlecht nein sagen. Also fuhr er brav los und fing zu erzählen an: „Gut, meinetwegen. Denn deine Story lässt sich noch toppen. Ich war Anfang zwanzig und habe gerade ein kleines Turnier organisiert. Dazu hatte meine Werbeabteilung beschlossen, es wäre doch schön ein paar Maskottchen zu haben. Blöderweise haben die sich in einem Raum der Firma umgezogen, durch den ich ab und zu auch muss.“ Joe blickte ihn fragend an. „Das ist der schnellste Weg zum Kühlraum der Kantine – ich hatte Lust auf Eis. Auf jeden Fall... statt zu kreischen und mich danach rauszuschmeißen, haben sie gekrischen und mich danach belagert, als sie mich erkannten, ob ich ihnen nicht beim Umziehen helfen wolle, nicht kurz ihren BH halten könnte, ob ich es nicht schade fände, dass man in den Kostümen nicht ihre Kurven sehen könnte.... Keine Ahnung, wie ich da wieder rausgekommen bin. Jedenfalls gab es danach keine Maskottchen mehr für das Turnier oder irgendeine andere Veranstaltung.“ Joe hatte die Lippen fest aufeinander gepresst, brachte aber ein „die armen Dinger wollten doch bestimmt nur ihr Taschengeld aufstocken!“ heraus. „Indem sie sich an mir reiben? Vier von diesen verrückten Weibern hatten mich umzingelt! Die können froh sein, dass ich sie nicht wegen sexueller Belästigung verklagt habe!“ „Du bist ja aber auch zum Anbeißen! Hattest du wieder die Kombi mit dem schwarzen Rollkragen und dem weißen Mantel an?“ „Wieso...?“ Seto riskierte einen Blick nach drüben, da der Weg auf den nächsten hundert Metern keine Stolperfallen enthielt. Joes Lächeln war eine Spur zu dreckig für seinen Geschmack. „Dir kann man auch wirklich gar nichts erzählen!“ „Bin halt auch nur ein Mann!“, verteidigte sich der Angeklagte und trat kräftig in die Pedale, um vor Seto zu kommen, der kaum mithalten konnte. Erst als es darum ging, auf dem richtigen Weg durch den kleinen Ort zu kurven, holte er ihn wieder ein. „Und dann sind wir bis zum See gefahren. Und dann haben wir eine Pause gemacht. Und ich habe nur ein süßes Sandwich bekommen, weil Onkel Maximillion...“ „Nehmen Sie sich Salat!“ „Gar nicht wahr! Mokuba...“ „Vielen Dank.“ Seto nahm die Schüssel von Hans entgegen und tat sich mit Hilfe des Salat-Bestecks auf. Frischer, grüner Salat. Genau das Richtige für so einen Abend, vor allem da es dazu gegrillten Fisch gab. Es konnte sich nur um wenige Minuten handeln, bis Shin am Grill fertig war und die ersten Leckerbissen verteilen würde. Wenigstens hatte er das gesagt, bevor Yuki Ethan in ein Gespräch verwickelt hatte. Was er den Tag über gemacht hatte, hatte bisher zum Glück niemand wissen wollen. „Joe?“ „Danke, Seto.“ Der Hotelmanager saß neben ihm in der Mitte des Tischs und schien sich köstlich über die kleine Geschichte seines Cousins zu amüsieren. Martine, die ihm gegenüber saß ergänzte nämlich mittels Zeichensprache die wichtigsten Details, solange Yuki noch die Getränke mischte. Nie im Leben hätte Seto geglaubt noch einmal in der großen Runde beisammen zu sitzen. Aber hier war er, umgeben von Leuten, für die das ganz normal war. Und es machte ihn glücklich, dass er bei ihnen sein durfte. Natürlich war es laut und nicht nur Dank der Kinder etwas überdreht, doch es fühlte sich auf seine Art und Weise richtig an. Yuki war fertig und verteilte die Karaffen über den Tisch, bevor sie sich rechts neben Martine hinsetzte. „Wie lange dauert das denn noch?“, rief sie Shin zu. „Ich bin am Verhungern!“ „Immer mit der Geduld, Euer Hoheit! Der Fisch braucht nun mal so lange wie er braucht!“ „Wenn du meinst... Hans?“ Der Koch schreckte hoch. „Ja?“ „Die Stelle meines Haus- und Hofkoches wird demnächst frei werden. Hättest du Interesse?“ Kurz warf er einen Blick hinüber zu Shin, dann antwortete er mit ernsthaftem Bedauern: „Es tut mir aufrichtig Leid Euch dies mitteilen zu müssen, Euer Durchlaucht, aber ich bin leider der holden Dame Martine verpflichtet. Und sie wird mich anzunehmender Weise nicht so schnell ziehen lassen.“ „Schade. Wirklich bedauerlich...“ „Dafür ist aber endlich der Fisch soweit. Yuki, hilf mir mal mit den Platten!“, befahl Shin und brachte damit für einen Moment Ruhe an den Tisch. Yuki sprang wieder auf und eilte zu ihm hinüber, nicht ohne so nah am Poolrand entlang zu gehen, dass Seto sich Sorgen machte, sie könne hineinfallen. Bis sie tatsächlich mit dem Essen anfangen konnten dauerte es noch ein paar Minuten, da die Kinder – Mokuba eingeschlossen - um die größten Stücke rangelten. Dass Chef sich währenddessen einfach zwei Stücke nahm, bekamen sie gar nicht mit. Zufrieden streckte sich Seto auf seinem Stuhl. „Also, wenn ihr mich fragt, ich bleib hier noch ein bisschen“, stellte er fest und trank einen Schluck süßlichen Wein. „Es ist nicht zu warm, aber auch nicht zu kalt. Der Himmel ist klar“ „du bist vollgefressen“, ergänzte Mokuba. „Ich bin vollge“, wiederholte Seto, bis ihm auffiel was er da gerade von sich gab. Aber der Schaden war bereits angerichtet. Der Tisch schmunzelte und kicherte, die meisten davon ähnlich gemütlich dasitzend wie er. Shin hatte noch zwei weitere Fuhren an Fisch zubereitet, dazu der Salat als Alibi. Zum Ende hin hatte Yuki den Erwachsenen einen süßen Dessertwein eingeschenkt, der nochmals mit dem Vanille-Eis die Runde machte. Man könnte beinahe behaupten sie wären alle leicht beschwipst. Aber nur beinahe. „Clara, Ethan, Schlafenszeit“, äußerte Martine sanft. Zu Setos Erstaunen murrten die beiden kein bisschen, sondern standen auf, wünschten ihrem Onkel und dann ihrer Mutter jeweils mit Küsschen eine Gute-Nacht, sagten dann in die Runde „Gute Nacht“ und stellten sich dann erwartungsvoll vor ihm auf. „Heute bist du dran“, sagte Clara bestimmt. „Heute bin ich dran mit was?“, hakte Seto verwirrt nach. „Dran damit, uns ins Bett zubringen“, erklärte Ethan als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „A-ja.“ Hilfe suchend drehte er sich zu Joe, der ihm zu flüsterte: „Wie sind alle mal dran. Heute hat es wohl dich erwischt.“ „Wichtig ist nur, dass sie sich gründlich die Zähne putzen und Sie ihnen was vorlesen“, führte Martine weiter aus. Na toll! Jetzt wurde er schon zum Babysitter degradiert! Dennoch erhob er sich und folgte den Zwillingen, die fröhlich feixend vorneweg sprangen. Er rechnete mit dem Schlimmsten. Schlafanzüge anziehen war kein Problem gewesen. Zähne putzen auch nicht. Zumindest, nachdem er das Badezimmer gefunden hatte. Er hatte tatsächlich drei Anläufe gebraucht, bis er die richtige Tür erwischt hatte und die beiden Wirbelwinde, die aus ihrem Zimmer wieder auf den Flur stürzten dort hinein winken konnte. Eines der anderen Zimmer war anscheinend das von Pegasus gewesen, beim zweiten war er sich aber nicht so sicher. Aber darüber konnte er sich später immer noch Gedanken machen, denn aktuell saßen ihm zwei Kinder gegenüber, die eine Antwort verlangten und ihn auch nicht weiterlesen lassen wollten, solange sie diese noch nicht hatten. „Aber wollt ihr denn gar nicht wissen, wie das Mädchen aus dem Haus der Hexe Baba Jaga wieder hinauskommt?“, fragte er am Rande der Verzweiflung. Doch die Zwillinge schüttelten erneut den Kopf und Clara fragte: „Bist du Chefs Ersatz für Ryan?“ Zum Glück wusste er, wer Ryan war. Aber die Frage war noch schwerer als die vorherige. Natürlich hegte er die Hoffnung, eines Tages für Joe eine ähnlich wichtige Rolle zu spielen wie der Brite, aber wirklich als Ersatz für ihn sah er sich nicht. Genauso wie Ryan kein Ersatz für ihn gewesen war. Da war Joe schon ziemlich deutlich geworden. Aber sollte der deswegen gleich sein Freund sein? Er hatte keine Ahnung mehr, in wie weit Siebenjährige das Konzept der festen, romantischen Partnerschaft verstanden. Wirklich viele Vorbilder gab es wohl auch kaum in ihrem Leben. Der klassische Vergleich zu „Mama“ und „Papa“ war nicht möglich. Das, was sie hauptsächlich kannten, war die platonische Liebe zwischen einzelnen Familienmitgliedern und … Das war es! „Ich glaube nicht, dass ich Ryan je ersetzen könnte. Dafür hat er eurem Cousin zu viel bedeutet. Aber ich kann euch versichern, dass ich ihn sehr, sehr gern habe. Wenn er mich irgendwann als seinen Freund ansieht, würde mich das sehr glücklich machen. Darf ich jetzt weiterlesen?“ Überraschenderweise waren die beiden damit zufrieden. Sie kuschelten sich zurück unter die Decke, einen großen, blauen Teddy zwischen sich und sahen ihn aus großen Augen an. Und er las ihnen das Märchen vor. Und noch eines. Und ein Weiteres, weil sie ihm dafür endlich hoch und heilig versprachen die Augen zu schließen und zu schlafen. Erschöpft stellte er das Buch ins Regal, während Clara in ihr eigenes Bett hinüber huschte und sich dort kompliziert mit der Bettdecke verknotete. Ethan war dafür eingerollt wie in einen Kokon. „Gute Nacht, Ethan. Gute Nacht Clara“, wünschte er ihnen ein letztes Mal an der Tür. „Gute Nacht, Seto.“ Und Ethan fügte murmelnd hinzu: „Ich glaube, Chef hat dich auch sehr, sehr gern.“ Einen kurzen Augenblick verharrte Seto in der Bewegung. Wirklich? Sanft schloss er die Tür hinter sich und stieg dann die Treppe hinunter. Er wusste nicht wieso, aber plötzlich wollte auch er, einfach nur noch ins Bett. Kapitel 16: Dienstag 2.8. ------------------------- Vor sich hin dösend spürte er wie die Matratze nachgab. Vorsichtig drehte er sich um und umschloss die Wärme neben ihm mit seinen Armen. Zur Bestätigung sog er den Geruch der Person ein und atmete zufrieden wieder aus. Glücklich schlief er ein. Neben ihm bewegte sich etwas. Seto konnte nicht genau sagen, ob ihn die Bewegung geweckt hatte oder er sie dadurch bemerkte, dass er gerade aufgewacht war. Aber das war im Moment nicht wichtig. Wichtig war nur, dass es Joe war, der sich da bewegte und anscheinend gehofft hatte heimlich aufzustehen. „Wohin willst du?“ grummelte Seto, während er doch tatsächlich die Frechheit besaß sich aufzurichten. „Arbeiten.“ „Arbeiten? Draußen ist noch dunkel und ich hatte immer gedacht du seist ein Morgenmuffel! Lass dir was Besseres einfallen.“ „Was Besseres also?“ Trotz des trüben Lichts war das herausfordernde Lächeln erkennbar. Innerlich fluchte Seto. Hauptsache seine unteren Regionen waren wach, sein Verstand war ja total überbewertet! „Ja, bitte!“, machte er keinen Hehl aus seiner schlechten Laune. „Nun gut. Dann spitz mal deine süßen Lauscher! Ich habe momentan Hauptsaison in meinem Hotel. Doch anstatt mich um die Gäste und den allgemeinen Ablauf zu kümmern, hat ein einzelner Gast mehrere Tage hintereinander eine Rundumspezialbehandlung erhalten. Die Kurzfassung lautet also: Wenn du mich während deines Aufenthaltes irgendwann noch einmal zu Gesicht bekommen möchtest, muss ich jetzt anfangen zu arbeiten, denn sonst hat sich ein Berg angehäuft, den ich bis Oktober nicht wieder abgearbeitet habe.“ Setos Protest wurde einfach in einem langen Abschiedskuss erstickt. „Ich schick dir Yuki mit dem Frühstück vorbei. Danach kannst du mich, wenn du magst, besuchen kommen.“ Und weg war er. Seto wusste nicht recht, was er von der ganzen Aktion halten sollte. Natürlich, er selbst war auch ein Workaholic, aber dass sein Hündchen Arbeit anziehender fand als ihn in seiner morgendlichen Pracht? Unverschämtheit! Der konnte sich auf was gefasst machen! Aber erstmal... Das Bett war wirklich gemütlich. Und überhaupt! Draußen war es noch dunkel. Da könnte er doch noch ein kleines bisschen... Das Gähnen ließ sich einfach nicht unterdrücken. Sie bewegte sich auf Zehenspitzen, dennoch hörte er sie. „Yuki, du kannst aufhören zu schleichen. Ich bin schon wach“, begrüßte Seto sie vom Bett aus. Prompt linste sie um die Ecke und grinste ihn an. „Guten Morgen! Ein sehr starker Kaffee, nehme ich an?“ „Ja, bitte. Währenddessen versuche sich es mal mit Aufstehen.“ „Meinetwegen.“ Der Kopf verschwand und er konnte sich in aller Ruhe aus den zwei Bettdecken pulen. Die Sonne stand bereits hoch genug, dass er sie stehend nicht mehr sehen konnte. Er mutierte wirklich allmählich zum Langschläfer. Aber wofür gab es denn sonst den wunderbaren, braunen Treibstoff für seinen Motor? Fertig angezogen setzte Seto sich an den Esstisch, auf dem bereits eine Schale mit Grießbrei und Obst wartete. Yuki goss ihm Kaffee ein und zog sich dann in die Küche zurück. Genüsslich aß er alles auf und war dabei so in Gedanken, dass er erst im Anschluss bemerkte, dass sie immer noch da war. Schnell wusch und trocknete sie das Geschirr ab und wartete anschließend geduldig, bis er seine Schuhe gebunden hatte. „Können wir?“ Er nickte nur. Yuki hatte ihm während des Abwaschs erklärt, dass sie auf ihn warten sollte, um ihn zu Chefs Büro zu führen. So viel zu seiner Wahlmöglichkeit wie er den Tag hatte gestalten wollen! Aber insgeheim interessierte es ihn schon ein bisschen wie Joe normalerweise den Tag verbrachte. Es ging zur gewohnten Tür in das Hauptgebäude hinein und Yuki deutete auf einen kleinen Flur links von ihnen, bevor sie in die Küche ging. Eigentlich hatte er ihrem Vorschlag sofort nachkommen wollen, doch dann bemerkte er eine andere Frau am Durchgang zum Treppenhaus. Sie war eher sportlich gekleidet, die Haare waren zusammen gebunden. Er hatte sie hier noch nie gesehen. Vielleicht ein anderer Gast. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los sie zu kennen. Dann bemerkte sie ihn, wandte ihm das Gesicht zu und lächelte ihn kurz an. „Wie ich sehe, haben Sie meinen Rat angenommen. Dann bleibt mir nur noch, Ihnen weiterhin alles Gute zu wünschen.“ Er glaubte, dass sie noch mehr gesagt hätte, doch Martine kam die Treppe herunter und begrüßte sie. Schnell verschwand er in den Flur. Das Gespräch über einen Ausflug zum Freizeitpark mit den Zwillingen, dass sie nicht zu viel Süßes essen sollten und was Martine heute alles renovieren wollte, konnte er sich echt sparen. Dennoch lauschte er, im Schatten verborgen, bis die zwei Kinder nun ebenfalls die Treppe hinunter kamen. Dann wandte er sich der Tür zu und klopfte zögerlich. Lange musste er nicht warten. Den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt öffnete ihm Joe und deutete stumm auf einen bequemen Sessel im hinteren Teil des Büros. Seto nahm Platz und sah sich anschließend in Ruhe um. Es war bis auf eine kleine Lampe am großen Schreibtisch in der Ecke und den verschiedenen Monitoren dunkel. Die Jalousien waren heruntergelassen. Auch die eher karge Einrichtung war in dunklen Farbtönen gehalten, da half auch die weiße Wandfarbe nicht mehr. Das war kein Büro, sondern eine Arbeitshöhle! Würde er es wagen, seinen Angestellten solche Zustände zuzumuten, würde keine Stunde später irgendein nerviger Vertreter der entsprechenden Gewerkschaft bei ihm vor der Tür stehen und sich lauthals über diese unmenschlichen Zustände beschweren. Aber Joe tat sich das hier wohl freiwillig an. „Soll ich das Deckenlicht anmachen, damit du alles etwas besser sehen kannst?“ In Gedanken vertieft hatte Seto nicht gemerkt, dass das Telefonat beendet war. „Nein, geht schon. Ich weiß zwar nicht, wie du es hier drin aushältst, aber so lange es dir gefällt...“ „Tut es. Es hilft dabei mich zu fokussieren. Sonst sehne ich mich noch die Hälfte meiner Arbeitszeit nach der schönen Welt da draußen.“ „Und wonach sehnst du dich stattdessen?“, rutschte es Seto heraus. Natürlich saß er mit dem Rücken von der großen Fensterfront in seinem Büro abgewandt, was jedoch nicht hieß, dass er nicht ab und zu mal nach draußen blickte. „Unter anderem danach, dass ich einen Tag lang von einem gutaussehenden Mann angeschmachtet werde, der es sich auf meinem Lesesessel gemütlich gemacht hat“, setzte sich Joe auf seine Beine und küsste ihn sanft. „Nur leider wollen ausgerechnet heute eine Menge Leute etwas von mir und ich kann diesen Zustand nicht in vollem Umfang genießen.“ „Macht nichts. Gibt es zu deinem Lesesessel auch eine Leselampe? Dann bleibe ich vielleicht sogar freiwillig hier, während du brav telefonierst und die anderen Dinge machst, die du so machst.“ Tatsächlich hatte er nicht einen blassen Schimmer, was Joe eigentlich alles zu machen hatte, damit das Hotel lief. „Buchungen überprüfen, Belegungen optimieren, unsere Vorräte kontrollieren und auffüllen lassen, für die Sicherheit sorgen und eine ganze Reihe anderer Sachen“, wurde mit einem Augenrollen ergänzt, da das Telefon bereits wieder klingelte. Bevor er aufstand, schaltete Joe die Leselampe ein und küsste Seto kurz. Mit wenigen Schritten war er am Telefon und sprach in das Gerät: „Guten Tag. Hotel mit Meerblick. Chef am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Professionell, sachlich, aber in keinster Weise unfreundlich, stellte Seto fest. Erstaunlich. Ebenso wie das akute Fehlen eines Buches auf dem kleinen Tischchen mit der Leselampe. Da er den Hotelmanager nicht den ganzen Tag stur anschauen wollte, musste er sich nun ebenfalls erheben. „Ich geh mir ein Buch holen“, flüsterte er Joe ins freie Ohr, während dieser über bereits volle Häuser im September diskutierte. So viel zu 'nicht unfreundlich'. Das Zimmer hinter der Haustür war leer. Nur aus der Küche drangen ein paar Geräusche, die ihn nicht weiter interessierten. Aber weder von Martine, noch von dieser merkwürdigen Frau war etwas zu sehen. Erleichtert durchquerte er den Raum zum Bücherregal und besah sich die Auswahl. Die Werke waren grob nach Genre gegliedert und dann in sich nach Autor und Titel sortiert worden. Er hatte zwar keinen Verdacht wer, aber irgendwer schien sich eine Menge Mühe damit zu machen. Bücher, die viel versprechend aussahen, zog er ein klein wenig nach vorne, um die Ordnung selbst nicht zu zerstören. Mittlerweile schwankte er nur noch zwischen „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ und „Die Stadt der träumenden Bücher“, wobei hier der kleine Lindwurm auf dem Einband das ausschlaggebende Detail gewesen war. „Wenn Sie sich nicht entscheiden können, kann ich Ihnen auch bei der Wahl behilflich sein“, erklang es vom Durchgang zur Treppe. Erschrocken fuhr Seto herum und erblickte Pegasus, der ihn schon eine Weile zu beobachten schien. Auch wartete er seine Antwort nicht ab, sondern drückte ihm einfach ein großes, in Leder gebundenes Buch ohne Beschriftung in die Hand. „An Ihrer Stelle würde ich es hiermit versuchen.