Unseen Souls von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 8: 8 ------------ Vermutlich hätte er mir die Möglichkeit geboten, etwas zu essen aber das einzige, was ich tat, war in die Uniform zu schlüpfen und meine wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. Wir konnten diesen Ort sofort verlassen und es war nur ein kurzer Wortwechsel mit der Herrin des Ryokan, der uns von unserer gemeinsamen Weiterreise abhielt. Ich überließ es Kanda, stand bereits draußen in den eisigen Temperaturen und machte mich an meinen Ärmeln zu schaffen. Völlig unnötig, wohl auch zu ruppig und mit viel zu müden Augen. Ich hatte meine Entscheidung getroffen und so verharrte mein Gesicht in der ernüchterten Mimik und meine Lippen stumm. Es wäre lächerlich gewesen, würde ich die Kraft daran verschwenden. Ganz ohne Sinn und Verstand. Es kam unerwartet aber mir stand eine Reise bevor, die ich so auf mich nehmen konnte, wie ich es wollte. Gesprächigkeit hätte es so oder so nicht gegeben. Ebenso wenig wie Aufmerksamkeit oder Fragen seinerseits. Ich hatte keinen Grund und ebenso schweigend folgte ich ihm kurz darauf. Er kannte den Weg und da ich meiner Position hinter ihm treu blieb, setzte ich auch mein Gesicht keinen Anstrengungen aus. Finster und sinnierend durchschweiften meine Augen die weiße Umgebung. Voraussichtlich wären wir den ganzen Tag unterwegs. Auf der Fähre, die uns nach Südkorea brachte. Im Zug, der uns nach China fuhr und auf jedem Weg, den wir zu Fuß hinter uns bringen würden. Viel Zeit, um miteinander zu reden, doch ebenso um zu schweigen. Meine verbitterten Gedanken genügten, um den ganzen Weg mit ihnen zu füllen und Kanda war ohnehin nicht redselig. So zogen wir los und als wir die Anlegestelle des Schiffes erreichten, hatte ich mich großzügig zurückfallen lassen. Hinter Kanda betrat ich das Schiff und kaum hatten wir den Steg hinter uns gelassen, führten uns unsere Schritte auseinander. Kanda schien die eisige Luft des Meeres zu bevorzugen und nur kurz spähte ich zu ihm, bevor ich mich in den dunklen Innenraum des Schiffes stahl. Flatternd folgte mir Timcanpy und dumpf fiel die blecherne Tür hinter mir zurück in das Schloss. Das Ziel hatte ich nicht vor Augen aber wenn ich einfach weiterging, würde es sich mir vermutlich von selbst eröffnen und wirklich, ich erspähte nach wenigen Schritten eine kleine, in der Wand verborgene Bank und nahm sie für mich ein. Ungehindert ließ ich einem Ächzen freien Lauf, als ich mich auf das durchgesessene Polster sinken ließ und die Beine von mir streckte. Nur beiläufig spürte ich das Gewicht des Golems auf dem Kopf und unter einem weiteren, tiefen Atemzug sank mein Rücken gegen die Wand. Es lagen einige Stunden vor mir. Eine lange Überfahrt, die ich getrost hier sitzen bleiben und mich etwas erholen konnte. Ich sah keinen Grund hinauszugehen, mich den Augen meines Kameraden auszuliefern und dem Wortschwall der Matrosen, die ich aus Erfahrung als zu gesprächig einschätzte. Vorsichtig bettete ich den Hinterkopf an der Wand und schloss die Augen. Inmitten dieser Dunkelheit spürte ich bald das Ablegen des Schiffes und einen temperamentvollen Wellengang. Nicht schlafen, nur ruhen. Ich hatte nicht vor, den zweiten Versuch zu wagen. Die Erinnerungen waren zu frisch, mein nächtliches Schreckgespenst noch zu nahe. Es lauerte und erwartete hingebungsvoll die Kapitulation meiner Kräfte, um mir eine erneute Begegnung zu sein. Was für eine lächerliche Gefahr Akuma hingegen darstellten. Ein mattes Grinsen zog an meinen Lippen. Kurz regte ich die verspannten Schultern und streckte die Beine aus. Lange verharrte ich reglos, in ein- und dieselben Gedanken vertieft und in ein- und derselben Entfernung zu einer möglichen Antwort. Wie lange wurde ich schon verfolgt vom Schrecken der Vergangenheit und der Schwere ebenso vergangener Fehler, die durch jede Sühne nicht