Vom Wald zum Schneeball und zurück von Emerald_Phoenix ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es war bereits tiefer Winter. Die Äste der Bäume knarzten bei jedem Windhauch unter der Last des Schnees. Ein eisiger, beißender Wind wehte und wirbelte die dicken Schneeflocken so stark umher, dass es schwer war überhaupt ein paar Meter nach vorne zu sehen. Der Schimmel schnaubte und sein Atem war als weiße Wolke kaum in dem Schneegestöber zu sehen. Der Fuchs an seiner Seite wieherte. Ein Schlitten glitt gleichmäßig von den Pferden gezogen über die dicke Schneedecke.   „Die Pferde sind müde. Bei dem Schnee werden wir nicht mehr weit kommen. Es bringt uns nichts, wenn wir die Pferde noch weiter auslaugen.“   Ein älterer Mann mit einer Pelzmütze und einem Pelzmantel sah kurz vom kaum sichtbaren Weg ab zu seiner Begleiterin, die ebenfalls ganz in Pelz gekleidet war.   „Du hast Recht, Vater. Dieser Wetterumschwung ist schon äußerst ungünstig. Wenn das Wetter so bleibt, werden wir nicht mehr rechtzeitig zurück sein.“ „Wir haben noch genug Zeit. Es müsste schon einen ausgewachsenen Schneesturm geben, der uns festhält. Aber wir sind zu weit von der nächsten Stadt entfernt, also werden wir wohl hier bleiben müssen.“ „Hier?“ Die Frau mittleren Alters sah skeptisch zum Wald hinüber. Ein warmes Bett, und wenn es nur in einer heruntergekommenen Schänke war, wäre besser als hier draußen zu bleiben.  Zu ihrem Erstaunen lachte der Mann.   „Melina, du solltest dir wirklich mehr Zeit nehmen, die Gegend im Auge zu behalten. Hast du nicht gemerkt, wo wir sind? In Schattlingen, der nächsten Stadt, hab ich deine Mutter zwar zum ersten Mal ganz offen ausgeführt, kennengelernt haben wir uns aber dort.“ Er wies mit der Fahrpeitsche auf den Wald. „Du hast mir nie erzählt, dass du Mutter im Wald kennengelernt hast.“ „Haha, na wenn es nach ihr ging, habe ich das ja auch nicht. Wir haben uns damals nicht einander vorgestellt. Das hat sie mir immer wieder gerne vorgehalten. Dort ist das Haus  mit der kleinen Stallung, da können wir Schutz suchen. Die Leute hier halten sie noch immer in Schuss.“ „Ach, wir sind schon hier? Bei dem Schnee habe ich die Orientierung verloren.“ „Ja, wir sind wieder hier. Selbst wenn grad niemand wirklich Bedarf an dem Haus hat, sorgen alleine die Holzfäller, Jäger und Kräutersammler für eine regelmäßige Nutzung. Es wäre nicht nur eine Schande, dass Haus verkommen zu lassen, sondern durchaus gefährlich in Wintern wie diesen.“ „Ist denn da jetzt überhaupt jemand? Und was ist mit Vorräten? Wir haben nicht mehr genug, um mehrere Tage auszuhalten.“ „Dort ist doch immer genug Vorrat im Winter, um einen Schneesturm auszuharren. Nichts, was schnell verderben kann und auch nur das Nötigste, aber es wird schon genügen. Vielleicht ist auch jemand da, wir werden es sehen.“ „Es ist schon wieder so lange her, dass ich hier war. Das ich es nicht bemerkt habe, wo wir sind…“ „Nun, bei Schnee hattest du schon immer Schwierigkeiten, dich zu Recht zu finden. Mach dir nichts draus.“   Der Mann ließ die Pferde auf den Wald zuhalten. Zunächst erkannte Melina keinen geeigneten Weg in den Wald, aber als sie schließlich die erste Baumreihe passierten, linderte sich das Schneegestöber etwas und sie konnte einen Weg erkennen, der sogar noch etwas breiter war als ihr Schlitten.   