Schneemeer von Pfeffersosse (Winterwichteln 2015 - KiraNear (2/2)) ================================================================================ Kapitel 1: Spuren im Schnee --------------------------- Bibbernd rieb sie sich über die Arme und zog ihre Nase hoch. Die Umstände spielten heute definitiv nicht mit und auch sonst fühlte sie sich nicht allzu wohl in ihrer Haut. Dabei war heute doch der Tag, den sie sich so lange herbeigesehnt hatte. Denn heute durfte sie das erste Mal mit auf die Patrouille gehen. Viel zu lange hatte sie darauf gewartet, dass ihr Name in den monatlichen Zeitungen gedruckt wurde. Sie fühlte sich bereit ihrer Aufgabe gerecht zu werden, würde sich ihre Partnerin nur nicht so viel Zeit lassen. Gefühlte Stunden stand sie nun schon leicht bekleidet vor der größten Tür im Komplex. Geöffnet wurde diese aber nur, wenn sich mindestens zwei Personen davor befanden. Inass grummelte in ihren nicht vorhandenen Bart und hoffte, dass sie nicht erfrieren würde. Dabei müsste sie sich doch so langsam mal an diese Temperaturen gewöhnt haben. Jeder hasste diese unerträgliche Kälte, aber keiner traute sich etwas zu sagen. Viel zu groß war die Angst, dass dadurch etwas in der ‚täglichen Ordnung‘ kaputt ging. Sie schnaubte und ging wieder hin und her, um ihrem Körper etwas Wärme zu spenden. Es war schon verständlich, dass sie so fror, immerhin kam es nicht oft vor, dass man nur in Unterwäsche vor einer Tür stand. Aber jedes Mal, wenn sie so knapp bekleidet in irgendeinem Teil des Komplex stand, fragte sie sich wieso dies überhaupt gang und gäbe war. Es kam ihr furchtbar unlogisch vor. Viel zu oft hatte sie sich schon gefragt, wer die ganzen Regeln überhaupt aufstellte und war nie wirklich zu einer logischen Antwort gekommen. Ein Wort, das ihr oft in Verbindung mit dem Komplex in den Sinn kam, war unlogisch. Dabei sollte es aus dem Sprachgebrauch der Menschen gelöscht worden sein. Nichts konnte unlogischer sein als das, was mit der Welt in den letzten nun fast tausend Jahren passiert war. Umweltkatastrophen, gegenseitige Zerstörung und Lebensraumvernichtung waren die Folge vieler zusammenhängender Faktoren. Da Inass eine aus der Generation war, die überhaupt nichts von früher kannte, war das Gefühl nach Freiheit oder Meer und Strand völlig in Vergessenheit geraten. Sie hatte schon Bilder dieser ‚Freiheit‘ und auch von diesem ‚Meer‘ und dem ‚Strand‘ gesehen, aber wirklich vorstellen konnte und wollte sie es sich nicht. Viel zu lange waren diese Objekte aus den Köpfen der Menschen verschwunden und würden wohl auch noch lange auf eine Neueinbringung warten müssen. Inass war es leid hin und her zu laufen, also lehnte sie sich an den kalten Stahl, jedoch bereute sie ihre Entscheidung sofort. Dennoch zeigte es ihr, dass sie hier war und lebte. Ihre Finger griffen routiniert zu ihrem Gesicht, um eine verirrte Strähne hinter ihr Ohr zu schieben. Sie hatte mittellanges, braunes Haar und besaß von allem eher das ‚Standard‘-Modell. Einige Male hatte sie zwar gehört, dass sie schön oder hübsch sei, doch in diesen Moment interessierten sie diese Worte nicht sonderlich. Ihre Augen waren braun, hatten aber auch einige grüne Tupfer. Langweilig fand sie sie nun nicht und sie war recht froh, dass sie nicht zu den gefühlt Millionen Blauäugigen gehörte. Obwohl sie nichts gegen diese Farbe hatte, denn ihre Partnerin besaß eines der dunkelblauen Paare. Sie war weder zu groß noch zu klein gewachsen und fühlte sich auch sonst pudelwohl in ihrem Körper. Sie hatte auffällig weibliche Züge, die ihr ab und an Probleme bereiteten. Dennoch konnte sie nicht meckern. Plötzlich hörte sie tapsende Schritte, begleitet von einem lauten Ein- und Ausatmen. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf Inass Lippen, als sie sah, wie ihre Partnerin angelaufen kam. Ihre dunkelblonden Locken wippten im Takt auf und ab und ihre kaum auffallende Brille rutschte gefährlich nahe zur Nasenspitze. Auch sie war leicht bekleidet, doch das interessierte Inass gerade wenig. Nur noch wenige Meter trennten beide und Inass stieß sich von der Mauer ab. Sie holte Luft und grinste breit: „Go, go! Du bist die Schnellste Kiaryas!“ Sie feuerte die andere an und hüpfte gutgelaunt auf und ab. Jetzt da ihre Partnerin bei ihr war, fühlte sie sich auch wieder besser. Vorhin war sie zu sehr in Gedanken versunken, was ihr nun wirklich nicht passte, aber auch sie verlor manchmal ihr Lächeln und ihre gute Laune. Es hatten nur noch nicht viele diese Seite von ihr gesehen. Kiaryas wurde langsamer und kam dann im Eilschritt auf sie zu. Ihre Wangen waren rot verfärbt und Inass hätte sie am liebsten auf der Stelle geknuddelt. Sie hielt sich dann doch zurück, weil sie wusste, dass sie unter Beobachtung standen. Noch ehe sie richtig zu Atem gekommen war, entschuldigte sie sich und strich sich über ihre Stirn: „Tut mir leid, aber ich hatte die Uhrzeit falsch eingespeichert. Da bin ich wieder eingeschlafen.“ Inass wusste, dass das der Punkt war, an dem Kiaryas rot geworden wäre, hätte sie nicht schon rotglühende Wangen durch die Anstrengung. Lachend klopfte Inass ihr verzeihend auf die Schulter und winkte ab: „Ach wo. Jetzt bist du ja da. Dann kann’s ja endlich losgehen!