leichter wurden? Sie blieben schwer. Meine schwerste Last. Langsam regte ich die linke Hand und die Finger im robusten Stoff des Handschuhes. Und ich spürte diese Kraft, die Macht, all jenes zu besiegen, das mir begegnete, solange ich die Augen offen hielt und mich in zweifellos wachem Zustand befand. Die Macht, all das zu zerstören, was mir und meinem Glauben gefährlich werden könnte. Und wie jämmerlich versagte ich indessen gegen die Feinde anderer Art, die sich in Gefilden bewegten, die mit der Realität nichts gemein hatten. Wie schwach ich gegen sie war, so wehrlos wie der kleine Junge von damals. Mit allem überfordert und auf der verzweifelten Suche nach der richtigen Waffe, um sich in jeder Facette sicher zu wissen. Vermutlich war es mein Schicksal, ohne sie zu leben. Abwesend betrachtete ich mir die Strukturen der Wand. Vermutlich war es das wirklich. Ich hielt mich wach und ließ Stunde um Stunde an mir vorbeiziehen, bevor die Bewegungen und Geräusche darauf hinwiesen, dass wir den Boden Südkoreas erreichten. Noch immer windete ich mich in der alten Resignation und erst als wir zwei Stunden später mit dem Zug reisten, kamen mir Gedanken, die mein Befinden zögerlich und zurückhaltend erhellten. Ich erinnerte mich. Unser Ziel war ein Marshall der angenehmen Sorte und ein Mann, mit dem ich nur gute Erinnerungen verband. Möglicherweise wäre der Einfluss, den er auf mich haben würde, etwas das ich benötigte. Auch Chaoji. Den Marshall zu sehen, bedeutete auch ihn zu sehen, immerhin waren sie miteinander unterwegs und Chaoji in das verstrickt, was wir alle hinter uns gebracht hatten: Die Ausbildung. Es waren Momente, in denen sich mein Gesicht etwas erhellte und ich dem Horizont erwartungsvoller entgegenblickte. Ich empfand es als unsagbar angenehm, als mein Sinnieren in angenehmere Gefilde driftete. Kanda würde seinen Meister wiedersehen und das waren und blieben immer besondere Momente. Oft hatte ich sie bis zum heutigen Tag nicht zusammen gesehen aber sobald man es tat, löste man sich nur zu einfach von all den Sorgen. Wie gesagt, interessante Momente. Ich saß gemütlich und blickte durch das Fenster hinaus auf die unendlich erscheinende, weiße Umgebung. Wieder tat ich es lange und irgendwann erreichten wir unser Ziel. Es blieb so still zwischen uns, als wären wir fremde Wanderer, die zufällig dasselbe Ziel besaßen. Einzig und allein unsere Mäntel schmolzen uns in gewisser Weise zusammen, nein, unsere Gesichter taten es wohl auch. Reglose Mienen, stumme Lippen und Augen, die sich überall aufhielten, nur nicht beim Kameraden. Man sah es mir vermutlich nicht an aber meine Freude über das bevorstehende Treffen war nicht abgeebbt. Ich setzte Hoffnung in Tiedoll und auch in Chaoji. Dass man die Verbitterung in ihrer Anwesenheit beibehalten konnte, war sehr fraglich. Nur Kanda konnte es aber er hatte viel Zeit zum üben. Ein kalter Sonnenstrahl erfasste mich, als sich die grauen Wolken flüchtig am Himmel verdünnten und die Sonne einen Spalt fand, um die Welt an sich zu erinnern. Hart knackte der Schnee unter meinen Stiefeln und bald spähte ich auf und erkannte die kontrastreiche Umgebung. Von dem weißen Untergrund hoben sich die schwarzen Kontraste der Bäume ab, selbst Steine waren hie und da zu erkennen und in nicht weiter Entfernung auch die Umrisse der Stadt, die unser Ziel darstellte. Bald erreichten wir das Tiefland, die Ebene, auf der sich die Stadt erhob, doch von ihr drifteten meine Augen zur Seite. Es waren Bewegungen, die ich vor uns ausmachte, gar nicht fern und es war auch nicht besonders schwer zu erkennen, dass uns die beiden, die wir suchten, nicht erst in der Stadt erwarteten. Sie waren hier und unweigerlich richtete ich mich auf. Es tat wirklich gut. Ich hatte nichts anderes erwartet und an meinen Lippen zog der Deut eines Lächelns, als sich die Gestalt, die in permanenter Bewegung blieb, als Chaoji entpuppte. Wie lange war es nur her? Er war seit Monaten mit Tiedoll unterwegs und kaum hatte er uns bemerkt, da kam er schon auf uns zu, während die andere Gestalt, in einen dicken Mantel gehüllt, auf einem Stein sitzen blieb. Und endlich verstärkte sich mein Lächeln, endlich hatte ich das Gefühl, dass es ehrlich war, als sich Chaojis Stimme erhob. Ebenso ein Arm, der uns ausgelassen winkte. „Hallo!