Weihnachtskatastrophen von Schwarzfeder (20. Türchen FF-Adventskalender 2016) ================================================================================ Kapitel 1: Mistelzweigvorfall ----------------------------- ~*~ »...das ist ein Witz, oder?«, frage ich leicht schockiert und starre auf die Kühlschranktür vor mir. An ihr hängen schlaue Postkartensprüche, To-Do-Listen und Post-It’s mit Sachen, die leer sind und doch immer vergessen werden beim nächsten Einkauf mitgebracht zu werden. Doch meine Aufmerksamkeit liegt bei dem was meine Mutter mir grade übers Telefon mitgeteilt hat. »Nein, leider nicht. Du hattest nie Windpocken und deshalb wirst du morgen leider nicht kommen können«, erklärt meine Mutter bedauernd. »Aber es ist Weihnachten«, klage ich entrüstet, »Und ich hab Geschenke für Lea und Philipp und das ist...das ist unfair!« »Mathis, was soll ich denn machen? Die beiden haben nun mal Windpocken und das ist hoch ansteckend. Der Arzt hat gesagt-« »Mir ist egal was der Arzt gesagt hat«, murre ich bockig und lasse mich ehrlich niedergeschlagen auf die Bank am Esstisch fallen. »Mathis...«, sagt Mama seufzend und ich merke, dass ich das Ende ihrer Geduld grade erreicht habe. Mir ist klar, dass sie auch nichts dafür kann und sich das sicherlich nicht ausgesucht hat, aber scheiße ist das trotzdem. »Ja, ist ja gut. Okay, dann halt nicht«, brumme ich, wenn auch einlenkend. »Mach doch was mit deinen Freunden«, schlägt Mama versöhnlich vor und ich seufze noch schwerer. »Die sind alle nicht da, okay? Nuri ist bei ihrer Familie, genauso wie Marie. Und Gabriel hat ‘ne Freundin, der Weihnachten wichtig ist«, seufze ich immer noch brummend und male die Muster auf der verblichenen Tischdecke nach, die Marie einfach nicht ersetzen will. Ich vermisse sie jetzt schon. Natürlich wünsche ich ihr tolle Weihnachten, so ist es nicht, aber im Moment ist es irgendwie schwerer ohne sie, weil sie mich nicht auf den Teppich zurück holen kann. »Und was ist mit dem Kleinen? Wie heißt er noch...Momo!?« »Muss arbeiten«, nuschle ich frustriert und seufze schwer. »An Weihnachten?« »Tiere werden auch ohne Zeitplan krank, Mama. Und er ist halt dran und da kann man nichts machen«, erkläre ich resigniert und starre vor mich hin. Den Alternativvorschläge, die von einem Spontanflug zu meinen Großeltern nach Schweden bis hin zu irgendwelchen Weihnachtsveranstaltungen für einsame Menschen geht, höre ich nur noch halb zu und lasse mich eher von dem tröstenden Tonfall berieseln. Wieder muss ich daran denken, was vor zwei Wochen passiert ist und ich seufze so schwer, dass Mama nur noch tröstlicher versucht mich auf zu muntern. Wenn sie wüsste... Ich grinse schief, weil nur Marie weiß was los ist und ich sie wohl auch deshalb so vermisse, aber dann schüttele ich diese schweren Gedanken ab und versuche nun meinerseits meine Mutter zu beruhigen, dass ich mir trotzdem einen schönen Tag werde machen können. Irgendwie. Ich versuche einfach optimistisch zu sein. Irgendwie. Dieser Irgendwie-Optimismus hält nur bis zum Nachmittag an Heiligabend. Mittlerweile sind die Geschäfte geschlossen und es ist, wie jeder Hamburger Einwohner sagen würde, Schietwetter. Der Wind weht waagerecht und treibt den Regen in die hinterletzte Ecke. Es ist ätzend und ich friere inzwischen. Trotzdem kann ich mich nicht überwinden. Vorhin hatte ich noch die glorreiche Idee meine komische Stimmung, die mich jedes Mal überfällt wenn ich an Moritz denke, zu ignorieren und hab mich mit einer Art Carepaket auf den Weg gemacht zur Tierarztpraxis, doch jetzt steh ich hier vor dem Eingang und traue mich nicht diesen blöden Knopf zu drücken. Herr im Himmel, ich werde bald 27 und kann mich trotzdem nicht dazu durchringen? So Blamabel. Schwer seufzend spiele ich schon mit dem Gedanken doch in die frustrierend leere und kahle Wohnung zurück zu gehen, als neben mir ein Mädchen auftaucht mit einem Bündel auf dem Arm, das verdächtig nach kleinem Hund aussieht. Ich weiß nicht ob es am Regen liegt oder an ihrer Situation, aber