Die Suche von Crevan (www.die-suche.net) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Man sagte, Ard Skellig sei nicht nur die größte, sondern auch die höchste Insel der Skellige-Inseln. Und daher auch ihr Name. ‚Ard‘, das hieß in der alten Sprache so viel wie ‚Berg‘ oder ‚Spitze‘ und in der Tat sah die imposante Festung des hier herrschenden Jarls so aus, als würde sie am blauen Himmel kratzen. Recht idyllisch lag sie da, hoch eingebettet zwischen massiven Felsen und dichten Wäldern, mit im Wind flatternden Bannern und Wachposten, die von hier aus nicht größer erschienen als Ameisen. Die Seemöwen schrien, ein paar Fischer warfen ihre Angelruten schnalzend aus, irgendwo zog ein beleibter Mann seinen schnaubenden, sturen Packesel über einen knarrenden Steg. Abgesehen davon stank der Hafen von Kaer Trolde nach Fisch und Scheiße. Wahrscheinlich kippten die rauen Menschen, die hier lebten, all ihren Unrat ins Meer. Anna entkam ein verhaltenes Stöhnen, als sie die braunen Augen überfordert niederschlug und von Deck des Schiffes wankte, auf dem sie viel zu viel Zeit verbracht hatte. Die Handelsfähre - deren Kapitän Anna mit einem Beutelchen voller Münzen bestochen hatte, um mitsegeln zu dürfen - hatte Tage gebraucht, um von Cintra nach Ard Skellig überzusetzen. Es war der armen Kurzhaarigen vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit; eine quälende Endlosigkeit, in der man nicht wusste, ob man sich über die frisch gestrichene Reling übergeben oder schlafen sollte, um so wenig als möglich von der verdammten, permanent schaukelnden Reise mitzubekommen. Zu allem Überfluss war die Fähre, die vor allem Handelswaren wie Getreide, Öl und Salz transportiert hatte, in zwei ungnädige Stürme geraten. Oh, ja, beim Unterkleid der Melitele! Drei Matrosen waren während der Unwetter von den salzigen Wellen verschluckt worden und ein halbes Dutzend unvertäuter Lagerkisten waren von Deck geweht worden, als wögen sie nicht mehr als kleine Schächtelchen. Anna hatte schon geglaubt, das Schiff würde an der steilen Küste des Inselarchipels zerschellen wie ein mickriges Holzspielzeug, das von einem dummen Blag gegen einen Stein gedonnert wurde. Doch aus unerfindlichen Gründen hatte man es lebend bis in den großen Hafen geschafft; wenngleich auch nicht ganz unbeschadet... wenn man es denn so nennen konnte. Die Reisende, die nicht mehr bei sich trug, als sie am Körper hatte – ihre Kleidung, ein Bastardschwert, einen Langdolch und einen spärlich befüllten Rucksack – war beachtlich blass um die Nase, als sie ihre flachen Stiefelsohlen endlich, ENDLICH, auf festen Boden setzte. Ihre Beine waren wackelig und ihre kalten, feuchten Hände zitterten noch immer. Oh, wie sie diese beschissenen Schiffsfahrten hasste! Nach wie vor fühlte sich ihr Magen an, als hinge er ihr in den butterweichen Knien. Und noch immer lag ihr ein säuerlicher Geschmack nach Erbrochenen auf der Zunge, denn, nun ja, es war nicht lange her, dass sie den Kopf röchelnd und wüst fluchend in einen der dreckigen Kübel unter Deck der ‚Gloria‘ gesteckt hatte. Gloria, so wusste Anna, war der Name der Frau des Kapitäns des besagten Schiffes. Und genau deswegen hieß auch die Fähre dieses sentimentalen Idiots so. Aber wie auch immer… Anna atmete einmal tief durch und straffte die schmalen Schultern. Sie versuchte ihren flauen Magen zu ignorieren, der sich schon wieder zu verdrehen drohte, und sie ließ den Blick ziellos suchend schweifen. Skellige. Noch nie war die 20-Jährige hier gewesen, hatte die letzten beiden Jahre damit zugebracht durch die Nördlichen Königreiche zu ziehen. Sie war viel gereist, hatte gekämpft, gelernt, geforscht. Und vor allem hatte sie gesucht. Gefunden, das hatte sie aber noch nicht und das frustrierte sie nicht zu knapp. Nur ihr sturer Schädel war es, der sie bis dato davon abgehalten hatte aufzugeben und ihre Pläne schimpfend hinzuwerfen. Nur die eiserne Verbissenheit der wagemutigen Vagabundin war es, die sie davon abhielt zurück nach Kaedwen zu gehen. Der Ausdruck der Frau in Männerkleidung wurde hart, als sie an ihr Zuhause dachte, an Kaer Morhen. Warum genau, das-... nun ja. Es gab vielerlei Gründe und nicht alle davon waren negativ. Und dennoch mutete ihre Miene an wie aus Stein, als sie an Balthar, Vadim und Jaromir dachte. An ihre ‚Familie‘. Also natürlich waren die genannten Drei nicht ihre leibliche Familie. Nein. Sie waren besser. Diese drei Hexer der Wolfsschule – oder auch ‚Deppen‘, wie die vorlaute Anna sie oftmals neckend bezeichnet hatte – waren ihr lieber als ihre wahren Eltern, die sie früh fort gegeben hatten und ihr später nicht einmal mehr in die Augen hatten sehen können. Die eigenbrötlerischen Männer waren ihre Freunde und Mentoren – besonders Balthar, der sie stets behandelt hatte, als sei Anna sein eigenes Kind. Die Frau konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem es nicht so gewesen war. Der Mann mit dem silbernen Wolfsmedaillon hatte sie durch das Gesetz der Überraschung 'gewonnen', als Preis dafür, dass er ihrem leiblichen Vater, einem heruntergekommenen novigrader Fischer, das erbärmliche Leben gerettet hatte. Ein Dutzend fauchender Ertrunkener hatte Balthar erschlagen und den blutig gebissenen Fischersmann sicher nach Hause gebracht, in der Hoffnung irgendwelche Dinge von Wert zu erhalten. Hexer waren eben so. Doch stattdessen hatte er es mit einem ganz anderen Kaliber von Belohnung zu tun bekommen: Einem Kind. Und er hatte jenes dann auch großgezogen, so gut er hatte können. Dies innerhalb der Mauern der Festung der Wolfsschule, einer Zunft der verschrienen Hexer. Man hatte Anna trainiert, unterrichtet, ihr vielerlei beigebracht und sie behandelt wie einen Jungen, den man für das raue Leben eines magiewirkenden Mutanten vorbereitete. Denn an anderweitigen Optionen hatte es schließlich gefehlt. Hexersleute waren Krieger, Trankmischer, und Monsterjäger, keine Klosterschwestern oder Ammen, die kleine Mädchen zu braven und gelehrten Frauen erzogen. Und die burschikose Anna war heilfroh darüber. Ihr Leben in Kaer Morhen war ab und an sehr hart gewesen, doch bis in das Erwachsenenalter hatte sie es geliebt. Das, obwohl sie es stets stark bedauert hatte, dass sie nicht so sein konnte wie ihre katzenäugigen Kumpanen, die allesamt die Kräuterprobe hinter sich gebracht hatten, um echte Hexer zu werden. Vadim, Balthar und Jaromir hatten ebenso in den Kinderschuhen trainiert, waren früh abgehärtet worden und ihnen war am Ende eine alchemistische Behandlung zuteil geworden, die ihre Körper hatte mutieren lassen. Stärker waren die Männer geworden, schneller, besser. Etwas, das nicht funktionierte, wenn man eine Frau war, denn die Kräuterprobe war in dem Fall ein Todesurteil. Leider. Es ärgerte Anna; es hatte sie schon immer zornig gemacht, wenn ihr Ziehvater sie dahingehend belehrt hatte. Und es hatte sie in Kaedwen auch immer mies gelaunt gestimmt, weil man sie in gewisser Weise und viel zu oft mit Samthandschuhen angefasst hatte. Doch abgesehen davon- Ach... Diese Zeiten waren vorbei. Mit ihrem plötzlichen und unangekündigten Verschwinden vor zwei Jahren hatte sich die impulsive Anna dagegen entschieden weiterhin in der Obhut der Wölfe zu bleiben und in Kaer Morhen behandelt zu werden wie ein rohes Ei. Mit ihrer ‚Flucht‘ aus dem Nest hatte sich die starrköpfige Kämpferin für ein einsames Leben und das Reisen entschieden, dafür, dass sie ihre dreiköpfige Familie vielleicht nie wieder sehen würde. Nie wieder? Ja, vielleicht. Und genau dieser vagen Annahme wegen verrutschte die Miene der jungen Frau in diesem Moment, wurde zu einer starren Maske aus Eis. Hatte sie einen Fehler gemacht? Sie wusste es nicht. Kapitel 1: Ein Gegner der anderen Art ------------------------------------- Anna haute dem Wirt geräuschvoll zwei Silber auf den Tisch und sah ihn erwartungsvoll an. Der dickliche Kerl mit der befleckten Schürze schnaubte grimmig-zufrieden und nickte daraufhin in die Richtung der abgetretenen, hölzernen Treppe, die vom Schankraum aus in das obere Stockwerk des Gebäudes führte. „Das letzte Zimmer rechts. Ganz hinten.“, nuschelte der Tavernenbesitzer des ‚Gelben Karpfens‘ mit den Pockennarben und dem markanten skelliger Akzent. Seine dunklen, grau melierten Haare klebten ihm strähnig am Kopf und sein Vollbart sah auch nicht minder appetitlich aus. Aber sei’s drum. Anna hatte schon Schlimmeres gesehen und an heruntergekommeneren Orten geschlafen. Wenn es sein musste, rollte sie sich auch irgendwo im feuchten Unterholz zusammen. Ein Gästezimmer in einer großen, warmen Hütte war dagegen doch quasi der reinste Luxus, nicht wahr? Erst recht bei den momentanen Witterungsverhältnissen. Es wurde Winter. „Danke.“, entkam es der braunhaarigen Frau mit gespielter Freundlichkeit. Der Wirt ließ den Blick beiläufig zu dem Schwert schweifen, das sie bei sich trug. Es war ein normaler Eineinhalbhänder aus Stahl, nichts Besonderes. Mit einem Knauf, der einen Wolfskopf darstellte, schmiegte sich die Waffe in einer ledernen Scheide an die eines Silberdolches, der kaum eine Elle lang war. Und natürlich blieben die glotzenden Augen des Schankwirtes auch an dem Medaillon hängen, das sich die Frau in der rot-schwarz gestreiften Jacke an eine der Gürteltaschen gebunden hatte: Einem Wolfskopf mit aufgerissenem Maul, einem Zeichen ihrer Zunft, wenngleich auch nur symbolischer Natur. Sie war keine Hexerin, denn Frauen gab es unter jenen nicht. Doch das musste ja niemand wissen. Sollten die Fremden doch denken, was sie wollten. „Könnt Ihr mir sagen, wo ich einen eurer Druiden finde?“, erkundigte sich Anna und zog damit die wackelige Aufmerksamkeit des dicken Wirtes auf sich zurück. Sie ahnte nicht, wie naiv sie damit klang. „Es ist wichtig.“, fügte sie vielsagend hinzu und wartete hoffnungsvoll ab. Dies mit den Händen auf dem Tresen, als müsse sie sich gerade irgendwo festhalten. Ja, es war wichtig. „Druiden.“, wiederholte der Mann langsam und legte die fettig glänzende Stirn in Falten. Er fuhr sich mit der einen Hand durch den schmierigen Bart und seine Augen wichen nachdenklich gen Zimmerdecke. „Aye. Haben wir. Aber nicht hier.“ Anna schwieg. „Weit im Osten sind die. Irgendwo in oder um Gedyhe oder so.“, kam es dann etwas ausführlicher aus dem Mund der Augenweide. Anna hob die schmalen Brauen schwach an, holte Luft, um zu sprechen, doch hielt inne. Sie zog die Stirn kraus, nickte dann äußerst zögerlich. Mit ‚Osten‘ konnte sie etwas anfangen. Mit ‚Gedyhe oder so‘ nicht, doch sie würde sich einfach durchfragen. So, wie sie sich auch die letzten zwei Jahre über immer und überall durchgefragt hatte. Anfangs hatte sie dies nahezu weltfremd getan, war sie ja auch zum ersten Mal außerhalb ihres Zuhauses ganz allein auf sich gestellt gewesen. Doch mittlerweile wusste die 20-Jährige, wie man sich anderen Menschen gegenüber einigermaßen angemessen verhielt und sich nicht ganz zum Idioten machte. * Anna hatte sich nicht lange im Hafen von Kaer Trolde aufgehalten, bevor sie aufgebrochen war, um gen Osten zu reisen. Eine einzige Nacht hatte sie in der stickigen Taverne des fetten Wirts verbracht, bevor sie sich schon dazu entschlossen hatte zu gehen. Schließlich kosteten Zimmer in Gasthäusern Geld. Und die Novigraderin hatte keinen Münzen-scheißenden Esel. Ihr kümmerliches Erspartes neigte sich langsam dem Ende zu. Also hatte sie sich vor knapp sechs Tagen auf den Weg gemacht, um das besagte ‚Gedyhe oder so‘ zu finden. Sie hatte die breite Handelsstraße in Richtung Süden genommen, hatte dann den Weg nach Blandare eingeschlagen. Das war ein kleines Kaff inmitten von Ard Skellig, abgeschnitten vom weiten Meer. Die hier Ansässigen verdingten sich hauptsächlich durch die Zucht und den Verkauf von Schafen und deren Erzeugnissen. Auch eine Mine befand sich in der Gegend. In der ziemlich faden Gegend, wohlgemerkt. Langweilige Orte waren für jemanden wie Anna schlecht. Denn in ihnen konnte man kein Geld machen, indem man Ungeheuer jagte, weil es jene dort meistens nur sehr selten gab. Lediglich durch das Schummeln beim Kartenspielen oder beim Wetten mit viel zu betrunkenen Tavernengästen konnte man sich regelmäßig das ein oder andere Kupfer verdienen. Das reichte nicht. Anna entkam ein genervtes Seufzen und sie verdrehte die Augen, als sie ihrem Gegenüber eine Silbermünze zuschnippte. Sie lehnte sich auf dem knarrenden Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete Bjorn kritisch. Er war ein stämmiger Kerl aus der Gegend, hatte rostbraunes Haar und einen geflochtenen, geölten Bart, der ihm bis zum Bauch reichte. Generell, befand die Frau aus Kaer Morhen, legten die stolzen Skelliger viel Wert auf ihre dichten Gesichtsbehaarungen. Manche von ihnen flochten in jene sogar Metallschmuck oder Holzperlen ein. „Das war reines Glück.“, brummte die Kurzhaarige pikiert und der Mann, der ihr in der lauten Schenke gegenüber saß, lachte. Er hatte ein ziemlich donnerndes Organ, doch klang herzlich und wohlwollend. Im Hintergrund sangen ein paar Leute laut, falsch und mit Begeisterung versaute Lieder über Weiber mit hüpfenden Brüsten und die Bedienung hatte alle Hände voll zu tun. Der Geruch von frischem Schweinebraten, Klößen und Bier lag in der Luft, vermischte sich mit dem pikanten Gestank nach Schweiß und altem Waffenöl. „Man nennt mich nicht umsonst den Gwent-Meister aus Blandare, Mädchen!“, klärte der Kerl mit dem rot karierten Schulterüberwurf schmunzelnd auf und Anna verkniff sich ein weiteres Augenrollen. Stattdessen verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem gezwungenen Grinsen. Ein Ausdruck, der ihre Augen nicht erreichte. Oh, sie war eine Närrin. Solch eine Närrin! Sie hatte beinah ihr letztes Geld verspielt und- Ein lautes Poltern ließ Anna aufblicken und instinktiv setzte sie sich gerader hin, spannte die Glieder an und ließ die Hand an das Dolchheft an ihrem Gürtel wandern. Ihr alarmierter Blick fiel sofort auf einen Hünen, der soeben einen weiteren Kerl durch das halbe Gasthaus bugsiert hatte. Geworfen hatte er den armen Narren und wischte mit ihm soeben die Essensreste vom abgegriffenen Tisch nebenan. Ein paar der Gäste erhoben sich und gafften, wenige unter ihnen wichen gar ab. Und die breit gebauten Kerle mit den Äxten an den Gürteln, so wie auch Bjorn einer war, blieben sitzen, lehnten sich gelassen zurück und sahen aus, als wollten sie sich das Schauspiel, das sich ihnen bot, in aller Ruhe beobachten. Einige von ihnen lachten rau, schlugen begeistert auf die klebrigen Tischplatten oder stampften mit den Füßen am dreckigen Holzboden auf, dass es nur so rumste. Denn wenn es noch etwas gab, das Skelliger neben ihren dichten Bärten gerne mochten, dann waren das beherzte Schlägereien. Und diese Auseinandersetzungen sahen hierzulande ein wenig anders aus als die, die Anna in den Nördlichen Königreichen miterlebt hatte. In Skellige, da brüllte man Kontrahenten zwar genauso barsch an, bevor es zu einem Kampf kam; man riss die Fäuste hoch und maulte ebenso großkotzig und ordinär herum wie in Novigrad, Cintra oder Brugge. Doch in einem unterschieden sich die Krieger des Inselarchipels eindeutig von den Rittern aus Toussaint oder den verschwitzten Söldnern in Oxenfurt: Sie schlugen zu wie wahrhaftige Bären und hielten so viel aus, wie zwei starke Krieger der Novigrader Stadtwache zusammen. Sie bellten wie aufgebrachte Kampfhunde, doch am Ende vertrugen sie sich zumeist und tranken für jedes blaue Auge, jede gebrochene Nase oder jeden ausgerenkten Arm einen gut gefüllten Humpen Bier. Zusammen, wohlgemerkt. Anna musste schief lächeln. Sie mochte Skellige. Die beiden ruppigen Kneipenschläger hatten kaum einen Tisch umgeworfen und es hatte sich auch noch kein Dritter in die laute Auseinandersatzung eingemischt, da donnerte die Stimme der Tavernenbesitzerin durch die Schenke. Und, bei den Schöpfern, sie war zwar eine Frau, doch was für eine! Sie war stämmig, mit Händen, wie ein Holzfäller. Und Anna war sich sicher: Würde die rassige Dame mit der befleckten Schürze und dem Geschirrtuch über der Schulter es so wollen, könnte sie Schädel unter ihren dicht behaarten Achseln spalten. Sie müsste nur einen der Streithähne hier in den Schwitzkasten nehmen und ihre speckigen Oberarme würden jenem schneller den Garaus machen, als ein zorniger Waldschrat einem verirrten Wanderer pickende Raben entgegen schickte. „Sven!“, blaffte die ruppige Frau und sofort schien das gesamte Geschehen in der geschäftigen Stube still zu stehen. Die zwei prügelnden, schwitzenden Skelliger – der eine über den anderen gebeugt, während eben jener die Hand nach der Gurgel des Ersteren ausgestreckt hatte – stockten in ihren Bewegungen. Die übrigen Gäste verstummten und die einzigen Laute, die man noch von ihnen vernehmen konnte, waren ein verhaltenes Husten hier, ein Räuspern da und ein vernehmliches Rülpsen aus einer der Tavernenecken. „Schert euch gefälligst raus! Was glaubt ihr denn, wo ihr seid?“, beschwerte sich die Holzfällerfrau lautstark und gestikulierte bedrohlich mit einer Schöpfkelle, die vor einer undefinierbaren, braunen Soße nur so triefte. „Wenn ihr euch prügeln wollt, dann tut das bei Halmar, aber nicht hier!“, krähte die Besitzerin des Hauses weiter und ihr Mann, ein eher schmächtiger Kerl, der soeben hinter dem schiefen Tresen hervor lugte, sah verunsichert in die Runde. Und, oh, die Standpauke wirkte! Wie getreten zogen die Streithähne gleich von Dannen, etwas von ‚Halmar’s Teilnahmebeträgen‘ brummend und darüber schimpfend, dass man ‚sich in keinem guten Gasthaus hier mehr prügeln dürfte‘. ‚Halmar’s Teilnahmebeträge‘ waren Preise, die man bezahlte, um bei den beliebten Straßen- und Grubenkämpfen mitzumachen. Nachdem die beiden Hünen, die sich die Fressen polieren hatten wollen, die kleine Taverne verlassen hatten, hatte sich Anna bei 'Gwent-Meister' Bjorn danach erkundigt. Interessiert hatte sie nachgehakt, denn es hatte ihr keine Ruhe gelassen. Die Vagabundin, die ganz versiert war, wenn es um den Faustkampf ging, hatte sich ja erhofft, dass der besagte Halmar Leute um Geld kämpfen ließ. Ja, sie war nahezu vorfreudig gewesen, als sie ihren Karten-Gegenspieler danach gefragt hatte. Es war nämlich nicht nur so, dass sie sich solche Straßenrangeleien ganz gerne ansah, sondern sie nahm auch ab und an an ihnen teil. Die Monsterjagd und das Kartenspielen waren nicht die einzigen ‘Handwerke’, die einem klimpernde Münzen einbrachten. Und Geld, das hatte die Kurzhaarige aus Kaer Morhen bitter nötig. Sie bräuchte es dringend, um die kommenden, kalten Nächte nicht in der Gosse schlafen zu müssen. Auch war sie sich selbst zu viel wert, als dass sie mit irgendeinem Mann anbandelte, um in dessen Bett übernachten zu können. Ja, wer und was war sie denn, dass sie je auf solch einen widerlichen Mist zurückgreifen würde? Eine Hure? Nein. Balthar, Anna’s Ziehvater und Mentor, hatte sie stets vor gierigen Kerlen mit Fieberbläschen und Sackläusen gewarnt und ihr beigebracht sich weit über diese lüsternen Menschen zu erheben, die einen stets nur ausnutzen wollten. „Wölfchen.“, hatte Balthar früher einmal begonnen, nachdem das 12-jährige Mädchen ihn irgendwann schüchtern auf die ihr so fremde Männerwelt angesprochen hatte. Sie hatte ihn ganz unschuldig gefragt, wann man es merken würde, dass es so weit war, dass man sich einem Mann hingeben könnte. Oder einer Frau. „Wölfchen, man kann so etwas nicht festlegen. Wenn es so weit ist, dann ist es eben so weit und dann wirst du es merken.“, hatte der Mann mit den unnatürlich goldfarbenen Augen lasch gebrummt, war Anna’s neugierigen Blick dann aber missmutig ausgewichen. Er hatte nach Worten geklaubt, das hatte man dem Langhaarigen angesehen, und er war sich mit der Hand unruhig über das unrasierte Kinn gefahren. Ein tiefes Seufzen war ihm entfleucht. „Aber bevor du mir mit irgendeinem Kerl mitgehst-… ach.“, Balthar hatte dies ausgesprochen, als käme es ihm zäh, wie Kiefernharz über die Zunge „Dann tu das nicht mit jedem dahergelaufenen. Hörst du? Und überlege es dir sehr, sehr gut, denn die meisten Typen lügen, dass sich die Balken biegen, und sie sind gemein.“ Das unerfahrene Mädchen hatte das damals nicht sofort verstanden. Doch sie hatte auch nicht weiter nachgefragt, war ohnehin schon rot wie eine Tomate gewesen. Anna hatte den Blick peinlich berührt gesenkt und sich am Hinterkopf gekratzt, als sie es bereut hatte Balthar nach den Männern gefragt zu haben. „Wenn es mehrere Kerle gibt, die dich interessieren, dann sei sehr wählerisch. Suche dir zuerst die gepflegten aus. Und von ihnen nehme die, deren Kleidung und Häuser auch schön sind.“, hatte Balthar etwas widerwillig gemeint. Sein unzufriedener Unterton hatte dabei aber verraten, dass ihm der stechende Gedanke nicht gefallen hatte, dass Anna, SEINE Anna, auch nur mit irgendeinem Mann mitging. Ja, so war das gewesen. Und von den Frauen hatte er nicht gesprochen. Die waren in seinen Augen nämlich immer in Ordnung gewesen, schön, wohlriechend, weich und eine bessere Option für Beischlaf, als Kerle. Warum, darüber hatte er das betretene Mädchen mit dem Jungenhaarschnitt dann auch noch im Detail aufgeklärt. Er hatte sich vermutlich dazu gezwungen gefühlt und aus Ermangelung einer weiblichen Bezugsperson war er es gewesen, der es seinem ‚Wölfchen‘ erklärt hatte, wie das mit den Bienchen und Blümchen funktionierte. Und dass man als Blümchen ganz schnell schwanger und damit arbeitsunfähig wurde, wenn man nicht gut aufpasste. Dass man sich dann ein schreiendes, blutverschmiertes Kind aus dem Schoß pressen musste und daran sogar sterben konnte. Gruselig. Der kleinen Anna waren die Tränen gekommen, als sie sich dies bildlich vorgestellt hatte. Nächtelang hatte sie der besagten Sache wegen schlecht geschlafen. Als es wenige Jahre später dann ‚so weit‘ gewesen war, hatte sich die junge Frau dann nicht den hübschesten Mann mit dem schönsten Haus ausgesucht, sondern war mit der kichernden Tochter eines Bauern aus Ban Ard auf dessen Heuboden gelandet. Jener Magd mit den blonden Zöpfen waren dann ab und an noch andere Frauen gefolgt: Händlerinnen, Wäscherinnen, irgendwelche betrunkenen Tavernenbesucherinnen, deren Namen Anna am nächsten Tag schon wieder vergessen hatte. Einmal, da war sogar eine fahrende Freya-Novizin aus Hindarsfjall dabei gewesen, eine angehende Priesterin. Was all diese Bettgeschichten anging, hatte die burschikose Anna ihren drei Lehrern aus Kaer Morhen in nichts nachgestanden und obwohl sie auch Männern gegenüber nie abgeneigt gewesen war, hatte sie es nie mit jenen versucht. Balthar hatte dahingehend einfach ein zu wachsames Auge auf sie gehabt und später war für derlei Dinge einfach keine Zeit mehr geblieben. Jedenfalls redete sich die Novigraderin das ein. * Das Geschrei von vielen, begeisterten Männern und Frauen war schon von weitem zu vernehmen. Jubelrufe drangen an Anna’s gespitzte Ohren heran, als sie sich einem kleinen Platz unweit Blandare näherte. Sie hatte den kalten, windigen Tag damit zugebracht ein paar Informationen über die große Insel einzuholen, gedankenverloren über den kleinen Markt zu spazieren und die verwitterte Anschlagtafel des verschlafenen Dorfes zu studieren. Sie hatte darauf sogar zwei Aufträge entdeckt, die die Fähigkeiten eines Hexers erforderten. Ja, tatsächlich, und einer davon wäre auch für sie schaffbar. Also eventuell. Schließlich war sie zwar unter Hexern aufgewachsen, doch sie selbst war kein Mutant, der magische Zeichen sprechen oder stärkende Gifte trinken konnte. Sie war viel schwächer, als die Katzenäugigen, nutzloser und eine einfache Mietklinge mit Hintergrundwissen über Biester und Tränke. Aber nun ja… dafür hatte die Schwertkämpferin einen ganz schön harten Starrkopf und einen unsäglichen Ehrgeiz. Und daher wollte sie es einfach einmal versuchen, hatte den Auftrag mit dem Gesuch einen ‚Drachen‘ zu töten vom Schwarzen Brett gerissen und ihn sich in die Hosentasche gesteckt. Dabei hatte sie amüsiert geschmunzelt, mit einem Anflug von Abfälligkeit im Gesicht. Denn um einen Drachen ging es hier bestimmt nicht. Drachen waren verdammt selten. Und wahrscheinlich handelte es sich bei dem Schuppentier, das sich regelmäßig an den zotteligen Schafen und meckernden Ziegen eines Bauers namens Lars Filharven bediente, um einen Gabelschwanz oder eine Flugschlange. Man würde sehen. Nun, am frühen Abend, zog es Anna aber erst einmal zu Halmar, dem Mann, der auf Skellige regelmäßig eine Art Faustkampf-Wettbewerb veranstaltete. Die Regeln waren dabei simpel: Man warf etwas Geld in einen kleinen, bauchigen Tontopf, forderte die besten Kämpfer in drei verschiedenen Ortschaften heraus, gewann, wurde damit zum Champion der Inseln und bekam einen Großteil der Münzen, die in dem Wettkampf-Pott lagen, als Preis. Letzterer lockte die Frau in der schwarz-roten Jacke an, denn sie hatte Geld mehr als nur nötig. Ein paar Kupfer waren das Einzige, das sie noch besaß und wenn sie den ‚Drachen von Blandare‘ nicht zeitnah erlegen würde, dann hätte sie bald ein unsäglich großes Problem. Das Leben als Reisende war eben hart. Also zwängte sie sich zwischen den Schaulustigen am Kampfplatz hindurch, schob sich ächzend an zwei lachenden, bärtigen Betrunkenen vorbei. Anna rümpfte die Nase angeekelt, als sie deren Alkoholfahnen und den Gestank nach altem Pfeifentabak roch. „Ja! Hau ihm die Visage ein!“, bellte ein dicklicher Kerl mit braunem Pelzüberwurf derweil und hob das massive Trinkhorn so ruckartig in die Höhe, das man sein Bier überschwappen sah. Gerade noch so schaffte es die arme Novigraderin dem spritzenden Schaum auszuweichen und fluchte leise dabei. „Fischfresse! Fischfresse!“, jubelte ein anderer Landsmann, durchbrochen von ständigen Ooohs und Aaahs, Buh-Rufen und Gelächter. Auch Frauen waren anwesend und zeigten sich ähnlich begeistert, wie ihre Nachbarn des Dorfes. Halmar’s Kämpfe schienen hier wirklich die einzige Attraktion zu sein, was? „Felseeen!“, rief ein Mann heiser, klatschte in die großen Hände und feuerte damit wohl den Gegner von ‚Fischfresse‘ an. Äußerst kreative Namen, wie Anna fand. Die Hexerstochter schob sich an ein paar letzten Leuten vorbei und hob den neugierigen Blick dem kreisrunden Platz entgegen, auf dem sich soeben zwei Männer schlugen. Der eine war sehnig und blass, groß, über und über voll mit Dreck. Er trug nur eine alte Lederhose und wadenhohe Stiefel. Seine blauen Augen waren unnatürlich hell und gaben ihm einen seltsam glotzenden Blick, der an den eines Fisches erinnerte. Man musste nicht lange raten, um zu wissen, dass ER derjenige war, der den schmeichelhaften Spitznamen ‘Fischfresse’ trug. Der zweite Kämpfer in der grünen Tunika war etwas kleiner, als der schlaksige Mann mit den Fischaugen, doch wachsamer und standfester als der Halbnackte, das sah man sofort. 'Felsen' nannte man den mit den kurzen, schwarzen Haaren all den Jubelschreien zufolge. Warum man das auch immer tat, denn wie ein Steinbrocken sah er wirklich nicht aus. Eher, wie ein gut frisierter Schönling mit Dreitagebart, der sich sonst zu gut zum Kämpfen war und seine Kleider nicht beflecken wollte. Anna runzelte die Stirn kritisch, reckte den Hals angestrengt, um besser sehen zu können, und wartete gespannt ab. Es dauerte auch nicht allzu lange, da schaltete Felsen den Blauäugigen mit einem Ellbogenschlag in die Fischfresse aus und bescherte dem Großen ein paar unschöne Zahnlücken mehr: Er fuhr herum, hob zu. Der Fisch japste, kippte nach hinten um, wie ein Brett und die Zuschauerschaft grölte dieses ulkigen Szenarios wegen erheitert. Selbst Anna ertappte sich dabei bei dem Anblick amüsiert aufzulachen und heiter in die behandschuhten Hände zu klatschen. Ein dritter Mann kam nun auf den teils matschigen Kampfplatz, auf dem all das Gras bereits platt getrampelt worden war. Hier und da bedeckte Blut den Boden, doch niemand störte sich daran. Der besagte Fremde kam zu dem schwer atmenden Felsen, erwischte jenen barsch am Handgelenk und riss dem Dunkelhaarigen mit dem schiefen, stolzen Schmunzeln und einem blau geschlagenen Auge die Faust in die Luft. Wieder brachen die Zuseher in tosendes Gejubel aus und Fischfresse, der benommen stöhnte und lallend nach seiner Mutter fragte, wurde aus dem Sichtfeld geschleift. „Und der Gewinner der Kämpfe Blandare’s ist Felsen! Er wird sich mit den Champions von Kaer Muire und Rannvaig messen!“, brüllte der untersetzte Fremde am Kampfplatz mit nasaler Aussprache. Wahrscheinlich war das Halmar, der Veranstalter der aufregenden Prügelei hier. Er holte Luft, um noch etwas zu verkünden und ließ den Arm des abgekämpften Kerles neben sich los, doch er kam mit seiner Ansage nicht weit. Denn Anna mischte sich dreist ein. “Ich will gegen ihn kämpfen!“, forderte sie übereilig und stolperte beinah auf den Platz, trat in den schmatzenden Schlamm "Also gegen Felsen!" Ein tiefes Raunen ging durch die versammelte Menschentraube. Felsen starrte verdattert in die Richtung der Novigraderin, blinzelte irritiert. Halmar – oder wer auch immer der blonde, bärtige Mann in dem braunen Lederwams war, der hier den Ansager mimte – stockte in seinem Tun und verengte die Augen genervt. Der Wind pfiff durch die unweiten Tannenwälder, brachte die hohen Baumkronen zum Brausen und es roch nach Schnee. Eine kurze Stille kam auf. Eine, die der Sprecher gleich entnervt brach. „Die Kämpfe sind vorbei, Mädchen!“, entgegnete er und stemmte sich eine Hand in die Seite. Seine kleinen Schweineaugen taxierten Anna und die Frau spürte, wie sich auch die interessierten Blicke der versammelten Meute unangenehm stechend an ihren Nacken hefteten. Eine klamme Atmosphäre legte sich über die vielen Köpfe der Anwesenden und die kühle Luft erschien aberplötzlich so dick und schwer, dass man sie hätte schneiden können. Eine prekäre Situation. Anna durchbrach sie nervös und mit herrischen Worten. „Lasst… lasst mich gegen ihn kämpfen!