“ Aufgeregt drehte sie sich zu der Tür und räusperte sich. Jetzt kam einer der wichtigsten Momente, den sie bis jetzt nur aus Erzählungen kannte. Das Öffnen der großen Tür stand nur ein paar Mal im Monat an und folglich auch nur für die Personen, die in der Zeitung abgedruckt wurden oder von der Patrouille zurückkamen. Es sind meistens zwei oder drei Teams, die sich für einige Tage auf Patrouille begaben. Manche durften sogar den ganzen Monat dort verbringen und Inass war gespannt wie viel Zeit sie mit Kiaryas alleine verbringen konnte. Das andere Team, bestehend aus zwei Männern, war schon ausgerückt und befand sich im östlichen oder westlichen Teil. Sie beide würden entweder den südlichen oder nördlichen Teil bekommen, denn die beiden Teams mussten jeweils die entgegengesetzten Himmelsrichtungen kontrollieren. Manche Monate kam es sogar vor, dass vier Teams auserkoren wurden. Inass hoffte deshalb, dass das bedeutete, dass beide den ganzen Monat auf Patrouille bleiben würden, vielleicht sogar länger. In seltenen Fällen blieb das Team auch anderthalb bis zwei Monate im vorgesehenen Teil, falls es so verordnet wurde. Und all diese Informationen würden hinter dieser Tür offenbart werden. Inass rieb sich die eisigen Hände und platzierte sie auf zwei Schaltflächen an der linken Seite. Kiaryas tat es ihr gleich und platzierte ihre auf der rechten Seite. Beide schlossen ihre Augen und fingen nacheinander an zu reden: „Inass, Codenummer 3X-U5F90, zu Ihren Diensten.“ „Kiaryas, Codenummer 3X-U6F92, zu Ihren Diensten.“ Die Schaltflächen glommen leicht auf und die beiden hörten, wie sich die Tür aus ihrem verschlossenen Zustand löste. Es klackte hie und da und Inass öffnete ihre Augen wieder. Riegel zogen sich zurück und sie sah, wie sich die Tür langsam veränderte. Wirkte sie gerade noch wie der Rest des Ganges, so glomm sie  nun in einem unerklärlichen Leuchtspiel auf. Aus den Schaltflächen verteilte sich ein bläuliches Leuchten, welches sich schlussendlich in der Mitte zusammenschloss und ein kompliziert anmutendes Muster bildete. Inass beobachtete das Schauspiel und nahm ihre Hände vorsichtig von der Schaltfläche. Kiaryas tat es ihr gleich und sie gingen beide einen Schritt zurück, um sich das Spektakel genauer anzuschauen. Inass musste zugeben, dass es ihr eigentlich dezent egal war, was da gerade mit der Tür passierte, denn sie wollte einfach nur dahinter sein und das begutachten, was sich dort befand. Dabei wusste sie aus ihrer Ausbildung, dass sie zuerst noch in einen anderen Bereich der Komplex gehen mussten, um auf ihre Patrouille vorbereitet zu werden. Mit einem Zischen und einer leichten, unerklärlichen Rauchbildung öffnete sich die Tür langsam und offenbarte was hinter ihr war. Die beiden Partnerinnen warteten ehrfürchtig darauf, dass ihnen das Signal gegeben wurde, dass sie eintreten durften. Eher würden sie sich nicht in Bewegung setzen. Dennoch regte Inass den Kopf leicht ungeduldig, um etwas durch den Rauch zu erkennen und schob ihre Unterlippe dann schmollend vor. Sie fragte sich, weshalb alles so spannend gemacht werden musste und was dieser Rauch genau zu bedeuten hatte. Das Einzige, was ihr auffiel, war, dass es etwas wärmer wurde und ein angenehmes Licht hinter der Tür war. Sie schielte zu Kiaryas und mit einem dumpfen Laut beendete die Tür ihren Öffnungsvorgang. Inass schluckte hörbar und straffte gleichzeitig ihre Schultern. Langsamen Schrittes durchbrach sie die Rauchschwaden und spürte, wie sich Kiaryas Hand um ihre legte und sie gemeinsam das entdeckten, was sich hinter der Tür befand. Ernüchternd musste Inass feststellen, dass es sehr steril und langweilig aussah. Enttäuscht ließ sie ihre Schultern sinken und hörte, wie die Tür sich hinter ihnen wieder schloss. Kiaryas atmete ruhig ein und aus und lächelte sie dann an: „Wir haben die erste Hürde geschafft.“ Inass musste ihr zustimmen und nickte: „Ja, das stimmt. Aber ein bisschen fad sieht es dann doch hier aus, oder nicht?“ Sie hörte ein Lachen als Antwort und entdeckte einen Mann, der in einer der gemütlich anmutenden Sitzmöglichkeiten saß: „Da muss ich dir zustimmen, 3X-U5F90. Es ist vielleicht etwas fad hier, aber dies ist ja nur der Vorraum.“ Er stand mit einer geschmeidigen Bewegung auf und ging auf die beiden zu. „Es freut mich die Bekanntschaft mit Euch beiden zu machen. Auch Dir ein herzliches Willkommen 3X-U6F92. Ich höre auf den bescheidenen Namen UX“, erklärte der Unbekannte und salutierte vor den zwei Frauen. Inass und Kiaryas taten es ihm gleich und nickten: „Wir müssen Ihnen danken, UX. Es ist eine große Ehre in die Patrouille gerufen zu werden.“ Er lachte und deutete beide Platz zu nehmen: „Das stimmt. Und ich werde Euch nun erläutern, was Eure Aufgabe sein wird.“   ] - ° - | - ° - [   Inass schluckte, als die Erläuterungen zu Ende waren und teilte einen schüchternen Blick mit Kiaryas. Sie fühlte sich plötzlich als etwas ganz Besonderes, obwohl alles sie wohl gerade wirklich glücklich gemacht hätte. Aber die Ehre, die ihnen zukam als Teil der Patrouille auserwählt und mit dieser Aufgabe in eine der Himmelsrichtungen ausgesandt zu werden, war überwältigend. Kiaryas wirkte etwas verunsichert, aber es war ein entschlossenes Glimmen in ihren Augen zu erkennen. UXs Erklärungen hatten einige Zeit in Anspruch genommen und beide hatten sich an die Umgebung gewöhnt. Dennoch ließ Inass ihren Blick noch einmal schweifen. Ihre zweite Analyse blieb gleich, es war sehr fad hier drinnen, denn eigentlich alles im Raum war weiß. Hie und da stahl vorwitzig etwas Farbe dem Weiß die Show und UX passte ihrer Meinung nach immer besser in diese Umgebung. UX war, wie sich herausstellte, eine der androiden Lebensformen im Komplex. Er war aus der ‚Unity X‘, was seinen Namen wohl erklärte. UX lächelte beide freundlich an und stand schlussendlich auf: „Wie es mir scheint, habe ich Euch die Aufgabe genügend erklärt. Euch ist es nun gestattet den zweiten Raum zu betreten. Vergesst bitte den Inhalt der Aufgabe nicht, denn wiederholt wird sie nicht mehr. Ich wünsche Euch eine erfolgreiche Patrouille. Auf Wiedersehen 3X-U5F90, 3X-U6F92.“ Er salutierte wieder und öffnete eine unscheinbare Tür, durch die beide gingen. Dahinter befand sich ein Gang und Inass wendete sich flüsternd an Kiaryas: „Ich hätte nicht gedacht, dass unsere Aufgabe daraus bestehen würde. Irgendwie bin ich ja schon verunsichert. Immerhin scheint es eine Langzeit-Patrouille zu werden.