ihre roten Augen lassen mich unwillkürlich vermuten, dass sie weint. Ohne weiter zu zögern oder nach zu denken drücke ich nun doch die Klingel und es dauert nur eine Minute, bevor die Tür aufgeht und Moritz erst mich und dann das Mädchen anblinzelt. Ich versuche erst gar nicht mich zu erklären, sondern schiebe ganz heldenhaft das schniefende und völlig fremde Mädchen vor. »E-Er ha-hat eine Ku-Kugel zerbissen u-und winselt jetzt ganz doll, bi-bitte, Sie müssen Balou helfen«, schluchzt sie und guckt Momo so flehend an, dass es mir fast das Herz bricht. »Komm rein, wir sehen was wir tun können, ja? Wo sind denn deine Eltern?« »Pa-Papa parkt gra-grade, bi-bitte helfen Sie Balou!« Ich seufze tief. Offensichtlich ist dieses Jahr nicht nur für mich Weihnachten eine Total-Katastrophe. »Geh schon mal rein, ich halt die Tür für den Vater offen«, brumme ich nur, warte ein Nicken ab und seh den beiden kurz nach. Arme Kleine. Und armer Balou. Die beiden haben sich das alles wohl auch schöner vor gestellt. Ich muss nicht sehr lange warten, bis ein bestimmt Mitte Vierzig-Jähriger Mann auf die Tür zugelaufen kommt und nach seiner Tochter und dem Hund fragt. Ihn rein deutend betrete ich nun auch die weihnachtlich dekorierte Klinik, die heute ungewohnt dunkel und still ist. Nicht verwunderlich um kurz vor fünf an Heiligabend. Da mich die ganze Sache mit dem Hund nicht wirklich was angeht, begleite ich den Mann nur bis zu dem einzigen Behandlungszimmer, dass erleuchtet ist und setze mich dann ganz brav in den leeren Wartebereich. Mir ist leider sehr bewusst, dass ich jetzt, nachdem Momo mich gesehen hat, nicht einfach wieder abhauen kann und ein ganz kleines bisschen würde ich auch wissen wollen was mit dem kleinen Balou noch passiert. Und ob ich jetzt hier sitze oder zu Hause macht nur einen Unterschied von einem verregneten Spaziergang durch die Stadt um nach Hause zu kommen. Da fällt die Entscheidung nicht so schwer, wie man erwarten könnte. Abwesend starre ich die Wand gegenüber an, an der sich Tierchen aller Arten in weihnachtlichen Kostümen über die weiße Wand präsentieren, während die vereinzelten Lichterketten zumindest genug Licht spenden um nicht völlig im Dunkeln zu sitzen. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich werde von leichtem Stupsen gegen die Schulter wach und leicht desorientiert blinzele ich Moritz an, der versucht sich ein Lächeln zu verkneifen. »...Wo’s Balou?«, frage ich verschlafen, weshalb Momo kurz irritiert blinzelt und dann doch leise lacht. »Der ist schon wieder weg. Glück im Unglück. Ein Splitter hatte sich ins Zahnfleisch gebohrt. Dr. Schäfer konnte es entfernen und beim Röntgen wurde nichts mehr gefunden«, erklärt er mir bereitwillig und kurz frage ich mich, ob er das überhaupt erzählen darf, doch ich hake lieber nicht nach. Keine schlafenden Hunde wecken. Oder so ähnlich. Ich nicke nur und reibe mir über den Nacken um wacher zu werden. »Sag mal, was machst du eigentlich hier? Müsstest du nicht bei deinen Eltern und den Zwillingen sein?«, fragt er dann betont beiläufig. Ich grinse schief. »Eigentlich, ja. Aber Lea und Philipp haben sich überlegt Windpocken zu bekommen und jetzt ist das ganze Haus eine Sperrzone für mich«, erkläre ich seufzend und Momo verzieht mitleidig das Gesicht. »Windpocken sind ganz gemein. Und dann noch über Weihnachten«, bemerkt er und ich seufze wieder, noch viel tiefer und dramatischer als vorher. »Ich darf ihnen noch nicht einmal die Geschenke von mir bringen. Weißt du wie ätzend das ist? Bis gestern war ich fast stolz drauf nie Windpocken gehabt zu haben. Aber jetzt?«, kommentiere ich frustriert und Moritz lacht wieder leise. Wenn er lacht, dann immer leise und irgendwie höre ich das gern, weil nicht jeder ihn zum Lachen bringen kann. Zumindest behauptet seine Schwester Nina das ständig und ich denke, dass sie ihn schon lang genug kennt um das auch beurteilen zu können. Deshalb bin ich jedes Mal irgendwie ein klein wenig stolz, wenn er lacht und ich der Grund dafür bin. Zumindest war ich das. Jetzt ist es zwar auch so, aber auch komisch. Alles ist komisch, seit diesem Mistelzweig-Vorfall. Um mich selbst abzulenken halte ich die Tasche neben mir hoch. »Jedenfalls bin ich dieses Jahr unfreiwillig also wieder allein und ich dachte, wenn du arbeiten musst und auch allein bist...