Märchenzeit von _Delacroix_ (Jokertürchen Nr. 17) ================================================================================ Märchenzeit ----------- [LEFT]Modesty bemühte sich die Tür lautlos zu schließen, doch wie schon die letzten Tage war sie scheinbar nicht lautlos genug. Als sie mit nackten Füßen über den Teppich huschte, blickte er von seinem Buch auf und runzelte die Stirn.[/LEFT] [LEFT]„Solltest du nicht deine Pantoffel tragen?“, tadelte er, die Stimme nur eine Nuance tiefer als sonst. Sie erlaubte es sich, schuldbewusst zu schauen, während sie zu ihm auf das Sofa kletterte. Die Schuhe hatte sie tatsächlich schon wieder vergessen. Das passierte ihr ständig, seit er sie ihr geschenkt hatte.[/LEFT] [LEFT]Einen Moment lang zögerte sie, dann lehnte sie sich gegen seine Schulter.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]„Ich vermisse Credence.“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Es war kaum mehr als ein Flüstern, doch es verfehlte seine Wirkung nicht. Das Buch wurde abgelegt, ein Arm um sie geschlungen. Er sagte nichts, aber sie spürte, wie die Schuld in ihm aufwallte. Schuld, für die er gar nichts konnte.[/LEFT] [LEFT]Stumm kuschelte sie sich an seine Seite.[/LEFT] [LEFT]Wenn sie früher nicht hatte schlafen können, war sie immer zu Credence ins Bett gekrochen und er hatte ihr leise wispernd Märchen erzählt. Nicht einmal war Chastity davon aufgewacht und nicht einmal hatte Mary Lou davon erfahren.[/LEFT] [LEFT]Es war ihr Geheimnis gewesen. Ganz alleine ihres und jetzt –[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Eine Hand strich über ihre Wange. „Manchmal glaube ich, ich vermisse ihn auch.“[/LEFT] [LEFT]Modesty blickte überrascht auf. „Du kennst ihn gar nicht“, entfuhr es ihr.[/LEFT] [LEFT]Er nickte. „Das ist es, was mir daran Sorgen macht.“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Modesty legte den Kopf zur Seite. „Das verstehe ich nicht“, murmelte sie. Sie versuchte es. Sie versuchte es wirklich, doch irgendwie ergab es keinen Sinn. Wie konnte man jemanden vermissen, den man nicht kannte?[/LEFT] [LEFT]Erneut strichen seine Finger über ihre Wange. „Ich verstehe es auch nicht ganz, aber ich denke es wäre schön gewesen, ihn hier zu haben.“[/LEFT] [LEFT]„Er hätte den Kamin geliebt!“, platzte es aus ihr heraus, „Und den Kakao! Und -“[/LEFT] [LEFT]Modesty verstummte. Credence hätte vieles an diesem Haus geliebt. Vielleicht sogar die dunklen Ecken, die ihr Nachts immer Angst einjagten. Aber er war nicht hier.[/LEFT] [LEFT]Er war...[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]„Wo haben sie ihn hingebracht?“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Ihre Frage hing einen Moment lang in der Luft, dann schüttelte Percival den Kopf. „Im Einsatzbericht steht, dass die Auroren nichts von ihm gefunden haben“, erklärte er ihr, „Sie haben also auch nichts von ihm wegbringen können.“[/LEFT] [LEFT]Modesty dachte darüber nach. Es machte Sinn. Wenn sie nichts gefunden hatten, hatten sie auch nichts, was sie beerdigen konnten. Außer natürlich - Sie setzte sich kerzengerade auf.[/LEFT] [LEFT]„Was wenn er nicht weggebracht werden wollte?“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Percival guckte sie an, als hätte sie behauptet, Hexen würde es nicht geben.[/LEFT] [LEFT]„Kind, eine komplette Auroreneinheit hat ihn angegriffen, das kann er nicht überlebt haben“, versicherte er, „Das überlebt niemand.“[/LEFT] [LEFT]„Aber -“, wollte sie widersprechen, doch ein Finger legte sich auf ihre Lippen.[/LEFT] [LEFT]„Modesty, ich weiß, was du dir wünschst“, flüsterte er rau, „das ist nicht möglich. Selbst wenn er den Auroren irgendwie durch die Finger geschlüpft wäre, es ist über zwei Wochen her. Nachts gibt es Frost, sie reden von Schnee. Er wäre längst -“[/LEFT] [LEFT]Sie schüttelte den Kopf.[/LEFT] [LEFT]„Credence ist clever“, beharrte sie. „Bitte, bitte. Können wir nicht nachsehen?“[/LEFT] [LEFT]Sie blickte aus dem Fenster. Draußen war es pechschwarz. Nie würde Percival erlauben, dass sie ihn jetzt suchen gingen. Nie würde er mit ihr in die Pike Street gehen und bestimmt war sie ganz weit weg.[/LEFT] [LEFT]Sie schluckte.[/LEFT] [LEFT]Wenn Credence noch dort draußen war, war er bestimmt in die Kirche zurückgekehrt und dort war alles dunkel und kaputt und kalt. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Sie musste in die Pike Street. Sie musste mit eigenen Augen sehen, dass sie sich irrte, sie musste -[/LEFT] [LEFT]Mit feuchten Augen sah sie Percival an. „Bitte“, wiederholte sie und dann, endlich, schien Bewegung in ihn zu kommen. Umständlich erhob er sich von der Couch, richtete sich den Kragen und die Manschetten.