“ Kiaryas nickte und lächelte leicht: „Wenn man es so nimmt, scheint sie aber nicht allzu schwer zu bewältigen sein. Aber vergleichbar mit den anderen Patrouillen ist sie nun auch nicht …“ Nachdenklich schob sie ihre Brille hoch und blieb stehen, als sie die nächste Tür erreicht hatten. „Naja, wir werden das Kind schon schaukeln, Kia!“, grinste Inass und sah, wie ihnen die Tür geöffnet wurde.   Dahinter befand sich ein weniger steril wirkendes Zimmer. An den Wänden standen Schränke und andere Aufbewahrungsmittel. Rings herum waren Tische und einige Kabinen zu erkennen. Die Wände waren mit Metall ausgekleidet, aber Inass konnte nicht genau sagen welches, da sie es nicht berühren konnte. Mitten im Raum stand eine Frau, die sie freundlich anlächelte: „Guten Tag, 3X-U5F90 und 3X-U6F92. Ich werde Euch mit dem Nötigsten ausstatten, was Ihr für Eure Patrouille benötigt. Der Rest befindet sich an Eurem Einsatzort.“ Die Frau vollführte eine ausladende Bewegung und die Schränke öffneten sich wie von Geisterhand. Fasziniert blickte Inass auf die Utensilien, die sich in den prallgefüllten Schränken befanden und staunte nicht schlecht, dass neben Kleidung auch Alltagsgegenstände zu sehen waren. Kiaryas und Inass wurden jeweils zu zwei unterschiedlichen Schränken geführt und bekamen die nötigsten Erklärungen zu den Stoffen und Utensilien, die sie nun bekommen würden. Fasziniert und nun verstehend strich Inass über die Kleidung, die sie ab jetzt einige Wochen tragen würde. Dicke Kleidung hing vor ihr und füllte förmlich den halben Schrank aus. Die warme Unterkleidung sollte sie sofort anziehen, nach späteren Erklärungen dann den Rest der Kleidung. Kiaryas tat es ihr wieder gleich und nun sahen sich beide fast ähnlich. Das Material war angenehm auf der Haut und wirkte auf den ersten Blick dünner, aber Inass fühlte sich mollig warm darin. Beide wurden in die Mitte des Raumes geführt und die Frau deutete auf einen Tisch: „Hier befinden sich die Utensilien, die Euch vom Komplex zur Verfügung gestellt werden. Das Gesamtgewicht, das später in den Rucksäcken ist, würde gut und gerne 100 Kilogramm betragen. Durch neueste Technik ist es uns aber gelungen einen Rucksack zu konzipieren, der klein aussieht, maximal 10 Kilogramm wiegt, dafür aber um ein Vielfaches seines Eigengewichtes fassen kann. Nehmen wir beispielsweise …“ Inass hörte irgendwann nur noch mit halbem Ohr zu, weil sie eigentlich alle Objekte kannte, die sie vorgeführt bekam.   ] - ° - | - ° - [   Mit einem Surren schloss sie die Jacke und fühlte sich um Tonnen schwerer. Das lag nicht nur daran, dass sie den Rucksack trug – der wirklich nicht sehr schwer war – sondern auch an den Schichten an Kleidungen, die sie trug. Komischerweise war ihre Bewegungsfreiheit dennoch nicht eingeschränkt und sie schob es auf die Intelligenz des Stoffes, der sich an die Körperbewegungen anpasste. „So …“ Als sie alles noch einmal kontrolliert hatte und jeglichen Verschluss noch einmal probehalber zugezogen hatte, legte sie die Maske an, die sie schützen sollte. Zuvor hatte sie einen Knopf fürs Ohr bekommen, um auch weiterhin mit ihrer Partnerin kommunizieren zu können. Ein wenig unwohl fühlte sie sich schon mit der Bedeckung, weil sie ihr die Sicht ein wenig nahm. Dennoch vernahm sie alles, was um sie herum passierte und merkte sofort, wie sie sich wie eine zweite Haut auf ihrer niederließ. Sie stiefelte zu Kiaryas und zeigte den Daumen nach oben. Sie wiederholte die Bewegung und so blickten sie auf die Frau, die bei einer dicken Tür stand. Sie neigte ihren Kopf leicht und deutete dann ausladend auf den Ausgang: „Dahinter wird Eure Patrouille beginnen. Nach einigen Metern wird Euch das letzte Hindernis geöffnet. Auf Wiedersehen und viel Erfolg, 3X-U5F90, 3X-U6F92.“ Mit diesen Worten entfernte sie sich von der Tür und wartete darauf, dass Inass und Kiaryas daraus verschwunden waren. Angespannt ging Inass einige Schritte wortlos, bis sie es dann nicht mehr aushalten konnte: „Ich bin es einfach nicht gewohnt mit der Codenummer angesprochen zu werden. Ich fühle mich dann nicht mehr als Inass, sondern einfach als … Ding.“ Kiaryas kicherte verhalten und wirkte nicht wie sie selbst durch die vielen Schichten an Kleidung und Gepäck. Sie hatte ihre Brille ausziehen müssen und alleine diese Veränderung war Inass sofort aufgefallen: „Ich weiß was du meinst, aber du weißt doch. Namen sind vergänglich, Codenummern bleiben.“ Inass wusste das und doch fand sie es schon etwas lächerlich, dass ihre Namen weniger wert waren als ihre Codenummern. Dabei zeichneten diese Nummern sie doch nicht wirklich aus. Ihr fiel aber die Erklärung wieder ein, die sie erhalten hatten, als die Codenummer in ihrer Ausbildung erklärt wurde. 3X stand für die Generation. Sie war in der 3. Generation der X-ler. U5 stand für Unity 5, was an und für sich einfach nur der Standort ihrer Unterkunft war. Was bedeutete, dass sie im 5. Umkreis des Komplex wohnte. Unzählige andere gab es. F90 war dahingehend die Bezeichnung ihres Geschlechts und eine Kennnummer, die wohl auf ihre Geburt hindeuten sollte. Das neunzigste Mädchen der U5. Sie fand nun nicht wirklich, dass dieser Code sehr hilfreich oder nicht vergänglich war, aber sie wollte nicht mäkeln, es hätte eh nichts gebracht. Er gehörte zu ihr wie der Name, den ihre Eltern ihr gaben, wie der Komplex zur Menschheit. „Ich bin vielleicht auch einfach nur zu aufgeregt. Immerhin ist die Patrouille einmalig“, flüsterte Inass und entdeckte das, was sie von der ‚Wirklichkeit‘ fernhielt. Ihre Finger suchten Kiaryas, als ein lautes Signal zeigte, dass sich die große, altertümliche Tresortür langsam zur Seite bewegte und den Blick nach draußen offenbarte.   ] - ° - | - ° - [   Sprachlos stiegen beide aus dem Komplex. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie die ‚Erde‘ betraten. Alles, was im Komplex vorzufinden war, war ihr nachempfunden. Jegliche Nachkommen der Menschen, die wussten, was es hieß auf der ‚Erde‘ zu leben, hatten versucht das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Inass musste sagen, dass es schon immer sehr angenehm im Komplex war. Natürlich gab es hier und da mal Probleme, aber sie kannte es ja auch nicht anders. Aber jetzt das zu sehen, was übrig geblieben war von der ‚Erde‘ war dann doch ein leichter Schock. Inass musste unwillkürlich schlucken und ihr Griff um Kiaryas Hand lockerte sich. Vorsichtig ging sie einen Schritt nach vorne und stand in einer Welt, die nur aus Weiß bestand. Ehrfürchtig drehte sie sich um die eigene Achse und flüsterte: „Das ist also das Schneemeer.“ Sie hatte Angst, dass ihre Stimme die anmutige Helligkeit zerstören würde, weshalb sie sich selbst fast nicht verstand. Der Wind, der peitschend um sie schlug, fegte in mal stärkeren und schwächeren Momenten über sie hinweg und Inass löste sich aus ihrer kurz andauernden Schockstarre, nachdem sie sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte. Sie ging erst einen Schritt, dann zwei, ehe sie lachend im Kreis lief und das Gefühl des knirschenden Schnees unter ihren Schuhen spürte. Kiaryas gesellte sich neben sie und lachte mit ihr. Es tat beiden gut und sie spürten, wie die Anspannung langsam von ihren Schultern fiel. Viel zu lange hatte es jetzt gedauert, bis sie aus dem Komplex kommen konnten. Doch nun standen sie draußen, um die Patrouille anzutreten. „Um noch einmal sicher zu sein, dass ich unsere Aufgabe richtig verstanden habe, will ich sie noch einmal wiederholen. Aber, sollen wir wirklich so lange laufen, bis wir dieses ehm Haus finden? Die Patrouille, die Richtung Süden gelaufen ist, hat ja felsenfest behauptet, dass sich das Schneemeer an manchen Stellen zurückzieht und dass sie diese Häuser entdeckt haben“, wiederholte Inass und hob ihren linken Arm, auf dem sie ein voll funktionsfähiges Navigationssystem mit integriertem Kompass umgeschnallt hatte. „Genau. Wenn wir dieses Haus gefunden haben, sollen wir es freilegen und versuchen so lange wie möglich darin zu überleben, ohne dass wir an den Folgen der Kälte sterben. Ich habe zwar einige Zweifel, dass wir dies alles unbeschadet überstehen können, aber mit den ganzen Utensilien im Gepäck wird die Reise wohl angenehmer als erwartet. Und wir müssen ja eh zuerst zu den Koordinaten, die wir bekommen haben, um die restlichen Utensilien abzuholen.“ Kiaryas lehnte sich an Inass, um den Kompass anzugucken und ging schon einmal vor. „Ich weiß ja nicht, wie es dir dabei geht, aber wir könnten die ganze Geschichte ändern, Kia. Du darfst nicht so pessimistisch denken und sagen, dass du Zweifel hast. Ich bin mir sowas von sicher, dass wir diese Dinge alle finden werden und wir irgendwann aus dem Komplex kommen. Vielleicht werden aber auch erst unsere Nachfahren gefahrlos wieder im Schneemeer leben können. Aber es ist so wunderschön. Schade, dass es nur so kalt ist“, seufzte Inass und ging neben Kiaryas her, „Vielleicht finden wir ja Erinnerungen an die Zeit, ehe diese Eiszeit ausgebrochen ist?“ Die Neugierde hatte sie gepackt und Inass plapperte drauf los, was sie doch alles gelernt hatten. Wie es überhaupt dazu kam, dass die ‚Erde‘ als Schneemeer bekannt wurde und wieso die letzten Patrouillen wohl den größten Erfolg hatten. In den Zeitungen stand nämlich seit geraumer Zeit, dass sich die Schneedecke langsam aber sicher zurückzog und einige Gebilde aus längst vergangenen Zeiten ans Tageslicht gerückt waren. Ein Blick in den Himmel zeigte Inass dennoch nicht sehr viel. Durch das Schneegestöber konnte sie nicht wirklich erkennen ob gerade die sogenannte Sonne schien oder der Mond das Schneemeer anleuchtete. Viel zu neu waren die ganzen Gefühle und Eindrücke. Sie musste dennoch schlucken, wenn der Ausblick sich kurze Zeit klärte und somit das Entfernte näher zu rücken schien. Schweigend ging sie mit Kiaryas über den knirschenden und sie manchmal verschlucken wollenden Schnee und blieb dann stehen. Sie legte ihre Hand ans Kinn und tippte leicht dagegen: „Denkst du, dass die andere Patrouille die gleiche Aufgabe hat? Überleg doch mal, wenn in einer Himmelsrichtung diese Häuser wieder aufgetaucht sind, wer sagt dann, dass nicht auch in einer anderen welche aufgetaucht sind? Das wären doch super Neuigkeiten oder etwa nicht?“ Kiaryas blickte sie einen Moment schweigend an und zuckte dann mit den Schultern. „Du weißt, dass wir uns nicht für die andere Patrouille zu interessieren haben, Inass. Immerhin haben sie ihre eigene Aufgabe, so wie wir unsere haben. Aber, ich habe mich gewundert, wieso sie dieses Mal zwei gleichgeschlechtliche Partner ausgewählt haben. Meistens mischen sie doch“, nuschelte Kiaryas und ging dann wieder einen Schritt weiter. Doch weit kam sie nicht, da sie plötzlich etwas, oder besser gesagt jemanden, um ihren Hals spürte: „Ach komm schon Kia! Sei doch nicht so, du weißt doch wer die beiden der anderen Patrouille sind. Und wir passen doch auch gut zusammen, oder etwa nicht?“ Hätte sie diese Maske nicht getragen, Inass hätte sich an Kiaryas Wange gerieben, wie ein Haustier an seinen Meister. Ein seichtes Lächeln bildete sich auf dem Gesicht ihrer Partnerin und Inass spürte kurz ein Gewicht auf ihrem Kopf: „Das stimmt. Und keiner wird dich mir wegnehmen.“ Den letzten Satz hatte Kiaryas wohl eher zu sich selbst gesagt und Inass war froh, dass das Tosen des Schneesturms die Worte fast vollständig verschluckt hatte. Denn sonst hätte sie sich wohl Sorgen machen müssen. Grinsend griff Inass nach ihrer Hand und deutete nach vorne: „Dann bin ich beruhigt! Und nun lass uns weitergehen.