“ Setos Augenbraue rutschte nach oben. Was sollte er … Aus reiner Höflichkeit und in der Hoffnung seinen ungebetenen Beobachter schnellst möglich wieder los zu werden, schlug er die erste Seite auf. Nun wanderte auch die andere Augenbraue nach oben. „Wie kommen Sie darauf, dass ich so etwas lesen sollte?“, fragte er verwirrt. Pegasus unterdrückte deutlich ein Lächeln, als er erwiderte: „Es ersetzt zwar nicht die Jahre, die Sie verpasst haben, aber es ist zumindest ein Anfang. Möchten Sie mich außerdem auf einen kleinen Spaziergang begleiten? Dann kann ich ein paar weitere Ihrer Fragen beantworten.“ „Meinetwegen. Aber wieso müssen wir dazu“ Pegasus legte den Finger an die Lippen und deutete mit der anderen Hand nach links und nach rechts. Zu viele Mithörer. Also folgte Seto ihm nach draußen. Als das Hauptgebäude hinter den ersten Baumreihen verschwunden war, traute er sich die erste Frage zu stellen: „Was wollen Sie mir erzählen, das die anderen nicht hören sollen?“ Doch Pegasus schwieg für eine weitere Minute. Dann erst antwortete er: „Es gibt Dinge, die das Team und meinen Sohn zu sehr beunruhigen würden, wenn sie es wüssten. Außerdem ist das Ganze schon ein paar Jahre her und ich möchte sie nicht unnötig in Panik versetzen. Daher... Ich habe gehört, Sie sind etwas überfordert von der Art Beziehung, die ich zu Joseph habe?“ Seto nickte nur. So konnte man es auch ausdrücken. „Ich muss zugeben, die Geschichte ist wirklich etwas komplizierter. In der Zeit von Martines Schwangerschaft ging es mir nicht sonderlich gut, gesundheitlich betrachtet. Meine Eltern sind früh gestorben, meine Frau sogar deutlich jünger. Selbstverständlich hatte mir meine Schwester gezeigt, dass sie sehr wohl eigenständig war und auch ohne mich zu Recht kommen konnte, doch die Sorge des großen Bruders blieb natürlich. Was würde passieren, wenn es nicht gut für mich ausging? Wer würde sich um sie kümmern? Für sie da sein? Sie wieder aufbauen an den Tagen, an denen es ihr schlecht ging? Wie sollte ich ihr Wohl und das Wohl ihrer Kinder absichern? Ich brauchte jemand Zuverlässigen, der diese Aufgaben gewissenhaft für mich übernehmen würde.“ „Was war mit Matt? Joe sagte, er sei ein langjähriger Freund der Familie“, unterbrach Seto, in Gedanken bei Roland. „Wir hatten wenig Kontakt gehabt in den Jahren davor. Er hatte seine eigenen Probleme zu meistern. Zudem hatte er bereits in unserer Kindheit deutlich gemacht, dass er mit der Firma nichts zu tun haben wollte.“ Er musste sehr verdutzt drein gesehen haben, denn Pegasus fasste nach: „Illusion Industries ist im Kern die alte Firma meiner Mutter. Martine und ich sind die vierte Generation an Eigentümern und gleichzeitig Geschäftsführern. Wo waren wir? Ach, genau. Die Suche nach meinem 'Sekundant'. Es war reiner Zufall, dass ich in New York über Joseph stolperte. Er unterschied sich bereits damals schon stark von dem Jungen, der damals für seine Schwester beim Königreich der Duellanten teilgenommen hatte. Äußerlich zumindest. Sein Charakter hatte sich nur darin geändert, dass er noch genauer wusste, was er wollte, ohne dabei seine Prinzipien zu verraten. Familie und Freundschaft waren für ihn nach wie vor das wichtigste auf der Welt, auch wollte er nicht, dass andere Menschen seinetwegen leiden. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich damals beeindruckt hat, dass er das Geld für die OP von Serenity wollte und nicht für sich selbst. Bald war er wie ein kleiner Bruder für uns, von dem wir zwar nie etwas gewusst hatten, doch den wir die ganze Zeit über gebraucht hatten. Jeden Tag wurde ich mir sicherer, dass ich ihm Martine anvertrauen konnte. Aber da war noch das andere Problem: Wie konnte ich sichergehen, dass er in meinem Namen handeln konnte, wenn ich … Nun ja, es gab nur einen Weg, wie er vor dem Gesetz ein fester Teil der Familie würde werden können und es nicht seltsam zwischen uns werden würde. Natürlich sind acht Jahre nicht viel für ein Vater-Sohn-Verhältnis, aber es funktioniert.“ In Setos Kopf raste es. Immer wieder versuchte er die einzelnen Puzzleteile mit denen zusammen zu setzen, die er bereits kannte, doch es wollte nicht so ganz zusammen passen. „Ich verstehe immer noch nicht ganz“, setzte er vorsichtig an, während sie sich weiter von den anderen entfernten. „Das hat doch nichts mit Ihrem Unternehmen zu tun.“ „Doch, hat es. Martine hat sich mir gegenüber etwas schwammig ausgedrückt, daher weiß ich nicht, ob Sie über die Narben an ihren Armen Bescheid wissen.“ „Eigentlich schon.“ „Gut. Dann frage ich Sie jetzt: Hat Ihr Bruder als er jung war irgendetwas Gefährliches gemacht, von dem Sie jetzt wissen, dass er es nie wieder tun würde, aber Sie immer noch Angst haben, dass es doch erneut geschieht?“ Da musste Seto nicht lange überlegen. „Ja, hat er. Aber ich verstehe immer noch nicht...“ Doch dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Pegasus hatte für den Ernstfall geplant, dafür, dass die Zwillinge weder Mutter noch Onkel haben würden. Die Firma war ihr Erbe, aber das konnten sie erst deutlich später antreten. Vorher brauchten sie jemanden, der sich um sie kümmerte, jemanden, dem er blind vertrauen konnte, dass er die Situation nicht ausnutzen würde, klug entscheiden würde, sie zu guten Menschen aufzog. „Weiß er es?“ Seufzend zuckte Pegasus mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich vermute, er ahnt etwas. Aber direkt hat er es mir nicht gesagt. Allerdings bin ich nicht so dumm zu glauben, dass jemand, der so clever ist wie er, nicht eins und eins zusammen zählen kann und weiß, was hinter der ganzen Förderung wirklich steckte.“ Sein Blick wanderte zurück zu Seto. „Jetzt schauen Sie doch nicht so! Glauben Sie wirklich, ich könnte einen ungeschliffenen Diamanten ignorieren, wenn er sich in meiner Obhut befindet? Wobei ich eigentlich nicht mehr viel machen musste. Er scheint sich irgendwann von seiner Vergangenheit losgesagt zu haben und hat danach angefangen sich zu entwickeln. Ich habe lediglich dabei geholfen, sein volles Potenzial zu entfalten. Haben Sie weitere Fragen?“ Seto zögerte, unsicher, ob er sich diese Freiheit erlauben durfte, doch dann fragte er: „Wie stehe Sie das alles durch?“ „Was genau?“ „Nun ja, Ihre Verluste in der Vergangenheit, Ihre etwas seltsame Familiensituation. Das alles.“ „Und das fragen ausgerechnet Sie?“ „Ja. Denn es scheint Sie hätten eine andere Lösung als ich gefunden, damit umzugehen“, gab Seto ehrlich zu. „Familie!“, lachte Pegasus. „Meine Familie ist der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Sie steht an erster Stelle und gibt mir den nötigen Halt. Ich habe jemanden zum Lachen, aber auch zum Weinen. Wenn ich Hilfe brauche, ist sie für mich da, muntert mich auf, lenkt mich von meinen Problemen ab und hilft mir letzten Endes sie zu lösen. Auch erinnert sie mich daran, nicht immer alles so Ernst zu nehmen. Reicht das als Antwort?“ Die Worte lagen Seto auf der Zunge, doch schaffte er es nicht, sie auch tatsächlich auszusprechen. Deswegen erwiderte er nur: „Ja, es erklärt einiges.“ Pegasus hatte gelernt auf die schönen Dinge im Leben zu bauen und war glücklich. „Dann bringe ich Sie jetzt zurück. Joseph vermisst Sie sonst vielleicht doch noch und wir stehen unter dem Verdacht heimlich im Urlaub gearbeitet zu haben. Und glauben Sie mir, da wird er wirklich stinkig!“ Seto blieb also nichts anderes übrig, als hinter ihm herzugehen, vertraute er doch der Erfahrung des anderen. Allerdings wunderte es ihn, als sie kurz vor dem Hauptgebäude stehen blieben. Pegasus wandte sich ihm zu und sagte etwas, bevor er sich in Richtung Pool davon machte. Dann war Seto allein. Bewaffnet mit Fotoalbum und Jules Verne betrat er leise wieder das Büro und schlich zum Lesesessel, da Joe bereits wieder am Telefonhörer hing. Vorsichtig schlug er den Ledereinband auf und nahm sich nun Zeit für jedes einzelne Bild. Unter jedem stand in kleinen Buchstaben ein Datum und wer es aufgenommen hatte. Martines Name dominierte, doch auch Chef beziehungsweise bei den frühen Aufnahmen Jo und Maximillion waren zu finden, sowie zum Ende hin Clara und Ethan. Es gab offizielle Porträts, Familienbilder, bei denen sie alle ordentlich gekleidet für die Kamera posierten, doch auch ein Bild, auf dem Martine und Pegasus tief schlafend auf einem Sofa lagen gab es – zwei Säuglinge hell wach zwischen sich. Urlaubsschnappschüsse. Momentaufnahmen von Empfängen. Die Zwillinge auf Fahrrädern, Zahnlücken, mit Babybrei verschmiert, wie sie mit Joe tobten. Joe und sein Vater, jeder in einem alten Ledersessel und vornehm die Zeitung lesend. Martine allein, Klavier spielend und mit einem Ausdruck, als existiere die restliche Welt um sie herum nicht. Doch der Moment, in dem es um Seto geschehen war, war als ein Foto zwischen den Seiten herausrutschte, das offensichtlich nicht fest eingeklebt war. Es war älter als der Rest und begann zu vergilben. Man sah zwei Kinder, verschieden alt, aber sich so ähnlich, dass sie nur Geschwister sein konnten. Das Ältere hatte beschützend den Arm um die Schulten des Jüngeren gelegt und beide grinsten breit in die Kamera. Überlegen Sie sich, was Sie wirklich vom Leben wollen. Oder zumindest, was Sie sich von dieser Beziehung versprechen. Er schluckte schwer. Es gab solche Aufnahmen auch von ihm und Mokuba. Seiner Familie. „Kommt ihr zum Essen raus?“, forderte Yuki und unterbrach beide Männer in ihrer Beschäftigung. Joe bejahte und speicherte die Kostenkalkulation, an der er gesessen hatte, während Seto das Lesezeichen zwischen die Seiten legte. Ursprünglich hatte er seine Hilfe bei der Kalkulation angeboten, als der Telefonterror aufgehört hatte und der Hotelmanager endlich Zeit für ihn hatte. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass er keine Ahnung davon hatte, was und in welchen Mengen so ein Hotel brauchte. Etwas verschnupft hatte er sich zuerst auf den Beobachterposten neben den Computer gesetzt und schließlich seine Lektüre fortgesetzt. „Kommst du?“ Gemeinsam setzten sie sich zum Team, das sich bereits um den Esstisch im Aufenthaltsraum gequetscht hatte. „Wo ist Mokuba?“, wollte Seto wissen. Martine, deren Stuhl mit einer großen Folie abgedeckt war, antwortete: „Draußen bei meinem Bruder. Sie spielen eine Runde Duell Monsters und wollten nicht unterbrechen.“ Unter Cians strengem Blick schälte sich sich aus den Ärmeln des Overalls. „Achso“, sagte er daraufhin als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ausgerechnet diese beiden sich duellierten. Yuki machte ihm auf der Bank Platz und Shin häufte Kartoffelsalat auf seinen Teller. Joe hingegen musste sich selbst bedienen und bot dabei einen lustigen Anblick, da er jeden Kontakt mit Martine vermied, um nichts von der Farbe abzubekommen. Doch sie fragte nicht ihn, sondern Seto: „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ist es. Ich war nur kurz in Gedanken.“ Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er sie angestarrt hatte. Sie ihrerseits blickte ihm einen Moment zu lange in die Augen, bevor sie erwiderte: „Dann ist es ja gut.“ Doch seine Verwirrtheit hielt den Tag über an. Er ertappte sich dabei, während des Nachttischs – Eclair – nachzudenken. Während des Abräumens, auch wenn Shin und Hans beteuerten, er müsse ihnen nicht helfen. Während Joe sich einen Nachschlag der besonderen Art bei ihm holte, bevor er wieder ans Telefon musste. Während er las. Immer wieder kamen seine Gedanken zurück zu diesem einen Thema und ließen sich nicht abschalten. Als die Zwillinge hereinstürmten, gefolgt von Martine, völlig aufgekratzt und mit leuchtenden Augen. Das machte es nicht gerade besser. „So. Fertig für heute!“ „Schon?“ „Schon? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist höchste Zeit, dass wir beide ins Bett kommen!“ Seto nickte langsam und legte dann das Lesezeichen zwischen die Seiten. „Okay, meinetwegen.“ Kapitel 17: Dienstag 2.8. Version 2 ----------------------------------- Vor sich hindösend spürte er wie die Matratze nachgab. Vorsichtig drehte er sich um und umschloss die Wärme neben ihm mit seinen Armen. Zur Bestätigung sog er den Geruch der Person ein und atmete zufrieden wieder aus. Glücklich schlief er ein. Neben ihm bewegte sich etwas. Seto konnte nicht genau sagen, ob ihn die Bewegung geweckt hatte oder er sie dadurch bemerkte, dass er gerade aufgewacht war. Aber das war im Moment nicht wichtig. Wichtig war nur, dass es Joe war, der sich da bewegte und anscheinend gehofft hatte heimlich aufzustehen. „Wohin willst du?“, grummelte Seto, während er doch tatsächlich die Frechheit besaß sich aufzurichten. „Arbeiten.“ „Arbeiten? Draußen ist es noch dunkel und ich hatte immer gedacht, du seist ein Morgenmuffel! Lass dir was Besseres einfallen.“ „Was Besseres also?“ Trotz des trüben Lichts war das herausfordernde Lächeln erkennbar. Innerlich fluchte Seto. Hauptsache seine unteren Regionen waren wach, Verstand wurde ja total überbewertet! „Ja, bitte!“, machte er keinen Hehl aus seiner schlechten Laune. „Nun gut. Dann spitz mal deine süßen Lauscher! Ich habe momentan Hauptsaison in meinem Hotel. Doch anstatt mich um die Gäste und den allgemeinen Ablauf zu kümmern, hat ein einzelner Gast mehrere Tage hintereinander eine Rundumspezialbehandlung erhalten. Die Kurzfassung lautet also: Wenn du mich während deines Aufenthaltes irgendwann noch einmal zu Gesicht bekommen möchtest, muss ich jetzt anfangen zu arbeiten, denn sonst hat sich ein Berg angehäuft, den ich bis Oktober nicht wieder abgearbeitet habe.“ Setos Protest wurde einfach in einem langen Abschiedskuss erstickt. „Ich schick dir Yuki mit dem Frühstück vorbei. Danach kannst du mich, wenn du magst, besuchen kommen.“ Und weg war er. Seto wusste nicht recht, was er von der ganzen Aktion halten sollte. Natürlich, er selbst war auch ein Workaholic, aber dass sein Hündchen Arbeit anziehender fand als ihn in seiner morgendlichen Pracht? Unverschämtheit! Der konnte sich auf was gefasst machen! Aber erstmal... Das Bett war wirklich gemütlich. Das Gähnen ließ sich einfach nicht unterdrücken. Als er sich irgendwann aus den zwei Bettdecken pulte, in die er sich im Schlaf gewickelt hatte, war es draußen bereits hell. Der Tag war diesig und im Stehen konnte er die Sonne nicht mehr erkennen. Er mutierte wirklich allmählich zum Langschläfer. Aber wofür gab es denn sonst den wunderbaren, braunen Treibstoff für seinen Motor? Statt auf die Uhr zu sehen, setzte Seto Kaffee auf und ging ins Bad. Er duschte kurz und zog sich frische Sachen an. Anschließend widmete er sich der grauen Transportkiste, die dezent auf der Schwelle zum Flur stand. Yuki schien bereits da gewesen zu sein. Es gab Grießbrei und Obst. Zusammen mit dem Kaffee stellte er sich alles auf den Esstisch. Genüsslich aß er alles auf und trank in Ruhe seinen Kaffee. Im Anschluss spülte er ab und verstaute die Behälter in der Transportkiste. Kurz überlegte er sich noch einmal, ob er seine Zeit nicht sinnvoller nutzen konnte, als den ganzen Tag bei Joe im Büro herumzusitzen. Aber insgeheim interessierte es ihn schon ein bisschen wie sein Hündchen normalerweise den Tag verbrachte. Besiegt von seiner eigenen Neugier zog er sich die Schuhe an und machte sich, die Transportkiste unter den Arm geklemmt, auf in Richtung Hauptgebäude. Durch die gewohnte Tür betrat er es und sah sich dann etwas verloren um. Joe hätte ihm wirklich verraten können, wo sein Büro lag! Doch dann bemerkte ihn Martine, die gerade aus dem Flur kam. „Guten Morgen, Mister Kaiba! Soll ich die Kiste mit zu Shin nehmen?“ Sie durchquerte in einem seltsamen, langärmligen Overall den Raum und hielt ihm auffordernd die Hände entgegen. „Ja, bitte“, nahm Seto ihr Angebot an und blickte sich weiter verwirrt um. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ „Joes Büro?“, antwortete er, wobei so viel Unsicherheit in seiner Stimme mitschwang, dass es sich wie eine Frage anhörte. „Er muss heute arbeiten und hat gemeint, ich könne vorbeischauen.“ Seine Erklärung klang lahm. Außerdem. Seit wann rechtfertigte er sich? Doch Martine nickte bloß und deutete dann auf einen Flur, der zu Setos Linker vom Raum abging. „Einfach durchlaufen und dann klopfen. Dann viel Spaß heute.“ „Danke. Ihnen auch“, erwiderte er gestelzt „Den werde ich haben. Haus 5 bekommt einen neuen Anstrich. Also...“ Sie hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt und war mit dem letzten Wort rückwärts durch die Tür zur Küche verschwunden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihrer simplen Wegbeschreibung zu folgen. Vor der Tür selbst wartete er und klopfte zögerlich. Lange musste er nicht warten. Den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt öffnete ihm Joe und deutete stumm auf einen bequemen Sessel im hinteren Teil des Büros. Seto nahm Platz und sah sich anschließend in Ruhe um. Es war bis auf eine kleine Lampe am großen Schreibtisch in der Ecke und den verschiedenen Monitoren dunkel. Die Jalousien waren heruntergelassen. Auch die eher karge Einrichtung war in dunklen Farbtönen gehalten, da half auch die weiße Wandfarbe nicht mehr. Das war kein Büro, sondern eine Arbeitshöhle! Würde er es wagen, seinen Angestellten solche Arbeitsbedingungen zuzumuten, würde keine Stunde später irgendein nerviger Vertreter der entsprechenden Gewerkschaft bei ihm vor der Tür stehen und sich lauthals über diese unmenschlichen Zustände beschweren. Aber Joe tat sich das hier wohl freiwillig an. „Soll ich das Deckenlicht anmachen, damit du alles etwas besser sehen kannst?