“, schnappte sie und deutete mit dem Kinn in die Richtung des Gewinners im bestickten Gewand in Grün. Beiläufig klaubte sie dabei ihre lederne Geldkatze hervor und warf sie Halmar vor die Füße. Es war ein klimpernder Köder, wenngleich nicht sonderlich schwer, der den hässlichen Veranstalter der Wettkämpfe schließlich anbeißen ließ. “Oh…”, machte das Arschloch mit erhobenem, überraschtem Ton und zuckte die Achseln “Na, wenn das so ist…” “Was...?”, keuchte der noch etwas atemlose Felsen, der vermeintliche Gewinner der Blandarer Straßenprügeleien, ungläubig und verengte die dunklen Augen zu skeptischen Schlitzen. Er schien nicht kapieren zu wollen, dass er nun, da er sich doch längst als glorreicher Sieger bewiesen hatte, noch einmal kämpfen sollte. Und das auch noch gegen eine vorlaute Frau aus dem Ausland. Ein paar der Zuschauer lachten belustigt auf und gafften gespannt. Halmar warf dem Schönling mit dem blau unterlaufenen Auge bloß einen halbherzig entschuldigenden Blick zu und machte daraufhin schon Anstalten Anna’s fleckigen Geldbeutel aufzuheben. Felsen murrte unzufrieden, als er dies sah, und musste den Kopf langsam schütteln. Seine neue Kontrahentin aus den Nördlichen Königreichen grinste triumphierend und überließ dem geldgeilen Veranstalter des Spektakels hier ihre letzten paar Münzen. Dann stolzierte sie selbstsicher auf den Kampfplatz, zog sich die wattierte Jacke aus und warf sie lieblos zur Seite fort. Ihre Handschuhe folgten, ehe sie sich die Ärmel hochkrempelte und dabei die tätowierten Arme entblößte. Jene waren bunt, zum einen mit einer springenden Katze und kreativem Beiwerk, und zum anderen mit einem ausgeschmückten Pfeil versehen. “Also dann!”, lächelte Anna breit, schlug sich mit der Faust in die Handfläche und erntete dafür einen wenig begeisterten Blick seitens Felsen. Er hasste sie jetzt schon, so schien es. Gut. So würde er nämlich aufrichtig kämpfen und die Kurzhaarige nicht behandeln, als sei sie ein Mädchen. Also, sie war theoretisch eines, ja. Aber nicht so. “Ja, möge der Kampf beginnen!”, tönte Halmar glucksend und klatschte zweimal laut in die Hände, bevor er zurückwich, um seinen Kämpfern nicht im Weg zu stehen. Man konnte sich kaum versehen, da stob Anna vor, um ihren etwa gleich großen Gegner im Nahkampf zu bedrängen. Es dauerte lange, bis Felsen einen ordentlichen Treffer landete, doch dieser rechte Haken hatte es in sich. In den vergangenen, adrenalingeladenen Augenblicken hatte der Mann einige harte Hiebe Annas eingesteckt oder abgewehrt. Er hatte Fäuste oder Knie mit dem Körper abgefangen und dabei auffallend wenig gejammert. Und er hatte die Unterarme flink hochgerissen, um die seiner Gegnerin gekonnt nach außen hin fort zu schlagen oder sein Gesicht zu schützen. Dennoch: Der Skelliger hatte Mühe damit einen sicheren Stand zu wahren und hatte viel Blut an einem Mundwinkel kleben. Er spuckte rot aus, als Anna, getroffen von einer seiner Fäuste stöhnend rücklings taumelte. Beinah fiel sie, fing sich gerade noch so. Überwältigt ächzte die Frau, sah für wenige, tiefe Atemzüge lang weiße, hektische Pünktchen in ihrem engen Sichtbereich herumtanzen und ihre Augen flimmerten. Der drückende Schmerz trieb ihr Tränen in jene. Sie hörte den eigenen, pochenden Puls in den Ohren rauschen und die lauten Zurufe der ringsum versammelten Menschen entfernten sich, wurden unheimlich dumpf. So, als habe man Anna’s Gehör just dick in Watte gepackt. Es fühlte sich an, wie eine Ewigkeit, doch tatsächlich waren es nur Sekunden. Schnell fand die Kämpferin, die die Zähne zusammenbeißen musste, wieder einen guten Stand. Sogleich ging sie wieder in die direkte Offensive, versuchte die Verteidigung Felsens wütend schreiend zu durchbrechen und bekam langsam eine Ahnung davon, woher dessen Spitzname rührte: Man kam kaum an seine wunden Punkte heran. Und wenn, dann ertrug er alle Hiebe, als sei er eine dicke, harte Steinmauer, gegen die man vergebens schlug. Doch Anna würde sich davon nicht verunsichern lassen, oh nein! Eher würde sie sich von der nächsten Klippe ins schäumende Meer stürzen, als aufzugeben oder sich wehrlos zu Brei schlagen zu lassen. Felsen mochte vielleicht zäh sein, doch die Novigraderin beherrschte Techniken, mit denen sie es schon noch schaffen würde den ollen Stein zum Bröckeln zu bringen. Schließlich hatte sie ihr Leben lang unter der Fuchtel von Hexern gelernt. Und sie BRAUCHTE das Geld. Würde sie heute gegen den Skelliger im grünen Rock verlieren, hätte sie gar nichts mehr. Das durfte nicht geschehen! Anna’s Hand schnellte ruckartig nach vorn, als Felsen abermals nach ihr schlagen wollte, ergriff ihn am Unterarm und die Kämpferin machte einen Ausfallschritt zur Seite. Der grantig schnaufende Mann fuhr herum, doch zu spät. Die Frau aus dem Ausland trat ihm kraftvoll in die Hacke, zerrte ihn zurück und mit einem erstickten Schrei auf den Lippen stolperte er über ihren Fuß. Mit dem Allerwertesten voran landete er hart am dreckigen, feuchten Grund, keuchte auf und kniff eines seiner Augen zusammen. Aber es schien, als versuche er den Schmerz stur zu ignorieren. Anna wollte abweichen, wurde jedoch sofort am Bein erwischt. Sie wollte treten, aber zu spät, denn ihr Kontrahent aus Skellige rang sie zu Boden. Matsch spritzte und klebte Anna das etwas zu große Leinenhemd an einer Seite so kalt und nass an den Körper, dass sie unwohl erschaudern musste. Felsen legte einen Arm fest um ihren Nacken, drückte zu und würgte sie, hatte die zappelnde Kurzhaarige eisern im Griff und zerrte sie ein Stück weit hoch. Sie, wiederum, schlug um sich und traf den anderen währenddessen irgendwo im Gesicht. Sie beschimpfte ihren sitzenden Gegner, der sie nichts desto trotz im Schwitzkasten hielt, wüst und wurde in dem Zug ein paar unnette Worte über die Profession seiner Mutter los. Felsen hielt sie nurmehr fester und Anna öffnete den Mund für ihren nächsten, notgedrungenen Angriff: Abrupt biss sie zu, in den ungeschützten Unterarm ihres Feindes. Und er ließ sie ob dem tatsächlich los. Endlich! Die beiden Kämpfer wichen voneinander ab, wie aufgescheuchte Tiere. Anna drehte sich zur Seite fort, kam nach Luft schnappend auf die Knie. Felsen rutschte auf dem Hintern zurück und erhob sich verärgert ausspuckend, als er sich den schmerzenden, linken Unterarm rieb. Doch sie beide waren noch lange nicht fertig miteinander. Sie würden kämpfen, bis einer am Boden läge und entweder nicht mehr könnte oder ohnmächtig war. Anna’s Blick war beachtlich finster, als sie die blutende Nase hochzog und sich ein kehliges Husten verkniff. Ihre trockene Kehle brannte. Mit dem einen Arm wischte sie sich über die Nasenlöcher, verschmierte das dickflüssige Blut dabei ungewollt quer über Lippen und Wange. Doch es scherte sie nicht und ihre aufmerksamen Augen fixierten ihren Gegner unablässig. Felsen stand ihr lauernd gegenüber und sah sie mindestens genauso durchdringend an, wie sie ihn. Wie Anna in dem matschbeschmierten Hemd, wirkte auch er erschöpft, doch standhaft; sehr mitgenommen, doch zu hartnäckig und zu starrsinnig, um aufzugeben. Eine kleine, doch arg blutende Platzwunde an der Braue ließ ihm Blut in einem dunkelroten Rinnsal ins Auge laufen und nahm ihm darauf die Sicht. Er zwinkerte angestrengt, doch seinem Blick zufolge half das nicht. Es war eine Situation, in der die sensationslüsterne Zuschauerschaft bereits damit anfing sich zu langweilen. Denn der Kampf dauerte mittlerweile schon viel zu lange und niemand der beiden Kontrahenten bekam dermaßen harte Schläge ab, dass es zu spektakulären Stürzen, gellenden Schmerzensschreien, ekelhaften Verrenkungen oder unschön gebrochenen Gliedmaßen kam. Eine Tatsache, die auch dem nervösen Halmar auffiel. Und sie stieß ihm sauer auf, wie man es gleich bemerkten sollte, denn aberplötzlich trat er zwischen Anna und Felsen, streckte die Arme in einer weiten Geste aus, die die beiden Kämpfer vorerst davon abhalten sollte weiter zu machen. Mit gespielter Begeisterung und einem falschen Lächeln auf den spröden Lippen kündigte er an: „Wie es scheint sind sich Felsen und die Ausländerin ebenbürtig! Wer hätte das erwartet?“, bellte der blonde Mann, der seine allerbesten Zeiten schon hinter sich hatte. Er warf knappe Seitenblicke zu der blutenden Frau, deren Mundwinkel wütend zuckte, und zu dem Mann, dessen Zähne grimmig mahlten. Es ging hier mittlerweile um mehr, als nur um Geld: Um den riesenhaften Stolz der Hexerstochter und den wertvollen Wettkampftitel des Skelligers. Wie zwei aufgehetzte, zornige Raubtiere standen sie sich daher gegenüber, Halmar zwischen ihnen. Die Sonne senkte sich langsam dem Horizont entgegen und der Abend dämmerte. Schon bald würde man Fackeln und Tranlichter brauchen, um den Platz des Geschehens gut auszuleuchten. „Und daher“, verkündete der Veranstalter des heiklen Kampfes weiter „Werden wir ein kleines, hmm, Hindernis für unsere Kämpfer stellen! Eine Zusatzaufgabe!“ Vielsagende Worte, mit denen der nasal sprechende Inselbewohner die Aufmerksamkeit der wenig begeisterten Zuschauer nur mäßig wieder einfing. Er lachte und in seinem Unterton schwang etwas zutiefst Verunsichertes mit. Als handle es sich gerade um eine schlechte Entscheidung, die er aber trotzdem traf, weil er keine andere Wahl hatte. Schließlich ging es ihm doch um die Bespaßung seiner erwartungsvollen Zuschauer und um seinen womöglich guten Ruf. Jenen wollte er klarerweise nicht verlieren. Anna entspannte ihre zu Fäusten geballten Finger etwas, als sie hörte, was Halmar sagte, und sie ließ die Schultern langsam sinken. Anstatt den bösen Blick weiter neben dem sprechenden Kerl vorbei, zu Felsen, zu richten, heftete sie jenen nun direkt auf den verunsichert hüstelnden Halmar. Sie ertappte sich dabei ratlos zu sein und ihre Brauen wanderten langsam, ganz langsam, in die Höhe. Was? Hindernis? Wovon sprach der Blondschopf da? „Was soll das werden, Halmar? Willst du uns veralbern?“, wollte Felsen mit viel Nachdruck wissen und sprach damit die Frage der Novigraderin laut aus “Wenn ja, lass es.” Zum ersten Mal gab der Typ damit mehr von sich, als irgendwelche Kampflaute oder gewisperte Fragen und Anna war überrascht, weil sich die Stimme dieses standhaften Arsches nicht so anhörte, wie die eines Steinbrockens. Sie war angenehm, nicht hart; sogar sympathisch und natürlich skellisch gefärbt. Sie klang zudem so, als spräche hier ein kluger Kerl, kein dreckiger Straßenkämpfer, dem man schon zu oft gegen die Birne getreten hatte. Er besaß gar noch all seine Zähne, die daneben auch noch gepflegt anmuteten. Eigenartig. Planlos und etwas unbeholfen, sah die anwesende Frau mit der blutigen Nase zwischen Halmar und Felsen hin und her. „Lasst die zwei doch eine Münze werfen!“, maulte einer aus dem Publikum spöttelnd, gähnte demonstrativ "Ist sicherlich viel spannender, als sie weiterkämpfen zu lassen!" Ein paar Leute lachten grunzend. Halmar überhörte dies geflissentlich und gestikulierte hektisch in die Richtung zweier Wachen, die da schon die ganze Zeit im Hintergrund herumlungerten und sich mit den Fingern in den Nasen oder zwischen den Zähnen herumpuhlten. „Holt die Endriaga! Na macht schon! Wofür bezahle ich euch denn, hä?“, fauchte er ungeduldig und eine Welle ganz plötzlich beeindruckten Raunens ging durch die zwei Dutzend Schaulustigen. Sie stießen einander aufgeregt in die Seiten, tuschelten verheißungsvoll und tauschten Blicke aus. “Eine Endriaga?”, machte einer. “Unglaublich! Das wird was werden!”, eine andere. “Ich habe noch nie eine Endriaga von nahem gesehen!”, staunte ein dritter. Die einzigen, die hier eher minder begeistert waren, waren die beiden heftig stutzenden Personen, die vor wenigen Augenblicken noch aufeinander eingeprügelt hatten, als ginge es um ihre Leben. Felsen und Anna standen da, wie begossene Köter und starrten Halmar entgegen, als hätten sie sich soeben verhört. Ihre Lippen standen ihnen einen Spalt weit offen und die unheimlich schmerzende Nase oder die blutende Wunde an der Braue erschienen auf einmal als nicht mehr nennenswert; als mickrig kleine Problemchen. Denn… eine Endriaga? Wie jetzt? Hatte man dem Blonden, der seine zwei Handlanger gerade weg scheuchte, um das besagte Monster zu holen, in den Kopf geschissen? Eilig wendete Anna Felsen den perplexen Blick zu und schluckte trocken. Der Mann mit der verzwickten Miene wäre gleich nicht mehr ihr erbitterter Gegner, sondern ihr wertvoller Verbündeter. Und als sie seinen wenig erfreuten Ausdruck sah, wusste sie, dass er ganz genau wusste, was eine Endriaga war: Ein Arachnid. Ein Untier, so hoch wie ein sehr großer Hund und mindestens doppelt so lang. Diese Viecher sahen aus, wie eine Mischung aus Spinnen und irgendwelchen Käfern, hatten harte, glatte Chitin-Panzer und Beine, mit denen sie wuchtig zuschlagen konnten. Die Krieger unter ihnen waren teils stachelbewehrt und hatten Schwänze, die an die Gliedmaße von Skorpionen aus Serrikanien erinnerten. Ihre Panzer waren rot oder lila gefärbt. Ab und an trugen sie auch einen Schimmer von Grün. Im Großen und Ganzen waren diese riesigen Insekten, deren Gift man unter Anderem im Fallenbau verwendete, nicht sonderlich aggressiv. Solange man sich ihnen auf Wiesen und in Wäldern nicht zu weit näherte, ließen sie einen in Ruhe. Dies galt aber, ganz klar, nicht für Exemplare, die man einfing, um sie in Wettkämpfen ruchlos als lebende Trainingspuppen und als Mittel zur allgemeinen Unterhaltung zu missbrauchen. Anna's verblüfftes Gesicht, das zuvor eine komplette Entgleisung erfahren hatte, nahm allmählich einen angewiderten Ausdruck an, als sie Halmar aus verengten Augen fixierte. Sie presste die trockenen Lippen verstimmt zusammen und ballte die geschundenen Hände so fest zu Fäusten, dass ihr die Knöchel weiß hervortraten. Von der Seite aus hörte sie, wie Felsen ein unglaublich verheißungsvolles 'Scheiße' raunte. Ja, Scheiße. Das traf es wohl sehr gut. Kapitel 2: Menschen sind die größeren Monster --------------------------------------------- Die beiden Handlanger von Halmar kamen wieder. Und zwar mit einem Käfig auf Rädern, wie sie sonst nur Sklavenhändler benutzten, um ihre lebende Ware zu transportieren. In dieses knarrende Gefängnis, gezimmert aus dicken Holzplanken und geschmiedeten Eisenstäben, hatte man eine fauchende Endriaga gesperrt. Anna weitete die Augen, als sie das Insekt sah, wich einen Schritt weit zurück. Das Ungeheuer war sehr groß für seine Art und allein dessen gepanzerter Kopf so breit, wie ein Wagenrad. Die beiden sichelförmigen Pranken hatte man dem rot-grün schimmernden Getier mit einem dicken Tau verschnürt. Dies so weit von den starken, schnappenden Kieferzangen entfernt, dass es sich die Fessel nicht abbeißen konnte. Die riesige Endriaga wollte sich im viel zu kleinen Käfig aufrichten, doch schaffte es natürlich nicht. Sie warf sich protestierend gegen die Gitterstäbe und schnarrte verärgert. Sie zeterte, schlug mit dem harten Ende des stachelbewehrten Schwanzes gegen das scheppernde Metall und bekam dafür die Klinge einer Glefe in die Seite gerammt. Anna's Blick fiel sofort erschrocken auf einen von Halmar's Hünen, der schadenfroh lachte und mit seiner langen Waffe nach dem armen Tier stach. Monster. Manchmal fragte sich die Hexerstochter, wer die größeren waren: Ghule, Gabelschwänze, Arachnide, Gruftweiber... oder die Menschen. Die Grenze zwischen ihnen mutete auch heute wieder sehr, sehr vage an. Und während Halmar's Laufburschen die Endriaga in ihrem Käfig auf den Kampfplatz schoben, näherte sich Anna vorsichtig Felsen, der genauso schweigend und sprachlos abwartete, wie sie. Dass die Frau in dem dreckigen Hemd nun neben ihm stand, war eine stumme Geste, ein 'Wir sollten jetzt zusammenhalten' oder ein 'Wir zwei gegen diese wahnsinnigen Arschlöcher?'. Bestimmt verstand der Mann, der sich das langsam gerinnende Blut aus dem Auge wischte. „Liebe Leute! Die Endriaga!“; verkündete der blonde Halmar derweil lachend und breitete die Arme darbietend aus, als er vor dem massiven Käfig daher marschierte und in die gaffende Menge sah. Mittlerweile waren noch andere Schaulustige daher geeilt, auch Kinder, die ganz große Augen machten und wohl am liebsten nähergekommen wären, um das riesengroße Insekt, das man nur hierfür eingefangen hatte, zu beäugen. Jenes blutete aus der verwundeten Seite, doch war keineswegs geschwächt, eher angestachelt. Normalerweise war es so, dass Endriagen mit ihren Angriffen auf sich warten ließen. Sie drohten eher, anstatt sich blindlings auf Menschen zu stürzen, die gar nicht zu ihrer Beute zählten. Ja, sie fauchten, schnatterten böse und hoben ihre scharfen Zangen und Schwanzenden demonstrativ empor. Sie machten sich groß, richteten sich auf und knurrten verheißungsvoll. Doch bis eines der langen Insekten angriff, dauerte es. Man musste es schon sehr aufwiegeln, einem Nest zu nahe kommen oder zuerst zuschlagen, um attackiert zu werden. Anna hatte sich vorhin ja noch die Hoffnung gemacht das spinnenbeinige Untier irgendwie beschwichtigen zu können, Abstand zu nehmen und es dann weglaufen zu lassen. Sie hatte es laut schreiend fortscheuchen wollen, zurück zu seinen Gleichgesinnten. Nicht, weil sie große Angst davor hatte gegen eine Endriaga zu kämpfen - sie hatte schon viel schlimmere Monster erlegt. Doch sie hatte in die Defensive gehen wollen, weil sie sich hier sehr nah am Dorfrand von Blandare befanden. Ein wütender Riesenkäfer war also ein enormes Risiko. Auch für all die Zuschauer, die lieber neugierig glotzten anstatt sich in Sicherheit zu bringen. Diese erbärmlichen Narren. Die Hoffnung darauf den verletzten Arachniden einfach fort zu scheuchen, damit er zurück zu seinesgleichen eilte, war also dahin. Und es stand fest: Anna und ihr neuer Kampfgefährte aus Skellige würden gegen die aufgebrachte Endriaga kämpfen müssen, so oder so. Sie hatten keine Wahl, wenn sie die Leute ringsum beschützen wollten. Sie müssten das bemitleidenswerte Monster Halmars wahrscheinlich töten. „Ist das da“, Anna nickte in die Richtung des Insektenkäfigs, vor dem sich Halmar groß aufspielte, und linste dabei aus dem Augenwinkel zu Felsen hin „Normal für die Gegend?“ Eine berechtigte Frage. Schließlich waren die westlichen Inseln rauer als andere Länder. Die Menschen waren barscher, die Viecher bulliger, die Monstren schrecklicher. Womöglich war es ja gewöhnlich, dass die Endriaga da vorn so- „Nein.“, knurrte der dunkelhaarige Krieger mit den feinen Zügen unzufrieden und brachte die Novigraderin damit dazu bedauernd zu seufzen “Sie sind normalerweise nicht so groß.” Anna sah, wie ihr grün gewandeter Kumpan ihr einen unheimlich vorwurfsvollen Blick zuwarf. Die stumme Anschuldigung in seiner Miene stach unangenehm. Es war klar, dass der Krieger es seiner neuen Bekannten zuschrieb, dass er nun gegen eine aggressive, riesenhafte Endriaga kämpfen müsste. Hätte sich die großmäulige Anna vorhin nicht in die Wettkämpfe Blandares eingemischt, würde der blutbeschmierte Kerl nun nämlich schon als glorreicher Gewinner in der hiesigen Taverne sitzen und auf sich anstoßen. Wahrscheinlich würde seine Portion Braten mit Klößen auf's Haus gehen und die hübschen Mädchen, die würden ihm schmachtend zu Füßen liegen. Mehr als nur eine von ihnen wäre dann sicher gern mit ihm mitgegangen, um mit ihm, dem großen Helden, die Nacht zu verbringen; blaues Auge und angeschwollene Braue hin oder her. Stattdessen stand Felsen aber hier in der Kälte, waffenlos, ungerüstet, abgekämpft und würde gleich mit einem zehn Fuß langem, grollenden Tier rangeln müssen. Womöglich würde er dabei ja gar sterben, wer wusste das schon? „Was machen wir?“, der Ton hinter dem drängenden Nachfragen des besagten Landsmannes war mehr Aufforderung als Nachhaken. Anna sah nicht zu Felsen hin, der gerade nach ihrem Rat gefragt hatte, sondern starrte die Endriaga nach wie vor wartend und abschätzend an. „Was?“, entkam es ihr vorschnell, bevor sie nachdachte. „Du hast ein Hexermedaillon.“, eine hintergründige Aussage, die ahnen ließ, dass Felsen glaubte, seine Verbündete sei ein Mutant, der Arachnide im Nullkommanichts auseinandernahm. Das war überraschend. Der verdreckte Skelliger war wohl weit schlauer, als es der unwohlen Frau im verschwitzten Leinenhemd lieb war. Sie schluckte trocken, doch klärte ihn nicht über ihre Abstammung auf. Anna erzählte nicht, dass sie KEINE Hexerin war. Dafür war nun nämlich wirklich keine Zeit. Und außerdem-... außerdem wollte sie nicht über dieses dumme Thema sprechen, das ihr immer wieder sauer aufstieß. „Die Unterseite ist verwundbar.“, murmelte Anna stattdessen. Sie hatte sich noch nie mit Endriagen angelegt, doch sie kannte diese vielgliedrigen Untiere aus ihren alten, vergilbten Büchern. Als Kind hatte sie schon die Eigenschaften von allerlei Monstern auswendig lernen müssen und Balthar hatte ihr vor dem Schlafengehen oft ein paar Seiten aus seinem Bestiarium vorgelesen. Das, obwohl sie sich manchmal vor seinen detailreichen Beschreibungen und Ausführungen gefürchtet hatte und oft sogar hatte weinen müssen. Es war dem langhaarigen Hexer einerlei gewesen sein ‘Wölfchen’ so zu sehen: Wie sie bittere Angst gehabt und befürchtet hatte, dass sich unter ihrem Bett in der Festung eine böse Erscheinung oder ein Wyvern mit spitzen Zähnen befand. Denn Balthar hatte Anna früh auf das knallharte Leben und das Monsterjagen vorbereiten wollen. Sie hatte nicht einmal bei ihm schlafen dürfen, wenn sie sich nicht in ihr eigenes Bett getraut hatte. Keine zehn Jahre alt war sie zu diesem Zeitpunkt gewesen. „Mhm.“, machte Felsen und verengte die Augen entschlossen, nachdem seine Kumpanin ihn auf den Schwachpunkt von Endriagen aufmerksam gemacht hatte. Er nickte langsam. „Durch den etwas dünneren Panzer an den Flanken kommt man leichter durch.“, fügte die Frau noch hinzu. „Hm.“ „Das Gift der Kieferzangen tötet binnen weniger Stunden, als pass gut auf.“ Noch ein nachdenklich-grimmiger Laut seitens des Skelligers, der sich dazu gezwungen fühlte zu kämpfen, folgte. Dann ließ Halmar sein verwundetes Biest frei, zerschnitt dessen dicke Fesseln mit einem Axtschlag und lachte aufgeregt. Schnell wich er zurück, um den zustoßenden Zangen des Monsters zu entkommen. Jenes, wiederum, sprang mit einem Mal auf den Platz, scharrte mit den Beinen, fauchte ohrenbetäubend. Ein einschüchternder Anblick, selbst für Anna, die schon so manch einem Untier gegenübergestanden hatte. Die halbe Zuschauerschaft stob schreiend und mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Armen auseinander, als die Endriaga weit mit dem Schwanz ausholte und in einer schwungvollen, halbkreisförmigen Bewegung wahllos nach den vielen Menschen schlug. Halmar brüllte irgendetwas, seine beiden Männer zögerten und wichen feige ab, anstatt mit erhobenen Glefen einzugreifen. Und Anna und Felsen schrien hektisch, man möge ihnen doch Waffen geben. Leider hörte den vermeintlichen Straßenkämpfern aber niemand zu, denn der Platz war bereits in das reinste Chaos getaucht. Das laute, sirrende Schnarren der Endriaga hallte bestimmt bis in das Zentrum von Blandare, als sie herumfuhr und mit den sichelförmigen Vorderbeinen nach ein paar Fliehenden hob. Sie traf dabei eine ältere Frau, zertrümmerte deren Kreuz, als sei jenes nur ein dünner, knackender Zweig. Die Dame mit dem erdfarbenen Umhang gab einen erstickten Schrei von sich und fiel. Als ihr Körper den harten Grund grotesk verdreht erreichte, war sie schon tot. Ein zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch gezischtes Fluchen verließ die Kehle von Anna, als sie dies sah. Sie holte tief Luft, um zu Sprechen und brüllte folgend ein paar Schimpfworte, um die Aufmerksamkeit der rasenden Endriaga auf sich zu ziehen. Sie hatte Erfolg. Das Wesen, dessen grünliches, zähes Blut noch immer in dicken Fäden auf den Boden tropfte, wendete sich ihr zu, stürzte los und schlug wild mit dem stacheligen Schwanz. Gekonnt wich die versierte Novigraderin aus, duckte sich unter einem Hieb der massiven Pranken fort und stolperte ächzend zur Seite. Irgendwo im Augenwinkel erkannte sie, wie Felsen von der anderen Seite kam, um das Insekt davon abzuhalten sich noch einmal herumzuwerfen und den kreischenden Passanten gen Dorf zu folgen. Ja, er blieb tatsächlich, um sich dem Monster wacker zu stellen. Welch ein Glück! Wieder schrillte die Endriaga und bäumte sich wild auf, war damit höher als ein steigendes Pferd. Mit den Beinen voller Widerhaken warf sie sich auf Anna und verfehlte die flinke, gehetzte Frau nur um eine Haaresbreite. Eilig und ziemlich planlos wich die Kurzhaarige zurück und erhob die Hände, als wolle sie die Endriaga beruhigen. Leider war das gepanzerte Monster aber kein gezähmter Gaul, den man schnell unter Kontrolle bekommen könnte. Es war ein wildes, in die Ecke gedrängtes Biest, kein Haustier. Überfordert starrte die unruhig atmende Hexerstochter den Arachniden also an und ihre wirren Gedanken rasten. Waffen, sie bräuchte ihre Waffen! Sie hatte sie vor dem Faustkampf gegen Felsen abgegeben. Wo waren sie? Anna wich weiter ab, schnell, drehte den Kopf suchend und ihre Augen wanderten hektisch. Felsen kam, Melitele sei Dank, zu Hilfe, brüllte herum, stänkerte in seinem fremden Dialekt und fing die Aufmerksamkeit der aufgerüttelten, versehrten Endriaga damit ein. Er hatte sich dem Ungeheuer zu weit genähert und machte Anstalten es einfach treten zu wollen. „Meine Sachen!“, schrie Anna durch das laute Gewirr am Platz und ihr Blick suchte den stark schwitzenden Halmar, der seine zwei dummen Handlanger soeben zornig zurechtwies. „Mein Schwert!“, blaffte die Frau und erreichte den blonden Idioten damit auch endlich. Jener sah sie zerfahren an und deutete in die Richtung einer gezimmerten Kiste, die da am Rande des Kampfplatzes neben ein paar Steinen und einem dürren Busch stand. Die Holzkiste mit den rostigen Eisenscharnieren war offen, ein paar Waffenknäufe lugten daraus hervor und dieser Anblick entlockte Anna ein tiefes, erleichtertes Aufseufzen. Sie eilte los, während Felsen einen harten Schlag des Endriaga-Schwanzendes kassierte und in den feuchten Dreck geworfen wurde, wie eine gewichtslose Puppe. Der Schlamm spritzte zu allen Seiten. Felsen stand überraschenderweise schon wieder, als Anna heraneilte, um ihm zu helfen. Im Laufen legte sie sich ihren ledernen Schwertgurt fahrig um und schloss die messingfarbene Schnalle davon mehr schlecht als recht, weswegen ihr die Schwertscheide schief von der Hüfte hing. Sie stolperte beinah über einen klobigen Stein der da lag, doch fing sich gerade noch so. Oh, welch ein Durcheinander! Felsen, der etwas mitgenommen wirkte und die Schultern schwerfällig straffte, sah seine Verbündete und gab einen unverständlichen, überforderten Laut von sich. Sein Gesicht sprach dabei Bände und er warf die Arme aufgebracht in die Luft. Erstaunlich, dass er nach dem wuchtigen Schlag der Endriaga überhaupt schon wieder stand. Er machte seinem Straßenkampf-Namen alle Ehre. „Werfe sie um!“, bellte Anna völlig spontan und ihre Hand legte sich an den Griff ihres Schwertes. Jenes war nur aus Stahl, doch das hinderte sie nicht daran es zu ziehen, um gegen ein Monster zu bestehen. Die irrsinnige Behauptung, dass Stahlwaffen nur Menschen töteten und Monstern nichts anhaben konnten, war nämlich ein stupides Märchen, ausgeschmückt von unwissenden Geschichtenerzählern und dummen Bauern, die vipernäugige Hexer für übernatürlich hielten. Stahl brachte auch die meisten Biester um, wenn man jene verheerend genug traf, und Endriagen gehörten zu denen. Anna bräuchte ihren Silberdolch gerade nicht. „Was? Spinnst du?“, entkam es Felsen zwischen dem Gefauche der Endriaga und dem herrischen Geschrei von Halmar empört. Die Farbe war ihm längst aus dem Gesicht gewichen. Bestimmt hatte er noch nie gegen einen Arachniden gekämpft. Es überraschte die erfahrenere Hexerstochter und Alchemistin nicht. „Werfe sie um! Der Bauch ist nicht gepanzert!“, wiederholte sich Anna und der dunkelhaarige Mann der Inseln stutzte. Seine Lippen öffneten und schlossen sich ein paar wenige Male, als wolle er Einspruch erheben. Doch er tat es nicht und man konnte sehen, wie sein Schädel auf Hochtouren arbeitete. Dann, nach nur wenigen Wimpernschlägen, nahm sein Ausdruck etwas sehr, sehr Entschlossenes an. Felsen ballte die schmutzigen Hände zu Fäusten und beugte die Knie ganz leicht. So, als wolle er Anlauf nehmen. Man sah, wie er ein einziges Mal ganz tief durchatmete. Das Szenario, das sich Anna daraufhin bot, wirkte, als sei es einer fantastisch übertriebenen Ballade eines schlechten Dichters entsprungen. Wie etwas, das in ausgeschmückten Geschichten passierte, die man kleinen, aufgeregten Kindern oder dem gutgläubigen Pöbel erzählte. Doch es war keine aufgeblasene Erzählung, sondern Realität: Entweder vollkommen selbstsicher oder aber absolut lebensmüde lief Felsen wie ein Wahnsinniger los und warf sich mit einer Schulter voran gegen die blutende Endriaga. Laut schreiend tat er das und brachte das vielbeinige Insekt damit ganz schön ins Wanken. Es taumelte gar seitwärts, doch sein Schwerpunkt war nicht hoch genug gewesen, als dass man es tatsächlich hätte umwerfen können. Verdammt! Der Schubs von Felsen hatte das vielgliedrige Biest also nur noch weiter angestachelt, doch das schien den besagten Mann nicht von seinem Vorhaben abzuhalten das Monster mit bloßen Händen bekämpfen zu wollen. Er setzte erneut dazu an dem schnatternden Vieh an den nicht vorhandenen Kragen zu wollen, entkam dabei nur knapp einem frontalen Hieb der Sichelpfoten. Jene streiften ihn, schlugen ihm gegen die Schulter, doch er blieb verhalten ächzend stehen. Nun war es Anna, die herumfuchtelte und auf ein Neues wüste Flüche rief, um das Insekt, das so viel größer war, als seine Artgenossen, auf sich aufmerksam zu machen. Es funktionierte, denn die Endriaga griff schließlich wahllos alles an, das nach ihrer labilen Aufmerksamkeit haschte. Erschöpft schien sie dabei noch immer nicht zu sein. Leider. Eine Sichelzange sauste auf Anna herab und die Frau riss ihr langes Schwert reflexartig abwehrend vor sich. Das Gliedmaß des Monsters donnerte dermaßen hart auf die Stahlklinge, dass der klirrende Schlag bis in den Oberarm der Novigraderin hoch vibrierte und jenen nahezu taub machte. Der Kurzhaarigen entkam ein überwältigtes Keuchen, sie schlug die Pranke der Endriaga mühsamst von sich und wich zurück. Wie hunderte Male zuvor machte sie ihre Schritte rückwärts; Eins, zwei, drei. Und wie immer verlagerte sie ihr Gewicht dann auf ihr linkes Bein, stellte das rechte vor und wahrte damit einen sicheren Stand. So, wie sie es von Balthar gelernt hatte, hob sie mit dem Langschwert zu und ignorierte das noch immer präsente, unangenehme Kribbeln in den Fingern der rechten Hand. Doch sie wiegelte das gut gepanzerte Insekt vor sich nur weiter auf, anstatt Schaden anzurichten. Die Endriaga grollte in Raserei, Anna gab ein grantiges Brüllen, einen verzweifelten Kampfschrei, als Antwort. Als sich das grünlich schimmernde Monster dann wieder auf die hinteren Beine stellte, um sich groß zu machen, verblieb die Hexerstochter an ihrem Platz und spannte den Körper an, obwohl es ihr eigentlich nach Fortlaufen war. Sie verengte die braunen Augen, verkniff sich ein überwältigtes Stöhnen und umfasste den gewickelten Schwertgriff so fest, dass es schmerzte. Ihr Herz schlug ihr bis zum rauen Hals und drohte ihr noch aus der Brust hervor zu springen. Die Endriaga streckte den Insektenrücken durch, bäumte sich auf und zischte bedrohlich, hob die gefährlichen Kneifzangen auf ein Neues in die Höhe. Anna’s Hände zitterten, sie schluckte schwer, ertappte sich dabei den Atem anzuhalten. Und in diesem Augenblick kam Felsen von rechts. Mit all seinem Gewicht und der verbliebenen Kraft, die er noch aufbringen konnte, warf er sich wuchtig gegen das zornige Untier und riss es dieses Mal tatsächlich um. Aufgeschreckt und irritiert keifend kippte die Endriaga seitwärts, zappelte verzweifelt mit den Beinen, landete hart am gepanzerten Rücken und wollte sich herumdrehen. Doch ihr blieb keine Zeit dafür, denn die wachsame Anna nutzte diese einmalige Gelegenheit schnell und sprang vor. Ihre Klinge grub sich abrupt senkrecht und tief in die Unterseite der gellend aufkreischenden Kreatur. Dies direkt neben Felsen, der noch halb auf dem zappelnden Ungetüm lag und einen erschrockenen Laut von sich gab, als seine wagemutige Kollegin zustach. Mit einem Schrei auf den trockenen Lippen stieß die Kurzhaarige dem Monster die scharfe Schneide in den Bauch und lehnte sich mit dem gesamten Körpergewicht auf das stählerne Schwertheft, um die hungrige Waffe noch tiefer zu zwängen. Gehetzt rollte der bewusst ganz knapp verfehlte Skelliger von der Endriaga herunter und hob den Kopf sofort, um Anna fassungslos anzustarren. Das Herz musste ihm förmlich stehen geblieben sein, als sich die todbringende Klinge der Kriegerin direkt neben ihm vorbeigesaust war. Weiches Arachniden-Fleisch gab nach, grünes Blut sprudelte und benetzte die Stiefel der Alchemistin aus Novigrad. Die Endriaga zuckte noch ein paarmal unkontrolliert mit den Spinnenbeinen. Dann war es endlich vorbei. Halmar brachte Momente später nicht mehr zustande, als betreten zu lachen und peinlich berührt vor Anna und Felsen zurückzuweichen. Natürlich hatte der nassgeschwitzte Blonde längst erkannt, dass er einen wahrlich bösen Fehler begangen hatte; dass wegen ihm eine Frau gestorben war. Doch er war zu stolz, um sich dies einzugestehen. Er erhob die schwieligen Hände abwehrend vor sich, als die Novigraderin und der Skelliger, die mit grünlichem, klebrigem Insektenblut besudelt waren, grantig auf ihn zu marschierten. Die arme Endriaga lag tot und mit vor dem Bauch zusammengekrampften Beinen im Rücken der beiden. Es war schwer zu sagen, wer finsterer dreinsah: Anna, die ihr Schwert noch fest umklammert in der Hand hielt, oder Felsen, der anmutete, als habe ihn eine Händlerkarawane überfahren. „Du!