Das Schneegestöber und der Wind waren schon nach der ersten Baumreihe schwächer. Sie sah nach oben und blinzelte gegen die Schneeflocken an. Die Baumkronen der meisten Bäume waren kahl und ihre Äste trugen nur noch Schnee. Lediglich die Tannen trugen noch ihr Kleid, dass von der Last des Schnees heruntergedrückt wurde und das Grün kaum sehen ließ. Durch den Schnee und die dicht stehenden Bäume hatte man den Pfad gar nicht sehen können. Man musste schon wissen wo er war. Eine Weile fuhren sie schweigend durch den Wald. Das Wiehern der Pferde und das Knirschen des Schnees waren die einzigen Geräusche. Ab und zu fiel Schnee von den Bäumen auf den Boden, aber kein Mensch und kein Tier waren zu sehen. Nach einer Weile konnte Melina sehen, wie sich die Baumreihen lichteten. Kurz darauf kamen sie auf eine Lichtung und die Schneeflocken fielen wieder dichter. Der Mann ließ die Pferde den Schlitten bis vor das kleine Nebengebäude eines Holzhauses ziehen. Melina sah sich um. Die Lichtung war nicht sehr groß, die beiden Gebäude waren einfach gebaut, aber in einem gepflegten Zustand. Sie stieg zusammen mit ihrem Vater vom Schlitten und öffnete das Tor zum Nebengebäude, das tatsächlich ein kleiner Stall war. Mehrere Heuballen waren an der einen Seite aufgeschichtet und ein paar Fässer standen an der Wand, vermutlich mit Wasser. Ihr Vater führte die Pferde in den Stall und sie half ihm dabei, den Schlitten abzuspannen und die Pferde zu versorgen. Nachdem sie die Pferde abgerieben und versorgt hatten, verließen sie den Stall und gingen zum Haus. Als sie es betraten war es kalt, aber alles war sauber und ordentlich. Neben einem Kamin war Holz aufgeschichtet und es gab eine Kochstelle mit einem Ofen. Melina kümmerte sich um das Feuer im Kamin, während sich ihr Vater um den Ofen und das Essen kümmerte. Es gab tatsächlich einen kleinen Vorrat an haltbaren Lebensmitteln. Vorrangig Kartoffeln und Gemüse, aber auch etwas gepökeltes Fleisch, dass sogar erst am Tag zuvor hier gelagert worden war, dass hatten sie einer Notiz eines Jägers entnommen. Das Haus war schlicht und zweckmäßig eingerichtet, mit vier einfachen Betten, einem Tisch und Stühlen und einer Kochnische mit allem, was man so brauchte. Als sie eine Weile später in dem mittlerweile aufgewärmten Haus am Tisch saßen und einen einfachen aber herzhaften Kartoffel-Gemüseeintopf aßen, konnte Melina ihre Neugier nicht länger zurückhalten.   „Vater, wie organisieren die Leute das hier? Ich meine, das Fleisch hält sich ja auch nicht ewig. Das habe ich mich früher schon gefragt.“ „Und du hast nicht gefragt? Auch Anrich nicht? Es wird in den Städten über die Jäger, Sammler und Wanderer geregelt. Die Jäger und Sammler nutzen diesen Platz ohnehin mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Sie sind es, die das hier in erster Linie in Schuss halten und in der Stadt Bescheid sagen, wenn was gemacht werden muss oder etwas fehlt. Wie du gesehen hast wird nur darum gebeten zu notieren, was man verbraucht hat. Das hier ist eine Gemeinschaftseinrichtung. Jeder gibt, was er kann, aber niemandem wird die Unterkunft hier verwehrt, weil er nichts hat. Im Zweifel gibt es hier oder in den Städten immer kleinere Aufgaben, die man als Reisender als Gegenleistung erfüllen kann. Es reicht aber vollkommen zu notieren, was man genommen hat und hier Ordnung zu halten. Diese Gegend ist von den plötzlichen Wetterumschwüngen her eben schwierig, also mussten die Leute etwas dagegen tun.“ „Verstehe, man hat also aus der Not quasi eine Tugend gemacht. Und hier hast du Mutter kennengelernt?“   Melina aß einen weiteren Löffel voll von dem Eintopf ihres Vaters. Er brauchte eigentlich nicht kochen, tat es aber zumindest auf reisen immer selbst und er kochte wunderbar.   „Ja, allerdings. Das Haus hier gab es damals schon. Ich glaube, es stand damals bereits zwei oder drei Jahre. Allerdings wusste ich das nicht, weil ich zu viel in der Schreibstube deines Großvaters zu tun hatte. Ich sollte einige Dokumente von den Bürgermeistern unterschreiben lassen und war hier in der Gegend unterwegs, als ein Sturm heraufzog. Zur Stadt, aus der wir beide gerade gekommen sind, war es zu weit und zurück in die andere Stadt konnte ich es logischerweise auch nicht schaffen. Also hab ich mich in den Wald begeben und wollte zu einer Höhle, die tiefer im Wald liegt, als sich mein Weg mit dem deiner Mutter kreuzte.“   ***   „Seid Ihr völlig dem Wahnsinn verfallen, bei diesem Wetter unterwegs zu sein?“   Erschrocken drehte sich der junge Mann um, der seinen braunen Umhang eng um sich geschlungen hatte.   „Wer seid Ihr?“ „Die Frage ist wohl eher, wer Ihr seid.“   Die Frau trug ein dickes Kleid aus Wolle und einen grünen Umhang. Auf dem Arm hatte sie einen Korb mit Pilzen und Kräutern, wie er gerade so erkennen konnte. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und ein beißender Wind kündete vom herannahenden Sturm.   „Ihr seid ganz schön unverschämt!“ Der Mann war es zwar gewohnt, dass man ihn nicht gerade freundlich behandelte, aber von dieser unbekannten Frau ließ er sich doch nicht für dumm verkaufen.   „Und Ihr seid nicht weniger unverschämt. Wenn der Sturm nicht schon so nah wäre, würde ich Euch hier stehen lassen, damit Ihr Euch zwischen den Büschen verkriechen könnt.“ „Es gibt eine Höhle nicht so weit weg von hier, falls ihr das nicht wisst, Madame!“   Die Frau sah ihn überrascht an, bevor sie sich zum Gehen wandte und nach ein paar Schritten über ihre Schulter zu ihm sprach.   „Das Haus ist näher.“ „Haus? Es gibt hier kein Haus.“ „Ihr kennt es nicht? Dann wart Ihr lange nicht mehr hier. Das Haus auf der Lichtung. Folgt mir, wenn ihr nicht ertrinken wollt.“   Der Mann verkniff sich einen Kommentar als er ihr folgte, nachdem der Wind ihm einen Ast ins Gesicht geschlagen hatte. Es dauerte nicht lange, bis sie das Haus erreicht und betreten hatten. Im Kamin brannte schon ein Feuer und eine ältere Frau kochte etwas auf dem Ofen.   „Milli, hast du noch genug über für einen ungebetenen Gast?“ Die Frau zog einen Stuhl vor den Kamin und hing ihren Umhang auf, nachdem sie den Korb einfach neben der Tür abgestellt hatte.   „In dieser Hütte gibt es keinen ungebetenen Gast. Setzt Euch und trocknet Euch am Feuer. Das Essen braucht noch etwas.“ „Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft, Madame.“ Der Mann verbeugte sich vor der älteren Frau und trat an den Kamin. „Ha! So hat mich ja schon lange niemand mehr angesprochen! Ihr seid wohl aus besserem Hause. Das verrät auch Eure Kleidung. Seid ihr ein Handelsassistent, dass ihr bei diesem Wetter hier seit?“ „Nein Madame, ich arbeite für Buchhalter Elmerich in Steinberg und habe geschäftlich hier in der Gegend zu tun.“ „Ach, der Elmerich. Schlauer Bursche, hatte schon immer ein Talent für Zahlen. Er bietet seine Kenntnisse wohl mittlerweile jedem an, der ihn bezahlen kann. Dürfte wohl in so mancher Stadt und so manchem Haus ein wenig Ordnung eingekehrt sein.“   Der Mann nickte nur, sah zu der jungen Frau herüber, aber wandte seinen Blick unwillkürlich wieder ab als er sah, dass sie sich gerade ihrer durchnässten Kleider entledigte.   „Mädchen, du könntest ein bisschen mehr Manieren zeigen! Was würde dein Vater dazu sagen?