“ In Gedanken vertieft hatte Seto nicht gemerkt, dass das Telefonat beendet war. „Nein, geht schon. Ich weiß zwar nicht, wie du es hier drin aushältst, aber so lange es dir gefällt...“ „Tut es. Es hilft dabei mich zu fokussieren. Sonst sehne ich mich noch die Hälfte meiner Arbeitszeit nach der schönen Welt da draußen.“ „Und wonach sehnst du dich stattdessen?“, rutschte es Seto heraus. Natürlich saß er mit dem Rücken von der großen Fensterfront in seinem Büro abgewandt, was jedoch nicht hieß, dass er nicht ab und zu mal nach draußen blickte. „Unter anderem danach, dass ich einen Tag lang von einem gutaussehenden Mann angeschmachtet werde, der es sich auf meinem Lesesessel gemütlich gemacht hat“, setzte sich Joe auf Setos Beine und küsste ihn sanft. „Nur leider wollen ausgerechnet heute eine Menge Leute etwas von mir und ich kann diesen Zustand nicht in vollem Umfang genießen.“ „Macht nichts. Gibt es zu deinem Lesesessel auch eine Leselampe? Dann bleibe ich vielleicht sogar freiwillig hier, während du brav telefonierst und die anderen Dinge machst, die du so machst.“ Tatsächlich hatte er nicht einen blassen Schimmer, was Joe eigentlich alles zu machen hatte, damit das Hotel lief. Aber vielleicht würde er es erfahren, wenn er tatsächlich hier eine Weile saß. Seine sonstigen Ideen für den Tag waren zumindest nicht spannender gewesen. „Buchungen überprüfen, Belegungen optimieren, unsere Vorräte kontrollieren und auffüllen lassen, für die Sicherheit sorgen und eine ganze Reihe anderer Sachen“, wurde mit einem Augenrollen ergänzt, da das Telefon bereits wieder klingelte. Bevor er aufstand, schaltete Joe die Leselampe ein und küsste Seto kurz. Mit wenigen Schritten war er am Telefon und sprach in das Gerät: „Guten Tag. Hotel mit Meerblick. Chef am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Professionell, sachlich, aber in keinster Weise unfreundlich, stellte Seto fest. Erstaunlich. Ebenso wie das akute Fehlen eines Buches auf dem kleinen Tischchen mit der Leselampe. Da er den Hotelmanager trotz seiner Neugier nicht den ganzen Tag stur anschauen wollte, musste er sich nun ebenfalls erheben. „Ich geh mir ein Buch holen“, flüsterte er Joe ins freie Ohr, während dieser über bereits volle Häuser im September diskutierte. So viel zu 'nicht unfreundlich'. Das Zimmer hinter der Haustür war leer. Nur aus der Küche drangen ein paar Geräusche, die ihn nicht weiter interessierten. Von Martine war nichts zu sehen. Erleichtert durchquerte er den Raum zum Bücherregal und besah sich die Auswahl. Die Werke waren grob nach Genre gegliedert und dann in sich nach Autor und Titel sortiert worden. Er hatte zwar keinen Verdacht wer, aber irgendwer schien sich eine Menge Mühe damit zu machen. Bücher, die viel versprechend aussahen, zog er ein klein wenig nach vorne, um die Ordnung selbst nicht zu zerstören. Mittlerweile schwankte er nur noch zwischen „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ und „Die Stadt der träumenden Bücher“, wobei hier der kleine Lindwurm auf dem Einband das ausschlaggebende Detail gewesen war. „Wenn Sie sich nicht entscheiden können, kann ich Ihnen auch bei der Wahl behilflich sein“, erklang es vom Durchgang zur Treppe. Erschrocken fuhr Seto herum und erblickte Pegasus, der ihn schon eine Weile zu beobachten schien. Auch wartete er seine Antwort nicht ab, sondern drückte ihm einfach ein großes, in Leder gebundenes Buch ohne Beschriftung in die Hand. „An Ihrer Stelle würde ich es hiermit versuchen.“ Setos Augenbraue rutschte nach oben. Was sollte er … Aus reiner Höflichkeit und in der Hoffnung seinen ungebetenen Beobachter schnellst möglich wieder los zu werden, schlug er die erste Seite auf. Nun wanderte auch die andere Augenbraue nach oben. „Wie kommen Sie darauf, dass ich so etwas lesen sollte?“, fragte er verwirrt. Pegasus unterdrückte deutlich ein Lächeln, als er erwiderte: „Es ersetzt zwar nicht die Jahre, die Sie verpasst haben, aber es ist zumindest ein Anfang. Möchten Sie mich außerdem auf einen kleinen Spaziergang begleiten? Dann kann ich ein paar weitere Ihrer Fragen beantworten.“ „Meinetwegen. Aber wieso müssen wir dazu...“ Pegasus legte den Finger an die Lippen und deutete mit der anderen Hand nach links und nach rechts. Zu viele Mithörer. Also folgte Seto ihm nach draußen. Als das Hauptgebäude hinter den ersten Baumreihen verschwunden war, traute er sich die erste Frage zu stellen: „Was wollen Sie mir erzählen, das die anderen nicht hören sollen?“ Doch Pegasus schwieg für eine weitere Minute. Dann erst antwortete er: „Es gibt Dinge, die das Team und meinen Sohn zu sehr beunruhigen würden, wenn sie es wüssten. Außerdem ist das Ganze schon ein paar Jahre her und ich möchte sie nicht unnötig in Panik versetzen. Daher... Ich habe gehört, Sie sind etwas überfordert mit der Art von Beziehung, die ich zu Joseph habe?“ Seto nickte nur. So konnte man es auch ausdrücken. „Ich muss zugeben, die Geschichte ist wirklich etwas komplizierter. In der Zeit von Martines Schwangerschaft ging es mir nicht sonderlich gut, gesundheitlich betrachtet. Meine Eltern sind früh gestorben, meine Frau sogar deutlich jünger. Selbstverständlich hatte mir meine Schwester gezeigt, dass sie sehr wohl eigenständig war und auch ohne mich zu Recht kommen konnte, doch die Sorge des großen Bruders blieb natürlich. Was würde passieren, wenn es nicht gut für mich ausging? Wer würde sich um sie kümmern? Für sie da sein? Sie wieder aufbauen an den Tagen, an denen es ihr schlecht ging? Wie sollte ich ihr Wohl und das Wohl ihrer Kinder absichern? Ich brauchte jemand Zuverlässigen, der diese Aufgaben gewissenhaft für mich übernehmen würde.“ „Was war mit Matt? Joe sagte, er sei ein langjähriger Freund der Familie“, unterbrach Seto, in Gedanken bei Roland. „Wir hatten wenig Kontakt gehabt in den Jahren davor. Er hatte seine eigenen Probleme zu meistern. Zudem hatte er bereits in unserer Kindheit deutlich gemacht, dass er mit der Firma nichts zu tun haben wollte.“ Er musste sehr verdutzt drein gesehen haben, denn Pegasus fasste nach: „Industrial Illusions ist im Kern die alte Firma meiner Mutter. Martine und ich sind die vierte Generation an Eigentümern und gleichzeitig Geschäftsführern. Wo waren wir? Ach, genau. Die Suche nach meinem 'Sekundant'. Es war reiner Zufall, dass ich in New York über Joseph stolperte. Er unterschied sich bereits damals schon stark von dem Jungen, der einst für seine Schwester beim Königreich der Duellanten teilgenommen hatte. Äußerlich zumindest. Sein Charakter hatte sich nur darin geändert, dass er noch genauer wusste, was er wollte, ohne dabei seine Prinzipien zu verraten. Familie und Freundschaft waren für ihn nach wie vor das wichtigste auf der Welt, auch wollte er nicht, dass andere Menschen seinetwegen leiden. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich damals beeindruckt hat, dass er das Geld für die OP von Serenity wollte und nicht für sich selbst. Bald war er wie ein kleiner Bruder für uns, von dem wir zwar nie etwas gewusst hatten, doch den wir die ganze Zeit über gebraucht hatten. Jeden Tag wurde ich mir sicherer, dass ich ihm Martine anvertrauen konnte. Aber da war noch das andere Problem: Wie konnte ich sichergehen, dass er in meinem Namen handeln konnte, wenn ich … Nun ja, es gab nur einen Weg, wie er vor dem Gesetz ein fester Teil der Familie würde werden können und es nicht seltsam zwischen uns werden würde. Natürlich sind acht Jahre nicht viel für ein Vater-Sohn-Verhältnis, aber es funktioniert.“ In Setos Kopf raste es. Immer wieder versuchte er die einzelnen Puzzleteile mit denen zusammen zu setzen, die er bereits kannte, doch es wollte nicht so ganz zusammen passen. „Ich verstehe immer noch nicht ganz“, setzte er vorsichtig an, während sie sich weiter vom Hauptgebäude entfernten. „Das hat doch nichts mit Ihrem Unternehmen zu tun.“ „Doch, hat es. Martine hat sich mir gegenüber etwas schwammig ausgedrückt, daher weiß ich nicht, ob Sie über die Narben an ihren Armen Bescheid wissen.“ „Eigentlich schon.“ „Gut. Dann frage ich Sie jetzt: Hat Ihr Bruder als er jung war irgendetwas Gefährliches gemacht, von dem Sie jetzt wissen, dass er es nie wieder tun würde, aber Sie immer noch Angst haben, dass es doch erneut geschieht?“ Da musste Seto nicht lange überlegen. „Ja, hat er. Aber ich verstehe immer noch nicht...“ Doch dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Pegasus hatte für den Ernstfall geplant, dafür, dass die Zwillinge weder Mutter noch Onkel haben würden. Die Firma war ihr Erbe, aber das konnten sie erst deutlich später antreten. Vorher brauchten sie jemanden, der sich um sie kümmerte, jemanden, dem er blind vertrauen konnte, dass er die Situation nicht ausnutzen würde, klug entscheiden würde, sie zu guten Menschen aufzog. „Weiß er es?“ Seufzend zuckte Pegasus mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich vermute, er ahnt etwas. Aber direkt hat er es mir nicht gesagt. Allerdings bin ich nicht so dumm zu glauben, dass jemand, der so clever ist wie er, nicht eins und eins zusammen zählen kann und weiß, was hinter der ganzen Förderung wirklich steckte.“ Sein Blick wanderte zurück zu Seto. „Jetzt schauen Sie doch nicht so! Glauben Sie wirklich, ich könnte einen ungeschliffenen Diamanten ignorieren, wenn er sich in meiner Obhut befindet? Wobei ich eigentlich nicht mehr viel machen musste. Er scheint sich irgendwann von seiner Vergangenheit losgesagt zu haben und hat danach angefangen sich zu entwickeln. Ich habe lediglich dabei geholfen, sein volles Potenzial zu entfalten. Haben Sie weitere Fragen?“ Seto zögerte, unsicher, ob er sich diese Freiheit erlauben durfte, doch dann fragte er: „Wie stehen Sie das alles durch?“ „Was genau?“ „Nun ja, Ihre Verluste in der Vergangenheit, Ihre etwas seltsame Familiensituation. Das alles.“ „Und das fragen ausgerechnet Sie?“ „Ja. Denn es scheint Sie hätten eine andere Lösung als ich gefunden, damit umzugehen“, gab Seto ehrlich zu. „Familie!“, lachte Pegasus. „Meine Familie ist der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Sie steht an erster Stelle und gibt mir den nötigen Halt. Ich habe jemanden zum Lachen, aber auch zum Weinen. Wenn ich Hilfe brauche, ist sie für mich da, muntert mich auf, lenkt mich von meinen Problemen ab und hilft mir letzten Endes diese zu lösen. Auch erinnert sie mich daran, nicht immer alles so Ernst zu nehmen. Reicht das als Antwort?“ Die Worte lagen Seto auf der Zunge, doch schaffte er es nicht, sie auch tatsächlich auszusprechen. Deswegen erwiderte er nur: „Ja, es erklärt einiges.“ Pegasus hatte gelernt auf die schönen Dinge im Leben zu bauen und war glücklich. „Dann bringe ich Sie jetzt zurück. Joseph vermisst Sie sonst vielleicht doch noch und wir stehen unter dem Verdacht heimlich im Urlaub gearbeitet zu haben. Und glauben Sie mir, da wird er wirklich stinkig!“ Seto blieb also nichts anderes übrig, als hinter ihm herzugehen, vertraute er doch der Erfahrung des anderen. Allerdings wunderte es ihn, als sie kurz vor dem Hauptgebäude stehen blieben. Pegasus wandte sich ihm zu. „Überlegen Sie sich, was Sie wirklich vom Leben wollen. Oder zumindest, was Sie sich von dieser Beziehung versprechen“, gab er ihm einen letzten Rat, bevor er sich in Richtung Pool davon machte. Dann war Seto allein. Bewaffnet mit Fotoalbum und Jules Verne betrat er leise wieder das Büro und schlich zum Lesesessel, da Joe bereits wieder am Telefonhörer hing. Vorsichtig schlug er den Ledereinband auf und nahm sich nun Zeit für jedes einzelne Bild. Unter jedem stand in kleinen Buchstaben ein Datum und wer es aufgenommen hatte. Martines Name dominierte, doch auch Chef beziehungsweise bei den frühen Aufnahmen Jo und Maximillion waren zu finden, sowie zum Ende hin Clara und Ethan. Es gab offizielle Porträts, Familienbilder, bei denen sie alle ordentlich gekleidet für die Kamera posierten, doch auch ein Bild, auf dem Martine und Pegasus tief schlafend auf einem Sofa lagen gab es – zwei Säuglinge hell wach zwischen sich. Urlaubsschnappschüsse. Momentaufnahmen von Empfängen. Die Zwillinge auf Fahrrädern, Zahnlücken, mit Babybrei verschmiert, wie sie mit Joe tobten. Joe und sein Vater, jeder in einem alten Ledersessel und vornehm die Zeitung lesend. Martine allein, Klavier spielend und mit einem Ausdruck, als existiere die restliche Welt um sie herum nicht. Doch der Moment, in dem es um Seto geschehen war, war als ein Foto zwischen den Seiten herausrutschte, das offensichtlich nicht fest eingeklebt war. Es war älter als der Rest und begann zu vergilben. Man sah zwei Kinder, verschieden alt, aber sich so ähnlich, dass sie nur Geschwister sein konnten. Das Ältere hatte beschützend den Arm um die Schulten des Jüngeren gelegt und beide grinsten breit in die Kamera. Überlegen Sie sich, was Sie wirklich vom Leben wollen. Er schluckte schwer. Es gab solche Aufnahmen auch von ihm und Mokuba. Seiner Familie. „Kommt ihr zum Essen raus?“, forderte Yuki und unterbrach beide Männer in ihrer Beschäftigung. Joe bejahte und speicherte die Kostenkalkulation, an der er gesessen hatte, während Seto das Lesezeichen zwischen die Seiten legte. Ursprünglich hatte er seine Hilfe bei der Kalkulation angeboten, als der Telefonterror aufgehört hatte und der Hotelmanager endlich Zeit für ihn hatte und ihm nebenher erklärte, was er tat. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass er keine Ahnung davon hatte, was und in welchen Mengen so ein Hotel brauchte. Etwas verschnupft hatte er sich zuerst auf den Beobachterposten neben den Computer gesetzt und schließlich seine Lektüre fortgesetzt. „Kommst du?“ Gemeinsam setzten sie sich zum Team, das sich bereits um den Esstisch im Aufenthaltsraum gequetscht hatte. „Wo ist Mokuba?“, wollte Seto wissen. Martine, deren Stuhl mit einer großen Folie abgedeckt war, antwortete: „Draußen bei meinem Bruder. Sie spielen eine Runde Duel Monsters und wollten nicht unterbrechen.“ Unter Cians strengem Blick schälte sich sich aus den Ärmeln des Overalls. „Achso“, sagte er daraufhin als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ausgerechnet diese beiden sich duellierten. Yuki machte ihm auf der Bank Platz und Shin häufte Kartoffelsalat auf seinen Teller. Joe hingegen musste sich selbst bedienen und bot dabei einen lustigen Anblick, da er jeden Kontakt mit Martine vermied, um nichts von der Farbe abzubekommen. Endlich mit Essen versorgt, fiel ihm etwas anderes auf: „Wo sind Ethan und Clara?“ „Mit einer Freundin im Freizeitpark. Sie hatte es mir angeboten, damit ich mal einen Tag Ruhe habe – und ihr auch.“ „Und deswegen renovierst du in der Zeit?“ Sie zuckte mit den Schultern. Doch fragte sie Seto: „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ist es. Ich war nur kurz in Gedanken.“ Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er sie angestarrt hatte. Sie ihrerseits blickte ihm einen Moment zu lange in die Augen, bevor sie erwiderte: „Dann ist es ja gut.“ Doch seine Verwirrtheit hielt den Tag über an. Er ertappte sich dabei, während des Nachtischs – Eclair – nachzudenken. Während des Abräumens, auch wenn Shin und Hans beteuerten, er müsse ihnen nicht helfen. Während Joe sich einen Nachschlag der besonderen Art bei ihm holte, bevor er wieder ans Telefon musste. Während er las. Immer wieder kamen seine Gedanken zurück zu diesem einen Thema und ließen sich nicht abschalten. Als die Zwillinge hereinstürmten, gefolgt von Martine, völlig aufgekratzt und mit leuchtenden Augen. Das machte es nicht gerade besser. „So. Fertig für heute!“ „Schon?“ Er war noch nicht ganz durch mit dem Buch und hatte über seine Grübeleien die Zeit ganz vergessen. „Schon? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist höchste Zeit, dass wir beide ins Bett kommen!“ Seto nickte langsam und legte dann das Lesezeichen zwischen die Seiten. „Okay, meinetwegen.“ Selbst Joes zweideutiges Grinsen war ihm entgangen. Kapitel 18: Mittwoch 3.8. ------------------------- Es gab nette Methoden um geweckt zu werden. Es gab sanfte Methoden um geweckt zu werden. Und es gab Joseph Pegasus. Hatte er je eine der eben genannten Methoden je gekannt, so hatte er sie an diesem Morgen just alle vergessen. Unsanft landete Seto auf dem Boden, nachdem er sich dreimal geweigert hatte doch endlich aufzustehen. „Los! Zieh dich an! Wir sind spät dran!“ „Du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Es ist noch dunkel draußen!“ Augenblicklich wurde er vom Deckenlicht geblendet. Das machte es nicht besser. „Schmollst du jetzt etwa?“ Stille. „Ach komm schon!“, kniete sich Joe vor ihn und drehte seinen Kopf bestimmt zu sich. „Es tut mir Leid, dass ich dich so grob wecken musste. Doch leider haben wir heute morgen etwas zu erledigen. Und das muss geschehen sein, bevor die Zwillinge aufgestanden sind.“ Unter dem darauf folgenden bösen Blick zuckte er noch nicht einmal zusammen. „Ein Kuss und nachher Hans' Spezialfrühstück mit dreifachem Espresso?“ Die Erwähnung von Kaffee zeigte eine erstaunliche Wirkung: „Okay. Lass mich nur ganz kurz noch ins Bad.“ „Natürlich!“ Seto erhielt den versprochenen Kuss, erhob sich und tapste etwas unsicher in Richtung gefliestem Rückzugsort. Was immer er darin getan hatte, es schien zu helfen. Als er wieder ins Wohnzimmer trat, befand er sich fast auf dem Standard eines regulären Arbeitstages. Schnell schlüpfte er in die Sachen vom Vortag, um das Bild zu vervollständigen. „Können wir?“ „Ich warte nur auf dich!