“, machte Felsen, presste dies zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und trat eng vor den stammelnden Halmar. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen und die Kälte wollte einem ungnädig klamm unter die Kleidung kriechen. Der unregelmäßig gehende Atem des Straßenkämpfers stieg als weißer Dunst auf. „Geb' uns nen guten Grund, warum wir mit dir nicht das gleiche machen sollten, wie mit deinem Käfer!“, schimpfte der verdreckte Kumpane Annas außer sich und hob den Zeigefinger, um anschuldigend auf den zu zeigen, der die ganze Misere hier zu verantworten hatte: Halmar. Der Finger stieß drohend an die Brust des blonden, untersetzten Skelligers, der die Hände noch immer defensiv erhoben hatte. Jener schüttelte das Haupt hastig. „Äh, ah... wartet!“, war das einzige, das dem konfrontierten Halmar vorerst einfiel. Auch seine Männer standen da, als wüssten sie nicht so recht, was tun. So unwohl berührt und planlos, wie sie starrten, hatten sie sicherlich wenig Lust dazu die Waffen gegen die beiden Monstertöter zu erheben, die gerade ein Rieseninsekt zu Fall gebracht hatten. Dafür zahlte der geizige Halmar ihnen bestimmt nicht genug. Sie waren Wachen, keine Mörder oder lebensmüde. „Warten? Oh nein, du Hurensohn!“, donnerte Felsen und sah aus, als sei er drauf und dran dem Veranstalter der fragwürdigen Wettkämpfe des Dorfes den Hals umzudrehen. Mit bloßen Händen. Und dies war glaubwürdig, denn schließlich hatte der Kerl auch eine riesengroße Endriaga waffenlos niedergerungen. Niemand stellte sich solch einem Schläger so schnell in den Weg. Er sah zwar recht hübsch aus und war nicht der Größte, doch dies täuschte gewaltig, wie Anna fand. Sie konnte sich daher und trotz des unguten Moments eines seichten Grinsens nicht erwehren. Sie ließ das blutbeschmierte Schwert sinken und wartete einfach nur ab, die Augen abwartend auf das Geschehen gerichtet und mit grimmiger Genugtuung im Blick. Ja, sollte Felsen Halmar doch die Nase oder mehr einhauen! Das hatte der übermütige Bastard MINDESTENS verdient. Anna würde nicht dazwischen gehen und stand vollends auf Felsen's Seite, obwohl sie sich für gewöhnlich aus den meisten Zwistigkeiten oder Diskussionen heraushielt. Ihre Mentoren hatten ihr nämlich beigebracht unbedingt neutral zu sein und sich in der Grauzone zu halten, wenn sich zwei gegenüberstehende Gruppen die Schädel einschlugen. Jetzt aber, oh, da hätte sie sich am liebsten schadenfroh die kalten, feuchten Hände gerieben. Denn Felsen, der verpasste Halmar soeben so eine ordentliche Rechte, dass es dem Blonden den Kopf nur so herumriss. Man konnte gar nicht so schnell schauen, da lag der Wettkampf-Veranstalter im braunen Lederwams am matschigen Boden und bettelte mit unschön aufgesprungenen Lippen um Gnade. Offenbar waren nicht alle Skelliger begabte Krieger oder Halmar hatte einfach einen zu großen Respekt vor dem Mann, der fast all die harten Wettkämpfe in Blandare gewonnen hatte. „Nein, nein! Hör auf!“, keuchte der bedrängte Halmar hervor und seine Männer standen unschlüssig im Hintergrund. Einer seiner Schneidezähne fehlte und dies brachte ihn zum Nuscheln. Er sah so lächerlich aus. „Du kriegst das Geld! Alles!“, blökte der nasal sprechende Mann am Boden und dieses Angebot ließ Felsen, der gerade gewaltsam hatte zutreten wollen, innehalten. Die Augenbrauen des Dunkelhaarigen mit der fellbesetzten Kapuze, die bespritzt war mit Insektenschleim, schnellten in die Höhe, doch er ließ die Fäuste geballt und sein Blick blieb skeptisch. Der bleiche Veranstalter der Wettkämpfe befühlte seine Zähne vorsichtig prüfend mit der Zunge. „Ha?“, wollte Felsen patzig wissen und auch die wortkarge Anna legte die Stirn in tiefe Falten, wurde hellhörig. Sie sah gespannt abwartend zwischen Halmar und dessen 'Peiniger' hin und her, doch steckte das Bastardschwert noch nicht in seine Scheide zurück. „Das Geld im Pott! Es ist deins! Alles davon kannst du haben! Aber lass mich bloß in Ruhe!“, quakte Halmar wehleidig und robbte auf seinem Hintern sitzend zurück, um aus Felsen's Trittreichweite zu kommen. Er keuchte schwer und fasste sich an die blutige Lippe, die zuvor Bekanntschaft mit der Faust seines aufgebrachten Landsmannes gemacht hatte. „Na los! Nimm's schon und verschwinde!“, beschwerte sich der Blondschopf am kalten Grund. Es war ein Angebot, das der im grünen Mantel nur zu gerne annahm. * Anna sah auf, als man ihr einen großzügig gefüllten Humpen Bier vor die Nase stellte und beobachtete daraufhin, wie sich der angeschlagene Felsen ihr gegenüber schwerfällig niederließ. Er selbst hatte sich auch einen tönernen Krug des schäumenden Getränkes mitgebracht, schob es vor sich auf die Tischplatte und machte sich dann erst einmal daran die Schnürung seines Kragens ein wenig lockerer zu ziehen. Wie die Frau trug er frische Kleidung, hatte sich das schmierige Endriaga-Sekret aus den Haaren und das Blut aus dem mitgenommenen Gesicht gewaschen. All das hier, im Gasthaus, in dem er sich ein kleines Zimmer geleistet hatte. Nach dem Kampf gegen das Biest Halmars und dem Streit mit dem selbigen, hatte der hier Sitzende tatsächlich alle Teilnahmebeiträge der Blandarer Faustkampf-Wettbewerbe bekommen. Die vielen Münzen hatten seinen kleinen Geldbeutel recht prall aufgefüllt, obwohl er nicht all das Geld an sich genommen hatte. Die Hälfte des Gewinns hatte er nämlich ohne Diskussion oder Aufforderungen seitens der Hexerstochter an eben jene weitergegeben. Der eigenartige Mann vertrug also nicht nur viele, harte Schläge, sondern hatte auch ein halbwegs gutes Benehmen. Schließlich hätte nicht jeder die Hälfte seiner hart erkämpften Beute mit einer völlig fremden Mitstreiterin aus dem Ausland geteilt. Wenn es um klingelnde Münzen ging, dann schieden sich doch sogar Freunde und Familien. Felsen aber, der hatte sich dreißig Silber und vier Kupfer aus dem Wettkampf-Topf geklaubt, prüfend aufgeblickt, überlegt und der staunenden Anna dann einfach so den Rest überlassen: Ebenso dreißig Silber und vier Kupfer. Dies mit einem trockenen, doch wahren ‘Wir haben das Vieh zusammen getötet, Hexerin’ auf den spröden Lippen. Ein kurzer, darauffolgender Austausch von trivialen Worten hatte dann noch ergeben, dass sich Felsen, wie Anna, in der Taverne der Wirtin mit den Holzfällerhänden eingemietet hatte. Dass er gerade nicht auf dem Inselarchipel residierte, obwohl er ein Skelliger war, und dass er zeitnah abreisen würde. Seltsam. Aber die skeptische Anna hatte nicht weiter gefragt, schließlich ging sie die Lebensgeschichte Felsens nichts an und der dunkelhaarige Kämpfer hatte sie ebenso nicht über ihre Belange und Motivationen ausgequetscht. Er hatte sie, um genau zu sein, gar nichts gefragt, sondern ihr nur zu ihrem guten Kampfstil gratuliert. Am Ende hatten sie sich zusammen und über das schlechte Wetter plaudernd auf den Weg zur hiesigen Taverne begeben. Schlussendlich zog man, wenn man vollgeblutet und abgeranzt in ein Dorf voller Schaulustiger marschierte, nicht all die Fingerzeige, den Hohn und dumme Fragen auf sich allein, wenn man zu zweit ankam. Geteiltes Leid war halbes Leid, in dieser Hinsicht waren sich Anna und Felsen einig gewesen. Die gelangweilte Miene von Anna erhellte sich also, als sie sah, wie sich ihr neuer Bekannter zu ihr gesellte. Ehrlich gesagt hatte sie ja nicht damit gerechnet noch einmal die Gelegenheit dazu zu bekommen mit jenem zusammen zu sitzen. Sie hatten sich zwar in derselben billigen Schenke eingemietet und am frühen Abend zusammen gekämpft, doch das hieß gar nichts. Sie beide machte all das Genannte nicht zu Freunden oder dergleichen. Sie hätten sich nach dem Kampf gegen das aggressive Rieseninsekt und der Konfrontation von Halmar genauso gut voneinander verabschieden und ihrer Wege gehen können. Stattdessen hatte sich Felsen, der vermutlich gerade von oben, aus seinem winzigen Gästezimmer, gekommen war, aber zu der einsamen Hexerstochter gesetzt und ihr auch noch ungefragt und großzügig ein großes Getränk ausgegeben. Nett. Anna hatte gerade zu Abend gegessen und auf einem Holzbrettchen am Tisch lagen ein paar dick belegte Brote, die sie noch nicht angerührt hatte. Das erledigte Felsen nun schamlos für sie. Er fischte sich eines der Käsebrote mit Pfeffer und steckte es sich in den Mund, ehe er sich erschöpft schnaufend auf seinem abgesessenen Stuhl zurücklehnte und den Blick schweifen ließ. Er gab sich, als sei es für ihn ein gewohntes Gehabe hier stuhlwippend herumzulungern und sich an fremdem Essen zu bedienen. Anna verkniff sich ein heiteres Schmunzeln. Dies, obwohl sie es für gewöhnlich ganz und gar nicht mochte, wenn man von ihrem Teller aß. Belegte Brote waren ihr heilig und dem letzten, der in Oxenfurt versucht hatte einen Bissen von ihrem Strudel zu ergattern, hatte sie eine Gabel in die Hand gerammt. „Ah. Der große Käferschubser von Ard Skellig...“, stellte die Novigraderin feixend fest, nachdem sie kurz nach Worten geklaubt hatte „Ich fühle mich geehrt!“ Eine Aussage, die dem besagten 'Helden' ein amüsiertes Schnauben entlockte. Er schluckte seinen Bissen Käsebrot hinunter und sein schiefer Blick war nicht minder belustigt, als er die Frau in der schlichten Hose und der purpurnen Weste fixierte. Anna mochte die Farbe Rot. „Was treibt jemanden wie dich nach Skellige?“, wollte er dann ohne weitere Umschweife wissen und duzte Anna damit. So machte man das mit Leuten, denen man die Fresse einmal poliert hatte oder die Anstalten gemacht hatten mit einem den dreckigen Boden aufzuwischen. Für Förmlichkeiten war bei solchen besonderen Bekanntschaften wirklich kein Platz. Es überraschte Anna außerdem positiv, dass Felsen sich so gelassen zu ihr gesellt hatte und freundlich mit ihr sprach, obwohl sie ihm die Braue blutig gehauen hatte. An anderen Orten hätte man sich so etwas abschminken können. Doch in Skellige, da vertrug man sich nach Kämpfen eben schnell wieder... und wie war das nochmal gewesen? Ein Humpen Bier für jeden blauen Fleck? Die Kurzhaarige taxierte das dunkel unterlaufene Auge Felsens flüchtig. „Das Geschäft brachte mich her.“, antwortete Anna dem neugierigen Dunkelhaarigen jetzt langsam. Es war eine lasche Lüge, doch das musste ihr ramponiertes Gegenüber ja nicht wissen. „Aha.“, sagte Felsen wenig überzeugt. Er fasste nach seinem schäumenden Bierkrug, um einen kräftigen Schluck daraus zu trinken und daraufhin wohlig aufzuseufzen. “Bei Freya’s Titten. Das war nötig...”, kommentierte der Kerl seinen tiefen Schluck Alkohol gleich leise. Anna's Blick blieb derweil interessiert an dem gelassenen Mann hängen, der überhaupt nicht so aussah, wie die anderen Skelliger hier. Er hatte keinen buschigen Bart, der ihm bis zum Bauchnabel reichte, noch war er fett vom Bier oder so muskelbepackt, dass er die Arme nicht mehr hinter dem Rücken zusammen bekam. Ja, der Käferschubser sah für seine Verhältnisse als Straßenkämpfer eher zierlich aus, gepflegt. Anders als viele ruppige Landsleute, hatte er feinere Züge und war entgegen seines Rufnamens kein kantiger Schrank von Kerl, sondern ein recht gewöhnlich anmutender Typ. Manch einer hätte ihn vielleicht sogar als richtig ansehnlich bezeichnet. Unpassend für Faustkampfbewerbe, wirklich. Anna's Augenbraue wanderte langsam hoch, als sie die ordentlich zurückgekämmten Haare ihres Gegenübers musterte, das ganz offenkundig Wert auf sein Äußeres legte. Sie verkniff sich ein Grinsen. „Und wohin willst du? Du meintest, du würdest nicht hier wohnen, aber du redest, wie ein Mann der Inseln. Deine Kleidung sieht auch skellisch aus.“, setzte die Alchemistin das Gespräch nach kurzem Nachdenken ganz offen fort. Auch sie fasste nach ihrem Krug und nahm einen Schluck des kühlen Bieres. Eine wahrhaftige Wohltat! Über den Rand des alten Trinkgefäßes, dem der Henkel fehlte, sah sie zu Felsen hin. „Hm. Mal sehen.“, entgegnete der Kerl, zuckte lethargisch mit den Schultern. Entweder wollte er seine Pläne also nicht verraten oder er hatte wirklich keinen blassen Schimmer, was er tun sollte. Felsen fasste hungrig nach einem Brot, das dick mit Butter bestrichen und mit Tomatenscheiben und Schnittlauch belegt war. Er seufzte verhalten, ehe er davon abbiss und Anna beobachtete das kritisch. Schlussendlich ging es nach wie vor um ihr Essen. „Ich kenne einen Kapitän, dessen Handelsschiff regelmäßig nach Cintra ablegt.“, erwähnte Anna nach einer kurzen Sprechpause bedeutsam und merkte, wie Felsen sie ganz plötzlich recht interessiert ansah. Er wurde hellhörig, so schien es. Er wollte also wirklich fort von hier. „Die Leute nennen ihn 'Belago', du könntest im Hafen nach ihm fragen. Aber ich warne dich vor: Die Reise über das Meer ist nichts für schwache Nerven und sensible Mägen… und es dauert lange, bis man am Festland ankommt.“, Anna verzog das Gesicht leicht und rümpfte die Nase unzufrieden, als sie an das heftige Geschaukel an Bord der ‘Gloria’ dachte. Die Schwertkämpferin ließ den wenig begeisterten Blick fort schweifen. Ihre braunen Augen wanderten dabei beiläufig in den Schankraum, streiften ein paar schunkelnde Kerle mit erhobenen, bauchigen Humpen und die rothaarige Bardin, die gerade ein spöttelndes Lied über die Männlichkeit des Kaisers von Nilfgaard zum Besten gab. „Belago, hm? Merke ich mir.“, versicherte Felsen knapp und nickte anerkennend. Die Novigraderin richtete die ungeteilte Aufmerksamkeit auf ihn zurück. Dabei fiel ihr auf, dass sie sich ihm noch gar nicht vorgestellt hatte. Und nun, da sie zusammen aßen und tranken, wäre dies doch längst überfällig. „Ich bin übrigens Arianna.“, entkam es der Braunhaarigen also und ihr Gegenüber taxierte sie berechnend, als sie die Rechte im Gruß über die schmierige Tischplatte streckte. „Felsen.“, meinte der Skelliger überflüssigerweise, um sich ebenfalls ganz offiziell vorzustellen, und brachte Anna, deren Hand er mit herzlichem Druck schüttelte, damit zum Kichern. „Also bitte!“, beschwerte sie sich, ließ die rauen Finger ihres Bekannten wieder los „Du wirst doch wohl auch einen echten Namen haben, der nicht so lächerlich klingt!“. „Der geht dich nichts an.“, konterte der schlagfertige Schwarzhaarige gleich, doch ohne jegliche Feindseligkeit im Ton. Seine Stimme war recht neutral geblieben, seine Miene weich und sein schwaches Lächeln ehrlich. Man hätte meinen können, er wirke dadurch gar ein klein wenig mysteriös. Die unschlüssige Frau in der roten Weste runzelte die Stirn und legte den Kopf schräg. Von oben bis unten musterte sie den ‘Mann aus Stein’. Doch dann entschloss sie sich dazu sich keine weiteren Gedanken um dessen ach so geheimen Namen zu machen. Entweder, der Schönling wollte sich aufplustern und interessant wirken oder aber sein wahrer Name bedeutete großen Ärger. Beides war der burschikosen Frau egal, denn spätestens morgen würde sie den schief grinsenden, Brote-stehlenden Kerl im grünen Rock sowieso nie wieder sehen. Glaubte sie jedenfalls und irrte sich damit gewaltig. Kapitel 3: Heldentaten, die man nicht allein vollbringen kann ------------------------------------------------------------- Ein tiefes, entnervtes Ausatmen entkam Anna's heiserer Kehle, als sie unweit einer Anhöhe nahe Blandare auf der Lauer lag. Sie saß hinter einem mannshohen Felsen am Rand eines lichten Tannenwaldes, zwischen stacheligen Himbeersträuchern und dürrem Gebüsch. Die Kriegerin kniff die Augen zusammen, als sie sich hinter dem Gestein hervor lehnte, um besser in die Ferne spähen zu können. Sie trug all ihre Ausrüstung bei oder an sich: Die lederbesetzte Hose, Rüstungsteile, Waffen und den Rucksack, der befüllt war mit allerlei nützlichen Dingen, von denen sie geglaubt hatte sie gleich noch zu brauchen. Die Dornen der kargen Beerensträucher am Waldesrand hatten ihre Wange zerkratzt und ein paar vertrocknete Blätter hingen der Hexerstochter in den braunen Haaren. Ihre Knie waren schmutzig, weil sie durch den Dreck hatte krabbeln müssen, und ihre Stiefel waren unangenehm klamm. Es war noch früh, nachts hatte es ein wenig geschneit. Die Nässe des frischen Schnees hing an der Kleidung der hockenden Frau, kroch ihr beißend in Kragen und Ärmel. Doch sie störte sich nicht daran, denn ihre Sinne waren zu angespannt, als dass sie sich von eisiger Kälte hätte durcheinanderbringen lassen. Anna's verengte Augen hingen nämlich auf dem rostbraunen Gabelschwanz, der nicht weit von hier die Flügel in den Himmel streckte. Er war der gefürchtete 'Drache' und Ziegendieb, auf den in Blandare eine hohe Belohnung ausgesetzt worden war; ein Reptil, so hoch, wie ein sehr großes Pferd, mit klauenbewehrten Pranken und weiten Schwingen. Und mittlerweile war es Anna auch klar, warum das geschuppte Tier so ungewöhnlich oft Nutztiere der örtlichen Bauern riss: Es nistete hier. Und es hatte drei Junge, die so aussahen, als seien sie bereits so alt, dass sie bald flügge werden würden. Eine prekäre Situation. „Verdammt.“, flüsterte Anna genervt in sich hinein und duckte sich wieder hinter ihre Deckung, lehnte sich mit dem Rücken voran an den unebenen Stein. Ihr Atem stieg in der Kälte als weißer Dunst auf, als sie die Luft entnervt ausstieß. Anna richtete den Blick gedankenverloren in die Leere vor sich, biss sich auf die Unterlippe und schlug die Augen nieder. Ein einziger Gabelschwanz wäre kein allzu großes Problem für sie gewesen. Sie hätte sich damit zwar ganz schön abgemüht, doch sie war sich sicher, dass sie es geschafft hätte den berüchtigten Schafsdieb zu töten. Ein Gabelschwanz mit Nachwuchs war jedoch etwas ganz Anderes. Solch einer war weit aggressiver, als seine Artgenossen, beschützte seine Brut mit allen Mitteln und war unglaublich launisch. Außerdem konnten auch die kleineren Echsen im Nest ganz schön beißen und mit den Schwänzen zuschlagen. Kurzum: Die Situation gestaltete sich also, milde ausgedrückt, als gar nicht so einfach. Die negativ überraschte Novigraderin hatte es mit vier, anstatt mit nur einem, Schuppentier zu tun. Mit drei kleineren und mit einem großen. Das war schlecht. Nein, es wäre nahezu unmöglich all die Tiere zu töten. Schließlich war die Abenteurerin nur eine gewöhnliche Monsterjägerin und keine Mutantin, wie Balthar und die anderen ihrer Zunft. Sie konnte sich nicht einfach ein paar giftige Hexertränke in den Rachen kippen, Mutagene nutzen und dabei glauben, sie könnte es mit vier geflügelten, fauchenden Untieren gleichzeitig aufnehmen. Anna war nur eine normale Frau. Sie müsste sich also etwas einfallen lassen, wenn sie den ‘Drachen-Auftrag’ schaffen wollte. Etwas unglaublich Gutes. * „Du musst mir helfen.“, Anna stemmte sich die behandschuhten Hände abwartend in die Hüfte, als sie vor Felsen trat und ihn ansah, als dulde sie keine Widerrede. Der angesprochene Mann, der soeben in aller Ruhe beim Mittagessen in der Taverne gesessen hatte, sah die Kurzhaarige etwas irritiert an. Er ließ den hölzernen Löffel sinken, schob die Schüssel mit dem herrlich duftenden Gemüseeintopf darin etwas von sich. Er wirkte nicht überzeugt, doch sprach sich auch nicht gleich gegen Anna's direkte Forderung aus. Der Mann atmete einmal flach durch. Es schien ihm nicht zu gefallen beim Essen gestört zu werden, dennoch blieb er ruhig. „Wobei?“, wollte der Dunkelhaarige langsam und mit einem Funken Argwohn in der Stimme wissen. Noch immer sah er angeschlagen aus, denn der Kampf gegen die Endriaga Halmars war gerade einmal zwei Tage her und er hatte sich noch nicht gut genug erholen können. Unter seinem etwas schräg sitzenden Kragen blitzte ein heller Verband hervor und sein eines Auge war nach wie vor unschön unterlaufen. „Ich will vier Flugechsen töten. Gabelschwänze, um genau zu sein.“, eröffnete die selbstsichere Alchemistin sogleich und der Sitzende verschluckte sich daraufhin beinah an seiner eigenen Spucke. Er musste sich am Tischrand festhalten, doch die stehende Frau ignorierte dies schlicht. „Etwa zwei Meilen von hier nistet einer davon. Er hat drei Junge, die schon recht groß sind. Alleine schaffe ich das nicht.“, erzählte Anna stöhnend und ließ es sich kaum anmerken, dass es ihr denkbar schwer fiel ihre Schwäche zuzugeben. Die stolze Reisende fixierte Felsen weiterhin durchdringend und so, als erwarte sie umgehend Hilfe. So war sie eben: Stur. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann strebte sie dem auch hartnäckig entgegen. Dies war mitunter auch der Grund, weswegen sie heute alleine durch die raue Weltgeschichte reiste und unermüdlich nach einer ganz bestimmten Sache suchte; warum sie Kaer Morhen verlassen hatte und nie wieder dorthin zurückwollte. „Du sagst mir also, dass du vier Drachen töten willst und dass ich dir dabei helfen soll.“, wiederholte Felsen zögerlich und als glaube er nicht, was hier gerade geschah. Er mutete an, als wisse er nicht, ob er lachen oder schimpfen sollte und sein Unterton klang düster. „Es sind keine Drachen, sondern Gabelschwänze. Aber ja.“, erwiderte Anna klugscheißerisch. Bevor der skellische Kämpfer am Tavernentisch den Kopf ungläubig schütteln konnte, redete sie schon weiter: „Ich habe mit dem Bauern gesprochen, der den Auftrag an das Schwarze Brett genagelt hat. Mit Lars Filharven. Und ich habe ihm klar gemacht, dass ich eine höhere Bezahlung haben möchte. Schließlich geht es um vier Tiere, nicht um eines. Nur ein richtig guter Hexer könnte das alleine schaffen.“ „Und?“, seufzte Felsen brummig und schielte wieder zu der Entschlossenen hoch. Er schien sich dessen unsicher zu sein, ob Anna nur zu stolz war, um aufzugeben, oder ob sie dem Wahnsinn verfiel. In seinen Augen musste sie absolut lebensmüde sein. „Achzig Silber und ein Pferd sollen die Belohnung sein.“, meinte die Frau in der Jacke mit den Längsstreifen und vergrub die Hände tief in den Taschen. Eine hohe Bezahlung für eine große Sache war das, wovon sie hier redete. Sie lächelte knapp. „Die Gabelschwänze bedrohen die Existenz des Bauern. Er wird bald keine Schafe und Ziegen mehr haben, wenn sich niemand um die hungrigen Echsen kümmert. Und dann werden sie weiterziehen, um den nächsten Bauernhof zu überfallen. Vielleicht greifen sie dann sogar Menschen an. Darum will mir der gutmütige Bauer geben, was er kann, sollte der große Gabelschwanz mitsamt seinem Gelege verschwinden. Sein Nachbar legt noch etwas Geld mit drauf, hat er gemeint. Und ich bin mir sicher, diese Typen geben noch ein weiteres Pferd her, wenn wir nur hartnäckig genug darauf bestehen. Du kannst doch reiten? Na? Willst du einen Beutel Silber und ein Pferd?“, ein erwartungsvolles Grinsen zerrte an den Mundwinkeln Annas, als sie auf den sitzenden Felsen hinabsah. Der Mann, wiederum, starrte finster-nachdenklich in seine halb leer gelöffelte Eintopfschüssel und fuhr sich mit der Zunge unzufrieden über die obere Zahnreihe. Sie beide schwiegen. Dies so lange, dass die ungeduldige Anna beinah schon kehrt gemacht hätte, um wieder zu gehen. Doch dann blickte der Skelliger endlich auf, holte mutig Luft und verkündete in einem entschlossenen Ton: „In Ordnung. Ich werde dir helfen.“ Die Alchemistin aus dem Norden hielt verblüfft inne und ihre Züge lichteten sich, als sie allmählich realisierte, dass ihr Bekannter gerade versprochen hatte, sie zu unterstützen. Dass er ihr helfen und die halbe Belohnung für den Gabelschwanz-Auftrag kassieren wollte. Das war großartig! Anna konnte nicht anders, als wie ein Honigkuchenpferd zu strahlen und sie ließ sich Sekunden später schon hastig auf dem Platz gegenüber von Felsen nieder. Tief holte sie Luft, um wie ein Wasserfall zu reden. „Also gut. Wir brauchen einen Plan und zwar einen guten. Die Lage ist nämlich verzwickt und richtig gefährlich.“, die Vagabundin stützte die Unterarme, die in schlichten, beschlagenen Armschienen steckten, auf den Tavernentisch und lehnte sich Felsen ein Stück weit entgegen, um jenen eindringlich anzusehen. Ihre Worte überschlugen sich beinahe. „Vier Gabelschwänze sind kein Zuckerschlecken. Zwar sind drei von den Viechern noch jung, doch das ändert nichts daran, dass sie dennoch ganz schön groß sind. Ich habe sie heute mit eigenen Augen gesehen.“, merkte die Frau mit den kurzen, braunen Haaren an. Mit den Fingern tippte sie etwas unruhig auf der fleckigen Tischplatte vor sich herum. Der Blick ihres Gegenübers hing abwartend auf ihr und bestimmt fragte sich Felsen jetzt schon was zum Geier er hier eigentlich tat. Er räusperte sich leise, hatte wohl eine trockene Kehle, und fasste mit der Hand, die in einem fingerlosen Handschuh steckte, nach seinem Metkrug. Seinen Eintopf rührte er nicht mehr an. Womöglich war ihm der Appetit darauf vergangen. „Wie groß sind die jungen Viecher genau?“, wollte der Inselbewohner mit vorsichtiger Neugier im Ton wissen. „So groß, wie Pferde.“, sagte Anna und verzog das Gesicht kritisch. „Und das Muttertier?“, hakte Felsen mit böser Vorahnung nach und nahm einen Schluck seines widerlich süßen Getränkes. Bemerkenswert, dass er sich den hausgemachten Met der 'Holzfällerin' hinunterkippen konnte, ohne das Gesöff mit viel Saft oder Wasser zu vermischen, um es bekömmlicher zu machen. So, wie es Anna zum Beispiel getan hätte. Sie hasste zu klebrigen Süßkram und trank Met daher recht selten. Lieber hatte sie starken Wein oder dunkles Bier. „Der ausgewachsene Gabelschwanz... hm...“, fing die Hexerstochter an und klaubte in ihren Gedanken nach einem ungefähren Größenvergleich. Sie wiegte den Kopf abschätzend, als sie zur staubigen Zimmerdecke sah und gab einen grüblerischen Laut von sich. Der recht belebte Schankraum war heute wieder voll, niemand schenkte den beiden Abenteurern Aufmerksamkeit. „So groß wie… zwei... oder drei Pferde?“, entkam es ihr unsäglich lasch. Welch ein toller, unsagbar kreativer Vergleich! Etwas Besseres war der Schwertkämpferin natürlich nicht eingefallen. Ein wenig betreten lächelte sie Felsen zu, der die Stirn runzelte und die Augenbrauen zusammenzog, um Anna ratlos anzustarren. „Hoch oder lang?“, fragte er. „Äh, etwa drei lang, eins hoch.“, kam es als Antwort und Anna kam sich ziemlich dämlich vor, als sie dies aussprach. Sie musste nach einer kleinen Pause leise lachen und fuhr sich mit der Hand beiläufig über den Nasenrücken. Das tat sie immer, wenn sie sich unsicher oder bescheuert vorkam. Felsen aber, der fand die verzwickte Situation offenbar gar nicht lächerlich. Er nickte nämlich langsam, ernst, und man konnte ihm ansehen, dass ihm die Gedanken nur so durch den Schädel rasten. Den Blick leicht senkend kratzte sich der Mann nachdenklich am Kinn und sah gedankenvoll in seinen halbvollen Methumpen. Zwischen den Fingern ließ er jenen ein wenig kreisen. „Wir brauchen einen Plan...“, wiederholte er die Worte seiner novigrader Kumpanin mit gesenkter Stimme und so, als spräche er mit sich selbst “Einen wirklich guten Plan.” Anna nickte überflüssigerweise. Dann schwiegen sie beide erneut eine Weile und es war überraschenderweise keine unangenehme Stille, die am Tisch herrschte. Es kam doch zu oft vor, dass man Leuten gegenübersaß und einander anschwieg, weil man einfach nicht wusste, was sagen. Oder weil man sich unschlüssig war. Wenn dies passierte, fing man schnell damit an sich geknickt zu fühlen. Man glaubte daran schuld zu sein, dass keiner etwas erzählte und umso länger dies andauerte, desto quälender wurde das nagende Schuldgefühl. Es senkte sich auf einen nieder, wie Sand im Regen, machte einem die Schultern schwer und die Lippen staubtrocken. Jedenfalls empfand Anna dies immer so. Felsen anzuschweigen fühlte sich aber nicht so an. Ganz und gar nicht. Die Frau am Tavernentisch konnte es sich gar durchaus vorstellen den ganzen Abend einfach nur still mit jenem zusammen zu sitzen und sich ein paar Krüge Bier zu genehmigen. Vielleicht hätten sie ja ab und an knappe Worte gewechselt. So, wie 'Der Typ da hinten stinkt bis hierher.', 'Hast du den Arsch der Magd dort gesehen?' oder 'Ich hol uns noch mehr zu Trinken'. Ja, es fühlte sich irgendwie so an, als kenne Anna Felsen schon seit einer Ewigkeit. Komisch, nicht? Dabei hatten sie sich erst vor wenigen Tagen kennen gelernt und die eigenbrötlerische Anna war nicht unbedingt bekannt dafür schnell Bindungen aufzubauen. Im Gegenteil. Sie war jemand, der sich lieber penibel von anderen Menschen, Elfen oder Zwergen fernhielt. Alleine konnte man konzentrierter und losgelöster arbeiten. „Gibt es irgendwelche Dinge, die Gabelschwänze nicht mögen?“, fragte Felsen irgendwann und durchbrach damit das unerwartet angenehme Schweigen mit drängendem Ton. Voller Erwartung sah er seine Gesprächspartnerin an. „Hm? Wie, nicht mögen?“, wollte Anna wissen, obwohl sie sich denken konnte, was ihr Gefährte, der noch nie gegen eines der besagten Biester gekämpft hatte, meinte. „Na, Schwächen und so.“, meinte der Skelliger unbeholfen und sah die Frau, die ihm gegenüber herumlungerte, erwartungsvoll an. Seine Hände lagen an seinem Trinkkrug. „Jemand wie du kennt sich doch sicher mit diesen Drecksbiestern aus.“, vermutete Felsen dann noch und traf damit den Nagel auf den Kopf. Anna erwiderte dessen Blick nahezu stolz, straffte die schmalen Schultern derweil kaum merklich. Die Kriegerin räusperte sich leise. „Tue ich.“, bestätigte sie. „Also?“ „Solange Gabelschwänze am Boden sind, kann man sie relativ leicht niederzwingen. Sie können zwar ganz schön beißen und mit den Schwänzen schlagen, doch wenn man schnell genug ist und gut zuhacken kann, dann ist es möglich-“, weiter kam Anna erstmal nicht, denn Felsen unterbrach sie mit einem abfälligen und kurzen Auflachen. „'Relativ leicht'...“, wiederholte er die Worte der Novigraderin abermals und schenkte ihr einen hintergründigen Blick “Ja. Ist klar.” „Ja… ja, wie auch immer.“, schnaubte Anna pikiert und setzte ihre aufklärende Ansprache fort. Sie hob dabei drei Finger in die Luft, direkt vor Felsen's Nase, und fing mit ihrer Aufzählung an. „Drakonidenöle. Benetzt man sein Schwert damit, dann ist der Kampf gegen einen Gabelschwanz effektiver. Die Öle brennen in den Wunden dieser Echse so sehr, dass sie davon abgelenkt wird und strauchelt. Ja, sie wirken, wie Säure.“, die wissende Frau nahm einen ihrer drei Finger runter. Damit zeigte sie Felsen nurmehr zwei. Sie standen für die übrigen Optionen, die man äußerst wirkungsvoll gegen den Feind einsetzen könnte. „Kartätschen. Man nennt sie auch Bienenstockbomben, weil sie bei der feurigen Explosion kleine, silberne Schrapnelle in alle Windrichtungen schleudern. Sie sind gegen so ziemlich alles recht effektiv... Gabelschwänze mögen sie also auch nicht. Und auch deren Nester lassen sich gut damit zerstören, nehme ich an.“, sagte Anna, als habe sie dies auswendig gelernt. Als rattere sie hier gerade die Aufzeichnungen irgendeines Kodexes herunter, der aus detaillierten Monstereinträgen und Kampftechniken gegen eben jene bestand. „Kannst du mir folgen?