“ „Der Kerl hat selber keine Manieren, hat sich nicht einmal vorgestellt! Und Vater sagt immer, wer keine Manieren hat, zu dem muss man auch nicht höflich sein.“ „Ihr habt Euch ebenfalls nicht vorgestellt!“   Die ältere Frau schüttelte nur lächelnd den Kopf.   „Nehmt es ihr nicht übel, sie ist sehr direkt, aber ein liebes Mädchen.“ „Milli!“   Offensichtlich hatte die alte Dame Vergnügen an dem Gespräch der beiden jungen Leute. Der Mann hatte sich in der Zwischenzeit mit dem Rücken zu den Frauen und einer Decke aus seinem Reisesack über den Schultern seiner nassen Sachen entledigt und zog sich um. Zwischendrin konnte er doch nicht widerstehen, nach der unbekannten Frau zu sehen, die sich gerade ein anderes Kleid überstreifte. Sie war etwas kräftiger gebaut als andere Frauen. Nicht wie die, die sich den ganzen Tag mit Essen vollstopften, sondern mehr wie eine Frau, die ordentlich zupacken konnte. Auch ihre Ausdrucksweise wies darauf hin, dass sie eher die Tochter eines Handwerkers oder Bauern sein musste. Ihr blondes Haar war so nass wie seines, aber man konnte die Wellen noch immer erkennen, die sie von Natur aus zu haben schien. Eine schöne Frau und anders als die Frauen, die immer beim Buchhalter oder seinem Vater aufschlugen. Keine oberflächliche Ziege, die sich nur von Geld beeindrucken ließ. So schien es ihm jedenfalls.   Es dauerte nicht lange, bis Milli den Topf auf den Tisch stellte und die beiden zu sich rief. Milli mochte schon gute sechzig sein, aber sie war eine freundliche und rüstige Person. Sie erzählte ihm bereitwillig, wann und warum das Haus gebaut worden war und dass noch eine kleine Stallung geplant sei, nachdem einige Händler ihr fehlen als Problem beim Bürgermeister von Schattlingen vorgetragen hatten. Die junge Frau mit den grauen Augen beobachtete ihn nur und beteiligte sich kaum am Gespräch. Weder sagte sie ihren Namen, noch sagte er seinen. Je länger er sich mit Milli unterhielt, desto mehr wünschte er sich, auch diese Frau würde sich mehr beteiligen. Sie interessierte ihn nicht nur, er fand sie gerade wegen ihrer hartnäckigen Art anziehend. Zwei Tage dauerte der Sturm, aber zu Essen war genug vorhanden. Milli hatte ihm erzählt, wie sie die Vorratshaltung in der Hütte organisierten und wie hier alles gepflegt wurde. Am zweiten Tag redete auch die Unbekannte mehr und offener mit ihm, nachdem sie seine geschnitzte Brosche entdeckt hatte.   „Ein Geschenk einer Verehrerin?“ War da ein Funken Eifersucht in ihrer Stimme? „Von meiner größten Verehrerin. Ein Geschenk meiner Mutter, als ich in die Lehre ging.“ „Wirklich? Wer hat sie geschnitzt? Ein schönes Stück.“ „Meine Mutter. Mein Großvater brachte ihr das Schnitzen bei. Sie ist leider mit keiner guten Gesundheit gesegnet und wird oft krank. Das Sticken war ihr zu eintönig, da hat er ihr Schnitzen beigebracht.“ „Das tut mir leid. Das mit der schwachen Gesundheit Eurer Mutter meine ich.“ Der Gesichtsausdruck der Frau wurde weich und ein wenig traurig. Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Diese tiefe Gefühlsregung, die er in ihrem Gesicht lesen konnte, machte ihm das Herz schwer. „Es ist schon gut. Sie wird zwar oft krank, aber es ist selten etwas Ernstes. Es hindert sie nur leider daran, körperlich wirklich zu arbeiten, wie sie es gerne täte.“ Er zuckte mit den Schultern und Strich über die Brosche. „Eine bewundernswerte Frau Eure Mutter, dass sie sich nicht unterkriegen lässt. Ich würde wahnsinnig werden, müsste ich viel im Bett liegen. Das ist einfach nichts für mich.