“, hörte ich ihn über die weite Ebene rufen, bevor er uns entgegenkam. Es wurde ein Wiedersehen, wie ich es mir erhoffte und als er uns erreichte, gab es zumindest zwei, die lächelten. „Kanda! Allen!“ Er begrüßte uns mit einem strahlenden Gesicht und während Kanda nur die Hand hob und an ihm vorbeizog, hielt ich inne. „Allen!“ Er war sichtlich gerührt, sichtlich war auch sein Zögern, das ich sofort zunichtemachte, indem ich die Arme hob und die letzte Distanz zwischen uns überwand. Und er fiel mir um den Hals. Wir waren Kameraden, gemeinsame Streiter und mehr als das, wir waren Freunde und taten uns keinen Zwang an. Seine Umarmung war fest und herzlich und kaum hatten wir uns voneinander gelöst, brach ein wahrer Redeschwall aus ihm heraus. „Es ist so lange her“, ächzte er und hielt kurz nach Kanda Ausschau. Ja, bei ihm war es auch lange her aber er zog weiter und auf den Punkt zu, der sich nun vom Stein löste. „Wie ist es dir ergangen, Chaoji?“, erkundigte ich mich und kurz darauf gingen wir weiter. „Wir kommen viel herum, sehen viele Länder, sind immer in Bewegung. Es gefällt mir. Genauso habe ich es mir vorgestellt.“ Überzeugt sah er mich an. „Bald werde ich in der Lage sein, euch zu unterstützen. Zwei bis drei Monate, sagt Tiedoll, bis er mich aus seinen Fittichen entlässt.“ „Das freut mich.“ Ich lächelte und genoss es so unsagbar. „Mich auch.“ Chaoji war Feuer und Flamme und kurz wurde ich auf Kanda aufmerksam. Er und Tiedoll trafen aufeinander und nach einem liebevollen Klaps gegen die Schulter konnte ich nur erahnen, welche Worte fielen. Uns erreichte Tiedolls Lachen, herzlich breitete er die Arme aus und sofort sah ich Kanda zurückweichen. Einen Schritt, noch einen und als Tiedoll ihm aufmüpfig folgte, erhob sich auch sein Brummen. „Wie geht es den anderen?“, forderte Chaoji wieder meine Aufmerksamkeit. „Ich freue mich so darauf, alle wiederzusehen.“ „Uns geht es gut“, erwiderte ich und allmählich wurden die Worte, die zwischen Kanda und Tiedoll fielen, immer verständlicher. „Sie sind peinlich“, hörte ich Kanda sagen und umso lauter erhob sich daraufhin das Lachen des Marshalls. „Jeder wird sich freuen, wenn du zu uns kommst.“ Ich streifte mir die Kapuze vom Kopf und dann erreichten auch wir den Marshall. „Allen, grüß dich!“ Dieses herzliche Lächeln. In diesem Moment brauchte ich es zum leben wie den Sauerstoff selbst und erneut konnte ich es ehrlich erwidern, während ich die Hand hob und unerwartet in eine Umarmung geschlossen wurde. Ein kurzer, kräftiger Druck auf meinen Rücken, ein herzlicher Klaps und etwas überrumpelt trat ich anschließend zurück. „Ich habe viel über dich gehört. Keine Sorge, nur Gutes. Wie erwachsen du geworden bist.“ Er nahm sich Zeit, mich zu mustern. „Und wie groß. Man verändert sich niemals nur innerlich, nicht wahr? Jetzt kommt. Wir sind in einer herrlichen Herberge untergekommen. Ihr müsst das Essen probieren.“ So setzten wir uns in Bewegung. Essen war keine schlechte Idee. In dieser Gesellschaft meinte ich sogar, zu einem gewissen Appetit fähig zu sein. „Ihr könnt bis morgen bleiben“, verkündete Tiedoll und sofort traf ihn Kandas Aufmerksamkeit. „Entscheiden Sie das nicht einfach“, sagte er. „Wir haben Wichtigeres zu tun.“ „Keine Sorge, Yu. Es ist bereits alles mit Komui abgesprochen.