“   Die erste Hürde war bewältigt, als sie ein klobiges Gebäude entdeckten, das dem Komplex sehr ähnlich sah. Es hatte einige Meter Durchmesser und unzählige größere und kleinere Türen. Inass und Kiaryas standen kurz ratlos davor, ehe sie einen auffälligen Knopf entdeckten, der neben einer der Türen war. Sie nahmen all ihren Mut zusammen und drückten gemeinsam kräftig darauf. Mit einer Alarmleuchte und einem -signal beobachteten sie, wie sich die Tür langsam entriegelte und es ihnen somit möglich war das schwere Metall aufzuschieben. Dahinter befand sich ein kleiner Raum, auf dessen entgegengesetzter Seite sich eine weitere, weitaus weniger klobige Tür befand. Nachdem sie hindurch getreten waren, schloss Inass die Öffnung wieder hinter ihnen und ließ Kiaryas den Vortritt. Nachdem sie sich ihrem rechten Handschuh entledigt hatte, streifte sie den anderen auch herunter und deutete Inass es ihr gleichzutun. Denn es befanden sich wieder die gleichen Schaltflächen neben der Tür, die sie schon im Komplex betätigen mussten. Lächelnd schauten sich beide an und wiederholten ihre Codenummern laut und deutlich: „3X-U5F90 und 3X-U6F92 bitten um Einlass.“ Man hatte ihnen nicht wirklich erklärt, was sie sagen sollten, weshalb sie sich so vage wie nur möglich hielten. Es dauerte einige Zeit, bis eine mechanische Stimme eine Antwort gab: „Einlass gewährt. Treten Sie einen Schritt von der Tür zurück und warten Sie auf mein Signal.“ Nach diesen Worten taten die beiden wie geheißen und warteten darauf, dass sie eingelassen wurden. Nachdem die Tür ein leises Piepen von sich gab, stiegen sie hindurch und wurden zuerst in Dunkelheit gebadet. Erst nach und nach zündeten sich die Lichter an und tauchten den riesigen Raum in molliges Licht. Ein altertümlicher Roboter, der auf zwei Rollen stand, kam auf sie zu und sprach mit der gleichen mechanischen Stimme, die sie vorher vernommen hatten: „Willkommen im Zwischen-Komplex. Ich werde Ihnen die benötigten restlichen Utensilien für Ihre Aufgabe zusammensuchen und Ihnen zur Verfügung stehen für jegliche weitere Frage. ZZ29.748, zu ihren Diensten.“ Inass blinzelte einen Moment unsicher und konnte einfach nur starren. An diesem Tag entdeckte sie wirklich viele neue Sachen. Völlig fasziniert ging sie um die ZZ-Einheit und begutachtete sie: „Wow, ich kenne die ZZ-Einheit nur aus Büchern, aber eine live und in Farbe zu sehen …“ Die ZZ-Einheit ließ einen Laut hören, der stark an ein Lachen erinnerte: „Ich kann Ihnen versichern, dass ich dies nicht zum ersten Mal gehört habe. Aber wo sind meine Manieren, legen Sie doch ihre Kleidung ab. Ich habe geheizt und es sind milde 20 Grad, die sie im Komplex gewöhnt sein müssten, oder?“ Mit einem Klicken öffnete sich eine Schranktür und heraus kamen Bügel, über die sie ihre Kleidung hängen konnten. Erleichterung machte sich in beiden breit, als sie die Schichten endlich ausziehen konnten. Inass war am meisten glücklich über den Fakt, dass sie diese Maske nun einige Zeit nicht mehr anziehen musste. Sie atmete den fremden Geruch tief ein und streckte ihre müden Glieder. Sie hatte ihr Zeitgefühl völlig verloren, als sie durch das Schneemeer gegangen waren. Alles hatte so gleich gewirkt und die Partnerinnen hatten einen Moment die Befürchtung gehabt, dass sie sich verlaufen hätten. Doch dem war Gott sei Dank nicht so, weshalb sie nach einer gefühlten Ewigkeit am Zwischen-Komplex angelangt waren. Ein Blick auf ihre Partnerin zeigte ihr, dass sie genauso glücklich über den Fakt war, dass sie sich kurze Zeit der Kleidung entledigen konnten. Die ZZ-Einheit rollte vor und deutete ihnen an, dass sie ihr folgen sollten: „Damit sie sich nicht verlaufen, um ihr Ziel der Patrouille zu erreichen, steht Ihnen für den Rest des Weges eine P-Einheit zur Verfügung. Darin müssen Sie die Patrouille-Kleidung nicht tragen, sondern können auf die Ihnen mitgegebenen zurückgreifen. Es werden angenehme Temperaturen in der P-Einheit herrschen, weshalb ich Ihnen dies wirklich ans Herz legen würde.“ „Eine … eine P-Einheit? Ich dachte, das wäre nur ein Mythos, dass diese noch existieren würden“, sagte Kiaryas atemlos und schob ihre Brille, die sie nun wieder trug, höher auf die Nase. Eine P-Einheit war ein fahrendes Vehikel, das sich seinen Weg durch das Schneemeer graben konnte. Es pflügte den Schnee um und musste dafür noch nicht einmal bemannt werden. Dennoch gab es einen Raum im hinteren Teil der P-Einheit, indem Material und Menschen Platz fanden. Es wird der Einheit ein ziemliches Alter zugeschrieben, da sie immer noch funktionsfähig ist, obwohl eigentlich keiner sie reparieren kann. Inass runzelte ihre Stirn und blickte auf die ZZ-Einheit, die plötzlich stehen geblieben ist und sagte: „Für viele wird sie wohl für immer ein Mythos bleiben, da nur die, die in den Süden oder Norden ausgesandt werden eine zur Seite gestellt bekommen.“ Inass sah wie Kiaryas schluckte und tat es ihr gleich. Wenn dies wirklich der Fall war, musste diese Einheit wirklich nicht oft benutzt werden. Ihr kam eine Abbildung von der P-Einheit in den Kopf und sie fragte sich unwillkürlich, ob sie wirklich so aussehen würde. Denn dann wäre dies wirklich ein sehr klobiges Ding, das im Komplex ziemlich aufgefallen wäre. Ein Rolltor öffnete sich, als die ZZ-Einheit einen Code gesprochen hatte und dahinter offenbarte sich die P-Einheit, die majestätisch fast den kompletten Raum ausfüllte. Ehrfürchtig gingen Inass und Kiaryas einen Schritt näher und fühlten sich auf einmal sehr klein. Sie mussten ihre Köpfe weit nach hinten legen, um überhaupt alles davon zu sehen. Inass schätzte die P-Einheit auf einige Meter hoch und breit ein. Neben ihr kam sie sich so klein vor und Kiaryas ging es da sicherlich nicht besser. „Im Inneren können Sie sich gerne ausbreiten. Die P-Einheit wird ihnen die ganze Patrouille lang zur Seite stehen und Sie können die Objekte, die Sie nicht benötigen gerne darin deponieren. Nur bitte nichts Gefährliches oder Lebendiges hineintragen“, erklärte die ZZ-Einheit und sie deutete auf den hinteren Teil der P-Einheit, „Dort ist die Öffnung durch die ich Sie und jegliches Gepäck geleiten werde. Lassen Sie sich vom Äußeren nicht allzu sehr beeinflussen. Im Innern, so wurde mir berichtet, ist es gar gemütlich.