«, sage ich andeutend und lasse den Rest des Satzes offen. »Allerdings ist der Tee jetzt bestimmt schon kalt und vermutlich lange nicht so lecker wie bei Marie, aber ich hab’s versucht«, gebe ich zu bedenken, doch Momo schüttelt nur den Kopf und lächelt leicht. »Schon okay, wirklich. Ich freu mich, dass du da bist. Dr. Schäfer hat gesagt, dass du bleiben kannst, wenn du möchtest«, sagt er dann und nimmt mir die Tasche ab um rein zu sehen. Mit einem erfreuten Blinzeln bemerkt er die Kekse und sieht mich wieder an. »Tee und Kekse? Das ist super, danke!«, fügt er zu und wendet sich dann zum gehen. Irgendwie werde ich grade nicht so schlau aus ihm. Eigentlich ist Momo eher wortkarg. Schweigsam. Manchmal halten ihn manche sogar für stumm, weil er nicht spricht. Ich weiß, dass ich neben Nina und mittlerweile auch Marie einer der sehr wenigen bin, mit denen er ganz normal spricht und von sich aus. Aber so offensiv wie seit diesem Mistelzweigvorfall hab ich ihn noch nicht erlebt. Glaube ich zumindest. Nachdenklich trotte ich ihm hinterher und während er in der kleinen Betriebsküche Tassen und einen Teller für die Kekse holt, darf ich zum ersten Mal überhaupt hinter den Empfangstresen. Ich fühle mich fast geehrt. Zumindest bis mir etwas ins Auge sticht, was da oberhalb vom Aktenschrank von der Decke baumelt. Meine neue Nemesis. Ein Mistelzweig. Ich raufe mir die Haare und unfreiwillig drängen sich mir die Bilder in den Kopf. Nina, die uns alle zu sich eingeladen hatte um ihren Geburtstag zu feiern. Ihr Freund, der sich etwas spielerisch über ihre Weihnachtsdekoration lustig gemacht hatte und ich, der schon einen Eierpunsch zu viel hatte und Lucas sehr amüsiert beweisen wollte, dass grade er sich nicht über einen Mistelzweig beschweren sollte. An sich wäre es nicht so wild gewesen, doch Gabriel hat es schon immer gut verstanden mich zu provozieren und als ein völlig unbeteiligter Momo mit einem Nachschlag veganen Dips für Marie durch die Tür kam, küsste ich ihn einfach. Der vegane Dip überlebte es nur dank Nuris schneller Reflexe, während Gabriel johlte und Lucas schallend lachte. Nina beschwerte sich lautstark, dass ich nicht ihren Bruder für solche Scherze benutzen sollte und ich? Mir drehte sich alles. Ich stand einfach nur da und als mir einfiel, dass ich mich wieder lösen sollte, blinzelte ich ihn nur an, während sich seine feucht-glänzenden Lippen zu einem verlegenen Lächeln bogen und seine Wangen sich rot färbten. Es war so ein kitschiges Klischee, dass es mich selbst jetzt noch wahnsinnig macht, aber trotzdem geht es mir nicht mehr aus dem Kopf und auch wenn ich es überspielte, war da irgendein Etwas, das mir beständig zu murmelte alles wäre jetzt anders. Marie war die einzige, die mich danach noch ansprach und etwas auf den Kopf zugesagte, dass ich nicht wahrhaben wollte, aber jeder Versuch es zu verdrängen brachte wenig. Und jetzt hängt da ein Mistelzweig? Irgendjemand will mich ärgern! Auf eine ganz gemeine Art. Als Momo zurück kommt, ringe ich mir ein Grinsen ab und starre auf den dunklen Computerbildschirm. Da er allein ist, ist auch nur eineComputer an. Logisch. Aber ich wünsche mir unwillkürlich, dass hier auch ein Bildschirmschoner seine Kreise ziehen würde, wie auf Momos. Dann wäre der ausweichende Blick nicht so auffällig. »...bist du dir sicher, dass du hier sein möchtest?«, fragt er mich nach einer ganzen Weile, die wir schweigend mit Tee und Keksen verbracht haben. Mein Tee ist übrigens wirklich nicht so gut, wie Maries, aber akzeptabel. Anscheinend hab ich mir genug abgeschaut bei ihr. Ich blinzele Momo verdutzt an. »Wie kommst du darauf?