“, hakte sie kurz nach, musterte den lauschenden Felsen durchdringend und machte den Blick etwas eng. Jener nickte und sah sein Gegenüber weiterhin aufmerksam an. Anna ließ den zweiten Finger sinken. Einer blieb. „Aard.“, war die dritte und arkane Option, die in den Büchern über Ungeheuer und Monster stand und im Kampf gegen geflügelte Wesen half. Doch sie war auch eine, die die beiden Anwesenden nicht einsetzen könnten. Denn weder Anna, noch Felsen, waren magisch begabt. Der Hexerstochter, die manchmal schneller redete, als sie nachdachte, wurde das erst jetzt gewahr. Und anstatt Luft zu holen, um neunmalklug weiter zu sprechen, senkte sie einfach ihre erhobene Hand, die spätestens zu diesem Zeitpunkt keine Finger mehr zeigte. Anna klappte die Lippen zu, verstummte mit einem Mal. Sie versuchte nicht betroffen auszusehen, doch einer ihrer Mundwinkel zuckte entnervt. Sie war keine Hexerin. „Aard?“, fragte Felsen irritiert und zog die Brauen zusammen „Was ist denn ein Aard?“ „Äh. Ein Zeichen, das Hexer sprechen. Eine Art Beschwörung von Kräften der Luft.“, erklärte die Kurzhaarige und wollte nun eigentlich nicht noch genauer auf die Thematik der grundlegenden Magielehre eingehen. Sie versuchte nicht allzu kleinlaut zu klingen. Felsen geradeaus in die dunklen Augen zu sehen, fiel ihr zunehmend schwerer, denn jener nahm doch an, Anna sei eine Mutantin. Die Kriegerin unterdrückte den Drang sich den Nasenrücken unwohl berührt reiben zu wollen. „Und was macht dieses 'Zeichen'?“, der unwissende Skelliger sprach das letzte Wort aus, als rede er von irgendeinem übernatürlichen Unsinn. Als glaube er nicht so recht an das, was sein Gegenüber erzählte. Dennoch: Die hartnäckige Neugier wich nicht aus seinem durchdringenden Blick. „Es... naja, ist eine Art Stoß. Unsichtbare Energie, die man anruft und die sich dem Feind entgegenwirft, wie eine brettharte Wand. Wie ein richtig fester Schubs.“, klärte Anna auf und hoffte inständig darauf, dass Felsen nicht weiter nachfragen würde. Sie wollte dem stichelnden Gesprächsthema aus dem Weg gehen, plapperte daher schnell weiter und griff ihre anderen beiden Möglichkeiten ungeschickt wieder auf. „Gegen den Gabelschwanz würde ich Kartätschen und das besagte Öl empfehlen. Erstere habe ich. Zwei Stück. Und für das Öl müssten wir noch Zutaten zusammentragen. Dann kann ich es mischen.“, sagte Anna und lächelte etwas nervös. Sie spielte mit einem losen Faden an ihrem gesäumten Ärmel herum, zwirbelte ihn zwischen Daumen- und Zeigefinger. Oh, hoffentlich sprach sie der Landsmann nun nicht noch einmal auf die Hexerzeichen an. Sie hatte nämlich herzlich wenig Lust darauf darüber zu reden und in dem Zug viel zu spät zu erklären, dass sie keine Hexerin war. Sie wollte Felsen ihre misslichen Umstände nicht darlegen, das Thema verspätet aufgreifen und damit gar noch als Schwindlerin dastehen. Anna war keine Betrügerin. Was sie aber war, das war frustriert. Genervt, weil sie eben kein Aard wirken konnte und weil sie zu verschlossen war, um sich darüber bei einem neuen Gefährten auszuweinen. Warum hätte sie dies auch tun sollen? Die Wege der beiden Abenteurer würden sich demnächst so und so wieder trennen. Da war nicht viel Platz für vertrauliche Gespräche. Anna’s Geschichte ging Felsen nichts an. Mittlerweile hatte die nervöse Novigraderin den Faden zwischen ihren kalten Fingern zu einem kleinen Knäuel gerollt. „Hmm. Es ist also Magie.“, sagte Felsen verschwörerisch grinsend und nun war er es, der sich Anna ein Stück weit entgegen lehnte, als erhoffte er sich, die vermeintliche Hexerin würde ihm aufregende Geheimnisse aus Kaer Morhen zuflüstern. Dass jene das Thema gerade eben wechseln hatte wollen, ignorierte er. „Ha. So etwas will ich mal sehen. Zeigst du es mir?“, fügte er auch noch erwartungsvoll lächelnd hinzu. Oh je. „Felsen? Öl. Wir werden Drakonidenöl mischen!“, korrigierte Anna nachdem sie sich mental wieder gefasst hatte und sich auffallend überzogen räusperte. Selbst ein Blinder hätte gemerkt, dass sie dem Thema 'Aard' verbissen aus dem Weg gehen wollte. Gerade, da war sie eine schlechte Schauspielerin. „Wir brauchen Mutterkornsamen und Hundetalg. Von den Samen doppelt so viel, als von dem Talg. Verstanden?“, sagte Anna schnell, packte beherzt an Felsen’s Krug und zog das Gefäß an sich heran, um einen tiefen Schluck daraus zu nehmen. Der Straßenkämpfer ließ sie. Er sah der zerfahrenen Anna aufmerksam zu und Melitele sei Dank fragte er nicht noch einmal nach, bohrte nicht weiter in der ihm unbekannten Wunde seiner abwehrenden Kollegin herum. Abwartend linste die Kurzhaarige über den Rand des Humpens, während ihr der widerlich klebrig-süße Geschmack nach schlechtem Honigwein an den Lippen hing. Felsen hakte nicht weiter nach. * Es vergingen vier Tage, bis Anna und Felsen die Köpfe wieder zusammensteckten. Und dieses Mal taten sie dies nicht im Schankraum des Gasthauses Blandares, sondern in einem stickigen Tavernenzimmer im Obergeschoss des Gebäudes. In einem, das sie sich seit gestern teilten. Ja, sie hatten ihre beiden Einzelräume aufgegeben, um zusammen einen Gästeraum zu beziehen, in dem zwei Betten standen. Er war beinah so klein, wie die Einzelzimmer es waren, dafür aber auch viel billiger, wenn man sich die Miete teilte. Das kam den beiden selbsternannten Gabelschwanzjägern sehr recht, denn nun mussten sich Anna und Felsen nicht mehr gezwungenermaßen unten, zwischen all dem Lärm der Betrunkenen und dem Gestank nach verschwitzten Skelligern mit muffigen Pelzmänteln, treffen. Jetzt, da konnten sie einfach im Bett bleiben und ihre Mission planen. Dies buchstäblich. Schließlich gab es im beengenden Doppelzimmer mehr Bettliegefläche, als staubigen Boden. Es glich schon fast einer größeren Abstellkammer. „Wir haben das Öl, wir haben die Bomben und wir sind wieder einigermaßen gut ausgeruht.“, zählte Anna auf, während sie auf ihrer schmalen, kratzigen Matratze herumlag, die mit plattgelegenem Stroh gefüllt war. Ihre Füße hingen, in den dreckigen Stiefeln steckend, von der Kante der Schlafgelegenheit und baumelten leicht, während die Alchemistin rücklings lag und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die vertäfelte Decke des Raumes sah. Felsen saß im Schneidersitz auf seinem mindestens genauso harten und kleinen Bett herum und rubbelte mit dem naturfarbenen Ärmel an etwas Dreck, der an seiner grünen Tunika klebte. Er schnaubte genervt, befeuchtete sich den Ärmelsaum großzügig mit Spucke und versuchte die braune Bratensoße damit aus seinem schönen Gewand zu bekommen. Es klappte natürlich nicht. „Du hast deine Axt und eine Armbrust, ich mein Schwert. Man könnte auch meinen Silberdolch verwenden, doch dafür müssten wir ziemlich nah an die Tiere herankommen. Ich sage also: Mein Stahlschwert mit dem Öl daran sollte reichen. Du kannst auch etwas davon für deine Axt haben, wenn du willst.“, sinnierte Anna weiter. Sie drehte ihrem Kumpan den Kopf zu. „Das Problem sind nur die drei kleinen Gabelschwänze. Wir wissen nicht, wie sie reagieren werden. Entweder, sie bleiben verängstigt im Nest oder sie imitieren ihre Mutter und wollen uns als Kauspielzeug missbrauchen. Das müssen wir bedenken. Sie sind ein bemerkenswertes Risiko.“, seufzte die Braunhaarige und schlug die Augen einige Herzschläge lange nieder. Stille. Als Felsen nichts sagte, richtete sich die Frau allmählich auf, setzte sich hin und maß den Kerl mit abwägenden Blicken. Sie brummte genervt und beobachtete, wie sich Felsen mit dem Fingernagel an dem Dreck auf seiner Tunika herumkratzte. Ein wertvoll anmutender Ring steckte an seiner Hand. Das Schmuckstück war golden und sah aus, wie eine gewundene Schlange, die sich um den Ringfinger des Schlägers legte. Bestimmt hatte er das Ding beim Spielen gewonnen. „He! Hörst du mir überhaupt zu?“, wollte Anna mit einem Mal schnippisch wissen und taxierte den Kerl, der den Fleck auf seinem Rock noch immer eingehend beäugte. Der dunkelhaarige Skelliger blickte unbeeindruckt auf. „Ja, tu ich.“, versicherte er und entweder log der gewitzte Kerl oder er hatte wahrhaftig die Fähigkeit dazu absolut abwesend auszusehen, obwohl er ganz genau lauschte. Anna hoffte einfach einmal auf Letzteres, sonst wären sie beide im anstehenden Kampf gegen den Drakoniden aus Blandare verloren. „Und ich habe einen Vorschlag.“, setzte Felsen seinen Worten locker nach, lächelte schmal. „Welchen?“, wollte Anna wissen und in ihrem Unterton schwang Skepsis mit. Zwar war ihr neuer Bekannter ein versierter Mann, doch ab und an hatte er auch einen großen Hang dazu zu fantastisch zu denken. Erst gestern hatte er vorgeschlagen eine Vogelscheuche auf eine Mistgabel zu spießen und damit schreiend auf den Gabelschwanz des Dorfes zuzulaufen. Dies in der Hoffnung, die besagte Echse würde die Strohpuppe für einen echten Menschen halten, jenen fressen und sich dabei die rostige Mistgabel durch die Kehle rammen, daran ersticken. Es war ein sehr absurder Gedanke. „Wir haben deine Kartätschen. Wir haben meine Armbrust.“, fing der anwesende Skelliger an und ließ endlich von seiner Tunika ab, die reichlich bestickt war und davon zeugte, dass Felsen einmal recht viel Geld besessen oder einen Wohlhabenden überfallen haben musste. Denn das Kleidungsstück war schön und gut verarbeitet, Goldfaden zierte es an ein paar Stellen und die Schnallen der Schließen sahen teuer aus. Kein einfacher Straßenkämpfer könnte sich solch ein Meisterwerk der Schneiderkunst leisten. „Kartätschen und Armbrust, ja. Das habe ich vorhin auch schon gesagt. Du hast also nicht zugehört.“, maulte Anna gespielt beleidigt, war jedoch nicht wirklich böse. Sie war nämlich zu froh, dass sie in Felsen einen kurzzeitigen Begleiter gefunden hatte, der ihr helfen wollte. Wie könnte sie ihm gegenüber also schnell aus der Haut fahren? „Jaja, lass mich mal ausreden, Hexerin!“, beschwerte sich der Schönling und rückte sich dann den Kragen zurecht. Ein brauner Fellüberwurf umspielte jenen und ließ die Schultern des eigentlich eher zierlichen Mannes breiter wirken, als sie waren. Die Leute dieses Landes mochten zottelige Felle. Lag wohl an den winterlichen, skellischen Temperaturen. „Also, wir haben die Bomben und die Armbrust. Ich habe da auch noch ein dünnes Seil in meinem Gepäck.“ „Worauf willst du hinaus?“ „Der Bäcker nebenan hat große Holztröge, in denen er seinen Teig anmischt. Hast du die gesehen? Darin könnte man baden, so breit sind die!“, sagte Felsen begeistert und lächelte schief. Dabei breitete er die Arme aus, um die Ausmaße der besagten Wannen ächzend anzudeuten. Er schaffte es kaum. „Ja...?“, entgegnete Anna unschlüssig und sah aus, als hätte sie nun am liebsten in den wirren Kopf ihres eigenartigen Zimmergenossen geblickt. Leider vermochte sie so etwas aber nicht, denn sie war keine Zauberin. „Hör zu. Also: Wir befestigen die Kartätschen in solch einer Wanne, drehen sie um. So, dass die Öffnung nach unten zeigt. Du weißt schon. Dann binde ich ein Seil an diesen Trog und einen Bolzen an das andere Ende vom Seil. Während ich das tue, schleichst du um das Nest des Gabelschwanzes herum, wartest mir gegenüber auf der anderen Seite des Platzes. Dann schieße ich den Armbrustbolzen, an dem das lange Seil der explosiven Wanne befestigt ist, über die Wiese. Du schnappst dir das Seil, sobald es bei dir gelandet ist und ziehst damit die Wanne vor die Echsen. Jene werden davon aufgescheucht werden. Ziemlich wütend werden sie auf dem Holztrog herumpicken, -schlagen und -beißen. Und dann... dann lassen wir das Ding hochgehen. Bumm! Es wird die Drachen verwunden und völlig durcheinander bringen. Diesen Moment können wir dann nutzen, um-“ „Ernsthaft?“, Anna unterbrach den hoffnungsvollen Felsen in seinem utopischen Plan vier Gabelschwänze mit einer präparierten Teigwanne in die Luft zu jagen, glucksend. Und sie wusste nicht, ob der Idiot dies ernst meinte oder ob er sie veralbern wollte. Das wusste man bei Felsen oftmals nie so recht, denn er beherrschte Sarkasmus und Ironie, wie sonst niemand. Er war äußerst redegewandt und konnte wahre Begebenheiten so schildern, dass niemand an sie glaubte. All das stand dafür, dass der Mann es eigentlich faustdick hinter den Ohren hatte und nicht immer so dumm war, wie er sich ab und an gab. Er war also nicht nur ein Faustkämpfer, oder? War er vielleicht ein Betrüger und Schwindler, der einen Decknamen benutzte, um sich zu schützen? Irgendein Schurke, der Skellige dringend verlassen musste, weil er irgendetwas verheerendes Angestellt hatte? Was war bloß sein Geheimnis? Warum wollte er weg von hier und weswegen verriet er nicht, wie er hieß? „Was denn? Ich will mich nur konstruktiv einbringen.“, grinste der Inselbewohner breit und zuckte die Achseln. „Ja, sehr konstruktiv, wirklich.“, stöhnte die Frau entnervt, doch kam nicht umhin, dass ein belustigtes Schmunzeln an ihren Lippen zog. Ungeheuer mit Schrapnell-Trögen töten? Na klar. Oh, wenn Balthar, Vadim und Jaromir das gehört hätten... „Hast du schon einmal daran gedacht Bänkelsänger zu werden, Felsen? Deine überzogenen Balladen über explosive Wannen und todbringende Strohpuppen wären in aller Munde.“, witzelte Anna. „Ich überleg's mir.“, grunzte der Axtkämpfer amüsiert. * Der Plan der beiden Lebenslustigen stellte sich am Ende nicht als besonders komplex heraus. Und das, trotz aller wahnwitzigen Überlegungen seitens Felsen. Anna und er hatten sich keine wahnsinnigen Strategien ausgedacht, keine Vogelscheuchen auf Mistgabeln gespießt oder Bomben in Teigwannen versteckt. Es war viel simpler: Anna hatte ihrem Kollegen ihre zwei Kartätschen in die Hände gedrückt und ihm erklärt, wie jene funktionierten. Sie hatten ausgemacht, dass der zähe Mann die drei kleinen Gabelschwänze ablenken und jene somit im Schach halten sollte. Schließlich waren die Jungtiere nicht sonderlich erfahren und würden sich im Notfall von Schrapnellbomben durcheinanderbringen oder verletzen lassen. Und während der skellische Straßenkämpfer mit den kleinen 'Drachen' tanzen dürfte, würde sich Anna wagemutig den großen vornehmen. Sie hatte schließlich schon ein, zwei kleinere Gabelschwänze erlegt und wusste in etwa, was sie tat. Ihr waren diese Echsen bekannt und sie hatte ein wenig Ahnung, wenn es darum ging, diese Biester zu Fall zu bringen. Ja, und wenn sie mit dem rot-braunen Muttertier fertig wäre, würde sie zu Felsen eilen und sich mit ihm zusammen auf die jungen Gabelschwänze, die sich hoffentlich nicht so sehr wehren würden, wie ihre Mutter, stürzen. Simpel. Eigentlich. Anna zurrte ihren ledernen Schwertgurt fester, nachdem sie aus ihrer lockeren Schlafkleidung geschlüpft war, um ihre volle Montur anzulegen. Felsen wartete geduldig vor der Tür. Seit sie beide zusammen ein Zimmer bezogen hatten, war es zum unausgesprochenen Gesetz geworden, dass der Eine den Raum verließ, wenn sich der Andere umziehen wollte. Ein wenig Privatsphäre musste schon sein, fand die verbohrte Anna. Und ihr neuer Kumpan im Kampf gegen blandarer Monster hatte dies auch ohne jegliche Widerworte oder Kritik akzeptiert. Er war keiner dieser hirnlos-lüsternen Kerle, denen es darum ging einer Frau so viel als möglich weg zu starren. Es hatte den gelassenen Skelliger all die Tage über nicht interessiert der Novigraderin näher zu kommen, als nötig und er hatte auch nie anzügliche, obszöne und frauenverachtende Bemerkungen von sich gegeben. Das, obwohl die harten Schlafgelegenheiten der zwei Gefährten kaum eine Elle weit voneinander entfernt standen. Gestern Abend hatte Anna Felsen zudem angeheitert einen Arm um die Schultern gelegt, um schunkelnd feuchtfröhliche Lieder über Ziegen und deren Vierbeiner-bumsende Hirten zu singen. Richtig eng hatte sie das getan, denn wenn sie betrunken war, wurde sie oft zu anhänglich. Trotzdem hatte der hübsche Faustkämpfer die Finger von ihr gelassen und dem lallenden, wankenden Elend darauf folgend auch noch in das Bett geholfen. Die Hexerstochter fühlte sich in Felsen's Gegenwart also wohl und ebenbürtig, nicht wie ein Stück Fleisch oder eine billige Hure. Angenehm war das. Sehr. Man konnte sich ‘gefahrlos’ etwas gehen lassen. Anna hatte den gewagten Entschluss sich zusammen mit einem Halbfremden ein Zimmer zu nehmen, um Geld zu sparen, bisher also nicht bereut. Und abgesehen davon tat die ungewohnte Gesellschaft gut. Die umherziehende Novigraderin war in den letzten zwei Jahren sehr oft unheimlich einsam gewesen. Das hatte das Leben auf der Straße eben so an sich. Und nun, da wurde es Anna gewahr, wie sehr sie es vermisst hatte jemanden um sich zu haben, mit dem sie ab und an über Triviales reden oder etwas trinken konnte. „Haben wir alles?“, wollte Felsen mit in die Seite gestemmten Händen wissen, als Anna schließlich zu ihm auf den Gang trat, dessen knarzender Boden gesäumt war mit dicken, fleckigen Teppichen. Sie trug dabei ihre wattierte Jacke und eine leichte Rüstung, bestehend aus einer Kettenweste, Kniekacheln und Armschienen. Der Skelliger hatte indes einen ledernen Kürass über seinen grünen Gehrock mit dem Pelzkragen gezogen. Felsen trug Schild und Axt bei sich, Armbrust und Bomben. Anna hatte nur ihr Bastardschwert, den langen Dolch und eine kleine Tranktasche, in der sich fünf Glasphiolen befanden, dabei. In der einen schwappte frisch gemischtes, zähflüssiges Drakonidenöl, das sie zeitnah noch brauchen würde. In den anderen Fläschchen befanden sich gewöhnlichere Dinge, die man auf langen Reisen benötigte und die man schlecht einfach so in einen Rucksack stecken konnte: Zu dünne Salbe, etwas Pflanzenöl zum Kochen, Salz und Pfeffer. Manch einer glaubte wohl, die burschikose Alchemistin mit dem Wolfsmedaillon trüge an ihrem Gürtel wichtige Tinkturen und Tränke bei sich, doch dem war nicht so. Sie konnte mit solchen Dingen nämlich wenig bis gar nichts anfangen, obwohl sie durchaus imstande war einige von ihnen zusammen zu panschen. Höchstens schwache Gifte setzte sie neben Waffenölen gelegentlich ein, um Feinde niederzustrecken, mehr nicht. „Ja. Hab alles.“, antwortete Anna auf die Frage ihres Kumpanes knapp und warf ihm einen fragenden Blick zu. Es war ein stummes 'Gehen wir?'. Felsen nickte zustimmend. Der Schrei des großen, rot-braun melierten Gabelschwanzes hallte durch das weitläufige Tal, als sich das ölbenetzte Stahlschwert der Frau aus dem Norden in seine Flanke grub. Anna hielt den lederumwickelten Griff des Schwertes in beiden Händen, stemmte sich mit dem ganzen Gewicht auf die Waffe, trieb die Klinge somit tiefer und hebelte sie nach unten, um die frische Wunde weiter aufzureißen. In ihrem Gesicht lag ein finsterer, konzentrierter Blick und ihr Atem ging schwer und stoßweise. Das Ungeheuer knickte ein, hielt sich nur noch mit einem Bein aufrecht und schlug wie wild mit den häutigen Schwingen, wirbelte Dreck und Schneeflocken auf. Es reckte den schuppigen Hals, krähte einen zornigen Protest und wollte mit gebleckten Fängen nach der Novigraderin schnappen. Gerade noch so wich sie vor den messerscharfen Zähnen des Echsenwesens zurück, riss ihr Schwert dabei mühsam aus dem Körper des Tieres und stolperte beinah rückwärts. Kurz mit dem freien Arm rudernd fand die Frau ihr Gleichgewicht schnell wieder und duckte sich unter dem schlagenden, dornenbesetzten Schwanz des Drakoniden fort. Ihre schmalen Augen funkelten im wilden Kampfesrausch. Wieder breitete das Biest die ledrigen Schwingen aus, flatterte, kam wankend auf die Beine und machte Anstalten Anlauf nehmen zu wollen. Es ging zwei Schritte, hinkte beachtlich und setzte dann flügelschlagend los. Dieser verzweifelte Sprung sah lächerlich aus; wie ein Hüpfer eines Vogels, der es nicht schaffte auf Anhieb loszufliegen. Die schlagenden Flügel wirbelten pulvrigen Neuschnee umher und peitschten jenen der Kriegerin am Platz entgegen. „Oh nein!“, grollte Anna im wissenden Befehlston und der Schweiß machte ihr die Stirn ganz nass. Blut klebte ihr an der Seite, denn vorhin, da hatte der Gabelschwanz sie hart mit einer der gebogenen Krallen erwischt. Egal. Ja, gerade eben war das unbedeutend. Sie durfte den Fokus nicht verlieren und musste ihren Auftrag unbedingt erledigen. Mühsam blinzelte sie sich den aufgewirbelten Schnee aus den Augen. „Du bleibst schön hier, du Mistvieh!“, bellte die Kurzhaarige dann bestimmend und hastete dem Gabelschwanz, der schnarrend mit den Flügeln schlug, nach. Bestimmt wollte sich das rasende Tier in die Lüfte erheben, um daraufhin wie ein Raubvogel auf seine Feindin herab zu stoßen und nach ihr zu schnappen. Gabelschwänze waren berüchtigt dafür pfeilschnell vom Himmel zu schießen, um ihre Beute zu packen, mitzuschleifen und dann von unglaublicher Höhe fallen zu lassen, um ihr alle Knochen zu brechen. Pah! Nicht mit Anna! Die Frau hatte schon zu der Echse aufgeschlossen, holte weit aus und hob mit aller Kraft zu. Sirrend schnitt ihre scharfe Klinge, die vor dunklem Waffenöl schmierig schimmerte, durch die Luft. Wieder ein gellendes Kreischen. Eine der ledrigen Häute der Flügel des Gabelschwanzes riss auf. Das Monster fuhr zu der viel kleineren Angreiferin herum und schnappe abermals mit den langen Zähnen nach ihr. Noch einmal, immer wieder, und seine Fänge klappten hörbar in die Leere. Er grölte wütend und so laut, dass es einem nur so in den Ohren klingelte. Anna hatte Mühe damit genug Abstand zu dem Biest zu bekommen und bemerkte nur beiläufig und im Augenwinkel, wie Felsen gerade zwei der kleinen Gabelschwänze am Rand anbrüllte. Er warf eine der Kartätschen, es knallte, ein Gabelschwanz-Junges jaulte, etwas Schweres kam vernehmbar hart am Boden auf. Der große Gabelschwanz heulte verärgert, warf seine Aufmerksamkeit herum und wendete sich aberplötzlich Felsen zu, der keuchend vor einer der kleinen Echsen stand, die sich unnatürlich zuckend am Boden wand und krampfte. Die anderen beiden kleinen Biester waren vor dem gefährlichen Mann zurückgewichen und zischten ihm scharfe Drohungen entgegen, reckten die Hälse und bleckten die spitzen Zähne. Anders als das Muttertier, das nun drauf und dran war, den Käferschubser den Kopf abreißen zu wollen, übten sie sich nur in lauten Drohgebärden. Zum Sprung bereit und mit stinkendem Geifer vor der Schnauze ging ‚Mama Gabelschwanz‘ jetzt auf den unvorbereiteten Skelliger los. Anna schrie eine Warnung und Felsen fuhr alarmiert herum, doch zu spät. Der gespaltene Schweif des großen Drakoniden traf den Mann in der grünen Tunika von links, dass es nur so schepperte. Man sah, wie er seine Waffe verlor und sein runder Schild aus Holz und Metall flog im weiten Bogen zur Seite; genauso, wie auch Felsen beinah geschleudert worden wäre. Ja, beinah. Denn anstatt sich einfach wuchtig treffen und fort werfen zu lassen, hatte sich der Axtkämpfer reflexartig an dem schlagenden Schwanz der riesigen Echse festgekrallt, die ihn von ihren Jungen hatte fortwehen wollen. Eine Tatsache, die den großen, grollenden Drakoniden ganz schön irritierte. Verärgert und zornig fauchend drehte das Tier den bulligen Kopf, um zu dem Mann zu starren. Felsen hatte die Arme um die geschuppte Rute geschlungen, um nicht meterweit fort bugsiert zu werden, und er schrie überfordert. Anna schlug die freie Linke über dem Kopf zusammen, als sie das sah, und wollte dem nun unbewaffneten Felsen zu Hilfe eilen, brüllte dessen Spitznamen warnend. Oh, was machte er da bloß? Warum klammerte er sich an den Schwanz des Drakoniden, der Depp? Er sollte Abstand zu seinem rasenden Gegner gewinnen und zwar rasch! Die rot-braune Riesenechse, der ‚Drache‘ von Blandare, hob keifend den Schwanz. So, als hole sie damit aus, um ihn samt Felsen gen Grund schnellen zu lassen. Ja, der Gabelschwanz wollte seinen Feind so am schneeverwehten Grund zerschmettern. Doch so weit kam es nicht. Anna wusste ja nicht, ob ihr neuer Kumpan der Inseln irrsinnig fähig war oder einfach nur enormes Glück hatte, als sie beobachtete was passierte: Noch in der ruckartigen Aufwärtsbewegung des Drakoniden-Schweifes ließ der Skelliger das lange Gliedmaß los, verlor den Halt. Die Fliehkraft tat ihr Übriges; der Krieger flog durch die Luft und es schien, als vergehe die Zeit dabei irrsinnig langsam. Anna weitete die Augen und hörte sich den Straßenkampfnamen ihres Verbündeten rufen. Jener schrie überwältigt und kehlig auf, fasste planlos in die Leere und landete auf dem Rücken des Gabelschwanzes. Ein Stück weit rutschte er daran hinab, schaffte es indes aber zwei hornige Stacheln zu erfassen, die dem Tier aus der Wirbelsäule ragten. Wie ein widerspenstiges Pferd begann der Schafsdieb Blandares daraufhin zu buckeln und mit den Flügeln zu schlagen. Er sprang, bäumte sich auf, krähte böse. Anna stockte in ihrem Tun und ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren. Geistesgegenwärtig setzte sie sich gleich in Bewegung und versuchte den chaotischen, eigentlich wirklich komischen Moment auszunutzen, indem sie den planlosen ‚Drachenreiter‘ auf dem Gabelschwanz erst einmal ignorierte. Sie blendete den armen Felsen gezwungenermaßen aus, umfasste ihre Waffe fest und stob nach vorn, dem steigenden Ungeheuer entgegen. Das Adrenalin in ihrem wallenden Blut drängte sie voran, machte ihr die Sinne scharf und den Blick ganz eng. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ihre Lungen fühlten sich wie zugeschnürt an. Die 20-Jährige keuchte, als sie vor dem sich aufrichtenden Echsenwesen ankam, sich vom Boden abstieß und mit dem Schwert voran gegen den entblößten Bauch des Tieres laufen wollte. Anna streifte den wütenden Gabelschwanz jedoch nur. Leider. Denn das verärgerte Schuppentier, das von Felsen mehr als nur irritiert und durcheinander gebracht wurde, warf sich des Mannes wegen zur Seite. Es wälzte sich herum, in der Hoffnung den klammernden Menschen damit abzuwerfen. Das Monster schaffte dies auch und kam sehr schnell wieder auf die Beine. Es trat nach dem aufgebrachten Skelliger, der nun nach Atem ringend am harten Boden lag. In dem Moment glaubte Anna, es sei aus mit ihrem Kollegen. Ja, wirklich. Der Kerl war gerade von einem Drakoniden abgeworfen und halb von dessen massigen Körper überrollt worden. Und nun sauste der breite, krallenbewehrte Hinterlauf des Untieres auf ihn zu. Die Novigraderin brüllte etwas Unverständliches, in ihrem Blick lag für wenige Atemzüge lang panische Angst. Angst davor diejenige zu sein, die den widerlichen Tod des ungewöhnlichen Straßenkämpfers mit dem dümmlichen Grinsen zu verschulden hatte; das Ableben einer zufälligen Bekanntschaft, eines engen Bekannten, vielleicht sogar eines potentiellen FREUNDES. Doch, oh, es kam ganz anders, als befürchtet: Felsen rollte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, um dem verheerenden Tritt des Gabelschwanzes zu entkommen. Er rappelte sich auf die Knie, fiel beinah wieder hin, wollte sich auf die schmerzenden Füße raffen. Anna’s weite Augen wanderten unstet. Ihre Hand legte sich an die Lederscheide ihres Dolches. Dann reagierte sie einfach nur noch und wie instinktiv: Sie schleuderte dem Gabelschwanz ihren geschliffenen Silberdolch entgegen. Da sich das Biest viel zu hektisch und unvorhersehbar bewegte, wurde es verfehlt, doch egal. Denn es reichte, dass ihm die silbern aufblitzende Waffe klackernd vor die Füße fiel. Erschrocken machte der Drakonid dadurch nämlich einen überwältigten Satz zurück, tänzelte aufgescheucht, verfehlte den benommenen Felsen nur sehr knapp und wendete den großen Kopf knurrend herum. Die geschlitzten Augen des Monsters, das sein Nest mit dem Leben verteidigte, trafen abermals auf Anna. Es waren heikle Sekunden, in denen Felsen wertvolle Zeit gewann, um aufzustehen und sich wieder etwas zu sammeln. Die zwei noch lebenden Junge des Gabelschwanzes schnatterten im Hintergrund, doch griffen nicht an. Doch vielleicht würden sie das noch. Man durfte also keine Zeit verlieren und die Novigraderin am Platz lief los, um das Schwert erneut gegen ihren großen, geschuppten Gegner zu erheben. „Scheiße!“, fluchte sie jedoch keinen Atemzug später schon. Sie hatte das große, verärgerte Tier daran hindern wollen loszufliegen, obwohl sie gehofft hatte, dass dies mit dem einen angerissenen Flügel so und so nicht mehr funktionieren würde. Die sonst so schlaue Alchemistin hatte sich aber gewaltig geirrt. Denn soeben erhob sich die Echse hektisch flatternd in die kühlen Lüfte. Die Schwingenschläge gingen etwas unkontrolliert, doch das änderte nichts daran, dass das verwundete Biest meterweit hochstieg. Es regnete ein paar vereinzelte Blutstropfen. Der Blick der Hexerstochter folgte dem Gabelschwanz in böser Vorahnung und sie nahm eine abwartend-defensive Stellung ein, drehte den Kopf, um das Ungeheuer auch weiterhin im Sichtfeld behalten zu können. Jenes begann lauernd über dem Platz zu kreisen und dies war schon längst keine bloße Drohung mehr. Der rostbraune Gabelschwanz ging in die gefährliche Offensive über und wollte die beiden Menschen, die so viel kleiner waren als er, töten. Dafür, dass einer von ihnen eines seiner Junge erlegt hatte. Es war klar, dass er die Peiniger seiner Brut auch dann rachsüchtig verfolgen würde, würden sie die Flucht ergreifen. „Felsen!“, Anna sah sich hektisch nach dem Mann um, der ächzend angelaufen kam. Er humpelte dabei leicht und biss die knirschenden Zähne zusammen, reckte das Kinn stur und gab seinen Schmerzen nicht nach. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch stand. „Armbrust!“, forderte die Novigraderin viel herrischer, als sie es gewollt hatte. Sie war eben ziemlich aufgebracht. Und das, wiederum, würde sie später noch ärgern. Ihr Verhalten war gerade alles andere als souverän und noch nie hatte sie die Kontrolle über ein Ungeheuer so schnell verloren, wie heute. Ja, sie war nicht konzentriert genug gewesen und hatte sich ihres Begleiters wegen ablenken und einschüchtern lassen. Ihr war beinah das Herz stehen geblieben, als Felsen vorhin vom Gabelschwanz niedergewälzt worden war und dieses lähmende Gefühl klang noch immer nach. Anna’s feuchte Hände zitterten stark und sie wusste: Balthar wäre gerade nicht stolz auf seine Ziehtochter gewesen. Der Hexer hätte verächtlich ausgespuckt und sie getadelt. Jedwede Bindungen besaßen in seinen Augen schließlich kaum wert und fesselten einen bloß; dies hatte er früher immer gepredigt. Anna presste die Lippen bei dem Gedanken grimmig zusammen und sah sich nach ihrem skellischen Kollegen um. Ohne sich zu beschweren oder nachzufragen hatte sich Felsen seine Armbrust vom Rücken geschnallt, stellte sie mit dem Schaft senkrecht vor sich und trat mit einem Fuß auf den Bügel der alten, doch massiven Waffe, um sie zu stabilisieren. Mit den behandschuhten Händen, an denen zähes Drakonidenblut klebte, erfasste er schnell die Sehne, spannte sie und ließ sie im Abzug einrasten. Mit fahrigen Fingern fummelte er einen grün-blau gefiederten Bolzen aus seinem Hüftköcher. Zitterte auch er ein wenig? „Was… was soll ich machen?“, stöhnte der aufgewiegelte Mann fast schon verzweifelt, als er seine schön geschnitzte Schusswaffe lud, und man hörte, dass er genauso abgekämpft sein musste, wie Anna selbst. Doch noch könnten sie sich keine Pause gönnen. „Wenn er auf uns zufliegt, dann schießt du!