[/LEFT] [LEFT]„Nun hol schon deinen Mantel“, murrte er, als er am linken Ärmel angekommen war, „Und vergiss nicht wieder deine Schuhe.“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] ⛪⛪⛪ [LEFT] [/LEFT] [LEFT]„Du solltest dir nichts davon versprechen“, erklärte er, den Blick stur auf die Ruinen gerichtet. In der Dunkelheit wirkten sie unheimlicher denn je. Insgeheim wünschte sich Modesty, Percival würde, wie Zuhause, einen Leuchtzauber sprechen, aber darum zu bitten, wagte sie nicht.[/LEFT] [LEFT]Er hatte ihr ihren Wunsch erfüllt und sie vor die Ruinen der Kirche gezaubert. Sie musste ihr Glück nicht noch weiter strapazieren.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Stumm starrte sie das an, was einmal ihr Zuhause gewesen war. Dort drüben, in der Ecke, hatte Chastity immer genäht und da hinten war die Kochstelle gewesen und da, unter all den Trümmern, waren die langen, dunklen Tische, an denen die Waisenkinder so oft ihre Suppe geschlürft hatten.[/LEFT] [LEFT]Percival schüttelte den Kopf.[/LEFT] [LEFT]„Er ist nicht hier, Modesty. Lass uns nach Hause gehen“, versuchte er sie zu überzeugen, doch sie hatte nicht vor, so schnell aufzugeben. Entschlossen kletterte sie über einen der Schuttberge.[/LEFT] [LEFT]„Modesty! Das ist gefährlich“, hörte sie Percival hinter sich, doch sie gehorchte nicht. Jetzt, wo sie hier war, wollte sie auch richtig suchen.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Ihr Blick glitt über einen halb herabgefallenen Dachbalken, dann sah sie nach oben. Hätte sie sich hier verstecken wollen, sie wäre über den Schutt ins Obergeschoss geklettert. Dahin, wo das Monster das erste Mal aufgetaucht war. Da, wo die Zimmer den wenigsten Schaden genommen hatten. Ihre Füße machten sich wie von selbst an den Aufstieg.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]„Modesty!“[/LEFT] [LEFT]Ein Ploppen, dann noch eines, dann standen sie dort, wo einmal das Ende ihrer Treppe gewesen war. Percival schaute wütend.[/LEFT] [LEFT]„Du kannst hier nicht einfach so herumklettern“, belehrte er sie, „Das ganze Haus wurde stark beschädigt. Im schlimmsten Fall bricht es über uns zusammen.“[/LEFT] [LEFT]Modesty erlaubte sich einen schuldbewussten Blick. Ein Haus zum Einsturz zu bringen, wog offensichtlich schwerer als die Pantoffel zu vergessen.[/LEFT] [LEFT]„Es tut mir leid, Sir“, flüsterte sie und erntete dafür ein schwaches Seufzen ihres Vormunds.[/LEFT] [LEFT]„Ich weiß“, entgegnete er ihr, „Aber Kind, er ist nicht hier und wäre er es, er würde nicht wollen, dass dir etwas zustößt. Lass uns nach Hause gehen. Ich lese dir auch das Märchen von dem Zauberer und dem hüpfenden Topf vor. Du wirst es mögen.“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Modesty schluckte.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]„Ist das eine schöne Geschichte?“, wollte sie schließlich wissen.[/LEFT] [LEFT]Percival bemühte sich um ein Lächeln. „Eine der Besten. Es gibt einen Zauberer und einen magischen Kessel und am Ende muss er seine Meinung revidieren.“[/LEFT] [LEFT]„Was heißt revidieren?“[/LEFT] [LEFT]Percival strich ihr über den Kopf. „Es heißt: Etwas ändern.“[/LEFT] [LEFT]„Dann hat er das geändert, woran er glaubt? Warum?“[/LEFT] [LEFT]„Weil er einsehen musste, dass er Unrecht hat.“[/LEFT] [LEFT]„Und wurde ihm dafür vergeben?“, wollte Modesty wissen.[/LEFT] [LEFT]Percival schien zu überlegen. „Ja“, entgegnete er dann, „Ja, ich denke schon.“[/LEFT] [LEFT]Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Ich möchte die Geschichte gerne hören“, murmelte sie und schmiegte sich gegen seine Hand.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]„Ich auch.“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Modesty blinzelte. Das ergab keinen Sinn. Wieso sollte Percival eine Geschichte hören wollen, die er ihr vorlesen – Vorsichtig blickte sie auf. Ihr Vormund war neben ihr erstarrt und da, in der hintersten Ecke ... „Credence!“, entfuhr es ihr.[/LEFT] [LEFT]Vergessen war die Warnung bezüglich der Einsturzgefahr. Sie rannte über ächzendes Holz, dann warf sie sich dem Jungen um den Hals. Sie strauchelten beide, landeten auf kalte, harte Dielen, doch Modesty blinzelte den Schmerz einfach weg.[/LEFT] [LEFT]„Credence! Credence!“, entfuhr es ihr immer wieder. Er war kalt und er stank, doch das war ihr ganz egal. Sie hatte ihn gefunden. Ihre Schultern bebten und erst da merkte sie, dass sie wieder weinte.[/LEFT] [LEFT]Elf Geschwister hatte sie verloren, aber Credence war zurück gekommen.[/LEFT] [LEFT]Ihr Credence! Ihr Lieblingsbruder![/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)