“ Inass versuchte alles so gut es ging zu verstehen und abzuspeichern, das ihr gerade gezeigt und gesagt wurde. Dennoch fühlte sie sich ein wenig überfordert. So viele Informationen und Eindrücke an einem Tag konnten einem wirklich nicht gut tun. Ihr Kopf schwirrte leicht und sie war froh, dass sie nachher keinen Test über das Gesagte und Erlebte schreiben musste.   ] - ° - | - ° - [   „Mir schwirrt der Kopf“, jammerte Inass und ließ sich auf das Sofa fallen, das sich im ersten Raum befand. Die ZZ-Einheit hatte ihnen jegliches Utensil erklärt und auch die Funktionen der P-Einheit erläutert. Dennoch waren es einfach ein paar Informationen zu viel und Inass war froh, dass sie nun einen Moment verschnaufen konnten. Lächelnd setzte sich Kiaryas neben sie und hob den Kopf ihrer Partnerin an: „Ja, mir auch etwas, aber bald können wir die Patrouille richtig angehen.“ Immer wenn sich Inass auf ein Sofa fallen ließ und den meisten Platz davon eingenommen hatte, ließ es sich Kiaryas nicht nehmen und bettete ihren Kopf auf ihren Schoss. Dann strich Kiaryas sanft durch ihre Haare und beruhigte ihre Partnerin damit wirklich sehr. Genießend schloss sie ihre Augen und seufzte wohlig auf. Es kam nicht oft vor, dass sie solch ruhige Minuten hatten, weshalb sie davon profitierten, als sich die ZZ-Einheit entschuldigte, da ihre Stromreserven zur Neige ging: „Wir schlafen also heute Nacht in einer P-Einheit. Hört sich aufregend an, findest du nicht auch?“ Beruhigend spricht Kiaryas, als sie ihre Finger durch die Haare fließen lässt. „Ja das stimmt schon. Aber, weißt du, ich frage mich ja immer wieder, wie es dazu kommen konnte, dass draußen dieses Schneemeer ist. Vor tausend Jahren konnten die Menschen doch noch frei auf der Erde herumlaufen und hatten nur wenige Probleme. Doch nun, mit dem Schneemeer ist uns überhaupt nichts geblieben. Hat unser Geschichtslehrer nicht sogar einmal gesagt, dass eine Forschung besagt hat, dass der Schnee erst in ein paar hunderttausend Jahren so schlimm werden würde?“, flüsterte Inass, weil sie Angst hatte die Stille zu sehr zu zerstören, „Ich weiß nicht, was ich seltsamer finden soll, dass dieses Schneemeer schneller aufgetreten ist als geplant oder dass die Erde sich schneller davon wieder zu erholen scheint.“ Sie öffnete ihre Augen und blickte auf Kiaryas, die immer noch durch ihr Haar strich. Sie presste ihre Lippen zusammen und schien zu überlegen. Einen Moment der Stille entstand, ehe sie ihre Lippen öffnete und ihre Wörter behutsam aussprach: „Ich finde es schwer an solche Szenarien zu denken. Aber wenn ich die Erde wäre, dann wäre ich froh, dass ich mich erholen könnte, ohne dass auf mir weiterhin diese Kriege und die ganzen Vernichtungen der Infrastrukturen sowie der Natur begangen werden. Immerhin waren die Verletzungen irgendwann so groß, dass sie den nicht enden wollenden Schnee heraufbeschworen hat.“ Inass wusste, dass die Thematik nicht einfach zu begründen war und seufzte auf: „Aber es ist dennoch etwas seltsam, dass es noch nicht einmal tausend Jahre gedauert hat, bis das Schneemeer die alte Zivilisation wieder freigibt. Oder die Patrouille, was ich nun wirklich nicht denke, hat uns alle belogen. Immerhin sind wir doch dafür zuständig, die Lebenszustände im Schneemeer am eigenen Leib zu erleben.“ Sie griff nach der anderen Hand und verschränkte ihre Finger mit denen ihrer Partnerin. „Ich habe einmal gehört, dass es Schneemeer-Bewohner geben soll. Ob das aber wirklich stimmt, ist ungewiss. Aber alleine die Vorstellung, dass sich eine Zivilisation außerhalb vom Komplex befindet, ist einfach nur wunderbar. Ich würde mich wirklich freuen, wenn unsere Patrouillen zu mehr als nur neuen Daten führen würden. Ein Monat ist aber auch nicht sehr viel Zeit“, ergänzte sie und drückte dann einen leichten Kuss auf die Hand, die sie festhielt, „Ich freue mich wahnsinnig auf die Zeit mit dir alleine Kia …“ „Ich auch“, flüsterte Kiaryas und beugte sich langsam näher zu Inass.   Das Schleppen und Beladen der P-Einheit war anstrengender als beide gedacht hatten, doch nach einer Stunde hatten sie alles Wichtige darin verstaut und mussten nur noch ihre Rucksäcke und Kleidungsstücke einladen. Die ZZ-Einheit rollte zu ihnen und ließ wieder dieses mechanische Lachen ertönen: „Das ging ja schneller als ich gedacht habe. Nur um noch einmal die wichtigsten Fakten aufzuzählen: es befindet sich Essen für einen Monat in der P-Einheit, und sollte die Flüssigkeit nicht reichen, könnt ihr auf das Schneemeer zurückgreifen. Viele Patrouillen vor euch haben den Schnee genommen und über Feuer erhitzt. Es soll sehr gut schmecken und erfrischend sein. Utensilien zum Kochen und allgemeinem Leben sind auch vorhanden und jegliches Utensil, das ihr benötigt ist viermal vorhanden, sollte einmal etwas zerbrechen.“ „Vielen Dank für die Hilfe und detaillierten Ausführungen, ZZ29. Ähm, wie war noch mal der ganze Name?“, fragte Inass verlegen nach und kratzte sich unbeholfen am Hinterkopf. Kiaryas kicherte und schüttelte dann den Kopf. „Wir finden uns dann in einem Monat wieder für einen Tag hier ein, oder?