“ Ächzend rieb sich Kanda die Stirn, doch daraufhin traf ihn nur ein Klaps auf die Schulter. Lachend reihte sich Tiedoll neben ihm ein, während Chaoji mir Gesellschaft leistete und wenige Momente des Schweigens gaben mir die Möglichkeit, die beiden zusammen zu beobachten. „Ich will doch wissen, was du für Fortschritte gemacht und was du erlebt hast. Ich habe ewig nichts mehr von dir gehört, Yu. Das ist nicht mehr feierlich.“ „Das liegt daran, dass ich Besseres zu tun habe, als Ihnen Bericht zu erstatten. Ich bin beschäftigt und das sollten Sie auch sein. Und hören Sie auf, mich so zu nennen.“ „Für die wichtigen Dinge des Lebens sollte man sich Zeit nehmen.“ Tiedolls Ellbogen traf Kandas Seite. „Ich bin mir sicher, die hattest du. Muss ich dich denn immer nötigen?“ „Keiner zwingt Sie. Sie könnten es einfach lassen.“ Ein enttäuschtes Seufzen, dann das gewohnte Ächzen. Ich spürte, wie sich Chaoji meinen Beobachtungen amüsiert anschloss. Auch zu ihm spähte ich kurz und las die Freude in seinem Gesicht. Es war ein wahres Schauspiel, das sich vor uns zutrug, wenn auch ein Irritierendes. Inmitten dieser Kontroverse war eine Vertrautheit zu spüren, wie es sie nicht oft gab und ich war neugierig auf die Stunden, die mir Gelegenheit boten, mir einen Eindruck von diesem Umgang zu machen. Es gab so viele Fragen, so viele Antworten, bei denen ich mir nicht sicher war und wenn ich meinen Umgang mit Kanda verglich, auch seinen Umgang mit anderen, dann kam diese Frage immer und immer wieder auf mich zurück. Was war so liebenswert an meinem chronisch missgestimmten und mürrischen Kameraden? Die Zuneigung, die Tiedoll für ihn empfand, musste starke Wurzeln haben, doch ich würde diese Wurzeln selbst schlagen, wenn ich mir die Antwort selbst auszumalen versuchte. Gemeinsam nahmen wir so den kurzen Weg zur Stadt auf uns. Fast jeder Schritt wurde verziert mit Worten und Eindrücken. Chaoji, Tiedoll, selbst meine Stimme wurde von einem ungewohnten Fleiß gepackt und so wünschte ich, die Zeit mit den beiden würde nie enden. Ich lächelte, ich lachte und erzählte und wurde dieser Freude einfach nicht müde. Bald zogen wir durch die Straßen der Stadt und es war kein langer Weg, bis wir die Herberge erreichten und uns aus der Kälte des Winters in die beheizten Innenräume stahlen. Genüsslich ächzte Chaoji auf und schlüpfte aus seinem Mantel, während sich Kanda auf der Schwelle noch den Schnee aus den Stiefeln trat. Er hatte nur ein einziges Mal Unzufriedenheit gezeigt. Jetzt war er anscheinend bereit, die Nacht hier zu verbringen. Unser erster Weg führte in die hauseigene Gaststätte und allein meine Bestellung sorgte für neue Heiterkeit. Chaoji staunte, Tiedoll schmunzelte und mir gegenüber starrte Kanda unentschlossen auf die Karte. Irgendwann entschied er sich und ich ließ es mir schmecken, während er bald darauf mit den Stäbchen in einem undefinierbaren Berg rührte und damit auch nicht wirklich zufrieden zu sein schien. „Wie war die Schiffsreise?“ Den Gesprächen wurde kaum ein Abbruch getan aber spannend war meine und Kandas Fahrt nicht. Wir gehörten nicht zu denen, denen das Schwanken etwas ausmachte. Auf dem Schiff hatten wir nicht einmal zu denen gehört, die die Fähigkeit der Sprache besaßen, also gäbe es von nichts zu erzählen außer verbittertem Schweigen. Das war nicht wissenswert, also zuckte ich nur mit den Schultern. Kanda sagte auch nichts. Er starrte immer noch auf sein Essen und neben ihm brach Chaoji in Lachen aus. „Als wir vor wenigen Wochen das Mittelmehr überquerten“, hob er an und sofort erhob sich das Lachen des Marshalls. „Ich habe noch nie so ein grünes Gesicht gesehen. Er machte mir Angst.“ „Die hatte ich auch“, pflichtete Chaoji ihm bei und ich betrachtete sie mir nachdenklich. Wie innig doch der Kontakt zwischen Menschen sein konnte. Wie offen und ehrlich. Es handelte sich um eine Kunst, die ich bis zum heutigen Tag nicht erlernt hatte. Ich könnte sie mir gar nicht leisten. Zuviel gab es zu verlieren. Zuviel drohte zerstört zu werden. „Sogar Yu ist einmal schlecht geworden.