“, entkam es der blutenden Kurzhaarigen und sie warf einen prüfenden Seitenblick zu ihrem Kumpan hin. Der Kerl war dreckig, seine dunklen Haare wirr und er stand ziemlich schief. Doch er legte die Armbrust ohne zu Zögern an, zielte und wartete schwer atmend und schwitzend ab. Sekunden vergingen ohne, dass der Gabelschwanz die weiten Schwingen anlegte, um in den Sturzflug überzugehen. Er zog nur seine Kreise, behielt die zwei Kleinen Menschen im Auge und fauchte zornig, wartete auf eine gute Gelegenheit zuzuschlagen. Und dann, endlich, setzte die verwundete Echse zum Angriff an. Der Wind ließ die zusammengelegten Flügelhäute nur so flattern, als der Gabelschwanz mit blinder Wut und gefährlich aufgerissenem Maul auf die beiden Menschen zustürzte. Wie ein riesengroßer Vogel schoss er vom Himmel herab und seine Gegner blieben eisern an Ort und Stelle stehen, erwarteten ihn tapfer. Die Anstrengung dem Drang wegzurennen zu widerstehen, war immens. Anna glaubte, ihr rutsche das Herz gen Grund und sie stöhnte gehetzt, als sie die gesamte Situation und die Entfernung des nahenden Monsters zu messen versuchte. Ein Fehler und sie und Felsen würden gleich sterben. „Jetzt!“, schrie die Alchemistin und ihre Rechte umklammerte ihren Schwertgriff fest. Felsen betätigte den Abzug seiner Armbrust sofort und der Bolzen sauste pfeifend durch die Luft. Das Geschoss schnellte dem aggressiven Drakoniden entgegen und traf jenen tatsächlich frontal in den Hals. Der Gabelschwanz krächzte laut auf, zappelte, fiel. Anna schrie einer alarmierenden Ahnung wegen auf und gestikulierte an Felsen gerichtet und mit scheuchender Handbewegung zur Seite. “Weg!”, blaffte sie “Weg, weg!” Die beiden Abenteurer hasteten ziellos fort und dem fallenden Monster damit aus dem Weg. Donnernd krachte jenes einen Herzschlag später schon auf den Boden, schlug dabei beinah einen Purzelbaum, und blieb für wenige Augenblicke lang benommen schnaufend liegen. Momente, die Anna nutzte, um sich im Fortlaufen umzuwenden und wieder zu dem Tier zu rennen, so schnell sie nur konnte. Ohne zu zögern hob sie, dort angekommen, kampfschreiend zu und stieß der Bestie die lange Klinge zwischen die Rippen. Noch ein Brüllen, das Sirren eines weiteren skelliger Armbrustbolzens. Das Biest zuckte, einmal, zweimal. Eines seiner Beine strampelte unkoordiniert und wühlte die weiche Erde und den Schnee unter sich auf. Ein nasser Atemzug durch geblähte Echsen-Nüstern, ein kraftloses Krächzen. Dann erschlaffte der Leib des kritisch versehrten Gabelschwanzes, der sich beim Sturz aus dem Himmel das Kreuz gebrochen hatte, langsam. Für immer. Doch der gefährliche Kampf war noch nicht vorbei, denn nach wie vor waren zwei der vier Gabelschwänze übrig. Zwar waren es kleine, dennoch waren sie nicht zu unterschätzen. Nun waren sie es, die schnarrend, schimpfend und beißend auf Anna und Felsen zu sprangen. Sie maßen ihrem toten Muttertier nicht besonders viel Aufmerksamkeit zu, konzentrierten sich eher auf die gehetzte Anna und ihren ziemlich überforderten Begleiter, der in dieser Sekunde seine letzte Schrapnellbombe zündete. „Zurück!“, bellte jener heiser, warf die Kartätsche und ohne überhaupt einen Wimpernschlag lange über diese herrische Forderung nachzudenken, wendete sich die Hexerstochter ab und lief davon. Felsen tat es ihr gleich, erhob die Arme schützend über den eingezogenen Kopf. Es knallte ordentlich, die übrigen Geschuppten schrien gellend und warfen sich herum. Irgendetwas stach plötzlich im Bein der Novigraderin und ließ sie taumeln, einen Schritt nach vorne stolpern. Kartätschen, die es bei ihrer Explosion in alle Himmelsrichtungen zerriss, waren eben unberechenbar und deren Silbersplitter schnitten scharf. Schmerzerfüllt kniff die getroffene Monsterjägerin eines ihrer Augen zusammen und zischte einen leisen Fluch. Was wenige Herzschläge später folgte, war ein erneutes, schwerfälliges Aufnehmen des Kampfes gegen die zwei letzten, blutenden Gabelschwanz-Junge. Felsen schaffte es seine fallengelassene Waffe wieder an sich zu nehmen und schlug brüllend nach einem der Drakoniden. Anna stieß mit dem Langschwert zu, trat auf einen geschuppten Schwanz, drehte sich und traf braune Schuppenhaut. Blut im Schnee, gurgelnde Echsengeräusche, Aufstampfen, Fallen. Geflatter, Gezucke, tiefes Schnauben. Und dann… dann wurde es endlich still. Nurmehr der kalte Wind gähnte und schien die vier toten Gabelschwänze auf der Anhöhe vor Blandare zu verspotten. „Urgh…“, war das einzige, das Felsen kurz nach dem erbitterten Kampf einfiel, als er sich rücklings in den flachen Neuschnee fallen ließ. Vor wenigen Augenblicken erst hatte er sich dessen versichert, dass alles nicht-humanoide ringsum verendet war. Und nun plumpste er auf den Boden und blieb laut und erleichtert seufzend liegen; mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen, durchgeschwitzt und mit dunklem Echsenblut besudelt. Die stark hinkende Anna ließ sich ebenso neben ihrem skelliger Gefährten nieder. Sie legte ihr rot beschmiertes, nach Öl stinkendes, Schwert neben sich, öffnete sich den hohen Kragen der Jacke und atmete tief durch. Ein paar ihrer kurzen Haarsträhnen klebten ihr feucht an der Stirn und sie bekam kein Wort heraus, fasste sich erschöpft an die pochend schmerzende Seite. Ein leiser, halbgarer Fluch verließ ihre Kehle, die vom vielen Herumschreien ganz rau und trocken war und sie wagte es kaum sich im Sitzen zu krümmen. Oh, Scheiße, waren all ihre Rippen noch ganz? Hoffentlich. Es fühlte sich zwar nicht so an, aber man sollte das Hoffen ja nie aufgeben. Leise murrend betastete die Frau den Rand ihrer frischen Wunde, die die Kralle des Schafsdiebes Blandares gerissen hatte. Jene war nicht allzu tief, so schien es. Melitele sei Dank. “...Hjaldrist.“, atmete der völlig fertige Straßenkämpfer, der rücklings neben Anna lag, dann ganz plötzlich und seine Begleiterin sah auf. Sie lenkte den leicht glasigen Blick wirr zu jenem hin und zog die Augenbrauen weit zusammen. Was hatte Felsen eben gesagt? “Was?“, wollte sie wissen. “Mein Name.“, erklärte der Skelliger, der ein Bad und ein paar dicke Bandagen mehr als nur nötig hatte, und öffnete die dunklen Augen wieder. Ermüdend und entnervt drehte der blutbesudelte Krieger der Hexerstochter den Kopf zu, um sie anzusehen. “Ich heiße Hjaldrist.” “Oh.“, meinte Anna nun trocken, als sie verstand, und sie blinzelte verwundert “Achso.” “Das war echt gut.”, setzte der Kerl seiner kurzen Vorstellung noch müde grinsend nach. “Tse.”, schnaufte die sitzende Alchemistin amüsiert und musste den Kopf langsam und ungläubig schütteln “Ein Gabelschwanz hat dich fast zu Brei verarbeitet und du findest das gut?” “Ey… abgesehen davon haben wir’s dem doch ziemlich gegeben. Wir haben unsere Aufgabe erledigt.” “Hm.” Felsen, nein, ‚Hjaldrist‘, hob eine Faust an und hielt sie der Frau neben sich auffordernd entgegen. Wieder runzelte die Novigraderin unschlüssig die Stirn und betrachtete die ihr gezeigten, leicht blutigen Knöchel fragend. Ein irritierter Laut verließ ihre Lippen. Was sollte das hier werden? “Hä?”, machte sie. “Du musst mit deiner Faust dagegen hauen, Idiotin...“, brummte der Skelliger gespielt tadelnd und atmete noch immer ganz unregelmäßig. Er sah mies aus, doch lächelte schon wieder. Na, immerhin. “Ah...“, murmelte die entrückte Kurzhaarige, die die beschriebene Geste bisher nicht gekannt hatte, betreten. Sie war manchmal eben noch immer etwas weltfremd, hatte in der Vergangenheit weder Freunde außerhalb von Kaer Morhen besessen, noch viel auf unterschiedlichste Grußformen gegeben. Sie ballte die behandschuhte Rechte locker und boxte damit herzlich gegen die Faust ihres unglaublich erledigten Kampfgefährten. Man musste ihr dies nicht weiter erklären, denn sie ahnte, was der leichte Schlag von Faust gegen Faust hieß. Ja, wahrscheinlich machte man das unter Freunden so. Kapitel 4: Ein Aard aus Fleisch und Blut ---------------------------------------- Am darauffolgenden Abend leisteten sich die zwei wackeren Gabelschwanztöter das teuerste Essen, das die schäbige Taverne in Blandare hergab: Gebackenen Schweinebraten mit reichlich Butterkartoffeln, Gemüse und den tomatengespickten Kräuter-Rahmfladen des Hauses. Und natürlich gab es dazu reichlich Bier, um auf den Sieg über die vier ‚Drachen‘ des Dorfes anzustoßen. Dunkles für Anna, helles für Hjaldrist. Die Ausländerin und der bekannte Straßenkämpfer waren in aller Munde, seit sie den blutigen Kopf des großen Gabelschwanzes und die abgehackten Vorderkrallen der schuppigen Jungtiere ins Dorf geschleppt hatten. Anna hatte in grenzmorbider Weise mit den spitzen Klauen gewinkt, Hjaldrist den Schädel des toten Schafsdiebs ächzend und humpelnd hinterhergetragen. Sie hatten all dies vor die Füße des Bauern geworfen, der sie beauftragt hatte. Dieser alte Skelliger hatte sich ganz schön erschrocken, dann aber damit angefangen überwältigt und heilfroh zu lachen. Schnell hatten sich die aufgeregt plappernden Menschen des Kaffs um die Monster-Trophäen versammelt, waren nähergekommen, um jene zu berühren und genauer zu betrachten. Die Dorfwache hatte Mühe damit gehabt all die Schaulustigen zu beruhigen und übermütige Kinder davon abzuhalten auf den großen, stinkenden Kopf des Gabelschwanzes zu steigen, sich darauf zu setzen oder anderen Blödsinn damit anzustellen. Und während die etwas unbeholfene Dorfbevölkerung gestaunt hatte, waren Anna und Hjaldrist um achtzig Silber und zwei Pferde reicher geworden. Der stolzen Hexerstochter hatte man die Zügel eines dunkelbraun gescheckten Wallachs in die Hand gedrückt. Das neue Reittier von Hjaldrist war heller und hatte die Farbe gebackenen Teiges, weswegen Anna das gute Ross ungefragt feixend auf den Namen ‚Apfelstrudel‘ getauft hatte. Ihr Gefährte hatte dies nicht kommentiert, sondern nur die braunen Augen verdreht. Er hatte damit noch viel stärker gerollt, als Anna’s Pferd den abgedroschenen Namen Kurt bekommen hatte, doch hatte auch dazu die Klappe gehalten. Er hatte die Tiernamen nun, beim Essen, kein einziges Mal angesprochen und war offenkundig nicht erpicht darauf darüber zu diskutieren. Alles in allem war es also ein schöner Anfang einer feuchtfröhlichen Nacht; mit leckeren Speisen und viel Alkohol. Und Anna war sich sicher: Hätte sie vor einer guten Stunde nicht so viel fettigen Braten in sich hineingestopft, läge sie nun schon längst sturzbetrunken unter der abgesessenen Kneipenbank. Tat sie aber nicht. Stattdessen saß sie noch immer da, klaubte gerade ein paar Nüsse aus einer kleinen Holzschale am Tisch und fühlte sich nicht viel betrunkener, als angeheitert. Ihr Kopf war wie in Watte gepackt und die Schmerzen, die ihr durch die schlampig verbundene Seite jagten, nur noch dumpf spürbar. „Darf ich dich was fragen?“, Hjaldrist sah über den etwas schiefen Tavernentisch zu seiner burschikosen Gefährtin hin und sein neugieriger Ausdruck gefiel Anna nicht so recht. „Kommt drauf an was.“, meinte die Novigraderin skeptisch und steckte sich ein paar der gesalzenen Nüsse in den Mund, die einen dazu brachten noch mehr zu Trinken zu bestellen. Sie lehnte sich zurück und beäugte den Schwarzhaarigen aufmerksam. Ja, was käme jetzt wohl? Ihr war schon aufgefallen, dass die Zunge des Kriegers durch das viele Bier schon viel lockerer war, als die ihre. „Warum hast du keine Hexermagie gegen den Drachen eingesetzt? Du wolltest neulich auch nicht darüber reden und gingst dem Thema aus dem Weg.“, kommentierte der schlaue Kerl und der gerade noch so gelassene Ausdruck Annas wurde um einen Deut härter. Sie spürte ein unangenehmes Stechen in der Magengegend und es war, als habe sie gerade ein paar tiefe Schlucke Eiswasser getrunken. Sie atmete flach durch die Nase ein. „Ich hatte noch nie mit nem Hexer zu tun. Es interessiert mich daher ziemlich.“, sagte Hjaldrist aufrichtig und nippte an seinem kühlen Getränk, das über den hölzernen Becherrand auf den Tisch schäumte. Er sah Anna an, als suche er in ihrem Gesicht nach irgendeiner Regung, die sie verraten könnte. „Ganz ehrlich? Du wirkst auf mich nicht sehr magisch oder andersartig. Eher wie eine normale Kämpferin, die mit dem Schwert umzugehen weiß. Du hast all die Tage über nie gezaubert oder dergleichen und es fällt mir echt schwer dich von einer gewöhnlichen Mietklinge zu unterscheiden.“, lachte der Dunkelhaarige ehrlich und blickte sein Gegenüber nahezu wissend an. Er war nicht so naiv, wie er soeben tat, und seine Augen verrieten dies. Anna’s Lippen waren schmal geworden, denn schon wieder sprach sie der zu interessierte Kerl hier auf etwas an, das sie nur zu gerne vergaß oder gar verdrängte. Wenn man es denn so nennen konnte. Ja, es lastete immens schwer auf der ambitionierten Alchemistin, dass sie nicht so war, wie sie es gerne wäre: Eine Mutantin. Mit katzengleichen Augen, größtenteils giftresistentem Körper und übermenschlichen Reflexen. Eine Hexerin, die mächtige Zeichen sprechen konnte; so wie Balthar, Vadim oder Jaromir. Aber sie war keine. Sie wollte schon so lange eine werden, doch wusste noch nicht so wirklich wie. Das, obwohl sie schon seit geschlagenen zwei Jahren nach einer Methode dafür suchte. Anna fühlte sich daher ohnmächtig. So, so ohnmächtig. Und im normalen Zustand hätte sie jetzt einen dummen Scherz gemacht, um dies zu überspielen. So etwas konnte sie so gut, wie sonst niemand. Der Alkohol versagte ihr dieses geschickte Manöver jedoch und machte sie traurig. Die Kriegerin fühlte sich abrupt schlecht, beleidigt, frustriert. Hjaldrist’s drängendes Nachfragen stieß der trunkenen Anna hart vor den Kopf und es war, als reibe er Salz in eine hässliche Wunde, die schon seit ihrer Jugendzeit weit aufklaffte. Am liebsten hätte die Frau an Ort und Stelle geflennt, doch diese Blöße gab sie sich nicht. Daher reckte sie das Kinn leicht und schluckte schwer, ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten. „Was denn? Das is grade keine Beleidigung gewesen.“, meinte der Straßenkämpfer im grünen Rock unzufrieden „Warum schaust du so?“ Und womöglich wusste er bereits Bescheid. Er wollte nur eine Bestätigung seiner vagen Annahme hören und Sicherheit darüber haben, dass er hier, in Blandare, nicht an der Seite einer versierten Hexerin gekämpft hatte. Sondern zusammen mit einer stinknormalen Frau, die sich in seinen Augen womöglich viel zu groß aufspielte. Felsen, nein, Hjaldrist dachte nun bestimmt, die Schwertkämpferin aus Novigrad sei eine haltlose Schwindlerin, ein Großmaul und eine Angeberin, die sich mit Lügen auf den Lippen aufplusterte. Aber das war sie nicht. Sie war tatsächlich im rauen Kaer Morhen groß geworden und hatte dort unter den Fittichen ihres Ziehvaters und ihrer ‘Onkel’ hart trainiert. Noch vor dem spärlichen Frühstück war sie damals jeden Tag um die Festung gelaufen, hatte sich dabei sogar einmal den Arm und ein Bein gebrochen. Ihre Füße waren zu oft blasenübersät gewesen und ihre Finger so rau, wie die eines Schmiedes. Balthar hatte die junge Anna mit verbundenen Augen über die Schwebebalken geschickt, ihr mit Übungsschwertern blaue Flecke verpasst und sie immer wieder belehrend angeherrscht. Und wofür? Dafür, dass sie verzweifelte Kurzhaarige irgendwann an ihre körperlichen Grenzen gestoßen war. An welche, die sie ab diesem Zeitpunkt immer überwinden hatte wollen. Doch es hatte bis heute nicht funktioniert. Die laienhafte Monsterjägerin könnte nicht mehr werden, als sie schon war. Jedenfalls nicht ohne das Ritual, das Männer zu Hexern machte. Ja, Männer. Es war so frustrierend. Und es tat weh. War Anna zu verbissen? Verrückt? Würde sie ihr Ziel denn je erreichen? Die Alchemistin wurde zornig, ärgerlich über sich selbst und ihre Art, und biss sich auf die Innenseiten der Wangen, um mit körperlichem Schmerz von dem seelischen abzulenken. Ihr Bier, das rührte sie nicht mehr an und genauso wenig lächelte sie weiterhin angeheitert-dümmlich vor sich hin. Die Hexerstochter war aberplötzlich und unpassend todernst, ihr Ausdruck angespannt, steinern. Sie öffnete die trockenen Lippen, um Luft zum Sprechen zu holen, befeuchtete jene nur flüchtig mit der Zunge. Doch sie sagte nichts, hielt inne und schloss den Mund wieder. Dann erhob sie sich einfach und ging. Sollte sich dieser Hjaldrist doch zum Teufel scheren! * Anna konnte sehr, sehr stur sein, wenn sie wollte. Erst recht, wenn sie sich beleidigt fühlte und daneben auch noch mehr Alkohol im Blut hatte, als ihr gut tat. Und so hatte sie sich in ihr hartes Bett verkrochen, die kratzige Baumwolldecke bis zur Nase hochgezogen, und dachte nicht daran heute Abend noch ein Wort mit Hjaldrist, diesem Arsch, zu sprechen. Sie hätte sich ja auch gerne zur Seite gedreht, um demonstrativ mit dem Rücken zum Raum zu liegen, doch die längliche Wunde an ihrer Seite, die sie sich im Kampf gegen den Gabelschwanz geholt hatte, ließ das nicht zu. Also lag sie gezwungenermaßen am Kreuz und starrte der staubigen Zimmerdecke entgegen, die nachts genauso finster war, wie ihr Blick. Anna’s Kollege war ihr nicht gefolgt. Zum Glück. Wahrscheinlich würde er noch lange im gut besuchten Schankraum verweilen und sein Bier austrinken. Vermutlich würde er sich dabei ins Fäustchen lachen und sich über Anna lächerlich machen, weil sie abgehauen war, wie ein kratzbürstiges Weib während ihrer Mondblutung. Vielleicht ärgerte er sich aber auch. Es war der Hexerstochter egal. Sie schuldete dem Skelliger keinerlei Antworten oder Erklärungen. Ja, wer war sie denn? Und sie hatte auch nicht vor ihm heute noch eine Gute Nacht zu wünschen. Das, obwohl sie beide die letzten Tage über und vor dem Schlafengehen des Öfteren noch geplaudert hatten. Über Kulturunterschiede hatten sie dies getan, über verschiedene Tiere, skelliger Essen oder noch Belangloseres. Sie hatten herumgelegen, jeder in seinem Bett, oder sie waren unten in der Schenke gesessen und hatten über das Wetter, Gabelschwänze oder Annahmen über das Funktionieren der Welt sinniert. Dabei war es aufgefallen, dass sie beide sehr wenig über sich selbst gesprochen hatten. Anna hatte ihre Vergangenheit in keinem Mucks erwähnt und auch Hjaldrist hatte sich nicht über Dinge wie Familie, Heimatort oder dergleichen geöffnet. Im Grunde kannten sie einander also gar nicht. Sie waren quasi Fremde und hatten erst seit weniger als einer Woche miteinander zu tun. Das reichte nicht aus, um einem Menschen seine gesamte Lebensgeschichte anzuvertrauen. Und wahrscheinlich würde es auch nie so weit kommen, denn die vier Gabelschwänze des Dorfes waren tot, das Kopfgeld kassiert und Hjaldrist wollte Skellige verlassen. Jedenfalls hatte er vor ein paar Tagen noch davon gesprochen ein Schiff nach Cintra nehmen zu wollen. Kam Anna nur recht. Dann war sie wenigstens das neugierige Nachfragen und -sticheln nach dem Hexertum los. Die soeben viel zu emotionale Frau schnaufte genervt und zog sich die Bettdecke zur Gänze über den Kopf. Der Alkohol ließ sie daraufhin sehr bald einschlafen. Dies noch bevor ihr Zimmergenosse kam, um sich ebenfalls hinzulegen. Als Anna erwachte, war Hjaldrist schon weg. Seine paar Habseligkeiten waren aber noch da, was bedeutete, dass er nicht sonderlich weit sein konnte. Die teure, grüne Tunika lag auf seinem ungemachten Bett herum und sein großer Rucksack, an dem eine verbeulte, schmiedeeiserne Pfanne baumelte, lag am Boden unweit der Tür. Die matte Kurzhaarige wischte sich den Schlaf aus den Augen, als sie den Oberkörper leise ächzend aufrichtete und sich umsah. Noch immer meckerten ihre Knochen dabei und ihr Schädel, der brummte vom vielen Bier, das sie am vergangenen Abend getrunken hatte. Zu viel zu saufen war wohl nicht die weiseste Entscheidung gewesen, doch sei’s drum. Anna wollte heute so oder so nicht viel unternehmen, sondern sich ausruhen. Vielleicht würde sie später auf den Markt gehen, um dort herumbummelnd Ausschau nach Heilkräutern und Salben zu halten. Die hatte sie dringend nötig, denn ihre versehrte Seite meldete sich gerade schmerzlich zu Wort. Und dann würde sie Futter für Kurt besorgen, irgendwo einen Apfel für das dunkelbraune Tier stibitzen. Wenn es hier und zu dieser kargen Zeit denn überhaupt solch ein Obst gäbe, verstand sich. Und während die im Bett sitzende Frau so über ihren langweiligen Tagesplan nachdachte, sich dabei murrend den Schnitt der Schrapnellbombensplitter am nackten Bein rieb, kam sie nicht umhin sich zu fragen ob ihr skelliger Gefährte heute abreisen würde. Oder hatte er vor auch noch etwas länger zu bleiben? Er war während des gestrigen Kampfes schließlich auch verwundet worden, nicht wahr? Er müsste sich ausruhen, bevor er Blandare verließ. Anna entkam ein leises Seufzen und sie zog die Brauen etwas zusammen, sah auf ihre dünne Bettdecke und ihre Handflächen hinab, die vom vielen Arbeiten und dem ständigen Kämpfen etwas schwielig waren. Ein paar fahle Sonnenstrahlen, die zu dieser Jahreszeit aber nichts dazu beitrugen das Zimmer zu erwärmen, fielen durch den breiten Schlitz zwischen den halb zugezogenen Vorhängen herein. Jene waren recht altmodisch und passten zu der restlichen rustikalen Einrichtung der Taverne, die zum Großteil aus Holz bestand. Rot-weiß kariert hingen sie da und waren wohl vor JAHREN das letzte Mal gewaschen worden, denn ihr Weiß war vergilbt und man konnte vom Bett aus sehen, dass Staub an ihnen hing. Von draußen drangen Stimmen herein; das herzliche Gebrüll der Marktschreier vor dem Haus, Hundebellen, Hufgetrappel und das Gemurmel der wenigen Gasthausbesucher, die unten sicherlich schon beim Mittagessen saßen. Ein schwacher Geruch nach saurem Kraut, Braten und Zwiebeln stieg Anna in die Nase. Essen. Die sonst so gefräßige Hexerstochter hatte keinen sonderlichen Appetit und dies lag nicht am Alkohol, den sie gestern im Übermaß in sich hinein gekippt hatte. Zwar hämmerte ihr der Kopf und die Zunge klebte ihr schal am Gaumen, doch ihrem Magen ging es soweit gut. Sie hatte einfach keine Lust darauf etwas zu essen, weil sie sich anderweitig übel fühlte: Anna hatte ein unsäglich schlechtes Gewissen, das ihr den Bauch ganz flau machte. Und zwar wegen Hjaldrist, den sie gestern einfach so im gut besuchten Gasthaus hatte sitzen lassen. Des vielen Bieres wegen war sie viel zu rührselig geworden und kindisch-eingeschnappt von Dannen gezogen, obwohl ihr ihr Bekannter nur eine vermeintlich einfache Frage gestellt hatte. Oh, bei den Göttern, in ihrem Suff hatte die Kriegerin gar geglaubt der Skelliger veralbere sie oder frage aus purer Bosheit nach. So war dem aber nicht, das ahnte die Kriegerin. Hjaldrist war kein hinterhältiger Kerl, der einem nur Schlechtes gönnte. Er hatte keine gespaltene Silberzunge und freute sich nicht über lange Gesichter oder Unfrieden. Vermutlich hatte er gar keinerlei Ahnung davon, weswegen Anna ihn gestern so dermaßen böse angestarrt und ihn dann mit störrischem Schweigen gestraft hatte. Ach, die Frau kannte den Käferschubser zwar noch nicht lange, dennoch glaubte sie Leute wie ihn relativ gut einschätzen zu können. Und Hjaldrist wirkte nicht wie jemand, der gerne schadenfroh stichelte, um Mitmenschen ernsthaft aufzuwiegeln. Er machte ab und an dumme Scherze, ja, doch die waren harmlos, neckend, spaßig. Also fühlte sich Anna grottenschlecht und kam sich ganz schön dämlich vor, infantil und lächerlich, weil sie sich am Vorabend gegeben hatte, wie ein weinerliches Prinzesschen auf der Erbse. Sie war jedoch kein Prinzesschen. Und sie sollte sich bei dem Straßenkämpfer Skelliges entschuldigen. Ja, SOLLTE. Denn da gab es wieder das Problem des massiven Sturkopfes der Frau aus Kaer Morhen. Einerseits hatte sie ein sehr schlechtes Gewissen, das ihr zuflüsterte, auf Hjaldrist zuzugehen. Doch andererseits war sie sich sicher, dass sie sich noch dämlicher vorkommen würde als jetzt, würde sie zu ihm schleichen und eine ungeschickte Entschuldigung stammeln. Sie würde sich ganz sicher blamieren. Im harten Dickschädel der Novigraderin lagen nun also zweimal ‚Dämlich-Vorkommen‘ auf der Waage: Das, das von bedrückendem Schuldbewusstsein angefacht wurde und jenes, das daher rührte, dass sich die Braunhaarige nicht zur Idiotin machen wollte, indem sie angekrochen kam, um einzugestehen, dass sie einen kleinen Fehler gemacht hatte. Pah, wie Anna es hasste zu kriechen! Wie es sich später im geschäftigen Schankraum herausstellte, musste Anna nicht gezwungenermaßen und mit verkrampften Gliedern zu Hjaldrist laufen, um ein lasches ‚Entschuldige‘ hervor zu murmeln. Denn der Skelliger kam ganz einfach zu ihr und was noch viel besser war: Er tat so, als sei nichts gewesen, als er sich zu seiner geknickten Gefährtin setzte. „Ich habe die Pferde gefüttert.“, meinte der Mann, als er sich zu Anna gesellte, die gerade mit einer Miene wie hundert Tage Regenwetter in eine Tasse Tee mit Milch gestarrt hatte. Misstrauisch sah sie auf und fixierte den lächelnden Kerl, der für seinen gestrigen, exzessiven Bierkonsum sehr frisch aussah. Er steckte in einer schlichten Lederhose und einem weißen Hemd, hatte sich heute offensichtlich noch nicht die Mühe gemacht sich mehr Stofflagen anzuziehen oder sich gar aufzurüsten. Und das bei dem verschneiten Hundswetter! Oh Mann, Skelliger schienen die Eiseskälte ja wirklich gewöhnt zu sein. „Ich habe recht günstig einen Sack Heu und etwas Weizen bekommen. Ich denke, das reicht den Tieren für heute.“, setzte Hjaldrist seine Ansprache fort und locker lehnte er sich zurück, kaute auf einem Holzspießchen herum und machte Anstalten mit dem schiefen, knarzenden Stuhl wippen zu wollen. „Wie viel hast du bezahlt?“, wollte Anna wissen und dies waren die ersten Worte, die sie seit der kleinen Eskalation von gestern von sich gab. Sie klang relativ neutral dabei, ruhig, denn es tat gut über Triviales zu reden. Sie würde ihrem Gefährten später die Hälfte des Geldes, das jener für das Pferdefutter ausgegeben hatte, zurückzahlen. „Passt schon.“, schmunzelte der Dunkelhaarige aber bloß und wechselte das Thema sofort. „Geht’s dir wieder besser?“, eine gut gemeinte Frage, die Anna ein unschlüssiges Kopfwiegen und einen nichtssagenden Laut entlockte. Ein lethargisches Schulterzucken folgte. Noch immer fühlte sie sich, wie der dämlichste Mensch auf Erden, doch sprach es nicht an. Sie war nicht sonderlich gut in solchen Dingen. „Passt schon…“, meinte sie deswegen knapp und wiederholte die Worte ihres Gegenübers damit in einem anderen Kontext, als Pferdefutter-Schulden. Der Skelliger nickte leicht, verkniff sich ganz offensichtlich ein wissendes Grinsen. Er wirkte zufrieden, denn er war zwar kein simpler Mann, doch mochte es einfach. Es erleichterte ihn sicherlich ungemein nun nicht über irgendwelche Gefühle und übertriebenen Alkoholgenuss diskutieren zu müssen. „Wie lange bleibst du noch hier in Blandare?“, wollte Hjaldrist wissen. War das ehrliches Interesse oder wollte er einfach nur reden, um die blasse Anna aufzumuntern? Die Frau fasste nach ihrer warmen Teetasse und drehte jene ein wenig zwischen den Händen, als sie nachdenklich wurde. Der Stiel des hölzernen Löffels in dem Trinkgefäß rutschte am Becherrand entlang. „Bis morgen oder übermorgen?“, schätzte sie „Ich sollte mich etwas ausruhen, bevor ich mich wieder daran mache Geld zu verdienen.“ Dieses Geldverdienen bedeutete Ungeheuer und Monster zu jagen, denn was Anderes hatte Anna nie gelernt. Und die angeschlagene Novigraderin wollte nur ungern gegen Bestien kämpfen oder lange Ritte einlegen, solange ihre Rippen noch so sehr stachen, dass sie nur sehr steif gehen oder sitzen konnte. Wieder nickte der Skelliger am Tisch, als wolle er der vernünftigen Hexerstochter zustimmen. „Du suchst dir dann die nächsten Drachen?“, hakte Hjaldrist ganz offen nach und brachte Anna damit tatsächlich dazu verhalten zu lächeln. So, als habe ein Kind gerade irgendetwas Dummes zu ihr gesagt. „Es gibt nicht nur ‚Drachen‘, wie du sie nennst. Es kreucht und fleucht auch noch anderes Getier herum. Besonders hier in Skellige. Die Viecher auf den Inseln sind größer als anderswo.“, meinte Anna wissend. „Ja, ja, ich weiß…“, entgegnete der relativ leicht bekleidete Krieger und in seinem Blick funkelte plötzlich etwas: Eine Idee. War da Begeisterung? Vorfreude? Neugierde? Anna verengte die müden Augen forschend und sah Hjaldrist an, als wolle sie in dessen Miene irgendetwas Bestimmtes finden. Als befürchte sie, der Mann habe irgendetwas ziemlich Dämliches oder Halsbrecherisches vor. Eine ihrer Brauen wanderte langsam ein Stückchen weit hoch. „Was planst du?“, fragte sie zögerlich und sprach den ‚Drachenreiter‘ damit direkt auf ihre schwammigen Befürchtungen an. „Nichts.“, lächelte der Krieger hintergründig und nahm sich den zerkauten Holzspieß aus dem Mund, um ihn einfach so über die Schulter fort zu werfen. Hätte die massige Holzfäller-Wirtin DAS gesehen, hätte sie den schlanken Hjaldrist um nicht nur einen Kopf kürzer gemacht. „Ja, geplant habe ich eigentlich nichts. Aber ich hätte einen Vorschlag.“, setzte der Kämpfer mit rauer Stimme fort und machte Anna damit hellhörig. Überrascht, doch mit Argusaugen, spitzte die Schwertkämpferin die Ohren. „Welchen Vorschlag? Na, rück raus mit der Sprache!“, bat die 20-Jährige, die nicht dafür bekannt war eine Engelsgeduld zu besitzen. Sie lehnte sich dem verschlagenen Skelliger ein kleines Stück weit entgegen, die Unterarme am Tisch und mit aufmerksamem Blick. Eine direkte Antwort bekam sie aber leider nicht. „Ich glaube, ich habe dich missverstanden, als du mir vor dem Kampf gegen die Gabelschwänze erklärt hast, was ‘Aard’ ist.“, gab der stuhlschaukelnde Skelliger zu. Oh Mann. Bitte nicht schon wieder. Aber gut, dieses Mal war Anna ja zum Glück nicht betrunken. Sie würde also nicht sehr zornig werden und die Schänke auch nicht fluchtartig verlassen. Sie hatte sich im Griff. „Was meinst du?“, fragte die Hexerstochter und versuchte nicht unberuhigt zu klingen. „Du hast es gegen Halmar’s Endriaga eingesetzt. Also Aard. Weißt du nicht mehr? Du hast irgendetwas gerufen und auf einmal ist das Insekt der Länge nach umgefallen.“, sagte Hjaldrist in einem tadelnd-erinnernden Ton und sah Anna dabei mit einem vielsagenden Blick an, den die Novigraderin anfangs nicht zu deuten vermochte. Sie runzelte die Stirn grüblerisch, taxierte Hjaldrist und ihre Augen wanderten, als sie zurück an den Kampf gegen den übergroßen Arachniden dachte. Das Vieh war auf den Rücken gefallen, ja. Weil der hier so verschlagen grinsende Skelliger von der Seite angerannt gekommen war, um das Ungeheuer mit all seiner Körperkraft zu rammen. Er hatte gewirkt wie ein Aard auf zwei Beinen; nicht magisch, doch durchaus effektiv. Ganz, ganz langsam aber sicher fing Anna also damit an zu verstehen, was der gewitzte Hjaldrist meinte. Wie er über sie und sich selbst dachte. Die Mimik der Frau erhellte sich und hatte sie zuvor noch so genervt und wirr gewirkt, so mutete sie nun an, als sei ihr ein kleines Lichtlein aufgegangen. Offenbar hatte der Skelliger, der ihr gegenüber saß, nach der kleinen Eskalation von gestern nachgedacht. Er hatte sich bestimmt vieles zusammengereimt und war von selbst darauf gekommen, dass Anna einfach nicht imstande war Aard zu wirken. Weswegen auch immer. Entweder war es ihm gewahr geworden, dass sie keine Hexerin war oder aber er dachte einfach, sie sei nicht gut genug und deswegen so frustriert. Daher wollte er sie hier gerade aufmuntern, indem er sich selbst als die Kraft hinstellte, die Sachen umwarf, wenn Anna schrie. Als ziemlich menschliches Aard eben. Und das war unglaublich liebenswürdig. Es war solch eine irrsinnig bescheuerte und gleichzeitig auch goldige Sache, dass die niedergeschlagene Hexerstochter damit anfing ehrlich und erleichtert zu lächeln. Sie konnte einfach nicht anders und atmete tief und befreit aus. „Und ich muss sagen…“, setzte Hjaldrist fort „dass ich das Ganze recht eindrucksvoll fand. Diese Technik würde dir auf deinem weiteren Weg sicher auch eine ungeheure Hilfe sein, darum solltest du sie öfters einsetzen.