« Momo schenkt mir einen dieser strafenden Blicke, die ich sonst nur von Marie kenne. Jetzt vermisse ich Marie ein ganzes Stück weniger. Ich wundere mich kurz wie sehr sich mein ganzes Leben in einem Jahr doch verändert hat nur weil Momo jetzt ein Teil davon ist. Und ich komme mir sehr kitschig und albern vor. Dann geht mir auf, dass Momo eine Antwort erwartet und ich brumme nichts sagend. »Warum sollte ich wo anders sein wollen?«, frage ich dann ausweichend und Momo seufzt. Er durchschaut mich mittlerweile fast so gut wie Marie. Ich glaube die beiden haben zu viel Kontakt. Vielleicht sollte sie sich eine andere Klinik für ihr praktisches Jahr suchen? Allerdings fürchte ich, dass sie das niemals tun würde. »Wenn du ehrlich bist, bin ich eher die letzte Option, weil alle anderen weg sind, oder? Und seit... Seit Ninas Geburtstag bist du sehr abweisend. Wenn du nicht willst musst du nicht hier sein. Ich hab eh nur noch zwei Stunden, dann kommt die Nachtschicht«, erklärt er und ich komme mir vor wie ein Arsch. Kann der Tag nicht einfach endlich vorbei sein? Ich lasse mich schnaufend auf den Schreibtisch vor mir sinken und starre das bunte Muster meiner geliehenen Teetasse an. »Du bist nicht meine letzte Option, okay? Ich wäre zwar schon gern bei Lea und Philipp und würde sehen wollen wie sie ihre Geschenke auspacken, aber auch wenn ich grade komisch bin, heißt das nicht, dass ich dich nicht mehr leiden kann«, sage ich dann leise. Ich traue mich irgendwie nicht zu Moritz zu sehen. Es ist eine Weile still. Nur der Bildschirmschoner wirft das typische bläuliche Licht auf die Haferkekse, die viel leckerer schmecken, als sie im Moment aussehen. »...bist du echt wegen diesem...diesem Ku-« »Mistelzweigvorfall, okay? Ich kann es im Moment noch nicht vor mir selbst zugeben, dass ich... das wirklich gemacht habe«, werfe ich ein und ich höre förmlich wie er die Augen verdreht. Momo ist mit seinen 21 so viel erwachsener als ich mit 26. Wäre ich nicht so verlegen, ich wäre fasziniert. »Mistelzweigvorfall, gut. Dann eben das, aber ich verstehe nicht, warum du so bist. Ich mein, es ist doch nichts passiert. Du hast mir jetzt nicht irgendwie das Herz gebrochen oder so«, erklärt er nüchtern und irgendwie passt mir das noch viel weniger. Ich sehe ihn brummig an und ziehe die Stirn kraus. »Und was war das dann für ein Lächeln?«, frage ich skeptisch. Fragend legt er den Kopf schief. Ich blinzle kurz. Was geht hier ab? »Na dieses...dieses Lächeln! Du hast mich angelächelt!« »Hätte ich dich schlagen sollen?« »Nein~ natürlich nicht. Aber du hast so komisch gelächelt und ich...«, ich zucke mit den Schultern, weil mir die Worte fehlen und Momo grinst schief. »Ich weiß ja nicht was du gesehen hast, aber ich fand das jetzt nicht schlimm. Ich mein, es war eh aus einer Laune heraus, aber ich hab mich...gefreut.«, erklärt er langsam. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass da etwas an mir vorbei geht, doch als er mich ansieht und schon wieder so lächelt wie vor zwei Wochen, stürzt mein Prozessor ab und ich gebe auf. Schwer seufzend grinse ich zurück und entschließe, dass ich einfach erst einmal ab warte. Ich hatte für Weihnachten schon genug Katastrophen, da will ich nicht auch noch etwas heraufbeschwören, was ich mir vielleicht einfach nur einbilde. Ganz nach dem Prinzip: keine schlafenden Hunde wecken. »Was hältst du davon, wenn wir gleich zu dir gehen und die Geschenke für die Zwillinge holen? Ich hatte schon Windpocken«, schlägt Moritz vor und ich brauche einen Moment um das zu verstehen. »Aber dann würde ich nicht sehen, wie sie es auspacken!« »Doch! Ich nehm einfach mein Handy und sie müssen auspacken, während ich filme und du draußen zu gucken kannst. Livetelefonie, du weißt schon«, erklärt er und mit einem kurzen Blick nach draußen nicke ich. Momo lächelt zufrieden und während er in einen neuen Keks beißt, schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass Weihnachten mit den richtigen Leuten trotz aller eventuellen Katastrophen immer noch ganz gut werden kann. Zumindest wenn man Tee und Kekse hat. ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)