“, wiederholte Kiaryas und erntete ein bejahendes Geräusch der ZZ-Einheit. Aufregung machte sich in Inass breit, als sich die Tür dann schlussendlich hinter ihnen schloss. Als sie die P-Einheit betraten, winkte sie durch eines der Fenster der ZZ-Einheit zu, die dann zu einer Steuerkonsole rollte und einen Knopf betätigte, der ein lautes Alarmsignal ertönen und ein riesiges Tor langsam aufrollen ließ. Gebannt blickten die Partnerinnen aus einem der Fenster und sahen zu, wie sich einige Schneeflocken vorwitzig durch das Tor schmuggelten und auf dem Boden niederließen. Mit einem Male wurde Inass bewusst, dass sie gleich am Ziel ihrer Patrouille angelangt sein würden und drehte sich zu Kiaryas: „Wir … wir sind bald da, Kia. Ich kann es immer noch nicht glauben!“ Hibbelig hüpfte sie auf der Stelle auf und ab und spürte, wie sich die P-Einheit mit einem Ruck in Bewegung setze und auf das Schneemeer zufuhr. Fasziniert und gebannt warteten sie darauf, dass die P-Einheit ihre Arbeit begann und merkten nur nebensächlich, dass sie völlig geräuschlos aus dem Zwischen-Komplex gerollt waren. Viel zu aufregend war die Aussicht, dass sie sich dem Haus näherten, das sie patrouillieren und inspizieren sollten. Inass hörte plötzlich ein Rascheln und Surren und bemerkte, wie die Kleidung von Kiaryas nach und nach zu Boden glitt. Sie spürte, wie ihre Wangen wärmer wurden, als sie fast vollkommen nackt vor ihr stand und nach Kleidung in ihrem Rucksack suchte. Konzentriert blickte sie hinein und hatte Inass den Rücken zugekehrt. Verlegen blickte sie zur Seite und suchte selbst nach ihrer Nachtkleidung, die sie anziehen wollte: „I…Ist angenehm warm hier drinnen, oder?“ Ihr war plötzlich nach Smalltalk, weil ihr mit einem Schlag bewusst wurde, dass sie nun wirklich ganz alleine mit Kiaryas war. Diese schmunzelte leicht und drehte sich dann zu ihr um, ohne große Hemmungen zu zeigen: „Ja, das stimmt, dir scheint die Hitze ja schon zu Kopf gestiegen zu sein.“ Neckisch zwinkerte sie ihr zu und bedeckte ihren nackten Oberkörper mit dem Oberteil, das sie sich ausgesucht hatte. Eine Hose zog sie noch nicht einmal an. Inass räusperte sich kurz und strich dann die Kleidung glatt, die sie angezogen hatte. In einem Teil der P-Einheit gab es einen Schlafbereich, den sie nun für einige Stunden beziehen würden. Es wäre das erste Mal, dass sie zusammen mit Kiaryas in einem Bett schlafen würde. Sie hatten zwar schon gemeinsame Stunden redend und lachend auf so etwas verbracht, aber wirklich nebeneinander eingeschlafen waren sie noch nicht. Das sanfte Schaukeln der P-Einheit war eigentlich das einzige Indiz, dass sie sich wirklich nicht mehr im Komplex befanden. Alles andere wirkte fast schon so alltäglich, dass Inass übel wurde. Denn die Wände sahen fast genauso aus wie im Komplex, waren nur hie und da mit Tafeln und Bildern beklebt. Der Schlafbereich wirkte auch so karg wie der in ihrer Heimat, weshalb sie sich nüchtern darauf fallen ließ. Der einzige Unterschied schien zu sein, dass das Material, auf dem sie nun liegen würden, angenehmer und weniger steif war. Inass kuschelte sich deswegen in das weiche Kissen unter ihrem Kopf und merkte, wie sich Kiaryas neben sie legte. Lächelnd blickte sie auf ihre brillenlose Partnerin und spürte, dass die Müdigkeit sich langsam durch ihren gesamten Körper fraß und verbreitete: „Gute Nacht …“ Ein Nuscheln war nur noch von ihr zu vernehmen, als sie ihre Augen schloss und Lippen auf ihrer Stirn spürte. Kiaryas rückte noch näher und kicherte leicht zur Antwort: „Ja, gute Nacht, Inass.“   ] - ° - | - ° - [   Gähnend streifte sie die Patrouille-Kleidung über und schielte zu Kiaryas, die es ihr gleichtat. Auch wenn der Schlaf wirklich gut getan hatte, so fühlte sie sich nicht wirklich erholt. Viel zu kurz war die Nacht für ihre Verhältnisse gewesen. Das dauerhafte Schaukeln hatte ihr auch ein wenig zugesetzt, weshalb sie nun wirklich froh war, dass sie wieder ins Schneemeer hinausgehen durfte. Wenn auch nur für wenige Meter. Sie blickte dann leicht genervt auf das Utensil, das sie mit nach draußen nehmen mussten und tat, als würde sie eine Waffe tragen: „Ich find das so ätzend, dass wir uns den Weg ins Haus mit der Schaufel selber freilegen müssen.“ Inass war wirklich alles andere als erfreut darüber, aber es schien zu einer der Aufgaben der Patrouille zu gehören. Kiaryas zuckte nur mit den Schultern und drückte die Maske auf ihr Gesicht: „Wo ist denn der Enthusiasmus von gestern geblieben?“ Inass streckte ihr die Zunge heraus, oder wollte es zumindest versuchen, aber die Maske hinderte sie daran. Die Tür der P-Einheit war etwas schwieriger zu öffnen mit den Handschuhen, aber beide schafften es dann schlussendlich doch noch. Als die Tür hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, blickten sie sich im Schneegestöber um, um nach dem Erkennungsmerkmal zu suchen. Man hatte ihnen erklärt, dass die Patrouille des letzten Monats einen Mast mit fluoreszierender Farbe an die Stelle gesetzt hatte, an der sie das Haus entdeckt hatten. Oder zumindest in der Nähe davon. Beide drehten sich zuerst im Kreis, als sie einige Meter von der P-Einheit entfernt waren, doch sie konnten nichts entdecken. Vielmehr sah alles um sie herum gleich aus und das Erkennungsmerkmal war nirgends aufzufinden. Doch Inass wollte so schnell nicht aufgeben, denn ihr war aufgefallen, dass es einige Meter weiter plötzlich mit dem Schneemeer aufhörte. Zumindest sah es danach aus. Sie gingen also näher an diesen Bruch des Schnees und erblickten eine Kuhle, die sich vor ihnen breitmachte. Mitten darin fanden sie die fluoreszierende Farbe und Inass und Kiaryas wagten den Abstieg. Erst später entdeckten sie etwas, das ihnen den Abstieg erleichtert hätte, hielten sich dies aber dann im Hinterkopf, um