“ Anna stutzte heftig, als sie dieses Angebot hörte. Das legere 'Aard aus Fleisch und Blut' hatte ihr gerade den Vorschlag unterbreitet noch eine Weile zusammen zu reisen, oder? Die eigentlich einzelgängerische Novigraderin wusste ja nicht so recht, was sie davon halten sollte. Zwar mochte sie Hjaldrist, keine Frage, doch wenn sie beide zusammen durch das Land ziehen würden, wäre sie ihm sehr bald eine gute und lange Erklärung darüber schuldig, was sie hier in Skellige tatsächlich suchte. Dass sie nicht nur hier war, um Monster zu töten und damit ihren Sold zu verdienen, denn das könnte sie ja auch jenseits des Meeres tun. Sie war hier, um die alten Druiden zu finden. Um hinter die uralte Rezeptur der Kräuterprobe zu kommen, die einst von den besagten Männern erdacht worden war, bevor man sie in den Hexerszünften angepasst hatte, um Mutanten zu züchten. Anna wollte eine Formel finden, die auch sie, als Frau, aushalten könnte ohne zu sterben. Und sie würde diesen Plan für nichts und niemanden in der Welt aufgeben! Die aufgeregten Gedanken der Hexerstochter rasten, als sie dem unangenehm abwartenden Blick von Hjaldrist auswich und einen willkürlichen Fleck am Tisch fixierte. Angestrengt grübelte sie und zog die Brauen weit zusammen. Ja, sie würde den Skelliger mit den dunklen Haaren aufklären müssen. Sie könnte ja schlecht mit ihm reisen und ihm dabei irgendetwas vormachen. Eine ungute Angelegenheit, denn im Grunde glich Anna’s Vorhaben einer Art Selbstmordkommando. Doch auf der anderen Seite könnte Hjaldrist der Alchemistin doch auch helfen, würde er davon absehen, dass jene stur einem vermeintlich tödlichen Ziel hinterherjagte. Anna wollte sich in naher Zukunft nämlich daran wagen verschiedenste Tränke an sich selbst auszuprobieren. Sie wollte wissen, was sie aushielt und was nicht, welche Zutaten der Formeln der Kräuterprobe sie vertrug und wie viel davon. Alleine könnte sie das nicht. Was, wenn sie kollabierte? Dann wäre niemand da. Wenn der Käferschubser aber bei ihr wäre, könnte er auf sie aufpassen. Eine große Verantwortung für den Skelliger, doch eine enorme Stütze für die Frau, die ihrem Ziel einen Schritt weit näher kommen könnte. Oh, war sie egozentrisch? Was könnte Anna diesem Mann hier, den sie doch eigentlich kaum kannte, zu- und anvertrauen? Anna sah wieder auf und wippte unter dem Tisch nervös mit einem Bein. Sie fühlte sich hin und her gerissen, als sie den Mund aufmachte, um zu sprechen. Sie schob die zähen Worte im Mund hin und her. Doch dann entschied sie sich. „Ja…“, meinte sie langsam und mit leicht gesenkter Stimme, während Hjaldrist bereits damit anfing unheimlich triumphierend zu grinsen „Diese Technik wäre wirklich hilfreich. Du hast Recht. Ich könnte ein Aard gebrauchen.“ „Ha!“, machte der Mann nun, klatschte einmal begeistert in die Hände. Und Anna war sich nicht sicher, warum er das tat. Hatte sie ihm die Monsterjagd etwa schmackhaft gemacht? Glaubte er an ihrer Seite reich zu werden? Oder mochte der Skelliger sie einfach und wollte daher noch eine Weile mit ihr reisen? Hatte er nichts Anderes zu tun? Oder sah er in der Novigraderin eine Möglichkeit sicher von den Inseln zu entkommen? Fragen über Fragen. Anna betrachtete Hjaldrist, der ihr voller Vorfreude entgegenblickte, eingehend. Dann aber wurde ihr Ausdruck wieder etwas ernster, ihre Haltung angespannter. Sie atmete tief durch, als ihre Gedanken nur so im Kreis sprangen. Wild hüpften sie umher und waren nur schwer zu fassen. Der Landsmann verengte die Augen prüfend. “Hm? Gibt es ein Problem?”, hakte er kritisch nach. „Nein… nein. Aber was unsere gemeinsame Reise angeht, muss ich dir noch etwas sagen.“, entkam es der kurzhaarigen Frau mit gesenkter Stimme. Sie lächelte verunsichert in sich hinein, suchte erneut und mühsam Blickkontakt. Was gleich käme, fiel ihr schwer, das hätte ein jeder bemerkt. Doch warum? Weil sie sich bisher nur so selten über ihre Natur ausgesprochen hatte? Weil sie selbst Balthar gegenüber nie laut gejammert hatte und es nicht gewohnt war mit frischen Bekannten über sich selbst zu reden? Oder wollten die Worte ihre trockenen Lippen nur deswegen so schwer verlassen, weil sie die Reaktion ihres neuen Freundes fürchtete? Die fahrige Hexerstochter befeuchtete sich die Lippen flüchtig mit der Zunge, dann redete sie endlich. „Ich…“, entkam es ihrem Mund beachtlich zäh und zögerlich „bin keine Hexerin.“ Und dann schwieg sie abwartend, sah Hjaldrist nahezu scheu an. Es passte nicht zu ihr. Die Augenbrauen des Skelligers wanderten noch weiter hoch, doch dann sah man auf einmal, wie er gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Und?“, antwortete er ruhig und gelassen, fing schon wieder damit an etwas mit seinem Stuhl zu wippen. Irgendwann würde er sich deswegen noch das Genick brechen, ganz bestimmt. „Ist mir doch egal, was du bist.“, versicherte der Mann und seinem gleichmütigen Unterton konnte man entnehmen, dass er dies ernst meinte. Anna hatte solange etwas Mühe damit ihr Gesicht im Zaum zu halten und ihre furchtsame Miene nicht in einen dämlich-perplexen Ausdruck rutschen zu lassen. Dies resultierte darin, dass sie einfach nur überrascht und ungläubig starrte. Als sei sie eine Mörderin, der man versichert hatte, dass man sie vor kein Gericht zerren wollte, obwohl sie Leben auf dem Gewissen hatte. Anna wäre tatsächlich auf jede Reaktion Hjaldrists vorbereitet gewesen: Darauf, dass er irritiert nachfragte und auch darauf, dass er anfing zu schimpfen und wissen wollte, warum seine Kumpanin ihm das alles nicht schon viel früher offenbart hatte. Doch der Skelliger gab sich gleichgültig. Es fühlte sich an, als fiele der Novigraderin ein zentnerschwerer Steinbrocken vom Herzen. Ja, ihre Kehle war nicht mehr eng, ihr Magen weniger flau. Und sie lächelte. Hjaldrist’s Gegrinse war ansteckend. „Und gibt es sonst noch etwas, das du mir beichten willst?“, durchbrach die Stimme des Besagten den Moment. „Äh…“, machte die Kurzhaarige. „Bist du in Wirklichkeit vielleicht ein Kerl? Stehst du auf Ziegen? Hast du heute Nacht heimlich in den Blumentopf im Zimmer gepisst?“, fragte der Skelliger mit einem gespielten Ernst in der Stimme, dem Anna nicht gleichkam, als sie scherzend antwortete. „Ah, nein. Viel schlimmer: Ich bin die Prinzessin von Nilfgaard.“, witzelte sie und biss sich auf die Lippe. „Oh, das trifft sich ja gut! Denn ich bin ein Jarlssohn und damit ebenfalls ein Thronfolger.“, schnaubte der schlagfertige Hjaldrist amüsiert. „Wie passend!“, lachte die feixende Schwertkämpferin. Und die Blicke, die die beiden daraufhin austauschten waren voller ironischer, abfälliger Belustigung und Blödelei. Es waren Blicke, die man nur unter bestimmten Menschen austauschen konnte, weil sie nicht jeder verstanden hätte. Mit erhellter Miene rührte Anna daraufhin in ihrem Milchtee, trank einen Schluck. Dabei bemerkte die den einen, flüchtigen Funken unwohler Ernsthaftigkeit in den Augen ihres Freundes nicht. * „Also. Wohin reiten wir?“, wollte Hjaldrist wissen, als er den Sattelgurt Apfelstrudels strammer zog und über dessen Rücken zu Anna hin sah. Das Pferd war so hoch, dass der Skelliger das gerade noch so vermochte. Seine dunklen Augen hefteten sich auf die Frau, die ihrem eigenen Vierbeiner gerade liebevoll die samtigen Nüstern rieb. „Ich will nach Gedyhe. Kennst du diesen Ort?“, sie sah fragend auf. „Nein.“, entgegnete der Krieger sogleich und verengte den Blick grüblerisch. Es war noch früh und die winterliche Luft klirrend kalt. Anna war froh über ihren dicken Mantel. „Aber bestimmt kenne ich jemanden, der weiß, wo dieses Gedyhe liegt.“, versicherte Hjaldrist, fasste prüfend nach einem seiner Steigbügel, zog daran und machte ihn um zwei Riemenlöcher länger. Seine Kollegin saß bereits in ihrem Sattel, als ihr einheimischer Freund es ihr gleichtat. „Es liegt irgendwo im Osten. Jedenfalls hat man mir das so gesagt.“, meinte Anna, nahm ihre ledernen Zügel auf und drückte Kurt die Fersen leicht in die Flanken, um ihn zum Gehen zu bewegen. Hjaldrist schloss gleich zu ihr auf. Er saß etwas lockerer im Sattel als Anna, hatte die Steigbügel länger und hielt die Zügel nicht sehr straff. Es war ein völlig anderer Reitstil, vermutlich gewöhnlich für die Gegend. Da, wo Anna herkam, ritt jedenfalls kaum jemand so. „Im Osten, hm?“, machte Hjaldrist nur. Der Weg, der aus Blandare herausführte, war so breit, wie ein Wagen. Daher konnte man auch ohne weitere Probleme nebeneinander her reiten. Wäre das Wetter nur nicht wieder so scheißkalt gewesen, hätte sich dies sogar als angenehm gestaltet. Vereinzelte, zarte Schneeflocken rieselten vom noch sehr düsteren Morgenhimmel und Hjaldrist rieb sich die kalten Hände, als er sprach. „Im Osten gibt es viele Druiden. Überall buckeln die dort herum, das sag ich dir.“, sagte der Mann wissend und Anna horchte auf. Sie wendete ihrem Freund erfreut den Kopf zu, lächelte hinter dem Schal, den sie sich beinah bis zur Nase hochgezogen hatte, um die Kälte davon abzuhalten ihr in den Nacken zu beißen. „Ja?“, fragte sie plötzlich ziemlich aufgeregt. Dies schien den Reiter Apfelstrudels dezent zu irritieren. „Ja…“, entgegnete er zögerlich, nickte schwach. „Es wirkt fast so, als seist du darauf aus mit diesen seltsamen Typen zu reden.“, fügte der Skelliger nur noch skeptisch hinzu und nun war es die Hexerstochter, die nickte. „Darum bin ich hier.“ „Wie jetzt?“ „Ich bin auf der Suche nach einer alchemistischen Formel. Und ich habe gehört, die Druiden des Inselarchipels seien Meister, wenn es um solche Angelegenheiten geht.“, erklärte Anna aufrichtig. Einzelne Schneeflocken hatten sich ihr auf die Schultern gelegt und so, wie ihr Begleiter hatte sie sich die Kapuze über den Kopf gezogen, um sich vor Nässe und Kälte zu schützen. „Aha.“, machte Hjaldrist, der nicht viel Ahnung von Alchemie zu haben schien. Er war, so wie Anna ihn einschätzte, ein Krieger durch und durch. Warum sollte er sich also für das Brauen von Tränken oder Tinkturen begeistern? „Und was für eine Formel ist das, dass sie so wichtig ist?“, hakte er dennoch neugierig nach. „Eine, die… hm. Eine, die einen stärker macht.“, erklärte die Novigraderin knapp und zögerlich. Und dies war nicht gelogen. Wenn man der Kräuterprobe unterzogen wurde, mutierte man. Man entwickelte gewisse Resistenzen und wurde ausdauernder, konnte viele Jahre älter werden, als ein normaler Mensch und sich viel, viel inniger konzentrieren. Letzteres bewirkte, dass man sich dabei leichter tat Hexerzeichen zu lernen, die eigentlich nichts Anderes waren als simple Magie. Natürlich bezahlte man für all das auch einen Preis. Ab und an gar den höchsten. Doch daran wollte die ambitionierte Frau nicht denken. Woher sie all das wusste? Anna hatte sich mittlerweile vieles zusammenreimen können, hatte Balthar ausquetschen wollen, nach alten Aufzeichnungen gesucht und geforscht. Jahrelang. „Ach ja?“, Hjaldrist runzelte die Stirn „Ich dachte, solche Dinge gibt es nur im Märchen.“ „Naja, wir werden ja herausfinden, ob dem so ist.“, schmunzelte die Hexerstochter geheimnisvoll. Kapitel 5: Eine Katze namens Mimi --------------------------------- „Gedyhe? Du meinst wohl Gedyneith.“, grinste die Wache mit den langen, rotblonden Locken belustigt. Sie lächelte überheblich, sah aus den Augenwinkeln von Hjaldrist fort und hin zu Anna. Die Dame mit dem gut gefüllten Köcher am Rücken und der blau-grünen Schärpe, die sich um deren Mitte schmiegte, taxierte die Novigraderin abfällig und von oben bis unten. Dann wandte sie sich wieder dem Mann im Bunde zu. Sie lächelte schmal und berechnend. Anna mochte sie jetzt schon nicht. „Gedyneith ist ein wichtiger Ort. Es wundert mich, dass du nichts darüber weißt, mein Lieber.“, merkte die Fremde mit den Sommersprossen an, die sich vorhin sehr knapp mit dem Namen Svenja vorgestellt hatte. Sie arbeitete wohl bei der Dorfwache von Redgill, so, wie sie aussah. Sie trug nämlich eine Lederrüstung und ein Dolch zierte ihren Waffengurt. Der Rotschopf war eher keine normale Bürgerin. Jedenfalls war sie angeblich diejenige, die sich im Umland gut auskannte, weil sie früher als Botin irgendeines Jarls gearbeitet hatte. Warum Hjaldrist sie kannte und woher, das wusste die Hexerstochter nicht. Sie wollte es auch gar nicht so genau wissen. Wahrscheinlich hatte er die Skelligerin einmal beim Spielen abgezockt oder sie flachgelegt. War ja auch egal. „Generell wundert es mich, dass du dich hier herumtreibst, Hjaldrist.“, meinte die vermeintliche Wachfrau mit dem weißen Pelzbesatz am Kragen und strich sich eine verirrte Locke aus der Stirn. Sie verschränkte die Arme locker vor der Brust und wechselte lässig das Standbein. Ihre graugrünen Augen betrachteten Hjaldrist eindringlich. Ihm maß sie nicht den unmissverständlich abschätzigen Blick zu, den sie der armen Anna vorhin geschenkt hatte. Im Gegenteil. Dem Straßenkämpfer gegenüber mutete sie relativ ernst an, wenngleich ihr kokettes Lächeln nicht schwand. Machte sie Hjaldrist etwa schöne Augen? Oder war dieses Getue einfach nur ihre unausstehliche Art? Anna zog die kalte Nase mit unzufriedenem Ausdruck hoch, wartete weiter ab und steckte sich die Hände tief in die Manteltaschen. Seit fünf Tagen war sie zusammen mit ihrem neuen Freund der Inseln unterwegs und ihr Weg hatte sie direkt hierhergeführt: In das eher lauschige und verschlafene Dorf Redgill. Es lag direkt am rauschenden Meer und einige alte Fischerhütten säumten die Wiese vor dem verschneiten Strand. All die Tage über hatte es einmal mehr, einmal weniger, geschneit und die schneidende Luft war eisig. Anna war die kalten Winter von Kaer Morhen ja gewöhnt, doch Skellige trieb sie dahingehend wahrlich an ganz neue Grenzen. Ihre Füße fühlten sich an, als seien sie eingefroren und die Kühle machte ihr die Nase und Wangen ganz rot. Gern wäre sie nun in einer Taverne, um sich die Glieder aufzuwärmen und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Solltest du nicht beim Eisfest in Undvik sein?“, wollte Svenja hintergründig wissen und ihr Schmunzeln wollte der anwesenden Alchemistin nicht gefallen. Hjaldrist wirkte auf diese Frage hin ein klein wenig sprachlos. Anna bemerkte, wie sich dessen Haltung versteifte und hörte, wie er sich räusperte, um die trockene Kehle frei zu bekommen. Aus dem Augenwinkel taxierte sie den dunkelhaarigen Schönling, der über dem Mantel einen zotteligen, kurzen Fellüberwurf trug, der typisch für die Gegend war. Warum war der Krieger ganz plötzlich so nervös? Wer war Svenja und wo war Undvik? Was hatte es mit dem Eisfest auf sich? „Nein. Ich reise.“, entkam es dem Mann lau und in einem Ton, der verriet, dass er glaubte sich rechtfertigen zu müssen. Verwirrt blickte die Monsterjägerin aus dem Norden zwischen den beiden Landsleuten hin und her. „Eisfest?“, fragte Anna gleich neugierig dazwischen, denn es interessierte sie wirklich. Sie mochte Feierlichkeiten, Musik und Heiterkeit und fragte sich, ob das besagte Fest etwas mit dem Winterbeginn zu tun hatte. Die Bogenschützin vor dem Dorftor ignorierte die Ausländerin einfach, diese blöde Schnepfe. „Ah, wie auch immer.“, seufzte die rotblonde Soldatin gespielt wehleidig und in ihrem Unterton lag etwas Wissendes „Es geht mich ja nichts an, was du tust oder NICHT tust, Hjaldrist.“ „Mhm. Klar.“, brummte der Axtkämpfer, der neben der abwartenden Anna stand, wenig begeistert. Er wirkte nach wie vor nicht sonderlich erfreut, doch gefasst. Zudem schien er nicht mehr allzu viel Lust darauf zu haben sich mit seiner alten Bekannten zu unterhalten. Das, obwohl er sie eigentlich recht nett begrüßt hatte: Mit einem festen Händedruck und einer kurzen, doch herzlichen Umarmung. Die Menschen von Skellige begrüßten sich generell immer sehr freundschaftlich, hatte Anna erstaunt festgestellt. Sie hatte in den Tavernen beobachtet, wie sich Männer fest gedrückt und dabei donnernd gelacht hatten; wie kumpelhafte Schläge gegen Oberarme und Rücken verteilt worden waren. Auch Hjaldrist hatte ihr vor kurzem einmal auf die Schulter gehauen, dass sie geglaubt hatte, er ramme sie damit bis zum Anschlag in den Boden. So, wie ein massiver Schmiedehammer einen kleinen Nagel. Oh ja, Anna hatte ganz schön laut ächzen müssen. Dabei war sie doch schon die ruppigen Gebärden ihrer ‚Familie‘ in Kaer Morhen gewohnt. Aber selbst dort haute man sich nicht so beherzt aufs Kreuz, dass man danach nicht mehr gerade stehen konnte. „Also... Gedyneith, hm?“, die vermeintliche Wachfrau vor Hjaldrist kam auf das eigentliche Thema zurück und fing schon wieder damit an anzüglich zu grinsen. Oh Mann. Anna freute sich schon darauf sich von der unsympathischen Rotblonden zu verabschieden. Und auf einen Becher warmen, duftenden Tees in der örtlichen Schenke. Es gab doch eine? Etwas unschlüssig ließ die Hexerstochter den suchenden Blick schweifen, während ihr Freund im grünen Rock dem Großkotz mit dem Bogen weiterhin starr entgegensah. „Wenn ihr von Blandare kommt, habt ihr den Ort, den ihr sucht, verfehlt. Ihr hättet mehr gen Nordosten reiten sollen. Gedyneith liegt etwa zwei, drei Tage von hier. Im Nordwesten. Auf einer Anhöhe, umringt von dichten Wäldern.“, sagte der sommersprossige Lockenkopf. Anna sah auf diese Aussage hin sofort zu Svenja zurück, wirkte verdattert. Ihre braunen Augen wichen ratsuchend zu Hjaldrist hin. Wie? Sie hatte gedacht, ihr Kumpel sei ortskundig! „Wir sind also quasi daran vorbeigelaufen?“, entkam es dem Kerl entrüstet und ein bedauernd-genervtes Stöhnen folgte. Er kratzte sich betreten am Hinterkopf und wagte es nicht einen Seitenblick gen Anna zu werfen. „Ich dachte, du kennst dich hier aus, Rist.“, beschwerte sich die Trankmischerin halblaut und sah unter ihrer weiten Kapuze aus dicker Wolle zu dem Straßenkämpfer hin. Jener zuckte nur ratlos mit den Schultern und seufzte genervt. Es roch nach Meerwasser und Schnee. „Tu ich auch. Aber ich kenne nicht JEDEN Ort auf der Landkarte in- und auswendig.“, schoss der Skelliger sogleich zurück, der sich daran gewöhnen müsste von Anna mit seinem neuen Rufnamen angesprochen zu werden: Rist. Die Alchemistin fand nämlich, dass es zu steif und ernst klang Hjaldrist immer mit seinem ganzen, zungenbrechenden Namen anzusprechen. Genauso, wie sie ihren eigenen Namen, Arianna, zu hübsch fand und sich daher stets nur als Anna vorstellte. Sie war eine angehende Hexerin mit Dreck hinter den Fingernägeln. Eine einfache Frau, keine noble Adelsdame. Nach- oder Beinamen verwendete sie ebenso nicht, denn Ersterer war ihr ob ihrer verdammten Erzeuger zuwider und für den Zweiteren war sie nicht wichtig genug. ‘Arianna Nowak von Novigrad’? Nein danke, eher nicht. ‘Anna’ reichte. Die Aufmerksamkeit der besagten Frau hing nach wie vor an dem Käferschubser, der im knöchelhohen Schnee stand. Ihre Mimik veränderte sich, wurde nachdenklicher, und erzählte davon, dass sie gedanklich abschweifte. Wie Rist wohl mit Nachnamen hieß? Skelliger Familien benannten sich oft nach einem Clan, dem sie angehörten, richtig? Ja, irgendwie so ähnlich. Sie würde ihren Freund später danach fragen. Anders, als die werte Stadtwache Svenja, waren die Einwohner Redgills unsagbar freundlich und aufgeschlossen. Als Anna Hjaldrist durch den besagten Ort folgte, um zur nahen Taverne zu gelangen, nickten ihnen viele Menschen grüßend zu oder lächelten einfach nur nett. Die Hexerstochter war dieses besucherfreundliche Gehabe nicht unbedingt gewohnt. Als sie damals ein paar wenige Male mit Balthar umhergezogen war, hatten die meisten Leute nur abfällig geglotzt, angewidert auf den Boden gespuckt oder hinter vorgehaltenen Händen getuschelt. Hexer waren alles andere als beliebt, obwohl sie für viele Menschen Drecksarbeit erledigten. Sie waren gar verschrien und gerade konservative Idioten fürchteten sich sehr vor ihnen und den Krankheiten, die sie angeblich verbreiteten. Es war also kein Wunder, dass man verächtlich über die Katzenäugigen sprach. Und in größeren Städten, wie Oxenfurt oder Novigrad, da achtete man kaum aufeinander. Während Anna nach ihrem Verschwinden aus ihrem Zuhause allein unterwegs gewesen war, war sie in den großen Orten kaum aufgefallen. Sie trug nämlich keine zwei Schwerter bei sich, hatte keine schlangenhaften Augen, zu blasse Haut oder dergleichen. Sie war leider gewöhnlich. Und als normale Kriegerin stach man heutzutage nicht sonderlich heraus. Man galt als dreckige Söldnerin oder Hure. Oder, in Anna's Fall, wurde man der kurzen Haare wegen auch ab und an für einen jungen Burschen gehalten und ob seiner feminineren Gebärden belächelt oder als ‘Arschficker’ verspottet. Im Großen und Ganzen hatte man die Alchemistin also sehr, sehr selten, begrüßt oder auf offener Straße angelächelt. Dass die Bewohner Redgills so irrsinnig lieb und zuvorkommend anmuteten, irritierte sie anfangs also nicht zu knapp. Hjaldrist schien sich daran aber kaum zu stören. Er bummelte soeben zwischen ein paar spartanischen Marktständen umher. Das Dorf war nicht allzu groß, daher gab es nicht sehr viele Verkäufer. Doch der ein oder andere bot Tücher, Hosen, Gewürze, fellbesetzte Schuhe, Trockenobst oder Selbstgebranntes an. Dies trotz der Kälte. So waren die wetterfesten Skelliger eben. Es roch hier überall nach süßlichem Räucherwerk, das Lachen von Kindern erfüllte die Gassen und irgendwo stand ein Bänkelsänger und tönte Lieder über Helden und deren große Taten, über Grymmdjarr Eisenklaue, den großen Tyr, Modolf und über Geralt von Riva. Es war nahezu idyllisch hier, schön, friedlich. Wie in einem Bilderbuch. Es war gut, dass sich die Abenteurer hierher verirrt hatten. Oder war es hier, in diesem kleinen Ort, womöglich ZU ruhig und trügerisch schön? Anna zog sich den braunen Mantel vorn enger zusammen und gesellte sich zu ihrem Freund, der sich gerade ein neues Paar Lederhandschuhe gönnte. Die Nähte an seinen alten waren nämlich teils aufgerissen. Nachdenklich klaubte er daraufhin in einem kleinen Weidenkorb voller klimpernder, bronzener Fibeln herum und die Hexerstochter widmete sich selbst ebenso dem Angebot diverser Waren. Schnell fing eine Holzkiste ihre Aufmerksamkeit. Darin waren, säuberlich geordnet, Wollknäuel einsortiert. Braune und weiße, dazwischen auch ein paar grüne, rote und blau gefärbte. Grüblerisch kratzte sich Anna am Kinn, fasste nach einem weichen Knäuel und betrachtete es eingehend. Sollte sie- „Sag mir jetzt nicht, dass du stricken kannst.“, kam es belustigt von der Seite und als die fragenden Augen der Monsterjägerin der Stimme folgten, trafen sie auf den grinsenden Rist, der sich gerade seine neuen Handschuhe anzog. Mit hellem Ausdruck im Gesicht verkniff sich die dick gekleidete Frau, der der alte Schal beinah bis zur Nase hoch reichte, ein Lachen. „Doch. Und häkeln kann ich auch.“, meinte sie locker heraus und so, als sei dies nichts. „DAS will ich sehen!“, gluckste der Skelliger und offenbar schien ihn die Vorstellung einer strickenden Anna ziemlich zu amüsieren. Wieso? War es denn wirklich so erheiternd, dass sie auch ein wenig handwerkeln konnte? „Naja, ich habe zuhause nicht immer nur trainiert oder gelesen. Und unterwegs hatte ich gerade abends auch oft nicht viel zu tun. Man kann schlussendlich nicht jede Nacht saufen und spielen.“, schmunzelte die Kriegerin schief und klärte damit auf, warum sie mit Wolle und Häkelnadeln umgehen konnte. Im Augenwinkel bemerkte sie, wie der bärtige Verkäufer des Marktstandes mit dem Kleinkram breit lächelte und zwischen seinen beiden willkommenen Kunden hin und her sah. „Die Wolle ist im Angebot.“, warf der viel zu nette Dorfbewohner ein und ließ Anna und Rist damit aufsehen. Die angesprochene Kurzhaarige fing damit an erfreut zu lächeln. „Und für Euch gibt es sogar ein Knäuel umsonst dazu. Na?“, meinte der schlaksige Kerl in dem Pelzmantel zuvorkommend. Sein Lächeln schwand erst, als die zwei Besucher seines Marktstandes den Blickkontakt brachen, um sich wieder der bunten Wolle zu widmen. Sein Ausdruck wurde gespenstisch leer und dies hätte die Monsterjäger sicherlich stutzig gemacht, hätten sie es gesehen. „Da kann ich ja gar nicht Nein sagen!“, erwiderte Anna und grapschte sich gleich ein paar Wollknäuel mehr. Vor allem braune, blaue und rote. Sie überlegte ein paar Momente lang, klaubte dann auch nach ein paar grünen. Hjaldrist mochte die Farbe Grün, nicht wahr? Er würde ganz schön dumm aus der Wäsche glotzen, wenn Anna ihm einen Schal oder neue Socken häkeln würde! Sie freute sich schon auf sein dämliches Gesicht. „Es wird schon dunkel. Wir sollten bleiben und morgen bei Tagesanbruch abreisen.“, meinte Rist, der später hinter Anna herumstand und an einem großen Backfisch herumknabberte, der auf einem Holzspieß steckte. Er hatte sich diese Zwischenmahlzeit bei einem der Fischer des Dorfes gekauft. Dessen freundliche Frau bediente einen kleinen Marktstand nahe dem schäumenden Meeresufer, verscherbelte eingelegte Heringe, Frischfisch oder richtig große, geräucherte Aale für wenig Geld. Anna steckte sich den letzten Happen ihres Fischbrotes in den Mund und riss die suchenden Augen nicht von dem Schwarzen Brett vor sich fort. Nahezu jeder Ort besaß eine dieser Anschlagtafeln. Darauf fand man Verkündungen, Angebote, Gesuche und manchmal auch Steckbriefe irgendwelcher Krimineller, auf die hohe Kopfgelder ausgesetzt waren. Das Schwarze Brett Redgills war aber eher spärlich beschlagen und das einzige Gesuch darauf war das nach einer entlaufenen Katze. Da war kein Monster-Auftrag oder dergleichen, auch keine Zeichnung eines Vogelfreien. Leider. Anna überlegte kurz, seufzte, doch dann nahm sie das Schreiben über den gesuchten Vierbeiner an sich. Rist linste ihr solange über die Schulter und hob eine Augenbraue kritisch an. Ihm entkam ein grüblerischer Laut. „Du willst eine Katze suchen gehen?“, wollte der essende Skelliger brummig wissen und wirkte darüber nicht ganz so erfreut. „Man nimmt was man kriegt. ZEHN Silber sind für ein Haustier, das sich vermutlich bloß irgendwo in der Nähe verkrochen hat, richtig viel Geld. Wenn du mir hilfst, kriegst du fünf. Na?“, aus dem Augenwinkel sah die Kurzhaarige herausfordernd zu dem Mann mit dem halb aufgegessenen Backfisch am Spieß hin. Jener murrte unschlüssig und sein Blick wanderte nachdenklich. So, als beeindruckten ihn zehn Silberstücke recht wenig. Dann aber nickte er dennoch. „Also schön. Ist wohl besser, als den restlichen Tag in der Taverne herum zu sitzen.“, erkannte er richtig. Es würde ob der Jahreszeit zwar bald dunkel werden, doch noch war es nicht sehr spät. Und Anna wusste ja nicht, wie es ihrem Begleiter ging, aber sie selbst war keineswegs müde. Nach den letzten Tagen, in denen sie nur herumgelungert war, um sich zu erholen, oder am Pferd gesessen hatte, um Hjaldrist mit platt gesessenem Arsch nach Redgill zu folgen, wollte sie wieder irgendetwas tun. Es kribbelte sie nur so in den Fingerspitzen und sie hatte Hummeln im Hintern. Das, obwohl es nur um eine vermisste Katze ging. Es tat gut abseits des Pferderückens herumzuwandern und Aufgaben zu erledigen. Nichts war schlimmer als tatenlos zu vergammeln und zum Glück sah der anwesende Faustkämpfer dies offenkundig auch so. „Wir suchen also eine Katze. Steht auf dem Zettel, wie sie aussieht?“, Rist’s Blick sank auf das Gesuch in Anna’s Händen und er haschte danach “Zeig mal her.” „Nein. Aber: Es ist eine weibliche Katze. Mimi, der Name.“, grinste die Novigraderin und reichte ihrem Freund das Stück Papier. Nicht, dass diese beiden Details einen ausschlaggebenden Unterschied machten. „Ah.“, machte Hjaldrist trotzdem und betrachtete den Auftragszettel „Sie gehört der Tochter des Bäckers des Dorfes, steht da. ‚Meldet Euch bei Lena, Tochter des Bäckers Nils Skarrigen‘. Statten wir ihr also einen Besuch ab?“. “Ja, lass uns gehen.”, meinte die Alchemistin, als sie sich den gefütterten Mantel an der Vorderseite enger zuzog und fröstelte. Sie wendete sich zusammen mit ihrem Freund ab, um zu gehen. Lena weinte bitterlich, als die Monster- oder eher: Katzenjäger bald darauf bei ihr standen. Das schluchzende Mädchen mit der weißen Schleife in den aschblonden Haaren und dem schlichten, dunkelgrünen Kleid aus Baumwolle vergoss dicke Tränen um ihre geliebte Katze und schaffte es kaum zu sprechen. Machte nichts, denn das erledigte ihr großer Bruder für sie. Offenbar arbeitete der Vater der kleinen Familie noch und Anna wollte nicht darüber nachdenken, wo die Mutter abgeblieben war. Es ging sie ja auch nichts an. „Und wie sieht Mimi aus?“, wollte die Novigraderin wissen, die dem jungen Mann, an dessen Tunika sich Lena heulend klammerte, gegenüberstand. Hjaldrist wartete in Türnähe, hatte sich dort abwartend an die Wand gelehnt und beobachtete das Geschehen. Wenn er bisher über Geld verhandelt hatte, hatte es sich dabei zumeist um Wettbeiträge oder Straßenkampfpreise gehandelt, nicht um Belohnungen für Aufträge. Daher überließ er seiner Kumpanin aus dem Norden das Reden. „Sie ist rot getigert. Mit drei weißen Pfoten und langen, ganz wuscheligen Haaren.“, sagte der Bäckersohn und strich mit einer Hand beschwichtigend über den Kopf seiner kleineren Schwester. Deren Wangen waren vom Weinen leicht gerötet und tieftraurig sah sie her, zog die Nase vernehmlich hoch. „Seit gestern Morgen ist sie fort. Wir machen uns sehr große Sorgen.“, kommentierte der Bruder bedrückt. Er hatte eine seltsame Ausstrahlung: Gleichgültig, matt, wie geistig abwesend. Das war eigenartig, denn seine bedauernde Stimme wollte nicht zu dieser Lethargie passen. Was war mit ihm los? „Sie hat also drei Beine? Gut zu wissen. Vielen Dank.“, die Schwertkämpferin nickte dem jungen Mann zu und sah dann auf das blonde Mädchen hinab, das sich mit unglücklicher Miene über die großen, blauen Augen wischte. Sie war vielleicht sieben oder acht Jahre alt. „Bitte bring mir meine Mimi wieder...“, flüsterte die Kleine mit hoher, brüchiger Stimme und Anna rang sich zu einem aufmunternden Lächeln durch. Sie kam mit Kindern selten gut zurecht, denn oft überforderte sie deren unberechenbares Verhalten. Die burschikose Vagabundin war noch nicht allzu lange von ihrem goldenen Käfig in Kaedwen fort und sie war froh mittlerweile wenigstens relativ gut mit Erwachsenen zurecht zu kommen. Dennoch mochte sie Kinder, wenn jene halbwegs gut erzogen waren, und Lena so verzweifelt weinen zu sehen war unschön. „Aber sicher. Mimi wird sehr bald wieder da sein, versprochen.“, versicherte die Frau mit dem Wolfsmedaillon und war sich dessen sogar sehr sicher. Sich die Tränen auf diese Antwort hin verzweifelt zurückhalten wollend, nickte Lena eifrig und schniefte heftig. Von draußen drang der lustige Gesang des Skalden am Vorplatz herein. Er hatte ein richtig lautes Organ und es wunderte einen, dass er nicht in der Taverne saß. “Wir geben euch zehn Silberstücke, wenn ihr Mimi finden solltet.”, erwähnte Lena’s Bruder noch wohlwollend “Mein Vater ist gerade nicht da, doch wenn ihr zurückkehrt, dann wird er das Geld für euch bereithalten.” “Mhm, gut.”, nickte Anna, die aufsah “Wir nehmen unsere Bezahlung so und so immer erst nach erfolgreicher Arbeit.” Ja, so war es bei den Hexern eben. Und obwohl sich weder die Novigraderin noch ihr Gefährte zu diesen Vipernäugigen zählten, richteten sie sich nach deren Kodex. Anna, die hatte es nicht anders gelernt und Hjaldrist tat es ihr als neuer Verbündeter einfach gleich. Er wollte sich als treue Verstärkung, als Aard auf zwei Beinen, einbringen und das Leben eines Ungeheuerjägers kennenlernen, ohne große Forderungen zu stellen, so schien es. “Danke, dass ihr helfen wollt.”, schloss der blonde, gleichmütig aussehende Sohn des Bäckers noch, ehe er die zwei Abenteurer verabschiedete “Viel Erfolg und kommt wohlbehalten wieder.” Dann wendete sich die Hexerstochter ab und nickte ihrem Gefährten zu, der schweigend auf sie gewartet hatte. Sie würden bestimmt nicht lange brauchen, um die rot getigerte Katze Lenas zu finden. „Mh. Wird wohl nicht so schwer sein das Tier aufzuspüren.