“ Tiedolls Redseligkeit riss mich aus den Gedanken und Kandas Aufmerksamkeit von dem seltsamen Essen geradlinig zu dem Marshall. „Er hing fast drei Stunden über der Reling. Wie alt warst du da? Dreizehn?“ Er lachte abermals und resigniert starrte Kanda auf seinen Teller zurück. „Meine Güte, das war aber auch ein übles Schiff.“ „Sie bieten im Zug keinen besseren Anblick“, hörte ich Kanda murren. Er schlug zurück und während Tiedoll seufzte, brach Chaoji in Glucksen aus. „Sagen Sie bloß, Sie hatten das Problem auch damals schon.“ „Ja.“ Tiedoll hatte kein Problem, solche Dinge zuzugeben, doch ich hatte vorsichtig zu sein, denn ich wäre der erste, auf den Kanda zurückkäme, wenn Lavi ihn demnächst auf vergangene Schifffahrten ansprach. Bald reichte es mir, den Gesprächen zuzuhören und es mir schmecken zu lassen. Ich hatte mich nicht groß zu beteiligen, um einen angenehmen Teil der herrschenden Wärme abzubekommen und auch drängen tat man mich nicht. Die gesamten zwei Stunden leistete man mir Gesellschaft und wartete auf mich. Kanda nicht. Er aß die Hälfte seiner Bestellung, schnitt dann eine Grimasse und kam auf die Beine, um sich etwas in der Gegend umzuschauen. Er schien noch Kraft für einen Erkundungsgang zu haben. Ganz anders als ich. Gerade war der letzte Teller geleert, da fiel mir die Abenddämmerung vor den Fenstern auf. Die Schifffahrt hatte beinahe den ganzen Tag in Anspruch genommen, die gemeinsamen Stunden mit Tiedoll und Chaoji den Rest und bald darauf verließen wir die Gaststätte und zogen uns in die Räume der Herberge zurück. Sie war bis auf uns unbesucht. Einen kleinen, gemütlichen Aufenthaltsraum mit Kamin und Sesseln im Erdgeschoss konnten wir so für uns einnehmen und wenn es einen gelungenen Abend gab, dann erlebte ich ihn. Irgendwann hatte ich es in einem der Sessel bequem. Die Wärme strömte mir vom Kaminfeuer entgegen und während ich mich mit Chaoji und Tiedoll austauschte, nippte ich an einer heißen Schokolade. Ich bekam, was ich brauchte und inmitten der herzlichen Worte und dem ehrlichen Interesse, vergaß ich bald, was in meiner Einsamkeit auf mich lauerte. Chaoji leistete uns nicht allzu lange Gesellschaft. Den Tag hatten er und Tiedoll mit Trainingseinheiten zugebracht und so verabschiedete er sich müde, als die Finsternis vor den Fenstern lag und Kanda noch immer nicht zurückgekehrt war. Keine Sache, der Tiedoll Aufmerksamkeit oder Sorge zukommen ließ. Wenn jemand Kanda kannte, sagte ich mir, dann war es der Mann, der mir schräg gegenüber saß und einen roten Wein genoss. Nach allem, was ich in den letzten Tagen erlebte und wie ich Kanda erlebte, war die Versuchung groß, Fragen zu stellen. Aber nicht groß genug, denn es war nicht meine Art und wenn es etwas zu wissen gab, war ich vermutlich dazu imstande, es selbst herauszufinden. Aber Tiedolls Vorsprung war groß. Wie viel länger musste er Kanda kennen? Nicht einmal diese Frage kam über meine Lippen, stattdessen nur ungenaue Antworten auf aufrichtige Fragen. Ein weiteres Mal war ich nur damit beschäftigt, das zu sagen, was keine weiteren Fragen hervorrief. So berichtete ich von den Zuständen im Hauptquartier und bezog nichts davon auf mich. Ich erwähnte die Wissenschaftler und ihr alltägliches Chaos, Komuis eigensinnige Führungsqualitäten und irgendwann ließen die auf mich bezogenen Fragen nach. Tiedoll gab auf. Unauffällig und höflich bemerkte er etwas, was ich stets zu tarnen versuchte und auch bis zum Schluss tat. Es wurde spät, immer finsterer und irgendwann kam auch ich auf die Beine und verabschiedete mich. Nicht ohne mich für die Zeit zu bedanken, die sich der Marshall für uns nahm und nach einem Austausch von Komplimenten trat ich dann in den Flur und machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer in der ersten Etage. Langsam und schlürfend waren meine Schritte, träge auch die Bewegungen meiner Hand, als ich meinen Bauch kratzte. Gähnend schleppte ich mich nach oben, tastete nach der Klinke der ersten Tür, doch der Anblick des finsteren, einsamen Zimmers ließ mich innehalten. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Schrank. Mit wenigen Bildern hatte man versucht, den Raum zu verzieren aber in der Dunkelheit der Nacht verloren die schönsten Motive an ihrer Wirkung. Ich stand dort, ließ Tim an mir vorbeiflattern und lauschte kurz darauf meinem tiefen Durchatmen. Da war ich wieder. Unweigerlich drifteten meine Augen zurück zur Treppe. Von unten schien die angenehme Helligkeit des Erdgeschosses hinauf. Dort unten war Herzlichkeit, dort unten war Licht und kapitulierend trat ich in meinen dunklen Raum und schloss die Tür. Stille. Nur ein letzter Flügelschlag, mit dem sich Tim neben dem Kopfkissen auf dem Bett niederließ und sich seine eigene Ruhe suchte. Auch ich hatte sie nötig, doch stand nur vor dieser Tür. So plötzlich war sie wieder da, meine Finsternis, und ich stellte mir die Frage, wann ich ihr verfallen war. Wann und wo hatte ich die Grenze übertreten, die mich an diesen Punkt führte und auch permanent zu ihm zurück. Nicht einmal Tim schenkte mir Beachtung. Er ruhte, schaltete ab und ich brauchte so einige Momente, bis ich mich dazu bewegen konnte, es zumindest zu versuchen. Die Matratze war nicht sehr einladend. Der Futon im Ryokan war bequemer gewesen und seufzend ließ ich mich auf die Bettkante sinken und stemmte die Ellbogen auf die Knie. Selbst die Holzmaserung des Bodens versank in der Finsternis und unweigerlich fiel mein Blick auf einen annähernd schwarzen Winkel des Zimmers. In ihn drang kein Licht. Dort, neben dem Schrank. Dort lauerte er. In genau diesen Nischen. Nur darauf wartend, dass ich die Augen schloss und mich ihm auslieferte. Trübe schüttelte ich den Kopf, zwang mich aus meinen Stiefeln und anschließend dazu, mich niederzulegen. So faltete ich die Hände auf dem Bauch und starrte zur Decke auf. Gab es hier eine Kerze? Irgendein Licht? Ich wurde mir der Tatsache bewusst, dass ich Tiedolls Anwesenheit soviel mehr hätte genießen können, wenn ich ehrlicher wäre, weniger Wert auf Ablenkung legte und den Sicherheitsradius um mich herum verkleinerte. Wann, fragte ich mich wieder, war all das mit mir geschehen? Wie seltsam wirkte Kanda neben mir, ohne es zu wissen. So ehrlich bis aufs Blut. Ich schloss die Augen, mein Körper bewegte sich auf die Seite und durchdacht kehrte ich dem Raum den Rücken. Ihm und all seinen finsteren Nischen. Ich versagte. Ich wusste nicht, wie lange ich wach lag und mir wünschte zu schlafen, doch irgendwann trat ich wieder in den halbdunklen Flur hinaus. In meinem Zimmer hielt mich nichts mehr. Jeder erneute Versuch wäre einer zu viel und dabei spürte ich die Müdigkeit doch so immens. Barfuß trottete ich über die hölzernen Blanken, lautlos auf die Treppe zu und ebenso geräuschlos über die Stufen. Wo mein Ziel lag, das wusste ich nicht. Irgendwo, wo es heller war vielleicht. Irgendwo, wo ich mich hinsetzen und zur Ruhe kommen könnte. Träge rieb ich mir die Augen, als ich das Erdgeschoss erreichte, unterdrückte ein Gähnen und näherte mich dem offenen Durchgang, hinter dem sich der Kamin und die Sessel befanden. Der angenehme Raum, in dem ich solange gesessen hatte. „Es ist in Ordnung.“ Abrupt erhob sich eine mir bekannte Stimme und augenblicklich blieb ich stehen. Kanda. Es war seltsam. Lag es an meiner Übermüdung, dass er sich anders anhörte? „Wirklich?“ Tiedoll klang wie immer. Die Wärme, die in seiner Stimme lag, schien bis zu mir in den Flur zu strömen. „Mm.