später daran hochzuklettern. Es fühlte sich für beide eigenartig an, als sie in der Kuhle standen und sich einmal um die eigene Achse drehten. Um sie herum wirkte alles groß, aber dennoch auch irgendwie klein. Es war ein seltsames Gefühl für beide und sie erreichten das Merkmal kurze Zeit später. Als sie sich dann genauer umsahen, bemerkten sie, dass unter einigen Schneeverwehungen spitze oder aber auch runde Objekte hervorblitzten. Auch dort, wo sie heruntergeklettert waren, fiel immer wieder der Schnee herunter und Inass erkannte, dass es sich bei der Abstiegserleichterung um eine Feuerleiter handelte, die sie einmal auf einer Illustration gesehen hatte. Sie deutete darauf und versuchte die Aufmerksamkeit von Kiaryas auf sich zu ziehen: „Schau mal, Kia, die Patrouille hatte Recht. Hier hat das Schneemeer Häuser freigelegt. Da ist so eine Feuerleiter, die an diesen hohen Gebäuden angebracht wurde. Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber da waren so viele Fenster und es sah sehr interessant aus.“ Kiaryas nickte und deutete auf die entgegengesetzte Richtung, etwas tiefer gelegen als die Leiter, die ihnen hätte helfen können: „Ich glaube auch, dass dort das Haus ist, das die Patrouille vom letzten Monat entdeckt hat.“ Sie gingen vorsichtig darauf zu und schoben den Großteil des Schnees mit ihren eigenen Händen frei. Nach einiger Zeit entdeckten sie dann etwas, an dessen Namen sich Kiaryas erinnern konnte: „Das ist doch ein Schornstein, oder etwa nicht? Lass uns weitergraben, bestimmt finden wir noch mehr davon.“   Stöhnend ließ sich Inass auf die Knie fallen, als sie pausenlos gegraben hatten und einen Teil des Hauses freigelegt hatten: „Ich glaub wir können bald aufhören, ich sehe schon ein Fenster.“ Jetzt, da sie es gesagt hatte, sah Kiaryas es auch und ließ sich ebenfalls auf die Knie fallen. „Sollen wir versuchen, ob es aufgeht? Vielleicht haben wir ja Glück und wir müssen nicht viel weitergraben?“ Ein Lächeln hat sich auf Kiaryas Züge geschlichen und Inass war wieder einmal froh, dass sie nicht alleine war. Sie nickte entschlossen und griff noch einmal nach ihrer Schaufel, um das Fenster nun völlig freizulegen. Nachdem sie sicher war, dass sie nicht weitergraben mussten, legte sie die Schaufel zur Seite und inspizierte das Fenster genauer. Unsicher legte sie ihre Hände auf das Glas und drückte dagegen, doch nichts bewegte sich. Fragend tastete sie es ab und merkte, dass sie durch das häufigere Reiben das Innere etwas sehen konnte: „Ich glaube, da ist etwas, das das Fenster verschließt. Vielleicht ist es ja wie im Komplex und man bekommt sie von außen nicht auf?“ Leichte Ernüchterung machte sich breit, als sie ihre eigenen Zweifel laut aussprach. Kiaryas hockte sich neben sie und klopfte gegen das Glas und sackte dann auch leicht in sich zusammen: „Wie es scheint kommen wir wirklich nicht einfach so in das Haus hinein. Dabei sind wir der Lösung sicherlich so nahe.“ Ihr Blick fiel auf die Schaufel und wechselte sich immer wieder mit dem aufs Fenster ab. Inass überlegte indes fieberhaft, wie sie dieses Problem bewältigen konnten, ohne noch einmal in die P-Einheit steigen zu müssen. Dann riss sie ein Klirren aus ihren Gedanken und entsetzt blickte sie auf ihre Partnerin, die das Fenster zerbrochen hatte und nun mit der Hand nach dem Griff tastete: „Es ging nicht anders …“ Nach einigem Abtasten fanden Kiaryas Finger, was sie gesucht hatten und sie schob den Griff nach oben. Mit einem Ächzen öffnete sich das Fenster einen Spalt breit, ehe die beiden nachhelfen mussten und den Blick ins Innere freigaben.   Vorsichtig zwängten sich beide durch das halbgeöffnete Fenster und betraten somit eine andere Welt. Inass griff nach der Taschenlampe, die sie an ihrem Körper trug und beleuchtete Artefakte aus einer längst vergangenen Zeit. Sprachlos und behutsam gingen sie weiter ins Zimmer hinein, doch nicht ohne vorher das Fenster wieder zu schließen. Ehrfürchtig blickten sie sich um und entdeckten handgemalte Bilder an den Wänden und eine Reihe Teddys, die neben ihrem gefrorenen Zustand auch Schmutz an sich zeigten. Das Zimmer war in einem sanften Grünton gestrichen und es deutete viel darauf hin, dass ein Kind darin gelebt hatte. Spielsachen lagen auf dem Boden verstreut und die Beiden mussten achtgeben, um nichts zu zerstören. Inass Blick fiel auf einen Tisch, auf dem ein Zettel und ein Stift lagen, fast so, als hätte noch vor einigen Minuten jemand darauf geschrieben. Langsam ging sie darauf zu und wischte vorsichtig über das gefrorene Blatt Papier, um den Staub etwas davon zu befreien. Mit leiser Stimme las sie das vor, was sie darauf lesen konnte: „Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir …“ Weiter kam sie nicht, weil der schrille Schrei von Kiaryas sie aus dem Konzept brachte und sie durch ihren herbeistürzenden Körper fast aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Alarmiert blickte sie sich im Zimmer um, konnte aber nichts Gefährliches entdeckten. Ein Schluchzen drang gedämpft an ihre Ohren und Inass konnte nicht anders als nachzufragen, was passiert ist. „I…Im Bett“, war ihre unverständliche Antwort und Inass spürte, wie sich das Adrenalin langsam in ihrem Körper verbreitete. Sie schluckte ihre Angst herunter und schob Kiaryas behutsam von sich, ehe sie all ihren Mut zusammennahm und einen Schritt auf das Bett zuging. Ihre Partnerin wollte sie aufhalten, aber die Neugierde war zu groß. Doch nachdem sie gesehen hatte, was es war, hätte sie am liebsten die Zeit zurückgedreht und sich wirklich von Kiaryas wegzerren lassen, denn im Bett lag eine erfrorene Kinderleiche. Die starr geöffneten Augen des Jungen würden sie wohl für immer wieder heimsuchen … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)