“ Auf dem Weg zum Hauptgebäude erklärte Joe ihm kurz den Plan. Am Vortag war endlich das eigentliche Geburtstagsgeschenk für die Zwillinge angekommen. Da diese aber dank Martines Freundin viel zu aufgedreht gewesen waren, hatte Matt, der das Paket entgegen genommen hatte, entschieden lieber alles erst am nächsten Tag in aller Früh aufzubauen. Seto hielt die ganze Aktion dennoch für sehr riskant. Da aber der riskante Teil – die Zwillinge eine Woche lang hinhalten – vorbei und scheinbar erfolgreich überstanden war, ließ er sich von Joe beruhigen. In der heller werdenden Morgendämmerung konnte er schließlich Matt und Cian erkennen, die eine große Plane zwischen Hauptgebäude und Pool auslegten. „Ihr kommt genau richtig“, begrüßte der Kanadier sie. „Wir versuchen bereits seit fünf Minuten diese Bodenschutzplane richtig zu platzieren, doch jedes Mal verrutscht sie!“ Joe ging gefährlich nahe am Poolrand hinüber zu Cian und hob die freie Ecke an. Stumm formte er mit den Lippen ein „Wohin?“. Cian deutete es ihm an und nachdem Seto sich ebenfalls nützlich machte, war es wirklich ein Kinderspiel. Anschließend folgte der wirklich schwierige Part. Vorsichtig hob Matt das bunte, große Etwas aus einer großen Kiste an der Hausecke. „Bevor wir die Burg aufpumpen, muss sich richtig liegen. Sie wurde in der Fabrik bereits geprüft. Das Befüllen mit Luft sollte daher kein Problem werden. Aber vorher müssen wir sie korrekt hinlegen. Ursprünglich hatten wir die Öffnung zum Strand zeigen lassen wollen. Dann hat aber Martine ihre Bedenken geäußert, dass die Zwillinge versuchen würden von der Burg aus direkt in den Pool zu springen. Ganz dran können wir sie nicht stellen, da man sonst nicht hinein käme. Wir haben uns deshalb darauf geeinigt, die Öffnung in diese Richtung zeigen zu lassen“, er machte eine unbestimmte Geste hinter sich, „sodass man direkt, wenn man vom Haus kommt, drauf kann.“ Der Rest nickte zustimmend und half dann beim Entfalten des schweren Stoffes. Sie hatten Glück und machten bereits bei ihrem ersten Versuch alles richtig. Cian schloss nur noch den Kompressor an und binnen kürzester Zeit stand die Hüpfburg vor ihnen. „Wollt ihr sie euch mal ansehen, bevor die Zwillinge sie in Beschlag nehmen?“, wollte Joe mit einem gewissen Stolz in der Stimme wissen. Cian wackelte begeistert mit dem Kopf, Matt zuckte schlicht mit den Schultern und Seto versuchte sich keinerlei Regung anmerken zu lassen. Die braune Außenwand der Burg mit ihren aufgemalten Steinen erinnerte ihn an etwas, er konnte nur nicht genau benennen an was. „Dann alle Mann Schuhe aus und mir folgen!“, flüsterte der Blondschopf neben ihm, deutlich leiser als der Kompressor jemals im Betrieb hätte sein können. Brav gehorchten sie alle und Seto begriff schnell, was an dieser Hüpfburg so anders war. Das Muster der Steine setzte sich in ihrem Inneren fort, war aber stellenweise verdeckt durch bunte Zeichnungen. Genauer gesagt waren sie so auf den Stoff gedruckt worden, dass es aussah als schwebten sie etwas über ihm. Wo er selbst mit aufwändigen Projektionstechniken gearbeitet hätte, waren hier optische Täuschungen verwendet worden. „Mund zu, es zieht“, stieß ihm Cian den Ellenbogen sanft in die Rippen, während Matt Joe zu den Details ausquetschte und welche Monster nun denn dort abgebildet seien. Denn Monster waren es. Duell Monster! Seto drehte sich um seine eigene Achse, um einen Gesamteindruck zu erhalten. Als sein Blick am Ausgang hängen blieb, an dem sich ein schwarzer und ein weißer Drache gegenüber saßen konnte er nicht mehr an sich halten. „Das Königreich der Duellanten!“, rief er verblüfft aus. Jetzt ergab auch die Steinoptik einen Sinn. „Aber...“ Der restliche Satz ging in fröhlichem Kinderkreischen unter. Ethan und Clara, barfuß und noch in ihren Schlafanzügen, kamen auf sie zugestürmt und rissen vor lauter Begeisterung nicht nur Joe, sondern auch ihn um. Genauso schnell waren sie wieder auf den Beinen und sprangen aufgekratzt in der Burg umher. Joe kam auch sehr schnell auf die Füße und half dann Seto, der diesen Angriff nicht hatte kommen sehen. „Am besten du bleibst selbst immer etwas in Bewegung. Dann verliert man nicht so schnell das Gleichgewicht.“ Dankend nahm er den Rat an und beobachtete gespannt, wie Matt genug Höhe erreichte um einen Salto zu machen. „Ich dachte, ihr wolltet das heimlich machen?“, fragte eine weibliche Stimme, bevor sie im strengeren Ton sagte: „Clara, du musst nicht allen Blödsinn gleich nachmachen.“ Sie war haarscharf gerade noch auf dem Rücken gelandet, nachdem sie versucht hatte Matts Kunststück nachzumachen. „Und wenn ich ihr zeige wie es richtig geht, kleines Klecksmonster?“, konterte Matt provokativ. „Matthew“, grollte Martine zurück und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Du wirst nicht vor meinen Kindern meine Autorität untergraben!“ „Dann zeig du es ihnen, Klecksmonster.“ Ihn wütend anfunkelnd kontrollierte sie den Halt des Overallgürtels und betrat die Hüpfburg. Schnell sprang sie auf die entsprechende Höhe und machte erst einen Salto vorwärts und anschließend rückwärts. „Angeber!“, kommentiert Matt das Geschehen, während Martine sich ihren Kindern zuwandte. „Hält die Burg so viel Belastung eigentlich aus? Wir sind inzwischen fünf Erwachsene und zwei Kinder hier drin“, äußerte Seto seine Bedenken gegenüber Joe. Der winkte nur ab und erklärte: „Die Burg kann angeblich bis zu 20 Erwachsene aushalten. Aber wenn es dir zu heikel ist, können wir gerne raus und frühstücken. So fit wie Martine aussieht müsste es bei Hans schon Kaffee geben. Und vielleicht ist er auch schon mit dem Frühstück so weit.“ Das klang doch mal vernünftig. Besonders da er allmählich Platzangst bekam, bei all den umher fliegenden Gliedmaßen. Der Kaffee war tatsächlich schon fertig. Genauso wie das Müsli mit frischem Obst und Joghurt. Yuki, die schon am Tisch saß, schmollte, weil Hans in der Küche noch die Eier und Bratwürstchen zubereitete und Shin seinen freien Tag hatte. Doch als sie sie sah, hellte sich ihre Miene auf: „Prima! Ich muss nicht allein essen!“ „Hat Martine dich im Stich gelassen?“, wollte Joe wissen und setzte sich auf einen Stuhl, während Seto neben ihr auf der Bank Platz nahm. „So sieht es aus. Hat nur ihren Kaffee hinunter gestürzt und war dann weg. Keine Ahnung, ob sie nochmal kommt oder gleich rüber geht zu Haus 6, um weiter zu renovieren. Auf jeden Fall hatte sie schon den Maleroverall an. Meinte, heute wäre die Kontrastfarbe dran. Du weißt nicht, was sie genau plant, oder, Chef?“ Joe verneinte und schob sich den ersten Löffel Müsli in den Mund. „Ich habe aber heute auch wieder einiges zu tun.“ „Dann frag ich nachher Mokuba, ob er mit mir am Strand lang spazieren möchte“, beteiligte sich Seto an dem Gespräch. Er hatte nicht sonderlich Lust einen weiteren Tag in der Dunkelkammer zu verbringen und schließlich hatte er seinem Bruder den Urlaub als mehr Zeit für ihn verkauft. Da sollte er sich vielleicht ab und zu um ihn kümmern. So viel zu seinen Ideen. „Das könnte schwierig werden“, entgegnete Hans, eine große Pfanne in der einen, einen Pfannenwender in der anderen Hand. „Und wieso?“, wollte Seto wissen, während er ihm abwechselnd die Teller hin hielt. „Weil er mit Shin und Pegasus heute in aller Frühe zum Fischmarkt gefahren ist. Shin hat ihm angeboten einen kleinen Kochkurs zu machen.“ „Und weswegen ist mein Vater mit dabei?“ Auch für Joe waren diese Pläne neu. „Weil Shin blöderweise auch von frischem Sushi sprach. Schaut mich nicht so an! Ich bin schließlich nicht die Auskunft!“ „Aber du scheinst über alles hier Bescheid zu wissen! Das ist irgendwie schon etwas gruselig“, murmelte Yuki in ihr Rührei. „Haben wir auch Toast?“ „Küche.“ „Danke!“ Sie erhob sich und kam mit einem fein säuberlich gestapelten halben Laib Toast zurück. „Dann bleibt eigentlich nur noch eine Frage offen.“ Gierig griffen die Männer nach dem Toast und sahen sie mit erwartungsvollen Augen an. „Und welche?“ „Naja, ganz einfach. Wer hütet heute die Kinder?“ Seto blickte sie noch etwas entgeistert an, als er schon längst die Blicke der anderen auf sich spürte. Widerstand zwecklos. Zumindest vormittags war die Aufgabe des Kinderhütens einfacher, als er angenommen hatte. Die Begeisterung über die Hüpfburg hielt an und er konnte es sich mit einem Buch auf der Liege gemütlich machen. Er hatte sie sich so hingestellt, dass er jederzeit in das Burginnere blicken konnte, aber die Zwillinge waren brav. Natürlich tobten sie und probierten weiterhin einen Salto zu machen, doch insgesamt machten sie keine Probleme. Sie stritten nicht, traten nicht oder was sonst Kinder in dem Alter untereinander für Blödsinn anstellen konnten. Was das genau war, hatte er erfolgreich verdrängt. Allerdings war er sich nicht ganz sicher, ob ihm so eine Kindheit nicht vielleicht doch lieber gewesen wäre. Sie schienen wirklich Spaß zu haben. Punkt zwölf kam Martine an den Pool und rief sie zum Essen hinein. Hans hatte Schupfnudeln gemacht, dazu Apfelmus und Sauerkraut. Man aß aber entweder das einen oder das andere dazu, wie der Koch ihm gerade noch rechtzeitig erklärte, bevor er wohl ein sehr grauenvollen Geschmackserlebnis gehabt hätte. Dennoch betrachtete Seto die angeblich aus Kartoffeln bestehenden kurzen Nudeln eher kritisch. Letzten Endes probierte er doch – weil sonst Joe ihm alles vom Teller geklaut hätte. Gar nicht mal schlecht. Allerdings hatte er so lange gezögert zu probieren, dass als er einen Nachschlag wollte, bereits alles weg war. Hans vertröstete ihn dafür damit, dass er abends eine zusätzliche Portion Nachtisch bekommen würde. Die nächsten zwei Stunden nach dem Essen verbrachte er mit Ethan und Clara auf Martines Wunsch hin im schattigen Bereich am Pool. Die Burg hatte sich mittlerweile aufgeheizt und ihr Inneres glich mehr einer Sauna. Sie schalteten den Kompressor aus und blickten ab und zu traurig hinüber zu dem großen Haufen, der nicht mehr ganz so majestätisch aussah. Bewaffnet mit ihren Malsachen versuchten die Zeit totzuschlagen, bis sie in den Pool konnten. Martine war doch strenger als Mutter, als Seto bisher angenommen hatte, und konnte selbst mit grüner Farbe an den Armen sehr überzeugend sein. Irgendwann warf Seto dann doch einen Blick auf die kleinen Malblöcke und vor Schreck wäre ihm beinahe das Buch aus der Hand gefallen. Er hatte zwar keine Ahnung was für Siebenjährige normal war, aber er erinnerte sich dunkel daran, dass selbst im Abschlussjahr viele seiner Mitschüler nicht einmal annähernd so gut zeichnen und malen konnten. Clara war vertieft in eine perspektivisch dargestellte Landschaft mit Bergen und seltsam geformten Bäumen, während Ethan hin und wieder zu ihr schaute und dann fleißig weiter auf dem Papier kritzelte. Er zeichnete sie! Die groben Linien waren bereits leicht angedeutet und ein Großteil ihres Gesichtes war schon fertig. Mit Schattierungen, die Proportionen korrekt, die Zunge wie beim Original leicht im Mundwinkel erkennbar. „Welches Duell Monster magst du am meisten?“ „Wie bitte?“ Genervt davon, dass sie ihre Frage noch einmal stellen musste, wiederholte Clara: „Welches Duell Monster magst du am meisten?“ „Den weißen Drachen mit eiskaltem Blick“, antwortete er wahrheitsgemäß. Wieso fragte sie ihn plötzlich sowas? „Aber das ist schon mein Lieblingsmonster“, protestierte Ethan aufgebracht. „Du brauchst ein anderes!“ „Wieso? Es gibt doch mehr als eine Karte vom weißen Drachen. Daher sollte es auch das Lieblingsmonster von mehr als einer Person sein können.“ Er konnte nur hoffen, dass Logik gegen so einen kleinen Kinderverstand half. Und tatsächlich überlegte Ethan eine Weile, bevor er erneut sprach: „Okay. Aber wenn man drei von ihnen fusioniert... Zählt das dann als einer oder als drei?“ So viel dazu. Auf der Suche nach einer passenden Antwort fiel ihm natürlich nur St. Patrick's Vergleich des Kleeblattes mit der Dreifaltigkeit ein. Nicht sehr hilfreich. Denn er setzte gerne die beschriebene dreiköpfige Form des Drachens ein, doch wenn er jetzt mit dieser Erklärung käme, hätte er das gleiche Problem wie zuvor. „Habt ihr schon einmal etwas von siamesischen Zwillingen gehört?“, versuchte er es. Nicken. Spitze! Vorsichtig sprach er weiter und erklärte, dass, weil diese Form des Monsters aus drei eigenständigen Individuen bestünde, es trotzdem als drei Monster anzusehen sei. Diese Lösung wurde akzeptiert. An Aufatmen war jedoch nicht zu denken. Denn nun löcherten die Zwillinge ihn mit allen möglichen Fragen zu Duell Monsters und des Öfteren musste er erst eine Weile überlegen, bevor er die Antwort wusste. Woher sollte er denn auch wissen wie man auf die geheime Attacke eines Monsters reagieren musste, das noch nicht einmal auf dem offiziellen Markt war! Irgendwann sah er auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass es inzwischen sogar fast vier Uhr war – die Kinder also schon längst ins Wasser gedurft hätten. Zu seinem großen Glück nahmen sie seinen Vorschlag begeistert an, Zogen ihre Sachen aus, unter denen sie ihre Badekleidung hatten und stiegen brav an der Leiter ins Wasser. „Maman mag es nicht, wenn wir ins Wasser springen, wenn sie nicht dabei ist.“ Seto fragte sich eher, warum ihnen noch keine Schwimmhäute gewachsen waren. Gegen halb sieben wurde er endlich erlöst. Martine erschien am Pool und rief ihre Kinder aus dem Wasser, den halben Overall mit grüner Farbe bespritzt. Erstaunlicherweise murrten sie zwar etwas, aber gehorchten sofort unter ihrem strengem Blick. Somit war er die anstrengende Aufgabe des Kinderhütens endlich los, denn er hatte sich nicht getraut, entspannt in seinem Buch zu lesen, unsicher, was die beiden vielleicht doch anstellen könnten. Als die drei im Haus verschwunden waren, streckte er sich genüsslich auf der Liege aus und räkelte sich, um die Anspannung aus den Muskeln zu bekommen. „Vielleicht sollte ich doch Kameras hier draußen installieren. Zumindest eine“, flüsterte es neben seinem Ohr und ließ in die Augen öffnen. „Lenkt dich das nicht zu sehr von der Arbeit ab?“, fragte er Joe und versuchte dabei eine möglichst laszive Pose einzunehmen. „Solang du dich nicht so aufführst, wenn andere Leute in der Nähe sind, glaube ich kaum, dass es allzu ablenkend sein wird. Und Notfalls kann ich immer noch raus stürmen und dich für ein kleines Nickerchen kidnappen.“ Die Art und Weise auf die er Seto daraufhin küsste, ließ keine Zweifel, was er tatsächlich mit „Nickerchen“ meinte. Doch kaum hatte Seto die Hände in seine Haare vergraben, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, sprach er weiter: „Nur leider hat mich Hans rausgeschickt, um dich zum Essen nach drinnen zu holen. Sonst bekommst du schon wieder zu wenig zu essen. Und schließlich sind wir hier kein Diät Center.“ „Wäre aber nicht schlecht. Ich merk jetzt schon, wie das gute Essen ansetzt!“, jammerte Seto beim Aufstehen und legte das Handtuch, auf dem er gelegen hatte ordentlich zusammen. „Du siehst das komplett falsch! Nicht weniger essen, sondern mehr bewegen ist die Lösung! Vielleicht sollte ich dich öfter die Initiative ergreifen lassen, um ein paar mehr Kalorien zu verbrennen, damit auch ja kein Gramm Fett an deinem Körper landet.“ Der Nachsatz klang spöttisch. Spott mit einem wundervollen, breiten Grinsen. Sein Grinsen. „Egal. Hauptsache, ich bekomme meine Zusatzportion Nachtisch!“ Joe lachte laut auf: „Siehst du! Diät halten ist hier unmöglich!“ Er griff ihm am Handgelenk und zog ihn hinter sich her zur Haustür. „Hunger!“ Tatsächlich bestand das Essen hauptsächlich aus Nachtisch. Die hauchdünnen Pizzabrote waren zwar lecker gewesen, doch verblassten sie einfach beim Anblick der Obst- und Eisbombe, die Hans wann auch immer gemacht hatte. Und das Beste: Seto bekam tatsächlich am meisten! Am liebsten hätte er in dem Zitronen- und Mangoeis gebadet, das den größten Teil der Bombe ausmachte, hielt sich dann aber doch zurück und aß unter Einhaltung der Tischetikette. Endlich war das Monstrum vernichtet und die Zeit war so weit vorgerückt, dass Ethan und Clara wussten, sie müssten bald ins Bett. Zwischen den anderen Gesprächen hörte man sie leise diskutieren und sich beratschlagen, doch anscheinend kamen sie zu keiner Einigung. Schließlich wies Martine sie daraufhin, wie spät es war, und ihr Sohn griff nach Joes Hand, während Clara sich vor Seto aufbaute und ihn aufforderte aus der Bank zu krabbeln. Überrascht gehorchte er und schob sich an Yuki vorbei, die mit großen Augen zwischen allen Beteiligten hin und her sah. Irgendetwas war anders als sonst. Sie zogen sich brav um, putzten die Zähne und krochen dann unter die Bettdecke. „Erklärt ihr uns jetzt endlich, weswegen wir beide hier sind?“, stellte nun Joe endlich die Frage. Clara antwortete für sie beide: „Wir wollen eine Geschichte und ein Lied! Und Seto liest so schöööööön die Märchen vor. Aber du singst besser...“ „Aber ihr habt ihn doch noch gar nicht singen gehört!“ Ihre großen, braunen Augen sahen ihn an, als wollten sie sagen „genau deswegen bist du ja dabei!“, doch sie selbst blieb stumm und kuschelte sich nur noch tiefer ins Laken. Kurz sahen sich die Männer an und dann war es entschieden. Seto ging zum Regal und suchte den Band mit deutschen Märchen heraus. Währenddessen machte es sich Joe auf dem Bettrand bequem und wartete gespannt mit den Kindern, welches Märchen es werden würde. Schmunzelnd wählte er das „tapfere Schneiderlein“ und gab sich jede Mühe, sein Publikum zu beeindrucken. Als er endlich fertig war, musste er Joe erst anstupsen, damit er aus seiner Traumwelt zurückkehrte. „So, Schneiderlein. Jetzt bist du dran.“ Galant erhob sich der älteste Lauscher und deutete eine tiefe Verbeugung vor seinem kleinen Publikum an. „Was wünschen denn die Herrschaften zu hören?“ Begeistert ob der Darbietung antwortete Ethan rasch: „Music of the Night“, bevor seine Schwester etwas anderes vorschlagen konnte. Kurz suchte Joe die Musik heraus - das Kinderzimmer war offensichtlich ebenfalls an die Musikanlage angeschlossen - und begann dann sanft zu singen: „Nighttime sharpens...