“ Ein Murmeln, das mit einer Zustimmung gleichzusetzen war. Ja, er war es und ein irritiertes Zucken durchfuhr meine Mimik, als ich all das realisierte. Es klang so wenig nach ihm und trotzdem wusste ich es sofort einzuordnen. Er war es. Auch seine Stimme war es. Nur so, wie ich sie noch nie gehört hatte. Meine Hände rieben sich aneinander und eine seltsame Unruhe überkam mich. Natürlich. Was machte ich mich lächerlich? Jede Stimme konnte auch entspannt und ruhig klingen. Weshalb sollte es bei Kanda anders sein? Ein Grinsen zog an meinen Lippen. Ohne Freude, ohne Verständnis. Und ich blieb stehen. „Um ehrlich zu sein“, es war Tiedoll, der leise das Wort ergriff, „habe ich mir Sorgen gemacht, als ich dich aus meinen Fittichen entließ.“ „Das mussten Sie nicht.“ „Nein?“ „Mm-mm.“ Es lag keine Verstimmtheit in seinen Worten und ich gestand es mir ein. Entweder war es mir entfallen oder diese Stimme hatte sich in meiner Anwesenheit noch nie in diesem Ausdruck erhoben. In meiner Anwesenheit war er nie so gewesen. Nirgends. „Du hattest also nicht den Eindruck, dass es zu früh war?“, erkundigte sich Tiedoll. „Ich habe immer eingesehen, dass es nicht anders ging.“ Stockend zog es meinen Körper zur Seite und zur Wand, gegen die ich mich lehnte. „Jedenfalls“, Kanda schien tief durchzuatmen, „habe ich Ihnen nie Vorwürfe gemacht.“ „Das beruhigt mich, Yu“, wurde seufzend geantwortet und erfüllt von Verwirrung verengten sich meine Augen. „Sie denken zu viel nach. Auch damals schon“, erhob sich das Brummen, das mir weitaus bekannter war und schon meldete sich wieder das Lachen des Marshalls. „Ja, ich werde es mir wohl nie abgewöhnen.“ „Merken Sie es sich, wenn der Zeitpunkt bei Chaoji kommt.“ Ein Sessel knackte, Kanda schien sich zu regen. „Wenn Sie ewig so weitermachen, kriegen Sie nur Probleme.“ „Ja, du hast Recht.“ „Das darf ich hin und wieder.“ „Ach komm, ich habe so oft auf dich gehört.“ „Wovon reden Sie?“, wurde geantwortet. „Sie haben einen der größten Dickköpfe, die es gibt. Auch wenn Sie nicht so aussehen. Ich habe das immer gewusst.“ „Hast du das?“ „Natürlich habe ich das.“ Stockend atmete ich ein, lautlos traf mein Rücken auf die Wand und ich konnte mich nur als verstört bezeichnen, als ich auf die gegenüberliegende Wand starrte. Wo verbarg Kanda all die Wärme, zu der er in diesen Momenten und Tiedoll gegenüber fähig war? Man sah es ihm nicht an, man vermutete etwas Derartiges nicht einmal in ihm. Nicht unter dieser rauen und Fassade. Es war mit Überforderung zu vergleichen, die mich immens überkam. Zuviel Erkenntnis binnen zu kurzer Zeit und augenblicklich kam es mir wieder in den Sinn. Die Bilder spielten sich vor meinem geistigen Auge ab, als würde ich sie in den Momenten wirklich vor mir sehen. Die Berührungen, mit denen Kanda den Stein pflegte. Die Präzision, mit der er die Grabstätte wieder herrichtete und somit etwas tat, das er nimmer zugeben würde. Es blieb eine Seite, die ich an ihm nicht kannte. Ebenso wenig wie seine Wertvorstellungen und die Wichtigkeit, die er gewissen Dingen zuordnete. Und jetzt war es diese Wärme, die er für mich nie besessen hatte. Nicht einmal, als ich von der Beraterrolle erfuhr, die er Linali gegenüber einnahm. Es war etwas Unvorstellbares, das plötzlich und schlagartig feste Formen annahm. Hatte Linali diese ruhige Stimme in düsteren Augenblicken auch gehört? Sie kannten sich so lange. Hätte sie sich ebenfalls gewundert, wenn sie an meiner Stelle hier stehen würde? Die Oberfläche der hölzernen Wand machte mich darauf aufmerksam, dass meine Beine ihren Dienst versagten und ich mich zu setzen begann. Ich tastete mich hinab, blieb kauern und presste die Lippen aufeinander. Wie viel Wärme er bekam und zu wie viel Wärme er selbst fähig war. Dabei war ich doch derjenige von uns beiden, der nach außen hin so umgänglich wirkte. War ich selbst so sehr auf meine Worte und Verschlossenheit konzentriert, dass ich die Wärme nicht bemerkte, die mir andere schenkten? Trübe sank mein Kopf tiefer, bis meine Stirn auf die Knie traf. Weshalb fühlte ich mich hier und jetzt so vernachlässigt und so unfähig dieser vertrauten Wärme gegenüber? War es wirklich so wenig, das zu mir drang? Wieder erhob sich das Murmeln. Es hatte es die ganze Zeit getan, nur nicht für meine Ohren. „Ich bin stolz, Yu“, gestand Tiedoll. „Auf das, was aus dir geworden ist. Du bist ein Mensch, auf den man vertraut.