“, schätzte Anna, als sie mit Rist gleich aus dem kleinen, schiefen Haus des Bäckers trat „Es ist rot und somit inmitten von Schnee und Gebüschen besser zu sehen, als eine schwarze oder braune Katze.“ „Es wird bald ziemlich dunkel sein. Und wie war das nochmal? Nachts sind alle Katzen grau.“, korrigierte der kluge Skelliger mahnend. Er hob die Hand in einem beiläufigen Gruß, als ihnen ein freundlich nickendes, dickliches Waschweib mit einem kleinen Zuber in den Händen über den Weg lief. „Dann müssen wir uns eben beeilen. Wahrscheinlich sitzt Mimi einfach nur auf einem Baum und kommt nicht mehr herunter. Na komm, machen wir heute noch ein kleines Mädchen froh!“, grinste die zuversichtliche Hexerstochter abenteuerlustig und Rist lachte leise. Eine kleine Katze wäre für sie beide kein Problem. Mimi saß leider auf keinem der vielen Bäume im Dorf oder der unweiten Gegend. Anna und Rist waren lange suchend durch die winterliche Ortschaft marschiert, mit etwas stinkendem Fisch als Lockmittel und dem Namen der Katze laut auf den Lippen. Das Tier sei zugetan, nicht scheu, und daher hatten die beiden Abenteurer naiv darauf gehofft, dass die rot getigerte Katze auf Rufen und Wedeln mit Futter hin auftauchen würde. Doch man hörte den Vierbeiner nicht einmal von weitem miauen. Die Suche nach Mimi würde sich also doch als schwieriger herausstellen, als zuvor gedacht. Mittlerweile hatten sich Anna und ihr Begleiter ein Stück weit vom lauschigen Dorf am Meer entfernt. Die aufmerksame Svenja hatte ihnen beiden skeptisch hinterher gesehen und Rist beiläufig darauf hingewiesen, dass es nachts gefährlich sei ‚da draußen‘. Eine überflüssige Meldung, denn nahezu überall war es bei Dunkelheit nicht unbedingt sicher. Der Neuschnee knirschte unter den wadenhohen Stiefeln der Suchenden, drängte einem die beißende Kälte ungnädig durch das Schuhleder hindurch. Auch dicke Socken brachten auf die Dauer nicht viel und sehr schnell bekam man kalte Zehen. „Na, wer sagt’s denn.“, Anna brach das Schweigen, das sich über sie und Rist gelegt hatte nach einem Fußmarsch von einigen Minuten schon. Sehr beschäftigt waren sie damit gewesen die verengten Augen forschend wandern zu lassen und sich ab und an nach irgendwelchen Dingen und Hinweisen zu bücken. Anna blieb stehen und ihr wachsamer Freund hielt ebenso inne; sie befanden sich am Waldrand nahe Redgill. Die Baumkronen hier waren dürr und kahl und der Boden von dem flockigen Weiß bedeckt, das heute ganz frisch gefallen war. Der Schnee glitzerte sacht in den Strahlen der untergehenden Sonne. „Katzenspuren.“, erkannte die Hexerstochter richtig und deutete auf die besagte Spur von kleinen Pfoten, die ihren Weg kreuzte. Jene mussten sehr frisch sein, denn bis vor wenigen Stunden hatte es noch geschneit. Sehr gut! „Es scheint so, als sei eine Katze hier lang. Und es sieht auch so aus, als habe sie nur drei Beine.“, lächelte Anna schmal und suchte hintergründig Blickkontakt zu Hjaldrist, der den wolkenverhangenen Sonnenuntergang im Rücken hatte. Die Augen des Mannes folgten dem Fingerzeig der grinsenden Novigraderin verblüfft. „Was für ein Zufall.“, befand der Skelliger “Ich hätte mir ja nicht gedacht, dass wir noch ein Lebenszeichen von Mimi entdecken, ganz ehrlich...” Die kleine Katzenspur führte tiefer und zielstrebig in den Wald hinein und obwohl die Blätter der Laubbäume schon längst nicht mehr an ihren Ästen hingen, so wurde die Vegetation hier doch sehr dicht. Überall waren dürre Büsche und karge Sträucher, ein halb gefrorener Bach schlängelte sich zwischen ein paar Felsen hindurch und ein dicker, umgefallener Baum ragte traurig in das Sichtfeld der Hexerstochter. Sie stieg über den schmalen Bach hinweg, der kaum breiter war als ein Arm lang, wendete sich um und sah Rist, der ihr über das Eis folgte. Hier und da war der Boden richtig glatt, gerade hier, nahe dem schmalen Gewässer. „Pass auf wo du hintrittst.“, warnte die Kurzhaarige beiläufig und rieb sich die kalten Hände, hielt sie sich vor die spröden Lippen und pustete sich warmen Atem gegen die kühlen Handflächen. Hjaldrist kam sicher bei ihr an und sie beide machten sich daran sich unter dem umgefallenen, knorrigen Baum hindurch zu ducken. „Was ich dich fragen wollte…“, fing Anna an und sah kein Problem darin sich gerade zu unterhalten. Es herrschte keine Gefahr, denn sie waren schließlich nur einer zutraulichen Katze auf den Fersen und keinem serrikanischem Tiger. Es war also völlig in Ordnung gemächlich zu spazieren und dabei zu plaudern, anstatt zu schleichen und aufgeregt zu lauschen. „Woher kommst du genau, Rist? Wie alt bist du eigentlich? Erzähl doch mal was über dich.“, forderte die Braunhaarige auf und hörte, wie ihr Kollege einen skeptischen Laut von sich gab. Warum? Es ging doch nur um gewöhnliche Plaudereien um vermeintliche Belanglosigkeiten. Anna musste leise lachen. „Wir sind schon lange zusammen unterwegs und dennoch wissen wir kaum was voneinander. Also… du weißt schon.“, die neugierige Schwertkämpferin drängte sich zwischen zwei dornigen Büschen hindurch und behielt die dreibeinige Katzenspur im Blick. Dies war schwer, denn die fahlen Strahlen der untergehenden Sonne wichen abendlicher Düsternis. Rist folgte seiner Kollegin und ein paar kleine Äste schabten ihm über die blanken Armschienen. „Stimmt.“, gab der Skelliger zurück, trat zwischen den Sträuchern hervor und klopfte sich etwas Schnee vom Ärmel, klaubte sich ein abgebrochenes Ästchen vom Gewand. „Ich bin 24 und komme von Undvik.“, meinte der Mann, dessen Ausrüstung bei jedem Schritt leise klapperte. „Das ist der Ort mit dem Eisfest, den Svenja erwähnt hat.“, stellte Anna begeistert fest und wartete darauf, dass ihr Freund zu ihr aufschloss. „Ja. Es ist eine Art Feiertag. Man trinkt, tanzt, musiziert und heißt damit den Winter willkommen…“, erklärte Rist ganz offen. Seine jüngere Begleiterin hörte aufmerksam zu. „Anders, als viele andere Völker sind Skelliger harte Wintertage gewöhnt. Wir machen uns nichts aus meterhohem Schnee oder Kälte. Diese Jahreszeit ist genauso nützlich wie alle anderen auch… und so, wie es das Frühlingseinläuten, Sommerfeste oder den Erntedank im Herbst gibt, so feiert man hierzulande auch ein Eisfest.“, sinnierte der wissende Krieger vor sich hin und wartete, bis Anna vor ihm über ein paar Steine geklettert war. Dann folgte er ihr leise ächzend auf den Vorsprung. „Im Zentrum von Undvik wird ein großes Feuer entfacht. Die Jarlsfamilie ist auch da, hält ein paar Reden. Und es gibt warmen Gewürzwein, Gebäckstangen mit Zimt und Wettkämpfe. Skelliger lieben Wettkämpfe, musst du wissen.“, sagte der Straßenkämpfer, der abermals zu Anna aufschloss. Er lächelte dabei leicht und so, als habe er nur gute Erinnerungen an das undviker Eisfest. „Welche Wettkämpfe denn?“, fragte die Hexerstochter begeistert in den kühlen Abend hinein und ihre Augen klebten in freudiger Erwartung auf Hjaldrist. „Hm. Man rollt Schneekugeln den Berg runter und der, der am Ende die größte hat, gewinnt eine Flasche Glühschnaps. Oder man muss einen eisigen Hügel erklimmen und derjenige, der die rutschige Piste als erster hinter sich lässt, bekommt ein Fass Bier oder Mjodr. Das ist eine Art Algenwein.“, erzählte der nostalgische Skelliger weiter und Anna musste amüsiert schmunzeln. Das Eisfest klang ja wirklich unterhaltsam, obwohl sie eigenartigen Algenwein als Preis dankend abgelehnt hätte. Gerne wäre sie nun auf Undvik. Bestimmt wäre sie bei den Wettkämpfen des Festes der Stadt ganz vorne mit dabei! Und als sie so an dieses Bild dachte und heiter in sich hinein schmunzelte, kamen ihr immer mehr Fragen, die sie ihrem Kumpan gerne gestellt hätte. Anna wollte wissen, wie es in dessen Heimatort so war, ob die Leute dort auch so viel soffen, welche Lieder man zum Eisfest sang und ob man sich in den Tavernen auf Undvik prügeln durfte. Doch sie kam nicht mehr dazu weiter nachzuhaken, denn vor den Abenteurern tat sich eine Lichtung auf, die dicht von kahlen Baumkronen überwuchert war. Und auf diesem Platz im Forst fehlte der knöchelhohe Schnee komplett. Ja, sogar saftiges Gras ragte hier aus dem gefrorenen Boden und zahlreiche Margeriten wiegten sich gespenstisch in der eisigen Brise. Sofort hielt Anna inne, streckte den Arm zur Seite aus und hinderte Rist somit stumm daran neben ihr vorbei, auf die so unwirklich anmutende Lichtung zu treten. Unzählige kleine, warme Lichtlein schwirrten über dem Platz. Glühwürmchen. „Was zum-“, fing der stockende Skelliger neben der verdatterten Novigraderin an und weitete die Augen überrascht, ungläubig. Er sah damit nicht minder perplex aus, als seine Gefährtin, die dem Szenario vor sich entgegen starrte. Anna's trockene Lippen standen einen kleinen Spalt weit offen, als ihr Blick damit anfing unruhig umher zu wandern. Sie sah kleine, weiße und gelbliche Pilze. Diese Gewächse zogen inmitten der so verdammt unwirklich anmutenden Lichtung einen perfekten Kreis. In diesem Kreis, viele Fuß entfernt, lag etwas. Es war zu düster, um ausmachen zu können was es war. Und dann... dann war da dieses leise, metallische Sirren. Ein Vibrieren nahe der spärlich befüllten Gürteltasche der Frau aus Kaer Morhen. Langsam senkten sich ihre dunklen Augen auf das wertvolle Wolfsamulett, das dort an einem schwarzen Lederband baumelte. Es reagierte und ihr jagte ein eiskalter Schauer über den Rücken. Nicht gut. Gar nicht gut. „Anna?“, hörte man den nichtsahnenden Rist verunsichert fragen. „Magie...?“, wisperte die Kurzhaarige und richtete die Aufmerksamkeit auf die surreale Szenerie zurück, die sich da vor ihr erstreckte. Sie schluckte trocken. „Dieser Ort ist voll davon.“, wisperte die Giftmischerin, als spräche sie zu sich selbst oder als denke sie laut. „Was?“, entkam es dem Inselbewohner und er fasste an Anna's Arm, um jenen von sich fort zu drängen. Er schob sich an der verunsicherten Frau vorbei und trat in das sattgrüne Gras. Die alarmierte Novigraderin wollte in diesem prekären Augenblick irgendeine laute Mahnung aussprechen, doch im Endeffekt schloss sie nur den Mund und ihr Gesicht wurde ernster. Zögerlich langsam folgte sie ihrem Freund auf die zauberhafte Wiese. Glühwürmchen stoben schnell auseinander, wurden ganz plötzlich zu wahrhaftigen Glutfunken. Ein seltsam schwirrendes Geräusch bohrte sich in den Kopf der Monsterjägerin, wie ein sanftes Ohrensausen. Die Luft roch nach Frühling; nach blühenden Apfelbäumen und Blumen, um die brummende Bienen ihre Kreise zogen. Noch nie hatte Anna so etwas erlebt. Nicht einmal gelesen hatte sie je von einem Ort, wie diesem hier. „Was geht hier vor?“, fragte Rist perplex, als er in der satten Wiese stand, die für den Winter unnatürlich grün gedieh. Umgeben von weißen Blumen und kleinen Lichtern. Er wendete den Kopf, sah sich verwundert um, fasste nach einem der schwirrenden Glühwürmchen, die wirkten, als seien sie einem Traum entsprungen. Anna folgte ihrem Freund mit sehr zögerlichen, vorsichtigen Schritten. Noch zaghafter und sie wäre geschlichen, wie ein verunsichertes Tier. Paranoia haschte mit spitzen Fingern nach ihr und stellte ihr die Nackenhärchen auf. „Magie, sagtest du?“, drängte der Skelliger und sah über seine Schulter zu der Novigraderin zurück, die argwöhnischer nicht sein könnte. „Ja...“, meinte Anna knapp. Ein warmer, sanfter Hauch strich ihr über die von der Kälte gerötete Wange. Es schien, als hing über der Lichtung ein völlig anderes Wetter. Als schiene die Sonne, obwohl es doch längst dunkel war. Und ihr Medaillon, das schlug noch immer aus, als wolle es sie warnen. Die Nachsichtige legte die kalte Hand darauf, als helfe dies dabei das Vibrieren abzuschwächen. Tat es aber nicht. Hjaldrist verengte die braunen Augen fragend, als er dies sah. Schlussendlich wusste er noch nicht, was es mit Hexeramuletten auf sich hatte. „Es könnte eine Intersektion sein...“, murmelte die ernsthafte Kurzhaarige, doch war sich nicht ihrer Annahme nicht absolut sicher. Sie war keine Spezialistin, wenn es um magische Orte oder dergleichen ging. Zwar besaß sie ein gewisses Grundwissen und erinnerte sich an Erfahrungen von denen Balthar damals erzählt hatte, doch mehr nicht. Das Einzige, das sie mit Bestimmtheit wusste war, dass ihr dieser Ort unheimlich und gefahrvoll vorkam. Trotz der wunderschönen, schimmernden Lichter, der Blumen und des ruhig wiegenden Grases. Es behagte ihr absolut nicht hier zu sein und dieses Gefühl mutete an wie ein riesiger, glatter Blutegel, der einem am Kreuz entlang nach unten kroch und jederzeit zubeißen könnte. Eingehend betrachtete sie den moosbewachsenen Boden und musterte die unterschiedlich großen Pilze, die sich hier nacheinander anordneten, als hätte sie jemand bewusst kreisrund platziert. Es war so unnatürlich. „Sei aufmerksam...“, wies Anna Rist leise an und wie er war sie trotz allem zu neugierig als dass sie sogleich zurückweichen oder verschwinden wollte. Sie folgte ihrem Kollegen auf dem Fuß und sah, wie sich kleine Feuerfunken an dessen bestickten Mantelsaum hefteten, doch nicht daran bissen. Wirr blinzelte die stutzende Frau. Kalte Glut? Intersektionen, so hatte Anna einmal gehört, waren magisch aufgeladene Orte, von denen Zauberinnen und Magier zehren konnten. Diese Leute suchten die arkanen Knotenpunkte bewusst auf, um Energie für ihre Zauber zu gewinnen, richtig? Auch Drachen und Katzen taten das, nur bis heute wusste niemand wieso. Dabei unterschied man zwischen den magischen Orten des Wassers, des Feuers, der Erde und der Luft. Den seltsamen rötlichen Glühwürmchen hier nach zu urteilen, die sich auf der Kleidung der Anwesenden niederließen, war die hiesige Lichtung vermutlich ein Knoten des Feuers. Anna könnte sich aber natürlich auch irren. Und so befremdlich und lauernd der frühlingshafte Ort wirkte, so interessierte er die Hexerstochter auch. „Anna, schau.“, Hjaldrist bat mit diesen auffordernden Worten nach der ungeteilten Aufmerksamkeit der Frau. Er stand bereits inmitten des Pilzkreises und bückte sich dort nach etwas. Anna schloss schnell zu ihm auf, darauf bedacht die hellen, kleinen Pilze am Grund nicht zu zertreten. Sie senkte den prüfenden Blick gen Boden und hielt verwundert inne, als sie sah, was dort lag: Die modrigen Gebeine eines kleinen Tieres. Der Schädel wies unverwechselbar darauf hin, dass es sich um eine kleine Katze handeln musste. Als hätte sich das Tier hier ruhig zum Sterben zusammengerollt, lagen die Knochen im Gras, teils gespickt mit Moos und Dreck. Das Skelett hatte nur drei Beine. Mimi? Nein, Mimi sollte doch noch leben und nicht längst verendet sein. Die Katzenspuren im Schnee waren frisch gewesen. Doch das Tier vor den Stiefelspitzen der Reisenden war schon seit Jahren tot! Was, bei der Unterbuchse der Melitele, passierte hier nur? Wie vor den Kopf gestoßen verengte die Novigraderin die Augen, verstand die Welt nicht mehr. Als sie hektisch zu Hjaldrist hinsah, erwiderte der ihren Blick genauso verwirrt. „Wir sollten gehen.“, flüsterte die Schwertkämpferin plötzlich drängend, sah wie ihr Freund zustimmend nickte und damit anfing auffallend bedrückt zu wirken. Hjaldrist wirkte, als beschwere irgendetwas Zentnerschweres seine Schultern. Das Vibrieren des metallenen Wolfsamuletts Annas wurde stärker und schien der Forderung zu fliehen Beifall zu klatschen. Und dann legte sich unerklärliche Bekümmertheit und Unruhe auch über die Frau aus Kaer Morhen. Sie wusste nicht wieso dem so war aber sie sollten weg von hier und zwar schnell! Doch noch bevor Anna und Hjaldrist es überhaupt schafften zurück in den weißen Schnee vor der seltsamen Lichtung zu treten und dabei das magisch wuchernde Gras hinter sich zu lassen, ertönte ein lautes Knarren, das von allen Seiten des Waldes auf einmal zu hallen schien. Ein schrilles Röhren folgte, Geflatter, wie von hunderten, gefiederten Flügelpaaren. Es raschelte in den Baumkronen, obwohl jene doch frei von Laub waren, und ein dumpfes Knacken und Knirschen erschütterte den Forstgrund drohend. Anna erschrak dadurch so sehr, dass ihr ein überraschter Laut entkam und sie wie gebannt stehen blieb. Rist bemerkte dies kaum, eilte an ihr vorbei. „Na komm, los!“, maulte er dabei in seinem Akzent. Der nervöse Skelliger hatte sicherlich nicht mehr Ahnung über die verwunderliche Situation, als seine Gefährtin, doch er handelte instinktiv und ohne nachzudenken: Er wollte den Wald so schnell wie möglich verlassen, mit eiligem Schritt und zusammengebissenen Kiefern. Das Adrenalin im Blut machte es einem dabei schwer, richtige Furcht zu empfinden. Man funktionierte einfach nur noch. „Anna, komm!“, blaffte der Krieger erneut mit rauer Stimme und sah sich im Dunkel nach der Frau um. Jene wollte sich schon hastig in Bewegung setzen, als sie eine monströse Präsenz neben sich spürte. Raben krähten, Bäume knarrten dumpf und Äste scharrten. Anna fuhr zusammen, wendete den Blick nach rechts. Und da sah sie es stehen: Ein riesiges, dürres Ding, das bestimmt zwei, drei Mal so groß war, wie sie selbst. In der Nacht konnte man nicht so viel erkennen und das magische Glühwürmchenlicht erleuchtete die Lichtung auch nur spärlich. Doch was die Kurzhaarige da erkannte waren glimmend fahlblaue Augen und ein Geweih. Ein riesiges Hirschgeweih auf einer hohen Gestalt, die leicht und geisterhaft wankte, wie ein Grashalm im Sommerwind. Abgesehen davon stand das Wesen komplett still, starrte die Abenteurer aus seinen leuchtenden Augenhöhlen an. Es atmete aus und dies klang wie das Schnauben aus Pferdenüstern. Die kleinen, kalten Lichter wirbelten hoch, flackerten, krallten sich an Geweih und Lederfetzen, an Stoff und Gräser. Ein weißer Schädel. Ja, die besagten Hörner ragten aus einem knochigen, großen Schädel eines Hirsches oder Pferdes, der auf einem verdrehten Körper steckte. Zweige und schwammige Baumpilze wuchsen aus dem Leib des Wesens, wie makabre Tumore und die Gliedmaßen des Gehörnten sahen im fahlen Licht aus, als seien sie aus Holz. Anna war wie zur Eissäule erstarrt, konnte die geweiteten Augen nicht von dem Monstrum reißen. Ungläubig sanken ihre Hände und auf einmal fühlte sie sich so, so wehrlos. So klein. Eine magere Krähe landete am breiten Geweih des Waldschrats. So etwas hatte Anna bisher nur in ihren Büchern gesehen. „Anna!“, das aufgekratzte Rufen Hjaldrists riss die atemlose Frau endlich aus ihrer verkrampften Starre. Und als sie zusammenfuhr und ein erschrockenes Keuchen ausstieß, regte sich auch der Schrat. Abrupt reckte er den gehörnten Schädel und hob die hölzernen Pranken an. Sein zorniges Grölen donnerte nur so in den Ohren und Anna's Magen fühlte sich in diesem heiklen Moment an, als verdrehe er sich augenblicklich zu einem dicken Knoten. Ihr Herz sackte ihr bis zu den wackeligen Knien. Und dann fuhr sie herum, lief einfach nur gehetzt los. Zu kämpfen wäre töricht gewesen, ja, niemand kämpfte nachts, in einem finsteren Forst, gegen einen Waldschrat! Nicht einmal ein RICHTIGER Hexer! Also rannte Anna. Dem metallenen Klappern von Rist's Ausrüstung blind folgend, lief die Kurzhaarige durch die Dunkelheit, die nurmehr vom schwachen Mondlicht erhellt wurde. Sie konnte von Bäumen, Sträuchern und dergleichen nur noch unheimliche Schemen ausmachen. Die Kriegerin sprang über eine dicke Wurzel hinweg, rutschte beinah auf einer Eisfläche aus und stolperte schreiend nach vorn, schlug sich das Knie auf und erkannte nicht einmal woran. Egal. Sie rappelte sich schnell wieder auf die wackeligen Beine, rannte weiter und ihr Atem, der in der Eiseskälte als weißer Dunst aufstieg, ging schwer und unregelmäßig. „Warte!“, rief sie flehend in den Wald hinein, verlor die Orientierung, konnte den gehetzten Hjaldrist nicht mehr hören “Rist!” Irgendetwas erwischte sie wuchtig von hinten. Flattern, Krächzen, schwarze Federn. Ein Schwarm keifender Krähen warf sie nach vorn in den kalten Schnee. Nur mit Mühe und Not schaffte es die stöhnende Hexerstochter sich mit den behandschuhten Händen abzufangen und sich nicht die Nase am gefrorenen Boden zu brechen. Absolut aufgescheucht und mit aufwallender Panik im Blick kam sie auf alle Viere, dann auf die frierenden Füße. Ein Vogel hackte ihr mit spitzem Schnabel gegen die kurze Weste aus Kettengeflecht und Leder. „Nein!“, keuchte Anna und schlug nach dem wütenden, schwarzen Vogel auf sich. Verärgert krähend flog er fort und seine Artgenossen schrien aggressiv. Wieder eilte die Novigraderin los. Einfach nur geradeaus, nurmehr weg von hier. Doch der Wald, der war das Revier des alten, gehörnten Schrats. Und der folgte der Frau hungrig, blutdurstig, und schickte seine schwarzen Vögel voran wie eine tosende Todesdrohung. Und nicht nur jene. Denn kaum einen Herzschlag später schossen schmale Wurzeln wie gierige Krallen aus dem gefrorenen Waldboden. Direkt vor Anna stoben sie knarzend empor und verfehlten sie nur knapp, schnitten ihr den Weg ab. Die bedrohte Schwertkämpferin johlte entsetzt auf, wendete sich aufgebracht um und sah, wie das schlaksige Biest entschlossen auf sie zu schritt. Das Herz schlug der Dunkelhaarigen so heftig, dass sie glaubte, es spränge ihr noch aus der engen Brust hervor. Kalter Schweiß brach ihr aus, sie konnte sich nicht rühren und vergaß einige Wimpernschläge lange gar darauf zu atmen. Die Beine des Schrates waren lang, seine Schritte weit. Er war dadurch schnell und seine Gestalt sah im Halbdunkel bizarr aus, fürchterlich und angsteinflößend. Wie die eines Monsters, von denen in Gruselgeschichten für Kinder die Rede war. Das hier war aber keine Geschichte, sondern purer Ernst, eine verhängnisvolle Lage, aus der Anna wohl nicht mehr lebend herauskommen würde. Denn Waldschrate waren nur für eines da: Töten. Und wenn sie dies taten, dann brutal. Als Jugendliche hatte Anna einst ein Lied von Balthar, der ihr gerne vorgesungen hatte, gelernt. Ein sich reimendes Stück über die wilden Biester des Waldes. Und eben jenes drang nun in den erschreckend leeren Kopf der aufgebrachten Hexerstochter zurück, wie eine morbide Untermalung der gefährlichen Szenerie: 'Sämtlich verdorrt, zerknickt, verkrumpelt. So bin ich schreiend fort gehumpelt. Denn mit dem Laufen, leicht und frei, war es nun schon längst vorbei.' Eine dürre Ranke schlug wie eine dicke, hölzerne Peitsche neben der japsenden Anna nieder und zerfetzte dabei Gebüsch. Nur mit Glück schaffte sie es gerade noch so auszuweichen. Sie fasste reflexartig nach dem Griff ihres langen Silberdolches an ihrem Gürtel, zog ihn schnell und stieß damit planlos ins Leere. 'Urplötzlich springt aus einem Graben, begleitet von dem Schrei der Raben, mir ein Waldschrat in den Nacken. Und spornt mich an mit seinen Hacken. Und macht mich schwer wie Bleigewichte. Und drückt und zwickt mich fast zunichte.' Mit dem Rücken voran stieß die zurückweichende Anna an eine dicke Wand aus Ästen und Wurzelwerk. Vor wenigen Sekunden noch war jene nicht da gewesen. Die Trankmischerin rang nach Atem, die Augen angstvoll in die eisig kalte Winternacht gerichtet und die Klinge abwehrend erhoben. Ringsum waren Bäume, die sie zerdrücken wollten, nichts als Bäume. Anna war gefangen und Hjaldrist war fort. Er hatte sie im Stich gelassen! 'Blutend, matt und lendenlahm, ich nicht mehr aus dem Walde kam. Der Schrat, groß und finster von Gestalt, grollt und macht lachend Halt. Schon liege ich am Boden. Schon ist die Ranke straffgezogen. Jetzt erdrückt er dich, so dacht ich, und mein Hals war steif und krumm. Nur mühsam drehte ich ihn herum. Und ach, wie war es ringsumher auf einmal traurig, öd und leer.' Ein lautes Brüllen erfüllte die ungnädige, eisige Gegend erneut. Doch dieses Mal war es nicht das tönende Geschrei des gehörnten Waldwesens, sondern die vertraute Stimme Rists, der sich mit einer Lampe in der linken Hand und seiner Axt in der rechten, aus der Dunkelheit schälte. Die Öllampe warf einen orangen Schein auf die Seite des fürchterlichen, steinalten Waldschrats, malte unruhig tanzende Schatten auf verschneiten Boden und Baumrinden. Der Docht darin war so weit hochgedreht worden, dass das Feuer an seinem Gefängnis aus Metall und Glas leckte. „Weg!“, keifte der Skelliger und erhob die scharf geschliffene Axt drohend. Eine wenig effektive Taktik gegen einen Schrat, doch immerhin verwirrte dies das hohe Wesen so sehr, dass es die Aufmerksamkeit von der bibbernden Anna fortriss. Die atemlose Novigraderin warf den Blick zu ihrem Freund herum, der ihr hier gerade das jämmerliche Leben rettete und damit sein eigenes aufs Spiel setzte. Denn sogleich brach eine dicke, knorrige Wurzel aus dem erzitternden Boden und brachte den tapferen Krieger damit aus dem Gleichgewicht. Doch er schaffte es mit Mühe stehen zu bleiben, taumelte nur stark und kniff die Augen böse zusammen. Im unruhigen Lampenschein sah Anna, wie Hjaldrist die Zähne kampflustig zusammenpresste und nach vorne hetzte; dem fauchenden Schrat mit dem Hirschschädel entgegen. Die Frau aus Kaer Morhen schrie den Namen ihres lebenslustigen Gefährten dabei warnend und streckte die freie Hand nach ihm aus, so, als könne sie ihn damit am breiten Kragen packen und von dem übermächtigen Biest fort bugsieren. Sie fasste aber natürlich nur in die klamme Luft, erstarrte in ihrem Tun und sah, wie Rist seine Lampe an einem dicken Unterarm des Waldschrats zerschlug. Glas zerschellte klirrend, Öl spritzte, Holz fing Feuer, das Monstrum fauchte und kreischte auf, fuchtelte, die Krähen stoben wild schnatternd auseinander. Es qualmte, stank nach brennendem Eichenholz, zäher Lampenflüssigkeit und süßlicher Verwesung. Sekunden später war Hjaldrist dann schon bei seiner überwältigten Freundin und erwischte sie barsch am Handgelenk, zerrte sie mit sich. Anna verlor dabei beinah ihren teuren Dolch und trat dem Skelliger einmal aus Versehen so fest auf die Fersen, dass jener einen schmerzlichen Laut von sich gab und fast einknickte. Doch sie liefen weiter, rannten um ihre Leben. Und sie schafften es. Ja, tatsächlich und wie durch ein Wunder schafften sie beide es aus dem verschneiten Wald heraus, in dem dessen gehörnter Herr laut und verärgert röhrte. „Weiter, weiter!“, keuchte Anna, die noch immer knapp hinter Hjaldrist war. Nach wie vor hatte der loyale Mann nicht daran gedacht ihr Handgelenk loszulassen. Sein eiserner Griff darum war so fest, dass es wehtat. Und er ließ sich nicht zweimal dazu auffordern weiter zu laufen. Durch den knöchelhohen Schnee hetzten die beiden, hatten kleine Zweige und verdorrte Blätter in den Haaren, Schneeflocken an den Mänteln und kleine Kratzer an der Haut. Sie blieben erst stehen, als sie das ruhige Meeresufer erreicht und den todbringenden Wald schon längst hinter sich gelassen hatten. Vor dem Tor Redgills, das schief in seinen rostigen, quietschenden Angeln hing, stoppten sie. Hjaldrist ließ Anna schließlich los, stemmte die feuchten Handflächen auf die Oberschenkel und rang abgekämpft nach Atem. Die Novigraderin ließ sich auf die Knie fallen und stützte die Hände auf den kalten Boden, keuchte schwer. „Scheiße!“, brachte der Skelliger bloß unter schwerem Schnauben und Prusten hervor. Seine Gefährtin bekam hingegen überhaupt kein sinnvolles Wort zustande, musste husten und ausspucken, denn ihre Lunge brannte. Unglaublich tief steckte ihr die Angst noch in den Knochen. Die Panik und der Unglauben darüber, dass sie die vorige Begegnung mit dem gefährlichen Waldschrat tatsächlich überlebt hatte, beutelte sie. Oh ja. Sie war hier. Sie atmete noch, wenngleich auch etwas mühsam. Bis auf ein aufgeschlagenes Knie, ein paar Kratzer und eine schmerzende Hand war sie unversehrt. Sie lebte. Sie lebte! Erst nach einer halben Ewigkeit und nachdem sie es wieder schaffte halbwegs vernünftig zu denken, kam Anna auf die Beine. Nach wie vor waren ihre Knie butterweich und ihre Kehle so rau, dass es weh tat. Zitterte sie noch? Sie wischte sich mit dem Ärmel über die nasse Stirn, fasste sich völlig fertig an den stechenden Brustkorb. Sie hörte, wie Rist neben ihr leise Flüche aussprach und entnervt schnaufte. Die Frau mit den kurzen, verwuschelten Haaren richtete den Blick auf ihn und ihre aufgelöste Mimik wurde aberplötzlich härter. Anna machte die Lippen schmal, die Augen eng. Sie hob eine Hand leicht an, zögerte nur ganz kurz. Und was folgte, war eine gesalzene Backpfeife, die Rist den Kopf unter einem lauten Klatschen nur so herumriss. Der gestandene Krieger wankte hart getroffen einen halben Schritt weit zurück und wirkte für wenige Atemzüge lang absolut orientierungslos. Überwältigt sah man ihn blinzeln und er fasste sich schmerzlich stöhnend an die Wange. Hätte es hier bessere Lichtverhältnisse gegeben, hätte man nun bestimmt erkannt, wie sich auf seiner blassen Haut ein schöner, roter Abdruck bildete. Verdattert und absolut entrückt lenkte der arme Kerl die Augen nun auf die, die ihn hier gerade geschlagen hatte, wie wohl noch keine andere Frau vor ihr. „Was hast du dir nur dabei gedacht, Hjaldrist?“, Anna's heisere Stimme war erhoben und klang genauso zerstreut, wie die Miene des Käferschubsers soeben aussah. Jener verzog den Mundwinkel so, als schmecke er etwas Widerliches. War es Blut? Wahrscheinlich. „Was?“, keuchte der Mann vollends zerfahren hervor „Ich habe-“ „Ich WEIß was du getan hast!“, schnitt ihm Anna ins holprige Wort und warf die Arme aufgebracht in die Luft. „Du kannst dich doch keinem uralten Schrat nähern und ihm Drohgebärden entgegen schreien! Warst du denn ganz bei Sinnen? Weißt du überhaupt, WAS ein Waldschrat ist?“, keuchte die Kurzhaarige fassungslos. Ihre Augen waren etwas glasig und am liebsten hätte sie geheult. Gerade, da war sie auf eine Art emotional, die sie sich selbst nicht ganz zu erklären vermochte. „Hast du denn EINE AHNUNG wie gefährlich diese Dinger sind?“, schrie sie den armen Hjaldrist an. Jener hielt sich die pochende Wange noch immer und schnappte pikiert nach Luft zum Sprechen, doch Anna ließ ihn nicht antworten. „Du hättest draufgehen können!“, blaffte die Novigraderin weiter. Doch so herrisch und tönend ihre Stimme gerade noch geklungen hatte, so brüchig wurde sie nun. Ja, der Schrat hätte Rist, ihren ersten und einzigen Freund, mit Leichtigkeit erschlagen können und die dumme Alchemistin wäre schuld daran gewesen. Sie war es schließlich, die den unwissenden Undviker mit auf Reisen genommen hatte und sie hatte ihn auch nicht ausreichend vorgewarnt. Anna, die es eigentlich hätte besser wissen sollen, hatte es zugelassen, dass der unbedarfte Axtkämpfer den Pilzkreis auf der magischen Lichtung im Forst betrat und war ihm dann auch noch töricht gefolgt. Oh, sie war so, so dämlich und ihr Ziehvater hätte ihr dafür Eine verpasst, ganz sicher. „Sterben hättest du können! Sehr schnell sogar!