“ „Sie hat sich damit arrangiert. Vielleicht geht es ihr zum Winter gut, dass sie auf den Schneeball gehen kann. Da wollte sie schon immer einmal hin.“ „Wenn sie nicht kräftig genug zum Reiten ist, könnte sie mit der Kutsche kommen. Ich habe gehört, dass der Kutscher eine weitere Kutsche gekauft hat und jetzt auch Verisante und Steinbach ansteuern will. Von dort kann man dann nach Schattlingen in die andere Kutsche umsteigen.“ „Tatsächlich? Das wusste ich noch nicht. Dann könnte sie vielleicht wirklich im Winter zum Ball.“   Die Frau lächelte, als sie das freudige Leuchten in den Augen des Mannes sah.   ***   „Wie? Das war es? Ihr habt euch nicht mal eure Namen gesagt? Und du bist einfach gegangen?“ Melina sah ihren Vater erstaunt an, als er nach einer langen Pause nicht weitersprach. „Tja, wir waren beide stur. Aber wir haben in der kurzen Zeit schon gemerkt, dass vielleicht mehr zwischen uns sein könnte. Und ich musste mich schon beeilen damals. Die Dokumente waren ja zum Teil Verträge, für die bestimmte Fristen einzuhalten waren. So trennten sich damals unsere Wege und ich hatte danach so viel beim Buchhalter zu tun, dass ich keine Zeit fand,  noch einmal nach Schattlingen zu fahren. Mutters Zustand besserte sich aber und im Winter ging es ihr tatsächlich gut genug, dass wir mit der Kutsche zum Ball fahren konnten. Mein Vater war auch dabei, weil er ohnehin geschäftlich dort zu tun hatte. Als wir schließlich in Schattlingen ankamen, wollte sie unbedingt auch über den Markt gehen. Und da habe ich deine Mutter dann wiedergesehen und auch ihren Namen erfahren.“   ***   „Schau mal! Dort gibt es Kastanien!“   Der junge Mann lächelte über den Eifer seiner Mutter, bloß keinen Stand auszulassen. Bis zum Ball waren es noch zwei Tage und es ging ihr so gut wie schon lange nicht mehr. Geduldig lief er mit ihr über den Markt, während sein Vater sich ums Geschäftliche kümmerte. Wenn er sich beeilte, konnte er sie beide auf den Ball begleiten und das war immerhin ein großes Ereignis.   „Schau mal! Was für wundervolle Kerzen! Komm doch mal her!“ „Elisa, du hast Kundschaft!“   Ein älterer Mann rief einer jungen Frau zu, der offenbar der Stand mit den Kerzen gehörte und die gerade Wasser aus dem Brunnen holte.   „Einen Moment bitte, ich komme sofort!“   Erschrocken drehte sich der junge Mann zu der Frau um. Er kannte diese Stimme!   „Bitte verzeiht, dass Ihr warten musstet Madame. Darf ich Euch bei der Auswahl helfen? Oder sucht ihr vielleicht eher ein Andenken? Ich mache auch Figuren aus Wachs.“ „Das sehe ich, wie wundervoll die sind! Sind das auch Kerzen?“ „Ein paar von ihnen, ja. Ich habe aber auch einfache Figuren nur zur Dekoration. Vielleicht interessieren Euch ja auch meine neuesten Kreationen. Hier, riecht einmal an dieser hier.“ „Ist das…Apfelduft?“ „Ja, ganz recht. Hier sind auch noch ein paar mit Zimt oder Vanille.“ „Unglaublich! Wie macht ihr das, dass die Kerzen so riechen?“ „Verzeiht Madame, aber das ist ein Geheimnis.“ Die junge Frau zwinkerte. „Ach, vergebt mir, natürlich ist es das. Wirklich bemerkenswert und dieses Eichhörnchen! So detailliert als wäre es lebendig. Wanja, komm doch endlich, schau dir das an!“ „Eine wirklich beeindruckende Arbeit, Frau Elisa.“ Mit einem Lächeln deutete er eine Verbeugung an und die Kerzenhändlerin sah ihn überrascht an. „Ihr? Was macht Ihr denn hier?“ „Ihr zwei kennt euch?“ „Wir wurden uns noch nicht vorgestellt, Mutter, aber wir sind uns schon einmal begegnet.