“ Mit dem Klang der ersten Silbe vergaß Seto alles um sich herum und ließ seine Gedanken fließen, bis sie sich irgendwo hinter dem inzwischen dunklem Horizont verloren. Er spürte kaum wie Joe seine Hand nahm und ihn auf leisen Sohlen hinaus führte. Geräuschlos schloss er die Tür, hinter der die beiden mittlerweile schlafenden Kinder zu sehen waren. Irgendwann während des Liedes mussten ihnen die Augen zugefallen sein. Auf dem Weg nach unten flüsterten sie miteinander und Joe beantwortete Seto wenigstens eine seiner vielen Fragen. „Wie willst du kleinen Kindern sonst erklären, dass sie sich nicht vor der Dunkelheit fürchten müssen? Und es ist so wichtig seine Träume zu entwickeln und sich seine Fantasie zu bewahren.“ Die einzige Antwort die er darauf hatte, war ihn auf der Treppe zu sich zu ziehen und ihn innig zu küssen. Kapitel 19: Mittwoch 3.8. – Version 2 ------------------------------------- Es gab nette Methoden um geweckt zu werden. Es gab sanfte Methoden um geweckt zu werden. Und es gab Joseph Pegasus. Hatte er je eine der eben genannten Methoden gekannt, so hatte er sie an diesem Morgen just alle vergessen. „Seto?“ Grummeln „Seto, Aufstehen.“ Noch mehr Gegrummel und der Angesprochene drehte sich auf die andere Seite, weg von ihm. „Seto, wenn du nicht langsam aufstehst, dann…“ Entschlossen zog er an der Bettdecke. Seto drehte sich mit der verschwindenden Decke leicht nach links, jedoch nur, um sie sich wieder zu schnappen und seine vorherige Position wieder einzunehmen. „Seto, wenn du nicht gleich aufstehst, trete ich den Sexstreik an!“ Keine Reaktion. War das jetzt gut? Denn eigentlich wollte er sich nicht den ganzen Spaß verwehren, den er mit seinem ehemaligen Mitschüler noch würde haben können. „Seto, du stehst jetzt entweder sofort auf oder ich muss zu äußerst drastischen Mitteln greifen!“ Damit war seine vorherige Drohung nichtig, oder? Aber dann mussten jetzt auch endlich Taten folgen… Unsanft landete Seto auf dem Boden und wachte tatsächlich auf. Verwirrt blinzelnd sah er sich um. Wo… Er hatte doch gerade noch mit einem Hund Tauziehen gespielt und dann… „Los! Zieh dich an! Wir sind spät dran!“ Musste wohl ein Golden Retriever gewesen sein. „Du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Es ist noch dunkel draußen!“, protestierte Seto. Sein Schlaf war schließlich wichtig! Augenblicklich wurde er vom Deckenlicht geblendet. Das machte es nicht besser. „Schmollst du jetzt etwa?“ Stille. „Ach komm schon!“, kniete sich Joe vor ihn und drehte seinen Kopf bestimmt zu sich. „Es tut mir leid, dass ich dich so grob wecken musste. Doch leider haben wir heute Morgen etwas zu erledigen. Und das muss geschehen sein, bevor die Zwillinge aufgestanden sind.“ Unter dem darauffolgenden bösen Blick zuckte er noch nicht einmal zusammen. „Ein Kuss und nachher Hans' Spezialfrühstück mit dreifachem Espresso?“ Die Erwähnung von Kaffee zeigte eine erstaunliche Wirkung: „Okay. Lass mich nur ganz kurz noch ins Bad.“ „Natürlich!“ Seto erhielt den versprochenen Kuss, erhob sich und tapste etwas unsicher in Richtung gefliestem Rückzugsort. Was immer er darin getan hatte, es schien zu helfen. Als er wieder ins Wohnzimmer trat, befand er sich fast auf dem Standard eines regulären Arbeitstages. Schnell schlüpfte er in die Sachen vom Vortag, um das Bild zu vervollständigen. „Können wir?“ „Ich warte nur auf dich!“ Auf dem Weg zum Hauptgebäude erklärte Joe ihm kurz den Plan. Am Vortag war endlich das eigentliche Geburtstagsgeschenk für die Zwillinge angekommen. Da diese aber dank Martines Freundin viel zu aufgedreht gewesen waren, hatte Matt, der das Paket entgegengenommen hatte, entschieden lieber alles erst am nächsten Tag in aller Früh aufzubauen. Seto hielt die ganze Aktion dennoch für sehr riskant. Da aber der riskante Teil – die Zwillinge eine Woche lang hinhalten – vorbei und scheinbar erfolgreich überstanden war, ließ er sich von Joe beruhigen. In der heller werdenden Morgendämmerung konnte er schließlich Matt und Cian erkennen, die eine große Plane zwischen Hauptgebäude und Pool auslegten. „Ihr kommt genau richtig“, begrüßte der Kanadier sie. „Wir versuchen bereits seit fünf Minuten diese Bodenschutzplane richtig zu platzieren, doch jedes Mal verrutscht sie!“ Joe ging gefährlich nahe am Poolrand hinüber zu Cian und hob die freie Ecke an. Stumm formte er mit den Lippen ein „Wohin?“. Cian deutete es ihm an und nachdem Seto sich ebenfalls nützlich machte, war es wirklich ein Kinderspiel. Anschließend folgte der wirklich schwierige Part. Vorsichtig hob Matt das bunte, große Etwas aus einer großen Kiste an der Hausecke. „Bevor wir die Burg aufpumpen, muss sich richtig liegen. Sie wurde in der Fabrik bereits geprüft. Das Befüllen mit Luft sollte daher kein Problem werden. Aber vorher müssen wir sie korrekt hinlegen. Ursprünglich hatten wir die Öffnung zum Strand zeigen lassen wollen. Dann hat aber Martine ihre Bedenken geäußert, dass die Zwillinge versuchen würden von der Burg aus direkt in den Pool zu springen. Ganz dran können wir sie nicht stellen, da man sonst nicht hinein käme. Wir haben uns deshalb darauf geeinigt, die Öffnung in diese Richtung zeigen zu lassen“, er machte eine unbestimmte Geste hinter sich, „sodass man direkt, wenn man vom Haus kommt, drauf kann.“ Der Rest nickte zustimmend und half dann beim Entfalten des schweren Stoffes. Sie hatten Glück und machten bereits bei ihrem ersten Versuch alles richtig. Cian schloss nur noch den Kompressor an und binnen kürzester Zeit stand die Hüpfburg vor ihnen. „Wollt ihr sie euch mal ansehen, bevor die Zwillinge sie in Beschlag nehmen?“, wollte Joe mit einem gewissen Stolz in der Stimme wissen. Cian wackelte begeistert mit dem Kopf, Matt zuckte schlicht mit den Schultern und Seto versuchte sich keinerlei Regung anmerken zu lassen. Die braune Außenwand der Burg mit ihren aufgemalten Steinen erinnerte ihn an etwas, er konnte nur nicht genau benennen an was. „Dann alle Mann Schuhe aus und mir folgen!“, flüsterte der Blondschopf neben ihm, deutlich leiser als der Kompressor jemals im Betrieb hätte sein können. Brav gehorchten sie alle und Seto begriff schnell, was an dieser Hüpfburg so anders war. Das Muster der Steine setzte sich in ihrem Inneren fort, war aber stellenweise verdeckt durch bunte Zeichnungen. Genauer gesagt waren sie so auf den Stoff gedruckt worden, dass es aussah als schwebten sie etwas über ihm. Wo er selbst mit aufwändigen Projektionstechniken gearbeitet hätte, waren hier optische Täuschungen verwendet worden. „Mund zu, es zieht“, stieß ihm Cian den Ellenbogen sanft in die Rippen, während Matt Joe zu den Details ausquetschte und welche Monster nun denn dort abgebildet seien. Denn Monster waren es. Duel Monster! Seto drehte sich um seine eigene Achse, um einen Gesamteindruck zu erhalten. Als sein Blick am Ausgang hängen blieb, an dem sich ein schwarzer und ein weißer Drache gegenüber saßen konnte er nicht mehr an sich halten. „Das Königreich der Duellanten!“, rief er verblüfft aus. Jetzt ergab auch die Steinoptik einen Sinn. „Aber...“ Der restliche Satz ging in fröhlichem Kinderkreischen unter. Ethan und Clara, barfuß und noch in ihren Schlafanzügen, kamen auf sie zugestürmt und rissen vor lauter Begeisterung nicht nur Joe, sondern auch ihn um. Genauso schnell waren sie wieder auf den Beinen und sprangen aufgekratzt in der Burg umher. Joe kam auch sehr schnell auf die Füße und half dann Seto, der diesen Angriff nicht hatte kommen sehen. „Am besten du bleibst selbst immer etwas in Bewegung. Dann verliert man nicht so schnell das Gleichgewicht.“ „Das weiß ich selbst!“ „Na dann kann ja nichts mehr schief gehen!“ Jetzt musste er den Rat annehmen und ab und zu hüpfen. Gespannt beobachtete er, wie Matt währenddessen genug Höhe erreichte um einen Salto zu machen. „Ich dachte, ihr wolltet das heimlich machen?“, fragte eine weibliche Stimme, bevor sie im strengeren Ton sagte: „Clara, du musst nicht allen Blödsinn gleich nachmachen.“ Sie war haarscharf gerade noch auf dem Rücken gelandet, nachdem sie versucht hatte Matts Kunststück nachzumachen. „Und wenn ich ihr zeige wie es richtig geht, kleines Klecksmonster?“, konterte Matt provokativ. „Matthew“, grollte Martine zurück und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Du wirst nicht vor meinen Kindern meine Autorität untergraben!“ „Dann zeig du es ihnen, Klecksmonster.“ Ihn wütend anfunkelnd kontrollierte sie den Halt des Overallgürtels und betrat die Hüpfburg. Schnell sprang sie auf die entsprechende Höhe und machte erst einen Salto vorwärts und anschließend rückwärts. „Angeber!“, kommentiert Matt das Geschehen, während Martine sich ihren Kindern zuwandte. „Hält die Burg so viel Belastung eigentlich aus? Wir sind inzwischen fünf Erwachsene und zwei Kinder hier drin“, äußerte Seto seine Bedenken Joe gegenüber. Der winkte nur ab und erklärte: „Die Burg kann angeblich bis zu 20 Erwachsene aushalten. Aber wenn es dir zu heikel ist, können wir gerne raus und frühstücken. So fit wie Martine aussieht müsste es bei Hans schon Kaffee geben. Und vielleicht ist er auch schon mit dem Frühstück so weit.“ Das klang doch mal vernünftig. Besonders da er allmählich Platzangst bekam, bei all den umherfliegenden Gliedmaßen. Der Kaffee war tatsächlich schon fertig. Genauso wie das Müsli mit frischem Obst und Joghurt. Yuki, die schon am Tisch saß, schmollte, weil Hans in der Küche noch die Eier und Bratwürstchen zubereitete und Shin seinen freien Tag hatte. Doch als sie sie sah, hellte sich ihre Miene auf: „Prima! Ich muss nicht allein essen!“ „Hat Martine dich im Stich gelassen?“, wollte Joe wissen und setzte sich auf einen Stuhl, während Seto neben ihr auf der Bank Platz nahm. „So sieht es aus. Hat nur ihren Kaffee hinunter gestürzt und war dann weg. Keine Ahnung, ob sie nochmal kommt oder gleich rüber geht zu Haus 6 ist, um weiter zu renovieren. Auf jeden Fall hatte sie schon den Maleroverall an. Meinte, heute wäre die Kontrastfarbe dran. Du weißt nicht, was sie genau plant, oder, Chef?“ Joe verneinte und schob sich den ersten Löffel Müsli in den Mund. „Ich habe aber heute auch wieder einiges zu tun.“ „Dann frag ich nachher Mokuba, ob er mit mir am Strand lang spazieren möchte“, beteiligte sich Seto an dem Gespräch. Er hatte nicht sonderlich Lust einen weiteren Tag in der Dunkelkammer zu verbringen und schließlich hatte er seinem Bruder den Urlaub als mehr Zeit für ihn verkauft. Da sollte er sich vielleicht ab und zu um ihn kümmern. So viel zu seinen Ideen. „Das könnte schwierig werden“, entgegnete Hans, eine große Pfanne in der einen, einen Pfannenwender in der anderen Hand. „Und wieso?“, wollte Seto wissen, während er ihm abwechselnd die Teller hinhielt. „Weil er mit Shin und Pegasus heute in aller Frühe zum Fischmarkt gefahren ist. Shin hat ihm angeboten einen kleinen Kochkurs zu machen.“ „Und weswegen ist mein Vater mit dabei?“ Auch für Joe waren diese Pläne neu. „Weil Shin blöderweise auch von frischem Sushi sprach. Schaut mich nicht so an! Ich bin schließlich nicht die Auskunft!“ „Aber du scheinst über alles hier Bescheid zu wissen! Das ist irgendwie schon etwas gruselig“, murmelte Yuki in ihr Rührei. „Haben wir auch Toast?“ „Küche.“ „Danke!“ Sie erhob sich und kam mit einem fein säuberlich gestapelten halben Laib Toast zurück. „Dann bleibt eigentlich nur noch eine Frage offen.“ Gierig griffen die Männer nach dem Toast und sahen sie mit erwartungsvollen Augen an. „Und welche?“ „Naja, ganz einfach. Wer hütet heute die Kinder?“ Seto blickte sie noch etwas entgeistert an, als er schon längst die Blicke der anderen auf sich spürte. Widerstand zwecklos. Zumindest vormittags war die Aufgabe des Kinderhütens einfacher, als er angenommen hatte. Die Begeisterung über die Hüpfburg hielt an und er konnte es sich mit einem Buch auf der Liege gemütlich machen. Er hatte sie sich so hingestellt, dass er jederzeit in das Burginnere blicken konnte, aber die Zwillinge waren brav. Natürlich tobten sie und probierten weiterhin einen Salto zu machen, doch insgesamt machten sie keine Probleme. Sie stritten nicht, traten nicht oder was sonst Kinder in dem Alter untereinander für Blödsinn anstellen konnten. Was das genau war, hatte er erfolgreich verdrängt. Allerdings war er sich nicht ganz sicher, ob ihm so eine Kindheit nicht vielleicht doch lieber gewesen wäre. Sie schienen wirklich Spaß zu haben. Punkt zwölf kam Martine an den Pool und rief sie zum Essen hinein. Hans hatte Schupfnudeln gemacht, dazu Apfelmus und Sauerkraut. Man aß aber entweder das einen oder das andere dazu, wie der Koch ihm gerade noch rechtzeitig erklärte, bevor er wohl ein sehr grauenvolles Geschmackserlebnis gehabt hätte. Dennoch betrachtete Seto die angeblich aus Kartoffeln bestehenden kurzen Nudeln eher kritisch. Letzten Endes probierte er doch – weil sonst Joe ihm alles vom Teller geklaut hätte. Gar nicht mal schlecht. Allerdings hatte er so lange gezögert zu probieren, dass als er einen Nachschlag wollte, bereits alles weg war. Hans vertröstete ihn dafür damit, dass er abends eine zusätzliche Portion Nachtisch bekommen würde. Die nächsten zwei Stunden nach dem Essen verbrachte er mit Ethan und Clara auf Martines Wunsch hin im schattigen Bereich am Pool. Die Burg hatte sich mittlerweile aufgeheizt und ihr Inneres glich mehr einer Sauna. Sie schalteten den Kompressor aus und blickten ab und zu traurig hinüber zu dem großen Haufen, der nicht mehr ganz so majestätisch aussah. Bewaffnet mit ihren Malsachen versuchten sie die Zeit totzuschlagen, bis sie in den Pool konnten. Martine war doch strenger als Mutter, als Seto bisher angenommen hatte, und konnte selbst mit grüner Farbe an den Armen sehr überzeugend sein. Irgendwann warf Seto dann doch einen Blick auf die kleinen Malblöcke und vor Schreck wäre ihm beinahe das Buch aus der Hand gefallen. Er hatte zwar keine Ahnung was für Siebenjährige normal war, aber er erinnerte sich dunkel daran, dass selbst im Abschlussjahr viele seiner Mitschüler nicht einmal annähernd so gut zeichnen und malen konnten. Clara war vertieft in eine perspektivisch dargestellte Landschaft mit Bergen und seltsam geformten Bäumen, während Ethan hin und wieder zu ihr schaute und dann fleißig weiter auf dem Papier kritzelte. Er zeichnete sie! Die groben Linien waren bereits leicht angedeutet und ein Großteil ihres Gesichtes war schon fertig. Mit Schattierungen, die Proportionen korrekt, die Zunge wie beim Original leicht im Mundwinkel erkennbar. „Welches Duel Monster magst du am meisten?“ „Wie bitte?“ Genervt davon, dass sie ihre Frage noch einmal stellen musste, wiederholte Clara: „Welches Duel Monster magst du am meisten?“ „Den weißen Drachen mit eiskaltem Blick“, antwortete er wahrheitsgemäß. Wieso fragte sie ihn plötzlich sowas? „Aber das ist schon mein Lieblingsmonster“, protestierte Ethan aufgebracht. „Du brauchst ein anderes!“ „Wieso? Es gibt doch mehr als eine Karte vom weißen Drachen. Daher sollte es auch das Lieblingsmonster von mehr als einer Person sein können.“ Er konnte nur hoffen, dass Logik gegen so einen kleinen Kinderverstand half. Und tatsächlich überlegte Ethan eine Weile, bevor er erneut sprach: „Okay. Aber wenn man drei von ihnen fusioniert... Zählt das dann als einer oder als drei?“ So viel dazu. Auf der Suche nach einer passenden Antwort fiel ihm natürlich nur St. Patrick's Vergleich des Kleeblattes mit der Dreifaltigkeit ein. Nicht sehr hilfreich. Denn er setzte gerne die beschriebene dreiköpfige Form des Drachens ein, doch wenn er jetzt mit dieser Erklärung käme, hätte er das gleiche Problem wie zuvor. „Habt ihr schon einmal etwas von siamesischen Zwillingen gehört?“, versuchte er es. Nicken. Spitze! Vorsichtig sprach er weiter und erklärte, dass, weil diese Form des Monsters aus drei eigenständigen Individuen bestünde, es trotzdem als drei Monster anzusehen sei. Diese Lösung wurde akzeptiert. An Aufatmen war jedoch nicht zu denken. Denn nun löcherten die Zwillinge ihn mit allen möglichen Fragen zu Duel Monsters und des Öfteren musste er erst eine Weile überlegen, bevor er die Antwort wusste. Woher sollte er denn auch wissen wie man auf die geheime Attacke eines Monsters reagieren musste, das noch nicht einmal auf dem offiziellen Markt war! Irgendwann sah er auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass es inzwischen sogar fast vier Uhr war – die Kinder also schon längst ins Wasser gedurft hätten. Zu seinem großen Glück nahmen sie seinen Vorschlag begeistert an, zogen ihre Sachen aus, unter denen sie ihre Badekleidung hatten und stiegen brav an der Leiter ins Wasser. „Maman mag es nicht, wenn wir ins Wasser springen, wenn sie nicht dabei ist.“ Seto fragte sich eher, warum ihnen noch keine Schwimmhäute gewachsen waren. Gegen halb sieben wurde er endlich erlöst. Martine erschien am Pool und rief ihre Kinder aus dem Wasser, den halben Overall mit grüner Farbe bespritzt. Erstaunlicherweise murrten sie zwar etwas, aber gehorchten sofort unter ihrem strengen Blick. Somit war er die anstrengende Aufgabe des Kinderhütens endlich los, denn er hatte sich nicht getraut, entspannt in seinem Buch zu lesen, unsicher, was die beiden vielleicht doch anstellen könnten. Als die drei im Haus verschwunden waren, streckte er sich genüsslich auf der Liege aus und räkelte sich, um die Anspannung aus den Muskeln zu bekommen. „Vielleicht sollte ich doch Kameras hier draußen installieren. Zumindest eine“, flüsterte es neben seinem Ohr und ließ in die Augen öffnen. „Lenkt dich das nicht zu sehr von der Arbeit ab?“, fragte er Joe und versuchte dabei eine möglichst laszive Pose einzunehmen. „Solang du dich nicht so aufführst, wenn andere Leute in der Nähe sind, glaube ich kaum, dass es allzu ablenkend sein wird. Und notfalls kann ich immer noch raus stürmen und dich für ein kleines Nickerchen kidnappen.