“ Langsam wandte den Kopf auf den Knien und spähte zur Seite. „Mm.“ Kandas Antwort war nicht sehr aufschlussreich. „Und vertraust du deinen Kameraden auch?“ Gewisse Fragen hatte ich nie mit Kanda in Verbindung gebracht. Sie ihm zu stellen, war mir schier unmöglich erschienen. Noch unmöglicher, eine Antwort zu erhalten, die von einer Beleidigung abwich. Hier und jetzt geschah es und ich bemerkte kaum, wie meine Hände einander fassten. Doch es herrschte Stille. „Tust du?“, hakte Tiedoll nach und wie wünschte ich mir, Kanda würde nicht antworten. Es war zu viel Wahrheit und Worte, nicht für meine Ohren bestimmt. Zu schwere Worte und zu ehrliche. Kanda erhob die Stimme und ließ meinen Atem stocken. „Ts.“ Es klang, als würde er grinsen. „Ich fürchte, ich würde jedem von ihnen mein Leben anvertrauen.“ Jedem von ihnen. Jedem? Ein humorloses Grinsen zog an meinen Lippen, meine Hände packten sich fester. Sein Leben wäre bei mir in besten Händen, doch ich würde es niemals aussprechen. Nicht einmal einer Vertrauensperson gegenüber. Aber hatte ich überhaupt einen Menschen, dem ich mich so kompromisslos öffnete, wie Kanda es tat? „Ich muss verrückt sein.“ „Ganz und gar nicht. Es kann nichts Wichtigeres geben, als an seine Kameraden zu glauben.“ „Das ist mindestens das tausendste Mal, dass Sie das sagen.“ „So etwas kann man nicht oft genug sagen“, erwiderte Tiedoll. „Ich bin froh über die Früchte, die meine Erziehung trägt.“ „Sie wollen mich erzogen haben?“ „Auch wenn ich dir die Kunst nie nahebringen konnte.“ Daraufhin erhob sich nur ein Stöhnen. „Ich bin mir sicher, dass du Begabung hättest, wenn du es nur versuchen würdest. Jedenfalls war ich sehr begeistert von deiner Strichführung, als du damals meine ganze Zeichenmappe verunstaltet hast.“ „Das hatten Sie verdient.“ „Ich habe die Bilder heute noch“, folgte ein leises Geständnis. „Haben Sie nichts Besseres zu tun?“ Laut und herzlich erhob sich das Lachen des Älteren und wieder knackte der Sessel. „Das Leben eines Marshalls muss langweilig sein.“ „Weniger, Yu, sehr viel weniger, als du denkst. Nur für kostbare Momente muss man sich Zeit nehmen und sie, wenn möglich, für immer aufbewahren.“ „Fangen Sie nicht schon wieder mit diesen Predigten an.“ „Nervt dich das?“ „Das hat es immer und tun Sie nicht so, als wüssten Sie es nicht. Sie haben schon immer gerne provoziert.“ Das Gespräch war so fließend, wie man es niemals für möglich gehalten hätte. Ein solcher Wortschwall von meinem stets so stillen Kameraden. „Ich? Provozieren?“ Beinahe flüchtend lösten sich meine Hände voneinander. Urplötzlich spürte ich das unbändige Verlangen, diesen Ort zu verlassen, mich diesen Worten und Eindrücken zu entziehen und stockend ertastete ich hinter mir die Wand. Ich musste aufstehen. „Sie haben es noch nie geschafft, im Beisein anderer meinen Nachnamen in den Mund zu nehmen und dabei wissen Sie genau, wie großen Wert ich darauf lege.“ Ich schaffte es die Beine durchzustrecken. An der Wand tastete ich mich höher, hatte mit einem Schwindel zu ringen, als ich stand und wandte mich ab. Zurück zur Treppe. Zurück in mein Zimmer. Allein diese Gedanken waren es, die mich jetzt noch beherrschten und ungeduldig streckte ich dem Geländer die Hand entgegen. „Irgendwann schaffe ich es noch“, versprach Tiedoll, als ich um die Ecke schlürfte und die Stufen in Angriff nahm. „Natürlich.“ Dieses in Sarkasmus getränkte Wort war das Letzte, das mich erreichte, bevor ich die erste Etage betrat. Mein Kopf gab mir das Gefühl, keine weitere Sekunde der Realität verarbeiten zu können. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)