“ „Das ist wahr Madame, obwohl ich nicht erwartet hätte, dass er Euer Sohn ist. Herr Wanja hatte nicht den Eindruck hinterlassen, dass er Manieren hat.“   Wanjas Mutter lachte, dass sich die Leute in der Nähe verwundert umsahen.   „Ach Wanja, Das ist ein Mädchen für dich! Die nimmt kein Blatt vor den Mund und kann was. Schau doch endlich mal die Kerzen genauer an!“   Die beiden jungen Menschen erröteten leicht unter der Direktheit von Wanjas Mutter, ließen sich aber bald von ihrer guten Laune anstecken. So kam es, dass Wanjas Mutter Elisa zum Abendessen einlud, um eine alte Schuld zu begleichen, wie sie sagte, woraufhin Wanja nur die Augen verdrehte und Elisa damit zum Lachen brachte. Es war das schönste Lachen, dass er je gehört hatte.   Das Abendessen im Haus eines Freundes von Wanjas Vater verlief recht heiter und Wanja fragte sie alles, was ihm in den Sinn kam, nur damit er ihre Stimme hören konnte. So erzählte sie von ihrer Arbeit als Kerzenzieherin und dass sie an der Stelle ihrer Mutter hin und wieder im Wald Pilze, Kräuter und Beeren sammelte und von ihrem Vater, der als Schreiner arbeitete. Im Gegenzug fragte sie Wanja aus, während die anderen am Tisch Sitzenden leise ihrem eigenen Gespräch nachgingen. So erzählte Wanja, wie sein Vater sich vom Laufburschen zum Bauleiter hochgearbeitet hatte und wie seine Mutter ihre Schnitzereien ab und zu auf dem Markt verkaufte, während sie meist zu Hause Kinder und Erwachsene im Lesen und Schreiben unterrichtete.   ***   „Und Großmutter? Hat sie nicht versucht, dich mit Mutter zusammenzubringen? So begeistert, wie sie ja scheinbar von Anfang an von ihrwar?“ Melina hatte ihren Eintopf aufgegessen und den Teller fortgeschoben und lauschte nun gespannt ihrem Vater. „Melina, das war gar nicht nötig. Deine Mutter und ich hingen von da an quasi die ganze Zeit zusammen. Ich musste zu der Zeit glücklicherweise nichts tun, weshalb ich Zeit hatte, ihr bei der Arbeit zuzusehen. Und dann war da auch schon der Tag des Balls gekommen.“   ***   „Elisa, willst du mit mir auf den Schneeball gehen?“ „Was? Aber…aber ich habe doch noch nicht mal ein Kleid für so einen Anlass!“ „Ach, das Kleid, vergiss das Kleid! Überlass das meiner Mutter! Bitte, ich würde gerne mit dir zum Ball gehen!“   Elisa zögerte einen Moment. In der kurzen Zeit hatte Wanja sie bereits zu sich und seinen Eltern nach Steinbach eingeladen. Sein Vater war von ihren Kerzen so beeindruckt, dass er vorgeschlagen hatte, dass sie diese auch dort verkaufen sollte. Im Laden der Tochter seines Schwagers war der perfekte Platz für die Kerzen, wie er fand und Wanja pflichtete ihm bei.   „Wanja, ich würde gerne mit dir auf den Ball gehen, aber…ich passe doch gar nicht dahin.“ „Unsinn! Der Freiherr veranstaltet den Ball doch ganz offen für alle! Was wäre denn der König ohne die Bauern? Er würde verhungern! Bitte Elisa, vertrau mir, meine Mutter findet im Nu ein passendes Kleid und tanzen kannst du doch bestimmt auch!“   Mit diesen Worten zog Wanja die überraschte Frau an sich und begann mit ihr zu tanzen, bis sie schließlich lachte.   „Du bist ein unverschämter Kerl Wanja! Also schön, ich gehe mit dir hin. Aber dann sollten wir uns beeilen, der Ball ist schon heute Abend. Und meinen Eltern muss ich dann auch noch Bescheid sagen!“   Gesagt getan und zu Elisas Überraschung fand Wanjas Mutter tatsächlich noch ein passendes hellblaues Kleid, dass mit silbernen Blüten bestickt worden war. Auch für Elisas Eltern fand sie passende Garderobe.   „Wo hast du nur dieses Kleid noch herbekommen Ilena? Das ist wunderschön!