“ Die Art und Weise auf die er Seto daraufhin küsste, ließ keine Zweifel, was er tatsächlich mit „Nickerchen“ meinte. Doch kaum hatte Seto die Hände in seine Haare vergraben, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, sprach er weiter: „Nur leider hat mich Hans rausgeschickt, um dich zum Essen nach drinnen zu holen. Sonst bekommst du schon wieder zu wenig zu essen. Und schließlich sind wir hier kein Diät Center.“ „Wäre aber nicht schlecht. Ich merk jetzt schon, wie das gute Essen ansetzt!“, jammerte Seto beim Aufstehen und legte das Handtuch, auf dem er gelegen hatte ordentlich zusammen. „Du siehst das komplett falsch! Nicht weniger essen, sondern mehr bewegen ist die Lösung! Vielleicht sollte ich dich öfter die Initiative ergreifen lassen, um ein paar mehr Kalorien zu verbrennen, damit auch ja kein Gramm Fett an deinem Körper landet.“ Der Nachsatz klang spöttisch. Spott mit einem wundervollen, breiten Grinsen. Sein Grinsen. „Egal. Hauptsache, ich bekomme meine Zusatzportion Nachtisch!“ Joe lachte laut auf: „Siehst du! Diät halten ist hier unmöglich!“ Er griff ihm am Handgelenk und zog ihn hinter sich her zur Haustür. „Hunger!“ Tatsächlich bestand das Essen hauptsächlich aus Nachtisch. Die hauchdünnen Pizzabrote waren zwar lecker gewesen, doch verblassten sie einfach beim Anblick der Obst- und Eisbombe, die Hans wann auch immer gemacht hatte. Und das Beste: Seto bekam tatsächlich am meisten! Am liebsten hätte er in dem Zitronen- und Mangoeis gebadet, das den größten Teil der Bombe ausmachte, hielt sich dann aber doch zurück und aß unter Einhaltung der Tischetikette. Endlich war das Monstrum vernichtet und die Zeit war so weit vorgerückt, dass Ethan und Clara wussten, sie müssten bald ins Bett. Zwischen den anderen Gesprächen hörte man sie leise diskutieren und sich beratschlagen, doch anscheinend kamen sie zu keiner Einigung. Schließlich wies Martine sie daraufhin, wie spät es war, und ihr Sohn griff nach Joes Hand, während Clara sich vor Seto aufbaute und ihn aufforderte aus der Bank zu krabbeln. Überrascht gehorchte er und schob sich an Yuki vorbei, die mit großen Augen zwischen allen Beteiligten hin und her sah. Irgendetwas war anders als sonst. Sie zogen sich brav um, putzten die Zähne und krochen dann unter die Bettdecke. „Erklärt ihr uns jetzt endlich, weswegen wir beide hier sind?“, stellte nun Joe endlich die Frage. Clara antwortete für sie beide: „Wir wollen eine Geschichte und ein Lied! Und Seto liest so schöööööön die Märchen vor. Aber du singst besser...“ „Aber ihr habt ihn doch noch gar nicht singen gehört!“ Ihre großen, braunen Augen sahen ihn an, als wollten sie sagen „genau deswegen bist du ja dabei!“, doch sie selbst blieb stumm und kuschelte sich nur noch tiefer ins Laken. Kurz sahen sich die Männer an und dann war es entschieden. Seto ging zum Regal und suchte den Band mit deutschen Märchen heraus. Währenddessen machte es sich Joe auf dem Bettrand bequem und wartete gespannt mit den Kindern, welches Märchen es werden würde. Schmunzelnd wählte er das „tapfere Schneiderlein“ und gab sich jede Mühe, sein Publikum zu beeindrucken. Als er endlich fertig war, musste er Joe erst anstupsen, damit er aus seiner Traumwelt zurückkehrte. „So, Schneiderlein. Jetzt bist du dran.“ Galant erhob sich der älteste Lauscher und deutete eine tiefe Verbeugung vor seinem kleinen Publikum an. „Was wünschen denn die Herrschaften zu hören?“ Begeistert ob der Darbietung antwortete Ethan rasch: „Music of the Night“, bevor seine Schwester etwas Anderes vorschlagen konnte. Kurz suchte Joe die Musik heraus - das Kinderzimmer war offensichtlich ebenfalls an die Musikanlage angeschlossen - und begann dann sanft zu singen: „Nighttime sharpens...“ Mit dem Klang der ersten Silbe vergaß Seto alles um sich herum und ließ seine Gedanken fließen, bis sie sich irgendwo hinter dem inzwischen dunklen Horizont verloren. Er spürte kaum wie Joe seine Hand nahm und ihn auf leisen Sohlen hinausführte. Geräuschlos schloss er die Tür, hinter der die beiden mittlerweile schlafenden Kinder zu sehen waren. Irgendwann während des Liedes mussten ihnen die Augen zugefallen sein. Auf dem Weg nach unten flüsterten sie miteinander und Joe beantwortete Seto wenigstens eine seiner vielen Fragen. „Wie willst du kleinen Kindern sonst erklären, dass sie sich nicht vor der Dunkelheit fürchten müssen? Und es ist so wichtig seine Träume zu entwickeln und sich seine Fantasie zu bewahren.“ Die einzige Antwort die er darauf hatte, war ihn auf der Treppe zu sich zu ziehen und ihn innig zu küssen. Kapitel 20: Donnerstag 4.8. --------------------------- Der Druck auf seiner Brust wurde stärker. Allmählich hatte er das Gefühl kaum noch Luft zu bekommen. Sein Unterbewusstsein schrie in seine Träume hinein, er solle endlich aufwachen. Aber er träumte doch gerade so schön! Zwecklos. Auch beim Träumen musste die Atmung funktionieren. Panisch schlug Seto die Augen auf und sah nur blonde Haare. Mit aller Kraft atmete er gegen das unerwartete Gewicht auf seiner Brust ein und versuchte mehr zu erkennen. Joe lag halb auf ihm, den Kopf auf seiner Brust, mit dem linken Arm und dem linken Bein hatte er ihn umklammert. Immer noch bekam Seto kaum Luft. Es half also nichts. So süß er es auch fand, dass sich der andere so eng an ihn gekuschelt hatte, er musste ihre Position ändern. Dringend! Irgendwie gelang es ihm, sich auf den rechten Ellenbogen zu stemmen und das Bein anzuwinkeln. Joe kippte zur Seite, runter von ihm, und blieb dort selig schlummernd liegen. Jetzt war natürlich Setos linker Arm unter ihm eingeklemmt, dafür konnte er aber wieder frei atmen. Gierig sog er die Luft ein und beruhigte sich endlich. Schließlich war er soweit, dass er den Blick vom nächtlichen Meer nehmen konnte und ihn auf sein Hündchen richten konnte. Sanft strich er ihm über die Wange und ein paar Strähnen, die sich in sein Gesicht verirrt hatten, aus dem Gesicht. „Wenn man dich hat, braucht man wohl keinen Wecker“, stellte er trocken fest und Joe grummelte als Antwort etwas Unverständliches, bevor er sich Setos Hand schnappte und vor seine Brust zog. Nach einer Weile flatterten seine Augenlider und er blickte schlaftrunken Seto an, der nicht mehr eingeschlafen war. „Guten Morgen“, nuschelte er und drückte Seto eine Kuss auf die Lippen. Anschließend griff er auf dem Nachttisch nach seiner Uhr, runzelte die Stirn als überlege er und fragte munter: „Was willst du in der halben Stunde, die wir noch haben, machen?“ „Es ist draußen noch dunkel.“ „Ist mir durchaus bewusst, aber ich muss heute wieder früher anfangen zu arbeiten. Also, wonach steht dir der Sinn?“ Als Joe aufstand, war Seto inzwischen auch so vollgepumpt mit Adrenalin und Endorphinen, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen wäre, liegen zu bleiben. Also stand er ebenfalls auf und aß mit ihm ein wenig Müsli und trank den selbst für seine Verhältnisse starken Kaffee. Der Hotelmanager verabschiedete sich mit einem langen Kuss und flüsterte gegen seine Lippen, dass er sich freuen würde, ihn beim Mittagessen zu sehen. So weit, so gut. Doch die Sonne zeichnete sich gerade erst als silberner Schimmer am Horizont ab. Was sollte er mit der ganzen Zeit anstellen? Um Zeit zum Überlegen zu schinden, duschte er kurz und zog sich dann eine leichte Stoffhose und ein Hemd an. Barfuß ging er in den Flur und aus der Haustür hinaus. Den Schlüssel in der Hosentasche, zog er sie hinter sich zu und ging hinunter zum Strand. Das Meer zu seiner Rechten spazierte Seto gemütlich nach Norden. Die Morgenluft war kühl, doch der Sand unter seinen Füßen sprach von den Temperaturen der letzten Tage. Mit jedem Schritt ließ er seine Gedanken weiter schweifen, ließ zu, dass sein Kopf mehrere Minuten lang völlig leer war, bevor er sich wieder einem Thema zuwandte, das ihm spontan in den Sinn kam. Mit einem Lächeln musste er daran denken, dass er diesen Spaziergang bereits vor einem halben Jahr gemacht hatte. Aber wie viel hatte sich in der Zeit verändert! Wie sehr hatte er sich verändert! Die Sonne verwandelte den Strand in eine Fläche aus Gold und er ging weiter, immer tiefer in seinen Gedanken versinkend. Er hatte einiges getan und geändert, um endlich bei Joey Wheeler sein zu können. Mehr als er jemals für möglich gehalten hätte. Und doch wäre all das umsonst, wenn er sich nicht bald sicher wurde, wie er das Ganze fortführen wollte. In zwei Tagen würde er mit Mokuba wieder nach Domino fahren und dann? Pegasus hatte Recht, er musste sich damit auseinander setzen. Was wollte er? Und wie könnte er es erreichen? Er hatte keine Ahnung oder konnte es zumindest nicht in Worte fassen. Und selbst, wenn er es könnte. Er trug Verantwortung, nicht nur für sich, sondern auch für die Angestellten seiner Firma, für Mokuba. Aber Mokuba war mittlerweile erwachsen und würde wohl auch bald anfangen wollen, sein eigenes Leben zu führen. Er würde irgendwann mit Midori zusammenziehen, eine Familie gründen. Seinen großen Bruder würde er dann hauptsächlich während der Arbeit sehen. Würde es ihm überhaupt gefallen, auf ewig die Nummer Zwei hinter ihm zu bleiben? Würde er sein eigenes Unternehmen aufbauen, um eigene Erfahrungen zu sammeln, etwas eigenes zu haben? Beinahe wäre Seto in den Sand gestürzt, weil er so abrupt stehen blieb. Es war zwar noch keine Lösung, aber wenigstens eine Idee. Seine Wünsche konnte er zwar immer noch nicht klar formulieren, aber das musste er momentan noch nicht. Mit teils leichterem teils bangem Herzen drehte er um und genoss die frühe Morgensonne auf seinem Gesicht, während er zurück lief. Dass er die Höhe der Häuser erreicht hatte, bemerkte er auf überraschende Weise. Ein kleines Mädchen von vielleicht fünf stürmte laut lachend vor ihm auf den Strand. Verdutzt hob er den Blick und sah den Vater, der dem Energiebündel nach stürmte, bewaffnet mit Schippe und Sandförmchen, und die Mutter, die lächelnd an der Terrassentür stand. Seto hob zum Gruß die Hand und ging dann weiter. Beinahe hatte er vergessen, dass Joe Hauptsaison hatte und demzufolge auch die restlichen Häuser belegt waren. Auch hatte er vergessen, dass es normale Leute gab, die hier ihren Urlaub verbrachten. Ein Stück weiter ging er quer über den Strand Richtung Hauptgebäude. Wahrscheinlich würde er Mokuba erst wecken müssen, um mit ihm über seine Idee zu reden. Aber vorher sollte er sich den Sand von den Füßen rubbeln, sonst würde er unter Garantie Ärger mit irgendeinem Mitglied des Teams bekommen. Doch es kam anders. Im Pool zog eine Person kraulend ihre Bahnen, die Seto zwar wahrnahm, aber erst erkannte, als sie ihm laut „Seto!“ hinterher brüllte. Erschrocken fuhr er herum und starrte in Mokubas grinsendes Gesicht. „Schon so früh wach?“, wollte er wissen, während sein Bruder sich am Beckenrand hochzog, sich sein Handtuch von der Liege nahm und um den Nacken legte, damit ihm nicht ständig das Wasser aus seinen Haaren den Rücken hinunter lief. „Das Gleiche könnte ich dich fragen. Schließlich bist du der Langschläfer von uns beiden.“ „Aber auch nur ohne die Zwillinge im Nachbarzimmer. Und irgendwie tut mir das Schwimmen morgens gut. Sollte ich zu Hause auch mal machen. Bringt den Kreislauf besser in Schwung als ein doppelter Espresso.“ Mokuba rieb sich das Wasser aus den Ohren und schaute seinen großen Bruder dann fragend an. „Aber das wolltest du nicht wissen, oder? Hast du etwa Sehnsucht nach mir?“ „Nicht ganz, aber auch“, erwiderte Seto wahrheitsgemäß, woraufhin Mokuba eine Schnute zog. „Ich seh schon, jetzt wo du was mit Joey hast, bin ich abgemeldet!“ „Mokuba?“ Der wandte den Kopf schmollend ab und tat beleidigt. „Mokuba, natürlich hatte ich Sehnsucht nach dir, schließlich bist du mein kleiner Bruder und wirst es auch immer sein. Aber auch kleine Brüder werden irgendwann größer und … Es gibt da was, das ich mit dir besprechen will und es wäre mir wichtig, wenn du mir erst einmal zuhörst und mir danach ehrlich sagst, was du denkst. Also, Folgendes...“ Und er erzählte und erklärte, verwarf, fing von vorne an, verhedderte sich in seinen eigenen Worten und versuchte es anders zu formulieren. Während der ganzen Zeit saß ihm Mokuba still gegenüber und betrachtete ihn ernst. Endlich, als er die Erlaubnis hatte, nickte er langsam mit einem zarten Lächeln um die Lippen und sprach genau die Worte aus, die Seto jetzt brauchte. „Nichtsdestotrotz sollte ich langsam unter die Dusche und mich dann anziehen. Sonst ist der ganze Tag rum und ich habe nichts anderes gemacht, außer zu schwimmen und mit dir hier rumzusitzen.“ Seto stimmte ihm zu und stand auf. Er begleitete seinen Bruder noch bis zur Haustür, wo er ihn kurz umarmte, und ging dann immer noch barfuß den Waldweg zu Haus 3 entlang. Bald kam ihm Cian entgegen, eine große Tasche über der Schulter. Sie grüßten sich und Cian erklärte ihm, dass er gerade das Nachbarhaus geputzt habe. „Ist das nicht ziemlich früh?“, wollte Seto erstaunt wissen. „Eigentlich schon. Aber die Gäste sind sehr früh abgereist und mir kommt das Ganze entgegen. Denn heute Nachmittag …“ Der Ire unterbrach sich und musterte ihn. „Sie können tanzen, oder?“ „Ja“, antwortete Seto zögerlich. „Gut, dann hab ich eine Idee. Aber ich muss erst mit Matt darüber sprechen. Den Rest erfahren Sie heute Mittag.“ Damit war er weg und – Seto wusste diese Gangart nicht anders zu beschreiben – hüpfte den Weg entlang. So fühlte man sich also, wenn man den wichtigsten Teil der Aussage verpasst hatte. Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, schnappte er sich noch draußen stehend das kleine Handtuch von der Garderobe und befreite seine Füße vom restlichen Sand und der Erde. Dann klopfte er es etwas an der Treppenstufe aus und legte es auf seinen angestammten Platz. Der Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch eine ganze Weile hatte, bis es Mittagessen geben würde, und so beschloss er, sich eine geeignete Ablenkung zu suchen, bis es soweit war. Doch das stellte sich als komplizierter als gedacht heraus. Zwar hatte er mit Mokuba alles Wichtige besprochen, doch als abgehakt betrachtete sein Kopf es daher noch lange nicht. Er brauchte irgendetwas, das seinen Kopf beschäftigen würde, ihn aber nicht gleichzeitig zu sehr daran erinnerte. Nach einer halben Stunde fruchtlosen Probierens lag er schließlich doch im Liegestuhl mit einem Buch über Südfrankreich in der Hand und las. Schnell war er mit den Gedanken abgedriftet in Überlegungen, die zu dem jetzigen Zeitpunkt viel zu früh waren. Als er sich dabei ertappte, tadelte er sich selbst. Dennoch konnte es ja nicht schaden, es sich für die Zukunft zu merken. Bisher kannte er von Frankreich nur ein paar Großstädte und sicherlich würde es sich lohnen sich auch einmal den Rest des Landes anzusehen. Außerdem hatte Herr Kobayashi immer wieder in seinem Unterricht betont, eine Sprache könne man erst dann richtig lernen, wenn man sich nur mit ihr alleine mit den Einheimischen verständigen könne. Vielleicht hatte Seto ein paar Mal zu oft erwähnt, wie gut er mit Englisch durchgekommen war in Paris und Straßburg. Hin und wieder sah er auf die Uhr und entschied schließlich um zwölf, dass es an der Zeit wäre, sich zu erheben. Auch wenn es vergebliche Liebesmüh war, so wechselte er doch die Kleidung, um einigermaßen angezogen zu erscheinen, zog sich seine Schuhe an und schlenderte gemütlich den Waldweg zurück zum Hauptgebäude. Beim Öffnen der Haustür hörte er bereits das Klappern des Geschirrs, stellte aber zu seiner Erleichterung fest, dass es nur Ethan und Clara waren, die Shin beim Tischdecken halfen. Erfreut sah dieser zu dem Neuankömmling und stellte ihn gleich mit zum Helfen ab, damit er wieder in der Küche verschwinden konnte. Augenscheinlich waren die Zwillinge nicht zum ersten Mal mit dieser Aufgabe betraut worden, denn bis auf eine kleine Unsicherheit, wohin genau der Dessertlöffel gehöre, erledigten sie alles tadellos und Seto blieb kaum Zeit selbst etwas zu machen. Anschließend linsten sie zu dritt in die Küche hinein und erklärten Shin und Hans am Herd, dass sie Hunger hätten. „Sagt das nicht mir, sondern dem restlichen Team und eurer Familie!“, scheuchte Hans sie energisch wieder in den Aufenthaltsraum. „Das Essen ist fertig und bis auf unseren besonderen Gast, hat sich noch keiner von ihnen eingefunden. Seid also so lieb und holt Cian und Chef, den Rest versuche ich über Funk zu erreichen.“ „Ich hole Cian!“, sprang Ethan davon. „Dann hole ich Chef“, erwiderte Clara und war genauso schnell verschwunden wie ihr Bruder. „Und was kann ich noch tun?“, fragte Seto vorsichtig. So ganz ohne Aufgabe kam er sich seltsam verloren in der Küchentür vor. „Mir beim Rübertragen helfen“, antworte Hans und drückte ihm die Schüssel, die neben der Fritteuse gestanden hatte, in die Hand. Erst wunderte sich sein Helfer, weswegen Shin etwas komplett anderes zu machen schien und sich abgesehen vom Tischdecken nicht in die Vorbereitungen eingebracht hatte, doch dann fiel der Groschen und er konnte sich nur über sich selbst wundern. Während der ganzen Zeit war ihm entgangen, dass beide Köche eine klare Arbeitsteilung hatten. Chef leistete sich tatsächlich einen Koch extra für sein Team. Er war sich nicht sicher, ob das nicht eigentlich unter Verschwendung fiele, doch es schien allen zu helfen, nicht zuletzt Shin. Vor dem Esstisch wäre Seto beinahe mit Yuki zusammengestoßen, die zur Haustür herein geschossen kam. „Bin ich noch pünktlich?“, rief sie und verschwand in der Küche. Kurz hörte man Shin etwas sagen, dann sie fluchen. Grummelnd trug sie eine der grauen Thermokisten nach draußen und schimpfte dabei über die Ungerechtigkeit des Lebens. Pegasus bekam den Rest davon gerade noch so mit, als er vom Flur her den Raum betrat. „Es muss etwas sehr Leckeres heute geben, wenn sie sich so über eine weitere Lieferung aufregt“, stellte er trocken fest und nahm bereits Platz. Das nächste Öffnen der Haustür brachte drei „M“s herein. Mokuba, Martine und Matt als Schlusslicht, der als einziger seine Schuhe beim Betreten des Hauses auszog und gegen Hausschuhe wechselte. Dann kamen auch endlich Joe und Cian aus ihren jeweiligen Richtungen und Hans enthüllte, was es zu Essen gab: Wurstsalat mit Pommes Frites, selbstverständlich beides selbst gemacht. Zu Setos Erstaunen puhlten die Kinder nicht die Essiggürkchen aus dem Salat, sondern aßen brav alles auf, während Martine sich in scheinbar unbeobachteten Momenten das grüne Gemüse von Mokubas Tellerrand stibitzte. Diesbezüglich würde sich sein Bruder wohl nicht mehr so schnell ändern. Die Gurken konnten noch so klein geschnitten sein, solange die Chance bestand sie nicht mitessen zu müssen, sortierte Mokuba sie aus. Als Yuki wieder kam, versuchten die Zwillinge gerade Joe die letzten Pommes aus der Schüssel abzuringen. Doch Seto sah aus Reflex zur Tür auf und bekam so noch den Blick mit, den Cian und Matt tauschten oder vielmehr wie sie mit Grimassen zu diskutieren schienen. Wie Yuki aber Platz nahm, unterbrachen sie ihr stummes Gespräch, rutschten beide für sie etwas und klauten Joe die Schüssel vor der Nase weg. „Hier. Damit du schon mal anfangen kannst, bis Shin die nächste Portion fertig hat.“ Yuki sah Cian an als wäre er ein Heiliger und aß ungeniert direkt aus der Schüssel, Martines gemurmelten Einwand zum Thema Vorbildfunktion ignorierend. Glücklicherweise waren die Zwillinge zu abgelenkt davon wie Hans Mokuba aufzog und Shin kam wenige Minuten später mit dem Nachschlag. Der Nachtisch fiel relativ dezent aus. Große Stücke Wassermelone, die zwar saftig waren, einem aber nicht gleich die Hände verklebten. „Wann wollt ihr nachher los?“, wollte Pegasus von Matt und Cian zwischen zwei großen Bissen wissen. Er war einer der wenigen, die es geschafft hatten sich beim Mittagessen zurückzuhalten. Matt sah auf die Uhr und überlegte. „Ein, eineinhalb Stunden etwa“, antwortete er schließlich. „Ich sollte noch duschen.“ Cian schien sich einen Kommentar zu verkneifen, doch Maximilion sprach eh das aus, was er wohl gedacht hatte: „Ich bezweifle, dass das helfen würde.“ Beleidigt schnappte Matt nach Luft, was wiederum nicht nur Martines Mundwinkel nach oben zog. „Ich meinte: Ich glaube nicht, dass das notwendig ist, da du vermutlich eh wieder schwitzen wirst und Cian anscheinend auf den Geruch nach Garten an dir steht“, wurde nachgefasst und unauffällig nach dem nächsten Stücke Melone gegriffen. „Genauso sehe ich es auch“, mischte sich endlich Cian ein. „Aber meinst du die Zeit reicht auch für Chef und Seto?“ Über den Tisch hinweg wurden entsetzte Blicke getauscht. „Wieso für uns?“, fand Joe als erster die Sprache wieder. Sein Stück Melone baumelte gefährlich zwischen seinen Fingern. Fies grinste Cian ihn an: „Weil ihr uns zu unseren monatlichen Tanzverabredung begleiten dürft, natürlich.“ Die Melone fiel, während Seto sich von dem doppelten Schock zu erholen versuchte. Bis jetzt hatte er den Iren für einen ziemlich netten Kerl gehalten. Eine Stunde später lief Seto nervös im Wohnzimmer auf und ab. Matt hatte ihm gesagt, sie würden sich über die Gegensprechanlage bei ihm melden, wenn sie drei fertig wären, damit er sich keinen Stress zu machen brauche. Das Anziehen des Anzugs. Das Binden der Krawatte. Selbst die Entscheidung wie ordentlich er seine Haare frisieren sollte. Das alles war kein Stress für ihn gewesen. Doch dann hatte er seine Tanzschuhe rausgesucht - er hatte sich für das flache Männermodell entschieden – und hatte plötzlich eine Schachtel in der Hand, die seinen Handteller auf angenehme Art und Weise ausfüllte. Sie lag jetzt auf dem Esstisch und jedes Mal, wenn er daran vorbei ging, hob sich sein Arm als wolle er nach ihr greifen, doch dann ging er einfach weiter. Statt der Gegensprechanlage hörte er Matts Stimme an der Tür: „Ihr Taxi ist da!“ Um zur Tür zu kommen, musste er ein letztes Mal am Tisch vorbei. Blitzschnell griff die eine Hand nach der Schachtel, während die andere den Stoffbeutel mit den Schuhen von der Stuhllehne nahm. Draußen sah er, was Matt gemeint hatte. Der Wagen der vor Haus 3 stand, sah einem Flughafentaxi zum Verwechseln ähnlich. Man hätte bequem das gesamte Team hineinbekommen. Joe war vom Fahrersitz ausgestiegen und folgte Setos leicht verdutztem Blick. „Ich hatte ihnen angeboten mit etwas Schickerem zu fahren, aber beide haben behauptet, wir hätten als vier große Männer nicht genug Beinfreiheit.“ Er grinste schief, kam auf ihn zu, hakte sich unter und wollte ihn zum Beifahrersitz begleiten, als er Setos Hand sah. „Was ist das?“ „Was?“ „Das da in deiner Hand.“ „Meine Tanzschuhe.“ „Das andere.“ „Ähm“, räusperte sich Seto verlegen. „So etwas wie ein Anstecksträußchen. Matt und Cian sagten ja, es wäre etwas formeller dort und ...“ Die beiden waren nicht mal ansatzweise eine Hilfe. „... und ich hatte gehofft, dass du etwas Dunkelblaues trägst, zu dem es dann ganz gut aussehen würde...“ Einen Meter vor der Moterhaube ließ er Joe einfach stehen, drückte ihm die Schachtel vor die Brust und flüchtete auf den Beifahrersitz. Perplex sah dieser an sich herunter und öffnete dann auf dem Weg zum Fahrersitz sein offensichtliches Geschenk. „Was ist das?“, versuchte er es erneut, während er sich anschnallte und Matt und Cian von der Rückbank neugierig nach vorne schielten. „Sowas wie ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk. Wenn es dir nicht gefällt“ Seto hatte etwas sagen wollen wie: „kein Problem. Ich kann es umtauschen“, doch hier versagte ihm die Stimme. Schließlich waren allein drei Stunden seiner Urlaubsvorbereitung dafür drauf gegangen. „Der Geber steckt das Sträußchen üblicherweise dem Empfänger an“, ging Matt zum Glück dazwischen, bevor die Pause ins Unangenehme kippen konnte. Und Joe reagierte prompt. Er nahm das dunkle Lederarmband aus der Schachtel, hielt es Seto hin und reckte ihm das rechte Handgelenk so entgegen, dass er es ihm bequem umlegen konnte. Einen kurzen Moment flackerten seine Augen auf, als er die Schachtel verstaute und sein Blick die filigranen Prägungen des Leders streifte. Dann richtete er sich im Sitz wieder auf und sagte: „Bitte anschnallen. Es geht los!“ Bis sie auf dem Parkplatz einfuhren, hatte sich sein Herzschlag immer noch nicht beruhigt. Von der Rückbank aus hatten Matt und Cian sich mit Joe über Belangloses unterhalten, aber er selbst konnte nur stumm nach draußen sehen, wo die Welt an ihnen vorbeizog. Er traute sich nicht auf die andere Seite des Wagens zu sehen. Kurz wollte er etwas sagen, als sie an einem Abzweig vorbeikamen, dessen Verkehrsschild auf einen Flugplatz hindeutete, aber er brachte keinen Ton heraus. „Wir sehen euch dann nachher“, meinte Cian schlicht und schon waren er und Matt aus dem Auto verschwunden. Die Fahrertür wurde geöffnet und geschlossen. Dann öffnete sich seine Tür und Joe sah ihn lächelnd an. „Kommst du?“ Er nahm Seto an der Hand, der sich kaum schnell genug abschnallen konnte, denn der andere zog bereits. Das Gebäude, auf das sie zuliefen, war von außen unscheinbar. Es war zwar groß, fiel aber nicht weiter im umgebenden Industriegebiet auf. Der Vorraum hinter der schweren Eingangstür war deshalb eine Überraschung. Mittig verlief ein Trennstrich, wo normale, große Bodenplatten auf hochglänzenden Holzboden trafen. Die Garderobe war seitlich aufgebaut und genau im Übergangsbereich standen ein paar Stühle davor. Darauf bedacht nicht negativ aufzufallen tat Seto es Joe nach und wechselte dort seine Schuhe und wurde augenblicklich weiter gezogen, sobald sie ihre Sachen abgegeben hatten. Von der nächsten Tür her nahm er gedämpften Bass wahr. In the dark I see your smile Joe blickte sich kurz nach ihm um, als sie zwischen einem schmalen Rand aus Tischen hindurch gingen. Das Licht wahr gedämpft, ließ aber noch einen guten Eindruck von dem großen Raum zu, in dem sich bereits eine Menge Leute tummelten. Er konnte nur hoffen, dass ihn keiner erkannte. Don't be so shy Anscheinend waren sie am Ziel angekommen, denn Joe zog ihn unmittelbar aus der Bewegung zu sich heran, legte die rechte Hand auf seine Hüfte und begann ihn in einen Disco Fox zu führen. You're right Take off my clothes Oh bless me father Don't ask me why Die Welt um ihn herum begann sich buchstäblich zu drehen und er vergaß alles um sich herum. Joe führte gut, und er musste nicht auf die anderen Tänzer um sie herum achten. Nereida hatte ihm gesagt, er bräuchte einen Fixpunkt, damit ihm in den Drehungen nicht schwindlig wurde, und er hatte seinen gefunden. Nur für Sekundenbruchteile ließ er Joes Augen aus dem Blick und verhakte ihn sofort wieder mit seinem. Nein, die Zeit stand nicht still, aber sie war ihm tatsächlich einmal egal. Es war nach Mitternacht, als er wieder in seine Straßenschuhe schlüpfte. Seine Ballen pochten leicht, seine Wangen waren gerötet und sein Hemd durchgeschwitzt. Er hatte Joe und sich kaum eine Pause gegönnt. Genauer hatte Joe die erste Pause nach circa eineinhalb Stunden eingefordert und ihm unter dem Vorwand, dass er sich das Ambiente ansehen solle, an einen Tisch gelockt und mit einem nicht-alkoholischen Getränk versorgt. Zum ersten Mal hatte Seto die Ruhe gehabt, sich die anderen Tänzer anzusehen. Cian und Matt fielen nur auf Grund ihrer Größe auf. Sie waren nicht das einzige gleichgeschlechtliche Tanzpaar und bewegten sich auf eine Art geschmeidig zur Musik und miteinander, die von absolutem Einklang sprach. Seto stockte der Atem, als die Musik zu einem Tango wechselte. Schon wollte er aufspringen und mit Joe tanzen, doch der hielt ihn mit den Worten „sie werden nochmal einen Tango bringen“ zurück. Und so konnte er nur weiter auf die Tanzfläche sehen, die Joe halb im Rücken hatte. Die anderen zwei tanzten einen Tango wie Seto ihn noch nie gesehen hatte. Kraftvoll, beide maskulin und so wirklich konnte er nicht sagen wer eigentlich wen führte. „Unglaublich“, murmelte er nur. Sie hatten schnell ihren Rhythmus aus Tanzen und Pausen gefunden, genossen die Atmosphäre und auch, dass sich anscheinend niemand groß um sie zu kümmern schien. Leise hatten sie sich am Rand sitzend von ihren diversen Erfahrungen mit Standardtanz erzählt und hatten auf der Tanzfläche herauszufinden versucht, ob der andere diese oder jene Figur kannte. Joe legte ihm das Jacket um die Schultern, sein eigenes hatte er locker über den Arm gelegt. „Darf ich bitten?“, bot er ihm den freien Arm an und Seto hakte sich unter als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Der verschwörerische Blickwechsel zwischen Cian und Matt entging ihm diesmal. Kapitel 21: Freitag 5.8. ------------------------ Als er die Augen aufschlug, war es deutlich später als am Vortag. Die Sonne war bereits aufgegangen und Joe hatte sich im Bett neben ihm aufgerichtet und schien ihn im Schlaf beobachtet zu haben. „Willst du etwas schon aufstehen?“, grummelte Seto noch etwas verschlafen. „Nein, nicht solange du noch schlummernd im Bett liegst. Ich bin einfach nur nicht so ein Langschläfer wie du.“ Diese Beleidigung konnte Seto so nicht auf sich sitzen lassen und stürzte sich knurrend auf seinen Kontrahenten. Dieser schien seine neue Position, in die Kissen gedrückt und mit ihm rittlings auf sich, allerdings eher zu genießen. Denn er kniff Seto frech in den Hintern. „Nächstes Mal kaufe ich wohl besser Handschellen für dich statt eines Armbands.“ „Weißt du denn überhaupt wie man richtig damit umgeht“, spottete Joe weiter und schnappte sich die Arme seines Reiters, bevor dieser auf die Idee kommen konnte, ihn noch bewegungsunfähiger zu machen. „Ich kann es mir ja mal von dir zeigen lassen“, kam die überraschend neckische Antwort. „Aber nicht jetzt. Momentan hab ich eher Lust auf etwas anderes...“ Sehr verspätet standen sie schließlich doch auf und Joe begann das Frühstück zu richten, während Seto ins Badezimmer verschwand. Beim Händewaschen fiel ihm ein Lied aus „My Fair Lady“ ein und während er die Zähne putzte, bekam er es einfach nicht mehr aus dem Kopf. Das Summen verkniff er sich gerade noch, doch als er in die Küche ging, hätte er sich am liebsten Joe geschnappt und wäre mit ihm durchs Wohnzimmer getanzt. Da stand sein Hündchen, den Rücken zu ihm, schnitt Obst klein und war in diesem Moment einfach alles, was er brauchte. „Was wird das Leckeres?“, gurrte er in sein Ohr, während er sich von hinten an ihn anschmiegte. Der kurze Moment, in dem sich der andere versteifte, schob er auf den Überraschungseffekt und daher schnell beiseite. „Nur etwas Obstsalat mit Quark. Yuki sollte in einer Stunde das Mittagessen bringen. Aber nach gestern Nacht bin ich einfach hungrig.“ Er reichte ihm ein Stück Apfel nach hinten und schnitt weiter. „Wenn du magst, kannst du schon mal den Tisch decken.“ Seto gehorchte, stellte die Tassen hin, goss den Kaffee ein, suchte bereits das Geschirr für das Mittagessen zusammen und stellte es auf das entfernte Ende des Tisches. Endlich kam Joe und setzte sich mit zwei großen Müslischalen zu ihm. „Und, was willst du heute machen? Es ist schließlich dein letzter Tag“, fragte er gut gelaunt. Nachdenklich stocherte Seto in seiner Schale herum. Da gab es diese eine Sache, die er noch ansprechen wollte, aber das konnte noch warten. Schließlich antwortete er zögernd: „Ich würde gerne noch mal mit dir im Meer schwimmen. Vielleicht etwas spazieren gehen und dann... Mal schauen, wofür die Zeit noch reicht. Mokuba wollte heute Nacht nochmal im Drachenzimmer schlafen. Er hat gestern gemeint, er käme nach dem Abendessen mit.“ „Das klingt noch nach einem ziemlich vernünftigen Plan. Allerdings sollten wir dann das Mittagessen nach hinten verlegen und spätestens in einer halben Stunde im Wasser sein, sonst ist die Strömung wieder zu stark.“ Schnell aßen sie fertig und schlüpften in ihre Badehosen. Joe musste seine mit seiner Wechselkleidung mitgebracht haben, dachte Seto und freute sich heimlich über diese Weitsicht. Wobei die eigentliche Aussicht auch nicht schlecht war. Sie schwammen wieder hinaus bis zur Sandbank. „Meine Muskulatur ist noch müde von gestern!“, beteuerte Seto, der ihr Wettschwimmen wieder verloren hatte. „Du meinst wohl heute morgen“, grinste Joe ihn frech an und entzog sich mit flinken Bewegungen seinem Griff. Irgendwann tauchte er komplett unter, schnappte sich Seto von hinten und ließ sich mit ihm ins Wasser zurückfallen. Unter Wasser ließ er ihn wieder los und fuhr mit den Händen an seinen Seiten entlang. Geschüttelt von wohligen Schauern kämpfte sich Seto wieder an die Oberfläche und in eine stehende Position. „So viel zu den Geschichten über Sirenen.“ „Meinst du denn nicht, ich würde einen guten Meermann abgeben?“ „Bestimmt. Aber gewisse deiner Vorzüge würden mir dann doch fehlen.“ Er überbrückte die kurze Distanz zwischen sich und zog Joe zu einem Kuss heran. Doch dieser ließ sich wieder nach unten fallen und war erneut verschwunden. In einigen Metern Entfernung durchbrach sein Blondschopf die Wasseroberfläche und er rief: „Verlegen wir das lieber in den Pool. Wer als erster dort ist!“ „Das ist unfair! Du hast bereits einen Vorsprung!“ „Ich will dich nur motivieren“, erwiderte Joe ganz unschuldig, bevor er sich umdrehte und los schwamm. Während die Terrasse zurückfuhr, befreiten sie sich gegenseitig vom Sand und kamen auf die Idee, dass sie vielleicht erst einmal duschen sollten, um das Salz von der Haut zu bekommen. Yuki war wohl inzwischen da gewesen, denn die Kiste mit ihrem Mittagessen stand auf dem Tisch, als sie das Wohnzimmer durchquerten. Sie gaben es nur ungern zu, aber irgendwie hatten sie beide Hunger auf etwas Nahrhafteres. Sie beschlossen den Pool zunächst zu streichen, dafür die warme, gemeinsame Dusche zu genießen, aber auch nicht zu sehr in die Länge zu ziehen. Mit trockener Kleidung setzten sie sich schließlich an den Esstisch und teilten den Salat, das gegrillte Gemüse und das Hähnchenfleisch zwischen sich auf. „Das werde ich wirklich vermissen. Meine Kantinenköche sind nicht mal halb so gut wie deine“, stellte Seto fest. Joe blickte ihn erstaunt an. „Du weißt wie das Kantinenessen ein der Kaiba Corp schmeckt?“ „Natürlich.“ „Ich hatte dich eigentlich immer so eingeschätzt, dass du teuer auswärts essen gehst oder dir zumindest etwas liefern lässt.“ „Hab ich auch. Wenn ich mittags überhaupt etwas gegessen habe. Aber seit Februar brauche ich in der Regel doch eine richtige Mahlzeit und da war es in der Anfangszeit einfach schneller, mir was aus der Kantine kommen zu lassen.“ Leicht ungläubig sah Joe ihn an. „Und das Küchenpersonal durfte seine Jobs behalten?“ „Schau nicht so. Und ja, durften sie. Ich hatte eben Hunger.“ „Aber unters gemeine Volk hast du dich nicht gemischt, oder?“ Setos Blick sprach Bände. „Gut. Alles andere hätte mich dann doch zu sehr überrascht.“ Es war nicht so, dass er nicht das ein oder andere Mal darüber nachgedacht hatte, aber dann war ihm wieder eingefallen, wie wichtig es war, dass zumindest ein Teil seiner Mitarbeiter nicht nur Respekt, sondern Angst vor ihm hatten, und sein Ruf wäre unweigerlich dahin gewesen, wenn er sich mit ihnen in die Schlange gestellt hätte. Außerdem wollte er nicht etwas verloren nach einem freien Tisch Ausschau halten. Natürlich könnte er sich auch einen reservieren lassen, säße dort aber doch nur allein und würde von allen beobachtet werden. Nein, danke. Er verzichtete. Nach dem Essen wuschen sie gemeinsam ab, Joe stellte die Kiste in den Flur und schlug vor, ihren Spaziergang doch jetzt zu machen, wo sie für alles andere eh zu träge waren. Seto stimmte ihm zu und fragte beim Schuheanziehen, ob es einen ruhigen Weg durch den Wald gebe, den sie als Runde einer Stunde lang folgen konnten. „So was in der Art. Ich hab da schon eine Idee.