“ „Ich mag nicht viel reisen können, aber das hat auch sein Gutes, denn die Leute kommen zu mir. Die Schneiderin ist eine alte Freundin von mir, aber ihr Talent hat sie hierher geführt. Es steht dir gut.“   Ilena beobachtete, wie Elisas Mutter ihrer Tochter die Haare kunstvoll hochsteckte. Die junge Frau betrachtete sich eine Weile in dem bodenlangen Spiegel und ihr Herz raste. Zum ersten Mal würde sie auf den Schneeball gehen und sie hatte das Gefühl, dass ein Schneeball ohne Wanja nicht schön sein konnte. Sie hatte immer an ihn denken müssen, nachdem er nach Steinberg zurückgegangen war. Mit ihm verging die Zeit wie im Flug und er war überhaupt nicht der schlechte Mann, für den sie ihn ganz am Anfang bei ihrer ersten Begegnung gehalten hatte.   Am Abend begleitete Wanja sie zur Stadthalle, in dem der Ball veranstaltet wurde. Der Pfad zum Eingang war mit Tannen gesäumt, die man mit weißen Fellflicken, aus Holz geformten Figuren und Sternen und Girlanden aus bunten Glasperlen geschmückt hatte. Es hatte am Tag zuvor begonnen zu schneien und nun bedeckte auch ein dünner Schneeteppich den Boden und die Bäume. Die Halle selbst war reichlich geschmückt. An den Seiten standen Tische und Bänke, ein Büffet war an den Wänden aufgebaut und in der Mitte tanzten bereits die ersten Paare zur Musik der Stadtmusiker. Es gab hier keinen Stand, kein Arm und Reich. Wer sich keine Garderobe für den Ball leisten konnte, der konnte sich welche ausleihen. Der Freiherr stellte dafür sogar seine Schneider zur Verfügung, damit auch die geliehenen Sachen ihren Trägern anständig passten. Elisa hatte das zwar gewusst aber erwartet, dass schon alle Kleider vergeben waren. Wanjas Mutter hatte ihr dann gesagt, dass der Freiherr nie zuließ, dass zu wenig Kleider vorhanden waren. Wie er das schaffte, blieb sein Geheimnis. Überall hingen Girlanden mit Glasperlen und Kerzen brannten auf den Tischen. Elisas Kerzen, stellte Wanja erfreut fest und einige von ihnen verbreiteten wunderbar miteinander harmonierende Gerüche aus Apfel, Zimt und Vanille, wenn man in ihrer Nähe war.   „Tanz mit mir, Elisa!“ „Du hast noch immer keine Marnieren, Wanja. Du hast das bitte vergessen. Das muss ich dir wohl noch beibringen.“ „Mit dir als Lehrerin werde ich fleißig sein. Komm!“   Wanja zog Elisa mit auf die Tanzfläche und vergaß dabei seine und ihre Eltern, die dem Paar schmunzelnd hinterhersahen und heimlich darauf wetteten, wie lange es wohl dauern würde, bis Wanja um Elisas Hand anhalten würde.   ***   „Haben sie wirklich gewettet?“ „Du kennst doch deine Großeltern, natürlich haben sie das! Sie lagen allerdings alle daneben.“ „Und was ist passiert?“ „Mein Vater meinte nur, es sei typisch für mich, unberechenbar in diesen Dingen zu sein und mein Schwiegervater sagte, dass es mit Elisa das gleiche wäre.“   Die beiden lachten herzlich. Melina hatte sich lange gefragt, warum ihre Eltern so ein Geheimnis daraus gemacht hatten, wie sie sich genau kennengelernt hatten. Als Melina ihren Anrich kennengelernt hatte, war es genau umgekehrt gewesen. Sie hatten sich auf dem Schneeball des Freiherrn kennengelernt und danach an dem Haus im Wald wieder getroffen, als das Wetter umgeschlagen hatte. Melina hatte Kerzen nach Steinbach bringen wollen zum verkaufen und Anrich war mit Tuchen auf dem Weg nach Schattlingen.   Und nun war Melina mit ihrem Vater wieder auf dem Weg zum Schneeball, der auf ihre Hochzeit mit Anrich folgen sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)