“ Im angenehmen Halbschatten der Bäume gingen sie Seite an Seite und unterhielten sich. Seto überlegte, wie er am Besten das gewisse Thema ansprechen könnte. Nach einer Weile gab er es auf und ließ Joe frei den Gesprächsverlauf bestimmen. Dieser erzählte ihm davon, wo er schon überall scheußliches Kantinenessen hatte „probieren“ dürfen und gab ihm Tipps, wie man es dann doch einigermaßen überlebte. Bei einigen der Schilderungen grauste es Seto so sehr, dass er froh war, von seinen Geschäftspartnern immer außerhalb der Firmen in ein entsprechendes Restaurant geladen zu werden. Er musste wohl ziemlich das Gesicht verzogen haben, denn Joe stupste ihn in die Seite und meinte: „Keine Angst, ich übertreibe nur. Das Schulessen früher war meistens schlimmer. Auch wenn ich das natürlich damals nicht so genau wusste.“ Eine Steilvorlage, auf die Seto jedoch nicht einging. „Aber was mich wirklich umgehauen hat war, wie gut das Essen in Weinregionen ist. In den meisten kann man sich einfach so in kleine Lokale verirren und bekommt richtig leckere Sachen vorgesetzt, auch wenn das meiste als 'Hausmannskost' bezeichnet wird. Shin ist schier durchgedreht, als er mich mal begleitet hat.“ Joe schien nicht sonderlich auf den Weg zu achten, während er sprach, doch er fand die richtige Stelle, um quer durchs Unterholz auf einen schmalen Trampelpfad zu einem anderen Weg zu gelangen, der sie zurück führen würde. Mit jedem Schritt wurde Seto nervöser und dennoch sprach er mit dem Hotelmanager über Weine und Essen und lauschte, wie dieser anfangs zwischen Shin und Hans in der Küche hatte vermitteln müssen. Zurück im Haus ließen sie sich auf das Sofa fallen und streckten die Beine aus. „Willst du zum Abkühlen etwas in den Pool?“ Joe hatte sich leicht gedreht und war so nah, dass er in bequemer Kussreichweite war. Blinzelnd sah Seto ihn an und da kapierte er es. So sehr wie er versucht hatte ihr Gespräch in eine bestimmte Richtung zu bringen, so sehr hatte sich Joe bemüht das Thema im Keim zu ersticken. Hatte er im Gespräch Andeutungen gemacht, dass sie zu zweit ja mal das ein oder andere Nachkochen konnten, den bestimmten Wein probierten oder auch nur überhaupt in der Zukunft zusammen Zeit verbrachten, war Joe ihm ausgewichen. Es war nicht sehr offensichtlich gewesen, geschickt getarnt hinter einem „vielleicht“ oder einem kaum merklichen Themenwechsel. Aber er war ihm rigoros ausgewichen. „Lieber später. Ich würde vorher gerne noch etwas anderes machen.“ „Oho!“ Joe kam noch näher und legte ihm die Hand in den Nacken. „Und was?“ Es war schwer für Seto einen kühlen Kopf zu bewahren, aber er wollte es einfach geklärt haben. „Wie du weißt, fahre ich morgen zurück nach Domino“, fing er zögerlich an. „Das weiß ich.“ „Ich will einfach nur wissen, wie es mit uns weitergeht.“ „Was meinst du mit 'Es mit uns weitergeht'?“ Joe zog sich ein Stück zurück. „Was soll da weiter gehen?“ „Das mit uns.“ Joe seufzte tief und fing an mit dem Armband um sein Handgelenk zu spielen. Seto hatte sich gefreut wie selbstverständlich er es wieder angezogen hatte, doch jetzt überkam ihn Verunsicherung. „Hör zu“, sagte Joe schließlich. „Ich glaube nicht, dass das mit uns eine Zukunft hat. Klar, es wäre toll. Aber seien wir ehrlich. Du hast deinen Job, ich habe meinen. Wenn du erst einmal zurück in Domino bist, wirst du kaum aus der Firma kommen und in jeder freien Minute am Telefon hängen. Bei mir ist das ähnlich. Wir werden kaum Zeit haben, um zum jeweils anderen zu fahren. Und wenn doch, würden wir zur Hälfte doch immer noch in der Arbeit stecken. Ich hab außerdem schon eine Fernbeziehung hinter mir und ich will das einfach nicht mehr. Ich weiß, du hast damit keine Erfahrung, aber glaub mir einfach, dass ich weiß, wovon ich rede. Das wird so einfach nicht funktionieren.“ Währenddessen war Seto in sich zusammen gesunken. Eigentlich hätte er es wissen müssen, doch es ausgesprochen zu hören, traf ihn härter als erwartet. Aber Joe saß immer noch neben ihm, was er zumindest als Zeichen deutete, dass noch nicht alles verloren war. „Aber du würdest es mit mir versuchen?“, traute er sich schließlich etwas zu sagen. Schweigen. „Aber du würdest es mit mir versuchen, wenn es keine Fernbeziehung wäre?“ „Seto, wie stellst du dir das vor? Ich werde das Hotel nicht allein lassen!“ „Das weiß ich. Aber im Gegensatz zu dir, bin ich was das Räumliche angeht etwas flexibler. Ich könnte beispielsweise in Haus 4 dauerhaft einziehen, wenn du mir dort Internet erlaubst. Ich hab den Abzweig zum Flugplatz gestern gesehen. Wenn ich fliege, wäre ich super schnell in Domino, wenn es sein muss. Ich wollte Mokuba eh etwas mehr Verantwortung in der Firma übertragen. Und wie gesagt, das meiste könnte ich mit Telefon und Laptop von hier aus regeln. Du könntest ganz normal das Hotel leiten. Morgens und abends und zu den Mahlzeiten würden wir uns sehen. Wir könnten das doch so machen, oder? Was sagst du?“ Hoffnungsvoll sah er Joe an, dessen Gesicht keinerlei Regung verriet. „Ich muss in Ruhe darüber nachdenken“, sagte er nach einer Weile. Steif küsste er ihn auf die Wange und ging. „Achtung! Kleiner Bruder im Anmarsch!“, rief Mokuba. Er wartete noch einige Augenblicke im Flur und lauschte, ob er von drinnen hektische Bewegungen hörte, die daraufhin deuteten, dass er bei etwas Bestimmten gestört hatte. Da war aber nichts als Stille. Zur Sicherheit schloss er trotzdem die Augen, als er das Wohnzimmer betrat. Vorsichtig öffnete er sie, sah aber nur seinen Bruder allein auf dem Sofa sitzen. „Du bist schon allein? Weil ihr zwei nicht zum Abendessen kamt, dachten wir, ihr hättet euch umentschieden und lieber noch was zu zweit gemacht.“ Er durchquerte den Raum und sah ihn sich aus der Nähe an. Dass Seto der Abschied so mitnehmen würde, hätte er nicht gedacht. „Hey, ihr seht euch morgen früh doch nochmal. Und wenn ihr mir Ohrenstöpsel gebt und mir versprecht nicht zu laut zu sein, darf Joey gerne heute Nacht auch noch hier schlafen.“ Er ging vor ihm in die Hocke und jetzt endlich schreckte Seto hoch. „Oh, Mokuba. Ich hab dich gar nicht reinkommen hören. Wir sollten dann mal Koffer packen.“ Ungelenk erhob er sich und ging hinüber zum Kleiderschrank. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Das wurde Mokuba allmählich klar. Anstandslos packte auch er seine Sachen ein und stellte das fertige Gepäck in den Flur. Mehrmals hatte er versucht Seto darauf anzusprechen, was geschehen war. Doch der brummte nur, dass er nicht drüber reden wolle. Als er bald darauf verkündete, früh schlafen gehen zu wollen, gehorchte Mokuba und legte sich ebenfalls in das Stockbett. Mit Blick auf den weißen Drachen mit eiskaltem Blick lag er noch eine Weile wach und lauschte dem gezwungen gleichmäßigem Atmen im Bett unter ihm. Er würde hoffentlich mit ihm reden, wenn er soweit war. Kapitel 22: Samstag 6.8. ------------------------ Er hatte schlecht geschlafen. Trotzdem war Mokuba vor ihm auf und brachte ihm einen starken Kaffee ans Bett. Langsam richtete er sich auf, um sich nicht den Kopf anzustoßen und schwang die Beine aus dem Bett. Dann nahm er die Tasse entgegen und starrte auf die Wandbemalung ihm gegenüber. Wie fühlte sich wohl ein Drache, wenn er mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurückkehren musste? Besiegt. Gedemütigt. Mit einer äußerst ungewissen Zukunft. Ihm war bewusst, dass er sich nicht so gehen lassen konnte, wie er es gerne gewollt hätte, aber er badete weitere zehn Minuten in Selbstmitleid. Schließlich stürzte er den restlichen Kaffee hinunter und ging hinaus zu Mokuba. Dieser hatte das Frühstück, ein einfaches Müsli mit noch mehr Kaffee, bereits fertig gerichtet und war schon fertig angezogen. Lustlos aß er alles auf, trank den weiteren Kaffee und starrte in den grauen Morgen hinaus. Das Wetter schien sich seiner Laune angepasst zu haben. Der Himmel war bewölkt und dem Glanz auf der Terrasse nach nieselte es kaum merklich. Der perfekte Tag, um einen Urlaub zu beenden. Ohne viel Worte zu wechseln half Seto seinem Bruder beim Abwasch und während dieser die Schränke durchsah, ob sie auch nichts vergessen hatten einzupacken, nahm er seine frische Kleidung mit ins Bad. Er duschte eiskalt und sah während des Zähneputzens sein Spiegelbild durchdringend an. Er hatte schon schlimmer ausgesehen. Die positiven Anzeichen des Urlaubs, weniger hohle Wangen und eine gewisse, wenn auch kaum erkennbare Bräune, waren noch vorhanden, aber der harte Zug um seinen Mund und die Kälte in seinen Augen konnten ihn nicht täuschen. Die Erholung war dahin. Er spuckte aus, trocknete sich fertig ab und zog sich an. Dann packte er die restlichen Kosmetika ein. Zusammen mit dem Schlafanzug schmiss er sie achtlos in den Koffer im Flur und trat wieder zu Mokuba ins Wohnzimmer. „Haben wir alles?“ „Ja. Es sei denn du hast eins von deinen Büchern ins Bücherregal gestellt. Aber schau gerne nochmal nach.“ Mit großen Schritten durchmaß er den Raum. Sah im Kleiderschrank nach, machte nach kurzem Zögern die Schublade des Nachttischs auf. Der Inhalt war glücklicherweise soweit unauffällig. Das Bücherregal streifte er nur mit einem kurzen Blick. Alle Bücher, die er neu gekauft hatte und die er behalten wollte, hatte er eingepackt. Im Zweifelsfall würde er einfach Yuki anschreiben. Er warf einen langen Blick hinaus aufs Meer. Ein kleiner Teil von ihm wäre am liebsten hier geblieben, auch wenn das kindisch war. Es gab nichts mehr, was ihn hier hielt. „Lass uns gehen, Mokuba.“ „Okay, großer Bruder.“ Etwas umständlich, weil das Gepäck einiges an Platz einnahm, zogen sie sich die Schuhe an. Seto zwängte sich mit einer kleineren Tasche durch die Haustür und schloss den Wagen auf. Stück für Stück packten sie ihn so wie auf der Hinfahrt und waren damit erstaunlich schnell fertig. Als Mokuba mit dem letzten Gepäckstück draußen war, schloss Seto die Haustür ab und verstaute den Schlüssel in seinem Versteck. „Ihr hattet aber nicht vor zu gehen, ohne 'Auf Wiedersehen' zu sagen, oder?“, tönte Matts Stimme plötzlich hinter ihm. Überrascht drehte sich Seto um und sah, dass er nicht alleine gekommen war. Er hatte das gesamte Team und die Familie Pegasus im Schlepptau. Eigentlich hatte Seto genau das vorgehabt. „Natürlich nicht!“, entgegnete Mokuba entrüstet. „Wir wollten gerade zu euch rüber gehen.“ Kurz überflog sein Blick die kleine Menschentraube auf dem Vorplatz. „Wo ist...?“ Martine schüttelte nur kurz energisch den Kopf und mied seinen Blick. Zögernd, aber in dem Bewusstsein, was gute Manieren verlangten, stieg Seto die Stufen hinab und folgte Mokubas Beispiel, der sich begeistert ein letztes Mal knuddeln ließ. Die Zwillinge sprangen aufgekratzt um sie herum. Matt und Cian klopften ihm aufmunternd auf die Schulter. Shin schüttelte ihm kräftig mit beiden Händen die Hand, während Pegasus es bei einem distanzierten Nicken beließ. Hans hingegen zerquetschte ihm fast die Hand, während er mit der linken Martines Hand sachte hielt. Als er jetzt direkt vor ihr stand, sah er, dass ihre Augen stark gerötet waren. Sie schluckte schwer, bevor sie sprach: „Ich freue mich auf die weiterhin gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Sie haben sich meines Vertrauens mehr als würdig erwiesen.“ Das, was sie nicht laut auszusprechen wagte vor den anderen, las er in ihrem Blick. Es tut mir Leid. Er deutete das mal so, dass er von ihrer Seite her, nichts mehr zu befürchten hatte. Yuki kam als Letzte und zog ihn in eine lange Umarmung und flüsterte ihm ins Ohr: „Keine Ahnung wie, aber das wird schon wieder.“ Und er hatte keine Ahnung, woher sie diese Zuversicht nahm. Er spürte wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, räusperte sich kurz. „Wir sollten dann mal wirklich los. Vielen Dank für die Gastfreundschaft. Mokuba?“ „Ja, Seto?“ „Willst du fahren?“ Ungläubig sah er ihn an. „Ist das dein Ernst?“ „Würde ich sonst fragen?“, erwiderte er leicht spöttisch. Er warf seinem kleinen Bruder den Autoschlüssel zu und rettete sich dann auf den Beifahrersitz. Kurz darauf stieg auch Mokuba ein und startete den Motor. Langsam fuhren sie den Waldweg entlang. Das Tor öffnete sich für sie automatisch und nach einem kurzen Blick in beide Richtungen ließ Mokuba sich hinaus auf die Straße rollen. Er fuhr ruhig, hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. „Willst du darüber reden?“, versuchte er nach einer Weile einen Vorstoß. „Nein.“ Also drehte Mokuba die Musik lauter und fuhr so perfekt, als hätte er von Roland persönlich gelernt. Manchmal überraschte er Seto dann doch noch. Als ein Handy vibrierte riss es Seto aus seiner Trance. Er hatte die Geräte noch aus und sie befanden sich irgendwo hinter ihm. Doch Mokuba verrenkte sich auf dem Fahrersitz, um an seine hintere Hosentasche zu kommen. „Das müsste Midori sein. Gehst du bitte dran?“ Er warf das Handy ohne auf das Display zu schauen einen Sitz rüber und fuhr weiter. Statt eines Anrufs waren eine Reihe von Nachrichten eingegangen. „Sie hat dir geschrieben.“ „Cool, dann ist die Nachricht von vorhin bei ihr angekommen. Lies vor!“ „Wann hast du ihr geschrieben?“ „Noch im Hotel. Ich hatte gehofft, dass die Nachricht rausgeht, sobald wir wieder Netz haben. Jetzt lies endlich vor!“ Seto tat wie ihm geheißen. Midori schien seinen Bruder ehrlich vermisst zu haben. Und einmal mehr bestätigte sie den guten Eindruck, den er zuvor von ihr erhalten hatte. Ihre Nachricht war liebevoll ohne das ganze Gequietsche, das er mit jungen Frauen ihres Alters normalerweise verband. „PS: Willst du heute Abend noch zum Ausruhen?“, las er vor. „Was meint sie denn damit?“ „Ob wir uns treffen.“ Seto überlegte kurz und tippte dann: „Hallo Midori, hier ist Seto. Mokuba fährt gerade. Er hat sich genug ausgeruht. Ich schicke ihn dir vorbei, sobald er ausgepackt hat.“ Senden. Entsetzt sah Mokuba zu ihm hinüber. „Was schreibst du da in meinem Namen?“ „Nichts.“ Mokuba nahm eine Hand vom Lenkrad und versuchte an das Handy zu kommen, um das Unheil mit eigenen Augen zu sehen. „He! Konzentrier dich aufs Fahren! Wenn du es genau wissen willst: Ich habe ihr nur geschrieben, dass du heute Abend ganz ihr gehörst. Und ich habe geschrieben, dass diese Aussage von mir kommt. Zufrieden? Und jetzt hör bitte auf mit den Schlangenlinien! Sonst gebe ich dir nie wieder einen Autoschlüssel!“ Das wirkte und die restliche Fahrt verlief ereignislos. Die kleine Kabbelei zwischen ihm und Mokuba hatte ihn kurz aus seinem Trübsinn gezogen und ihm gefiel der Gedanke bald mit seinen düsteren Gedanken allein sein zu können. Die Straße, in der die Villa lag, war menschenleer und nur vereinzelt standen Autos am Straßenrand. Doch als Seto sah, wo ein schicker Sportwagen mit laufendem Warnblinker geparkt war, schoss sein Puls nach oben. „Mokuba, du bleibst im Wagen!“, sagte er noch, bevor er ausstieg und dessen Handy mitnahm, um sofort die Polizei zu verständigen. Um auf den Fahrersitz sehen zu können, musste er um den Wagen herum laufen. Doch der Sitz war leer. Erbost stellte er sich auf den Gehweg, musterte das Kennzeichen und wählte. Den Daumen über dem grünen Kopfhörer schwebend blickte er noch einmal auf und sah, dass jemand sich im Schatten, den das Fahrzeug auf die Gehwegplatten warf, aufsetzte. Vor Schreck fiel ihm das Handy aus der Hand. „Was machst du hier?“, rief er entgeistert. „Ich wollte etwas mit meinem Architekten den Neubau eines Gebäudes mit Internetanschluss besprechen, aber der ist für ein verlängertes Wochenende ausgeflogen, und den Schlüssel für die Wohnung habe ich vergessen“, antwortete Joe unschuldig. „Aber was machst du HIER?“ Seto verstand immer noch nicht. „Autos heizen sich im Sommer sehr schnell auf und ich warte hier schon seit vier Stunden. Ich wollte nicht riskieren, dass jemand die Scheibe einschlägt.“ „In dieser Gegend wird in so einem Fall das Tierheim angerufen. Wieso bist du nicht bei Marik und Ryu?“ Jetzt stand Joe auf und kam auf ihn zu. „Dreimal darfst du raten, wer mein Architekt ist! Und ich dachte über die Hündchen-Vergleiche wären wir längst hinaus. Wobei“, hob er den rechten Arm und deutete auf das Armband, „ich fast vermute, dass das deine Interpretation eines Halsbands ist.“ „Joseph Wh... Pegasus. Ich frage dich ein letztes Mal. Was zum Teufel machst du hier?“ „Nun ja. Du hast bei mir gewohnt. Da ist es doch nur natürlich, dass ich so lange bei dir wohne, bis dein Umzug zu mir angeleiert ist, oder? Für den Anfang überlasse ich dir den Speisesaal als Büro und wenn wir uns ranhalten, ist unser neues Domizil bis zum Frühjahr fertig.“ Endlich machte es bei Seto klick. „Seit wann bist du hier?“, fragte er vorsichtig. „Ich bin heute Nacht irgendwann losgefahren, als durch den Waldrennen nicht mehr half. Irgendwie bin ich dann in Domino gelandet. Hi, Mokuba. Ich fürchte dein Bruder hat dein Handy geschrottet. Ist aber meine Schuld. Ich habe ihn erschreckt.“ Entsetzt bückte sich Mokuba, hob das Gerät auf und begutachtete es. „Nein, es ist noch ganz!“ Schnell entfernte er sich und rief Midori an, um zu erzählen, dass sie gut zu Hause angekommen wären. „Heute Nacht?“ „Ja. Ich bin aus Haus 3 raus. Bin durch den Wald gelaufen. Dann war ich kurz im Hauptgebäude, bin Martine begegnet. Dann bin ich wieder in den Wald und... Machen wir es kurz, damit selbst so ein Genie wie du es kapiert: Du darfst bei mir einziehen. Und so schnell wirst du mich auch nicht mehr los.“ Vollkommen verwirrt gab Seto Joe eine schallende Ohrfeige. Dieser erwiderte die Geste, indem er ihn zu sich in die Arme zog und hart küsste. „Nachdem wir das jetzt endlich geklärt haben. Machst du endlich das Tor auf, um mich einzulassen?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)