“, aufgeregt atmete Anna, schüttelte den Kopf in ihrem haltlosen Unglauben. Sie verhielt sich, als sähe sie einem kleinen, dummen Kind entgegen, doch eigentlich war es sie selbst, auf die sich ihre Aggression gerade richtete. Der beißende Gedanke ihr Leben oder ihren Gefährten von Undvik heute beinah verloren zu haben schockierte sie noch immer. Rist starrte fassungslos und mit halb offen stehenden Lippen und eine bedrückende Stille legte sich über sie beide. Zwei, drei Wimpernschläge lang sagte keiner ein Wort. Doch dann verrutschte der strenge Ausdruck der fassungslosen Schwertkämpferin allmählich, wurde wieder weicher, nachgiebig. Sie atmete einmal tief durch, als beschwichtige sie dies. Und dann warf sie sich um den Hals ihres Kumpels, der ihr heute ohne Hirn, doch mit unsagbar viel Herz, das Leben gerettet hatte. Er hätte bei dem überstürzten Versuch dies zu tun sterben können und dennoch hatte er Anna wacker beigestanden. Der Mann, ihr bester Freund, war zu ihr in den furchteinflößenden Wald zurückgekommen, um ihr bedingungslos und mutig zu helfen. Ein Einsatz, der Anna nicht nur erschreckte, sondern nun vor allem vollends rührte. „...Danke.“, flüsterte sie leise, als sie den sprachlosen Hjaldrist drückte. Kapitel 6: Wenn Geschwisterliebe zu weit geht --------------------------------------------- „Rist...“, wisperte Anna leise. Noch immer hatte sie die Arme des Besagten fest um dessen Schultern geschlungen und man hörte den schmalen Mann einmal tief und nahezu entnervt durchatmen. Er hatte die Arme zuvor nur vorsichtig angehoben und entschloss sich erst jetzt dazu die Umarmung seiner Freundin locker, wenngleich auch unschlüssig, zu erwidern. „Wirst du gerade sentimental?“, wollte er direkt und mit gesenkter Stimme wissen, aber schien nicht daran zu denken die Hexerstochter, die über seine Schulter gen Redgill sah, von sich zu drängen. Er war kein harter, kalter Kerl und bestimmt hatte er ab und an nichts gegen Nähe. Außerdem waren sie beide gerade dem Tod entronnen. Eine zutiefst erleichterte Umarmung tat den meisten in solch einem Fall gut. „Nein, ich-“, fing die Kräuterkundige zögerlich an, doch kam nicht weiter, denn der Skelliger lachte just leise in sich hinein und unterbrach sie damit in einem sanft amüsierten Ton. „Hör zu...“, meinte er und holte schon tief Luft, um zu einer gut gemeinten Forderung anzusetzen. Zwar hatte er seiner Freundin gerade den Arsch gerettet, aber deswegen wollte er sicherlich nicht dastehen, wie ein glorreicher Ritter, der eine Prinzessin vor einem fauchenden Drachen bewahrt hatte. Der Inselbewohner war kein Typ für sowas. Und gleichzeitig lag er auch falsch, wenn er dachte, er hätte sich nun einen Kuss verdient. Anna seufzte genervt, als ihr dies in den Sinn kam, und riss Hjaldrist damit aus seinen vermeintlichen Gedanken rund um dankbare Edeldamen. Sie legte ihrem Gefährten eine Hand auffordernd an die Schulter und rüttelte sachte daran, während sie mit dem Kinn nervös gen Dorf deutete. „Da.“, murmelte sie mit gemischten Gefühlen in der Magengrube „Sieh doch.“ Ihre braunen Augen hingen schon die ganze Zeit auf dem halb zerfallenen Dorftor, das da unweit und mit ächzenden Scharnieren im Nachtwind wippte. Hatte Rist, dieser Depp, etwa tatsächlich gedacht, sie seufze ihm nun betörend zu, wie gern sie ihn hätte oder flüstere, welch ein toller Held er doch sei? Er kannte Anna doch schon gut genug, um zu wissen, dass sie keine Frau von solch einer Art war. Die Trankmischerin war schlicht sprachlos über den obskur veränderten Anblick Redgills gewesen, der sich ihr geboten hatte. Und auf dies hatte sie ihren Kumpan dringend ansprechen wollen. „Was denn...?“, Hjaldrist wirkte wahrhaftig ein wenig überrascht, lockerte den Griff um die Kurzhaarige und sah sich suchend um. Fragend folgte sein forschender Blick dem Fingerzeig seiner unruhigen Kollegin durch die junge Nacht und sofort verstummte er, als er erkannte, was Anna meinte. Er ließ sie langsam los und seine trockenen Lippen standen ihm einen überforderten Spalt weit offen, als er blinzelte und einen ratlosen Ton von sich gab. Er glaubte wohl genauso wenig, wie die Novigraderin vor ihm, was hier gerade passierte. „Oh, nicht schon wieder...“, konnte man ihn einen heiseren Atemzug später schon pikiert brummen hören. Denn das lauschige Redgill, das man vom helllichten Tage her als Idylle kannte, war verschwunden und einer völlig veränderten, verkommenen und toten Ortschaft gewichen: Wo Stunden zuvor noch hölzerne Palisaden gestanden hatten, um hungrige Ertrunkene und wilde Tiere von den kleinen Hütten fern zu halten, standen nurmehr ein paar traurige, morsche Planken herum. Das kleine Tor zum Ort war eingerissen und seine kümmerlichen Überreste, die noch in den rostigen Angeln hingen, waren schief und brüchig. Man hatte freie Sicht auf viele zerstörte und verlassene Häuser, zerschlagene Mauerteile und Kisten, die herumlagen, als hätte sie jemand umgeworfen. Ein halb versunkenes Fischerboot schwappte neben einem maroden Verkaufsstand im kniehohen Wasser. Und dieser Marktstand... er war derjenige, der heute Mittag noch von einer beleibten Fischersfrau bedient worden war. Der, bei dem Anna und Rist reichlich belegte Makrelenbrötchen und fettigen Backfisch gekauft hatten. Wo tagsüber also die fröhliche, feiste Dame gestanden und ihre leckeren, traditionellen Waren laut schreiend angepriesen hatte, lehnte nun nur noch das verwitterte Gerüst eines hölzernen Standes. Das kleine, gestreifte Sonnensegel, das ihm als Dach gedient hatte, flatterte als zerschlissener Fetzen im Wind. Ein paar kleine Schneeflocken trieb letzterer umher und die nahen Tannenwipfel rauschten mit ihm, als wollten sie die Szenerie düster untermalen. Oh, wie gut dies just passte! Anna's Augen blieben in morbider Faszination auf die Dorfruinen geheftet, die da still im Halbmondschein lagen. Es war so ruhig und hätte das nach Salz und Algen riechende Meer nicht vernehmlich mit den Tannenwäldern im Wind gebraust, hätte man bestimmt den Schnee fallen hören. Hier war keine Menschenseele mehr; Niemand außer der beiden Abenteurer. „Ist das nun auch wieder Magie oder was?“, fragte Hjaldrist drängend nach. Er wollte wohl gefasst wirken, doch dass er verunsichert flüsterte, verriet, dass ihm die heikle Situation ganz und gar nicht geheuer war. Dies war ihm nicht zu verdenken. Wirklich nicht. Auch Anna war es ganz flau im Bauch. „Nein... ich glaube nicht.“, antwortete die Novigraderin leise. Doch sie war sich absolut nicht sicher. Dabei wusste sie nach wie vor nicht, ob sie ihren staunenden Augen trauen sollte. Redgill war verwüstet worden, zerstört und verlassen. Und zwar nicht heute, oh nein. Der glitzernde Schnee bedeckte viele der Ruinen zentimeterdick und keinerlei Fußabdrücke führten in das einsame Dorf hinein. Da waren keine Leute, keine Tiere, keine Anzeichen für Leben jedwelcher Art. Auch frische Leichen gab es nicht, weswegen auch hungrige Monster wie Ghule oder andere Nekrophagen fehlten. Es war gespenstisch, außerordentlich trügerisch, doch das Wolfsmedaillon der entrückten Hexerstochter reagierte nicht. Kein Bisschen ruckelte es. Das war eigenartig, wenn man bedachte, wie die Ortschaft vor wenigen Stunden noch ausgesehen hatte. „Ich verstehe das nicht.“, sprach Anna daher ehrlich aus und machte damit klar, wie wirr sie in diesem Moment war, wie ratlos. Sie spürte Rist's abschätzenden, zweiflerischen Blick auf sich liegen. Natürlich hatte auch er keine Ahnung von dem, was hier lief. Woher auch? Er war bloß ein einfacher Straßenkämpfer, den die gefährliche Abenteuerlust gepackt hatte und der einer verrückten Hexerstochter aus genau diesem Grund hinterherlief. „Redgill war vorhin noch so belebt. Da sind so viele Menschen gewesen. Die Hütten waren heile, die Palisade intakt. Man hatte den Weg vom Schnee frei geschaufelt gehabt...“, murmelte die Kurzhaarige, als spräche sie mit sich selbst, und ihr Begleiter führte dies fort: „Es war tagsüber das komplette Gegenteil von alldem hier.“, der Mann zeigte in die Richtung der Häuser mit den eingeschlagenen Wänden und so, wie seine sprachlose Freundin stand er einfach nur wie angewurzelt da. Sie beide rührten sich nicht, traten ihrer Unsicherheit wegen nicht näher. Denn war es etwa klug in ein vermeintliches Geisterdorf zu gehen? Oh, die Reisenden hatten heute doch schon einmal solch einen seltsamen Ort betreten und es hatte absolut nichts Gutes gebracht. Sie hätten beinahe ihre erbärmlichen Leben an einen wütenden Waldschrat verloren, weil sie so neugierig, naiv und nachsichtig gewesen waren. Und dennoch müssten sie wohl oder übel in das nächtliche Redgill zurück. Früher oder später. Rist sprach aus, weswegen: „Unsere Sachen sind noch dort. Und die Pferde. Wir können sie nicht zurücklassen.“, merkte er an und schenkte Anna einen hintergründigen, auffordernden Blick. Ja, er hatte Recht. Sie hatten ihre Rucksäcke in der hiesigen Taverne gelassen, bevor sie aufgebrochen waren, um die vermisste Mimi zu suchen, und ihre Vierbeiner beim dazugehörigen Stall abgegeben. Dieser kleine Unterstand hatte sogar einen fröhlichen Stalljungen aufgewiesen, der ihnen freundlich entgegen gelacht und gemeint hatte, dass das Abstellen von Reittieren für die so herzlich willkommenen Gäste der Schenke umsonst sei. Welch eine riesengroße Scheiße! All die Leute hier hatten so gastfreundlich und nett gewirkt, wie der besagte Junge. Sie alle hatten lieb gelächelt, stets gegrüßt, sich auffallend froh verhalten. Und jetzt, wo Anna darüber nachdachte, wirkte es so eigenartig und verdächtig auf sie. Der kleine, winterliche Ort am Meer war so hübsch gewesen, idyllisch, viel zu gut. Nirgendwo war es so. In keiner Stadt und in keinem Dorf waren die Menschen so freundlich; erst recht nicht Leuten von außen gegenüber. Dies hätte ihr negativ auffallen und sie argwöhnisch stimmen sollen. Die geschulte Frau hätte hinterfragen müssen, denn nirgends wurde man in harten Zeiten, wie dieser ausschweifend lieb behandelt. Stattdessen hatte sich die Schwertkämpferin einfach hingegeben und den Tag in Redgill genossen. Dies mit schmackhaftem Fisch und gemütlichem Marktstandgebummel. Es war eine gelungene Abwechslung vom schweren Alltag gewesen; abseits von Kampf, magerem Essen, langen Reisen oder dem Nachjagen von Aufträgen, um ein wenig Geld zu verdienen. Das Dorf, das gerade nicht mehr viel mehr war, als ein Haufen marodes Holz und Stein, hatte im Sonnenschein einem kleinen Winterparadies geglichen. Doch es war in Wirklichkeit keines. „Sehen wir nach unseren Sachen.“, murrte der anwesende Skelliger und haschte damit nach Anna’s Aufmerksamkeit “Hoffentlich sind sie überhaupt da...” Die Angesprochene nickte langsam, blickte auf und straffte die Schultern. Anna und Rist betraten die verschneiten Dorfruinen folgend auf leisen und vorsichtigen Sohlen. So, wie dreckige Diebe es täten. Und obwohl sie aufmerksam um sich sahen und die Hände kampfbereit an den Griffen ihrer Waffen liegen hatten, geschah nichts. Sie hatten eigentlich erwartet in das zweite Fettnäpfchen des heutigen Tages zu treten – wenngleich auch ein wenig besser vorbereitet, wenn man es so nennen konnte -, doch Redgill lag einfach nur totenstill da. So, als sei hier tatsächlich nichts und niemand. Mit suchend wandernden Augen ging Anna durch den knirschenden, knöchelhohen Neuschnee und versuchte sich daran zu erinnern, wo tagsüber welches Gebäude gestanden hatte. Ihr taxierender Blick streifte das halb abgerissene Haus des Schmieds, wanderte über die wenigen Hütten anderer Bewohner und den heruntergekommenen Stand des koketten Händlers, bei dem sie viel Wolle zum Häkeln eingekauft hatte. Sie hielt wenige Atemzüge lange inne, schritt daraufhin langsam auf den besagten Marktstand zu und betrachtete die eisige Schneeschicht auf der schiefen Verkaufsfläche stumm. Langsam streckte sie ihre behandschuhte Hand danach aus, wischte etwas von dem kalten Weiß fort und legte damit die Sicht auf ein paar Münzen frei, die da halb festgefroren am schmalen Tresen lagen. Sie musste Rist nicht rufen, denn der war zu ihr gekommen und sah der wenig begeisterten Novigraderin verdutzt über die Schulter. „Unser Geld.“, stellte er trocken fest und Anna nickte. Ein Moment, der sich äußerst befremdlich anfühlte. Denn, bei Melitele, was hatten sie hier und heute, vor wenigen Stunden, bloß getan? Mit der Luft gesprochen und Geld auf den hölzernen Marktstand gelegt, weil sie sich eingebildet hatten damit dicke Wolle und glänzende Fibeln zu kaufen? Und Handschuhe. In einer vagen Erkenntnis linste Anna aus den Augenwinkeln zu ihrem Kumpel zurück, an ihm hinab, zu seinen bloßen Händen. „Deine neuen Handschuhe.“, murmelte die Hexerstochter vielsagend, sah auf und suchte verschwörerisch Blickkontakt. Hjaldrist wirkte daraufhin dezent irritiert und sah auf seine kalten Hände hinunter. Ein unwohler Laut verließ seine Lippen. „Ich muss sie ausgezogen haben…“, entkam es dem Skelliger vorschnell gemurmelt und Anna riss die braunen Augen nicht von ihm, als er sich prüfend in die tiefen Manteltaschen fasste und fahrig an seinem breiten Gürtel entlang tastete, um zu sehen, ob er die Lederhandschuhe dort hinter den braunen Riemen gesteckt hatte. Sie waren nicht da. „Nein.“, korrigierte Anna wispernd und sprach damit das Naheliegende aus „Du hattest sie nie. Wir haben uns all das, was hier geschehen ist, nur eingebildet.“ Worte, nach denen Rist’s Miene unsäglich weit verrutschte. Noch einmal fasste er sich verblüfft in die Taschen, kramte etwas herum und brachte nur ein altes Stofftaschentuch und einen kleinen Feuerstein zutage. Bestimmt hatte sich der hübsche Axtkämpfer noch nie in solch einer befremdlichen Lage befunden. Vor seiner Reise mit Anna war er doch nur ein ‘normaler’ Kerl gewesen, der mit Magie, Monstern und dergleichen nichts am Hut gehabt hatte. Und nun steckte er knietief in irgendeinem trügerischen, mysteriösen Mist. „Die Fibel ist auch fort.“, atmete der Mann verdutzt und Anna seufzte wissend. „Illusionen. Richtig gute sogar.“, schätzte sie knapp und erinnerte sich dabei an die Theorie, die sie über jene kannte. „Warum?“, eine berechtigte Frage seitens Hjaldrist „Weswegen sollte eine Illusion über diesem Ort liegen? Und das auch nur tagsüber? Das macht keinen Sinn!“ “Vielleicht.”, entgegnete die nachdenkliche Giftmischerin leise. Auch Anna fasste den Zweck der hiesigen magischen Verschleierung nicht so richtig. Illusionen wurden verwendet, um irgendwelche Dinge und Begebenheiten zu vertuschen oder gezielt zu verändern. Balthar hatte einmal erzählt, dass Zauberinnen und Magier gern darauf zurückgriffen, wenn sie sich in alten, abgelegenen Burgruinen oder vermoderten Villen für geheime Beratungen oder Sitzungen trafen. Sie legten in dem Fall einfach ein mächtiges Trugbild über das Gebäude und das öde Umland. Sie sponnen solch ein starkes Fantasiegebilde, dass man glaubte, der Ort sei einladend und wunderschön. Doch wirklich restauriert, das war er dadurch natürlich nicht. Nach der Zusammenkunft der Magier und Zauberinnen, so hatte Anna’s Ziehvater belehrend gesagt, verschwände die hübsche Illusion wieder und ließe nur zerstörtes Mauerwerk und eingestürzte Hallen zurück. Und nicht nur Gebäude und Orte konnten von solch einem Zauber betroffen sein. Sondern auch Essen, kleinere Gegenstände, einfach alles. Wenn man dem also glaubte, war es keine wirklich große oder einmalige Sache, dass ein ganzes Dorf einem die Optik verzerrenden Zauber unterlag. Und dennoch musste man sich fragen, warum es Redgill’s Täuschung überhaupt gab. Und weswegen existierte sie nur am Tag? Wäre sie morgen, bei Sonnenaufgang, wieder zurück und könnte man dann am Markt wieder duftende Backfische kaufen? Wo lag da der Sinn? Die Lage war unheimlich verzwickt. Die skeptische Anna runzelte die Stirn tief und sah prüfend um sich, während Hjaldrist die wenigen Münzen vom morschen Marktstand klaubte, die sie beide heute Mittag dort abgelegt hatten. Und ihre Aufmerksamkeit blieb an dem großen Haus hängen, das unweit neben einem Haufen umgefallener und eingeschlagener Fässer im kalten Schnee ruhte. Die Taverne. Ihr Schild mit der Aufschrift ‚Meerblick‘ hing schief über dem Eingang und die Lettern darauf waren so verwaschen, dass man sie im fahlen, weißen Mondlicht kaum noch entziffern konnte. Die ehemals hübschen, blau gestrichenen Fensterläden des ‚Meerblicks‘ fehlten zum Großteil und in einer Seitenwand des Gebäudes prangte ein breites Loch, durch das es dick in den alten Schankraum geschneit hatte. Irgendwo dort mussten noch die Rucksäcke von Anna und Rist herumliegen. Und was war mit ihren Pferden? Der heruntergekommene, kleine Stall neben dem Gasthaus war leer. Vermutlich waren Kurt und Apfelstrudel längst geflohen. Oder aber die tagsüber getäuschten Abenteurer hatten die Tiere irgendwo anders festgebunden und dies vergessen. Bei all dem, das heute passiert war und gerade noch geschah, hätte es Anna nicht mehr sehr gewundert. “Dort, Rist. Die Schänke.”, murmelte die burschikose Monsterjägerin unruhig und haschte damit nach der Aufmerksamkeit ihres Kumpans, der vom vereisten Marktstand-Überbleibsel aufsah “Sie sieht so verändert aus. Mir ist echt mulmig zumute...” “Mir auch.”, gab der Dunkelhaarige zu, berührte seine Kollegin auffordernd am Arm und setzte sich dann in Bewegung. Sie müssten nach ihren Rucksäcken sehen. Die beiden könnten all ihre Habseligkeiten und ihr Geld nicht hier lassen, nur weil ihnen der Ort die Nackenhärchen aufstellte. Das Gepäck der beiden Abenteurer lag tatsächlich in der maroden Tavernenruine, in der es zog, wie in einem Vogelhaus. Die beiden Rucksäcke lagen halb zugeschneit im muffigen Gästezimmer im oberen Stockwerk, das sie tagsüber bei der freundlichen Schänkenbelegschaft für eine Nacht angemietet hatten. Die Treppe nach oben war so vermorscht, dass sie unter den Füßen Rists und Annas beinah eingestürzt wäre. Und das Zimmer, in dem sie nun mit hängenden Schultern standen, sah nicht viel besser aus. Knarrend und quietschend wippte ein Fensterladen mit abblätternder Farbe im kalten Wind und es war eisig kalt. Anna fröstelte leicht und wisperte einen Fluch, als sie sich nach ihrem Rucksack bückte und jenen prüfend betrachtete. Sie ging davor in die Hocke, blies ein paar Schneeflocken von ihm fort und begann damit suchend in ihren wenigen Habseligkeiten zu kramen. Natürlich waren die Wollknäuel, die sie heute Nachmittag gekauft hatte, nicht da. Genauso wenig, wie es Hjaldrist’s neue Handschuhe und die schmucke Bronzefibel waren. Die Novigraderin konnte sich eines bedauernden Seufzens nicht erwehren. „Was machen wir?“, konnte sie ihren Freund dann fragen hören. Jener ging gerade zum Fenster, in dem das Glas fehlte, und haschte nach dem quietschenden Fensterladen, um jenen gewaltsam zuzuziehen. Es rumste, dann war das lästige Knarren verstummt und der Skelliger klopfte sich den nicht vorhandenen Dreck von den Handflächen. Noch immer war es in der Hütte klirrend kalt, doch dafür zog es nicht länger so gewaltig. Rist hauchte sich warm in die frierenden Handflächen und rieb jene murrend aneinander. „Es ist spät. Und wir haben abgesehen von dieser Ruine hier keinen Unterschlupf für die Nacht.“, erinnerte Anna wehleidig, als sie sich nach dem Krieger im grünen Rock umsah. Sie erhob sich wieder etwas schwerfällig und zog die Brauen unzufrieden zusammen. “Der Schrat ist noch da draußen und… und zugegeben: Ich habe gerade echt etwas Schiss davor ihm noch einmal zu begegnen.”, murmelte die Kurzhaarige, die es hasste, Schwächen zuzugeben. Doch wenn sie es einmal offen aussprach sich zu fürchten, dann gegenüber dem Schönling der Inseln. Schlussendlich war er ihr einziger und auch noch recht guter Freund, oder? Sie wollte ihm vertrauen. „Du meinst also, wir sollten bleiben?“, fragte Rist und sah dabei nicht sonderlich glücklich aus. Klar. Die gesamte Situation war heikel und das verwunschene Redgill unsäglich unheimlich. Anna wiegte den Kopf abschätzend, klapperte die Optionen sorgfältig im Geiste ab und verschränkte die Arme derweil eng vor der Brust. „Wir könnten auch nach draußen gehen und im Schnee nach einer anderen Bleibe für die Nacht suchen. Aber ich weiß nicht, ob es hier in der Nähe etwas gibt. Zudem sollten wir nicht wieder in den Wald gehen, wenn uns unsere Leben lieb sind.“, grübelte die Kurzhaarige vor sich hin und sah, wie Rist bald nachgiebig nickte. „Es gefällt mir genauso wenig, wie dir, hier zu sein… doch es ist besser in einer gruseligen Ruine zu sitzen, als planlos im Schnee herum zu irren. Ich schlage also vor, wir bleiben hier und sehen zu, dass wir bei Tagesanbruch verschwinden.“, meinte Anna vorsichtig und äugte abwartend gen Landsmann. Man hätte gar meinen können, die Alchemistin wirke kleinmütig. „Also gut. Ja, wir sollten wohl bleiben. Besser in einem Geisterdorf schlafen, als nachts in der Wildnis zu erfrieren. Und, bei Jörmungandr, das tut man hierzulande sehr schnell, wenn man nicht aufpasst.“, meinte der vernünftige Mann unbehaglich und dennoch mit einem Funken Entschlossenheit im Unterton. Das schätzte Anna so sehr an Hjaldrist: Auch in schweren Zeiten war da immer etwas Selbstsicherheit in seinem Tun. Es bestärkte einen, machte Mut. Die Frau lächelte, nickte langsam und beobachtete, wie der Skelliger im Bunde um sich sah. Er deutete auf eines der alten, schiefen Betten, die im spartanischen Raum standen. “Ich halte erstmal Wache. Ruhe du dich aus, ja?”, schlug er vor “Ich kann gerade so und so noch nicht schlafen.” Was folgte war eine lange Nacht und eine kalte, verschneite auch noch dazu. Und als Anna nach Hjaldrist’s getaner Wachschicht dasaß, eingewickelt in ihren erdfarbenen Umhang und mit einer kratzigen Wolldecke über den Schultern, pfiff der Wind vor dem Gebäude die Schneeflocken noch immer durch das ausgestorbene Dörfchen. Die Frau zog sich die weite Kapuze tief in das Gesicht und rieb die Finger aneinander. Sie war heilfroh darüber, dass sie im Moment hier drin war und nicht draußen in dem gähnenden Sauwetter. Dies, obwohl sie gerade auf einem sehr modrigen Bett saß, das sie sich der eisigen Temperaturen wegen mit ihrem treuen Begleiter teilen musste. Jener lag dicht neben ihr, eingerollt, in voller Montur und hatte sich ebenfalls den gefütterten Mantel und die Decke bis über das Gesicht gezogen. Von der Kälte waren ihm die Wangen und die Nase ganz rot geworden; so viel konnte man im orangen Schein einer rostigen Tranlampe sehen, die Anna mühsam entfacht hatte. Rist schlief oder vielleicht tat er auch nur so. Die letzten Stunden über hatte er aufgepasst und Anna an seiner statt geschlafen. Tief, das hatte sie dies aber nicht getan und daher fühlte sie sich gerade, als sei sie unlängst von einem Steingolem geboxt worden. Sie gähnte erschöpft in ihren hohen Kragen und zog die Knie dicht an ihren Körper, sah matt vor sich hin und hörte dem ungnädigen Wind beim Heulen zu. Es hörte sich fast so an, als verlache er die kleinen Monsterjäger, die heute hoffnungslos in Redgill festsaßen. Eine halbe, nicht enden wollende, Ewigkeit verging so und Anna wäre einmal beinah eingenickt, da vernahm sie etwas anderes, als das Brausen des schäumenden Meeres und das Pfeifen des schneidenden Sturms. Da war eine leise Stimme. Draußen, vor dem halb zerfallenen Haus. Oder bildete sie sich dies ob ihrer Abgeschlagenheit bloß ein? Es hatte sich angehört, wie ein jämmerliches, verzweifeltes Weinen, doch Anna konnte sich auch irren. Fantasierte sie etwa? Ihr ‘Ziehonkel’ Vadim hatte ihr früher, in Kaer Morhen, einmal erzählt, dass man damit anfing zu halluzinieren, wenn man als Normalsterblicher zu wenig schlief. Geschah das gerade? Die alarmierte Novigraderin hob den Kopf sofort an, als sich die fremde, hohe Stimme erneut mit dem Gähnen des Eiswindes vermischte. Sie regte sich kaum, horchte bloß angestrengt. Und da war es wieder: Ein leises Weinen, das Jammern eines verbitterten Kindes in der düsteren Nacht. Ein Geräusch, dem Anna noch einige Augenblicke lange unschlüssig lauschte, bevor sie zögerlich an die schmale Bettkante rutschte und die Füße auf den unebenen Boden stellte. Einmal atmete die Kurzhaarige tief durch. Sie erhob sich, wendete sich ratlos dem Fenster zu und näherte sich jenem. Ein Stück weit schob sie den geschlossenen, blauen Fensterladen auf, um verstohlen nach draußen zu lugen; in das Dorf, das einem wahrhaftigen Friedhof glich. Starr war ihr Blick auf die stille Dorfmitte gerichtet. Dort war jemand. Ein Kind. Weiß, wie der Schnee ging es durch eben jenen und schien die fassungslose Frau am Fenster überhaupt nicht zu bemerken. Oder aber es beachtete sie einfach nicht. Anna sah, wie das kleine Mädchen langsam durch den Ort wandelte, auf bloßen Füßen und so, als berühre es den eiskalten Boden nicht. Keine Fußspuren blieben zurück. Eine halb offene, helle Schleife hing der Kleinen unordentlich vom Kopf mit den langen, wirren Haaren, die hinter dem Mädchen her wehten, wie bei einem Unterwassertanz. Der blinzelnden Hexerstochter stand der Mund in ungläubiger Überwältigung ein Stückchen weit offen und sie rieb sich die Augen, als helfe dies gegen nächtliche Bilder von Kindergeistern. Doch es brachte natürlich nichts. Die Erscheinung im verwehten Schnee war noch immer da und schwebte langsam und orientierungslos über den kleinen Platz vor dem Gasthaus. Das Mädchen sah sich immer wieder um, als suche es etwas. Es fasste sich an das blasse Gesicht mit den leeren Augen, vergrub jenes an den Handflächen. Und es weinte. Anna schluckte trocken und sie beobachtete das unfassbare Geschehen vor dem kaputten Haus noch eine ganze Weile lang sprachlos. Was sollte sie tun? Warum tummelte sich hier eine Erscheinung? War Redgill verflucht? Der Blick der Frau begann zu wandern und sie zog die Brauen weit zusammen, fuhr sich mit einer Hand grüblerisch über das Kinn. Über die Schulter sah sie prüfend zu dem Mann zurück, der da völlig ruhig am schräg stehenden Bett im Gastraum lag und schlief. Anna müsste ihn aufwecken. Zusammen wüssten sie, was zu tun wäre. Also wandte sich die Giftmischerin von dem Fenster ab, vor dem sie stand, um so leise als möglich zum Bett zurück zu eilen und ihren Kumpel zu wecken. Ja, sie hätte die geisterhafte Erscheinung vor der Taverne auch ignorieren und sich wieder zu Hjaldrist auf die mottenzerfressene Matratze setzen können. Sie hätte sich ganz still verhalten können, in der Hoffnung, die Mitternachtserscheinung bemerke sie nicht. Jedoch war die Kriegerin aus dem Norden einfach niemand, der schaurige Begebenheiten überging. Sie war unter der Fuchtel von Hexern aufgewachsen und wer wäre sie denn, hätte sie nun nichts gegen das unternommen, das da so drohend über dem toten Fischerdorf hing? Außerdem war die Frau neugierig. So unheimlich das heulende Kind am Vorplatz der Taverne auch war, so wollte Anna erfahren, was es mit jenem auf sich hatte. Ob es ängstlich oder aggressiv war. Und sie wollte herausfinden, was die Kleine hier, in dieser Welt hielt. Anna hatte da schon eine vage Vermutung. „Rist…“, flüsterte die Kurzhaarige, als sie den Besagten leicht rüttelte, nachdem sie sich zu ihm auf die harte, mottenzerfressene Matratze gesetzt hatte. Der Schlaf des dunkelhaarigen Skelligers war so seicht gewesen, dass er den Oberkörper sofort etwas verwirrt aufrichtete und schlaftrunken irgendetwas von ‚Was‘ und ‚Gefahr‘ brabbelte. Es wirkte dabei fast schon niedlich. „Pscht.“, machte Anna bloß „Wir haben Gesellschaft.“. Sofort war der Mann hellwach und bevor er eilig irgendetwas fragen konnte, deutete Anna mit ernster Miene gen Fenster. Nach wie vor war sie angespannt, doch besann sich darauf, dass gerade noch keinerlei Gefahr herrschte. „Da ist eine Erscheinung. Unten am Platz.“, wisperte die Kriegerin leise. Rist starrte sie unschlüssig an und seine Haare standen ihm vom Herumliegen etwas wirr vom Kopf ab. Beiläufig strich er sie sich zurück, doch es half nicht viel. „Eine… was?“, wollte er wissen und zwang sich merklich dazu mit gesenkter Stimme zu sprechen. „So etwas wie ein Geist.“, erklärte die Novigraderin die ganze, unglückliche Sache etwas einfacher und spürte, wie der Blick ihres Kollegen ungläubig an ihr klebte. Rist sagte nichts. Er schwieg bloß und man bemerkte, wie sein Kopf auf Hochtouren arbeitete; wie er versuchte sich einen Reim auf seine Lage zu machen. Der Faustkämpfer war absolut ratlos und fühlte sich von den Einschätzungen seiner geschulten Kollegin abhängig, das sah man ihm an. Aus dem Augenwinkel linste er zögerlich gen Fenster und verengte den Blick prüfend. „Sieh selbst. Aber pass auf, dass sie dich nicht bemerkt, hörst du?“, forderte Anna auf und sie konnte sich kaum verstehen, da stand ihr Kumpan schon. Auf leisen Sohlen bewegte er sich folgend auf das glaslose Fenster zu, dessen Laden eine Spalte weit offenstand. Der Mann hielt auf halbem Weg inne, schien zu überlegen. Rist sah sich nach Anna um und sie nickte ihm ermunternd zu. Erst dann schritt er weiter, lehnte sich dem Fenster entgegen und spähte hinaus. Eine angespannte Stille tat sich im Raum auf, während das Geistermädchen draußen tieftraurig weinte und dies lauter, als der heulende Eiswind. „Das ist... das ist Lena.“, entkam es Rist dann auf einmal völlig perplex und er schaffte es nicht sich wieder von dem Geschehen im Schnee abzuwenden, wo das besagte Mädchen mittlerweile mit angezogenen Beinen zwischen ein paar zerschmetterten Kisten saß und das nasse Gesicht an den Knien vergrub. Die Schultern der Kleinen bebten. „Nein, es sieht nur aus wie sie.“, korrigierte Anna und fing einen vielsagenden Blick von ihrem aufgeregten Gefährten auf. Auch sie erhob sich erneut, um zu Hjaldrist aufzuschließen und neben ihm nach draußen zu äugen. Wieder Schweigen. Anna brach jenes erst viele Momente später: „Was sollen wir tun?“, von der Seite aus blickte sie zu ihrem Freund hin, der unschlüssig an einem braunen Lederband herum zupfte, das ihm aus dem Kragen hing und vermutlich zu dem Hemd gehörte, das er unter all seinen Kleidungsschichten trug. „Ich weiß nicht.“, brummte der Mann langsam „Was tut man denn gegen Geister? DU bist doch diejenige, die mit einem Hexermedaillon am Gürtel herumläuft“. Unschlüssig schnaufte die Novigraderin auf diese richtige Aussage hin und hatte die skeptischen Augen schon wieder auf das schemenhafte kleine Mädchen gerichtet, das da inmitten der Dorfruinen Redgills kauerte. Ja, was sollten sie nur unternehmen? Vielleicht sollten sie sich doch einfach nur weiterhin hier verstecken und darauf hoffen, dass die nächtliche Erscheinung bald wieder verschwand? Nur, um heute nicht in noch eine dumme Misere verwickelt zu werden? Dies stünde zwar gegen die Neugierde der Alchemistin, doch war sicherer, als alles andere. Und sie wollte ihren Begleiter gerade nicht in eine weitere Situation bringen, in der ihm etwas zustoßen könnte. Schlussendlich hatte er noch nie mit Erscheinungen zu tun gehabt. Sie beide waren nicht ausgeruht und sie hatten keinen Plan. Kein Hexer hätte unter solchen Umständen gehandelt. „Wir...“, sagte Rist nach einigem Zögern und durchbrach das angespannte Schweigen damit flüsternd „Wir werfen eine Münze.“. „Hmm?“, Anna blinzelte irritiert und wendete dem Schönling den Kopf zu. Jener hielt ihr bereits einen Silber entgegen. „Bei Kopf sehen wir, dass wir von hier wegkommen. Bei Zahl sagen wir diesem Gespenst dort unten Hallo.“, schlug der Dunkelhaarige vor und auffordernd starrte er seine Freundin an. Jene zögerte und betrachtete den Mann, als glaube sie nicht, was jener gerade vorgeschlagen hatte. Weglaufen oder dem Geistermädchen Hallo sagen? „Wir können nicht einfach auf eine Erscheinung, wie die dort, zugehen“, fing Anna leise und verunsichert lachend an „und 'Hallo sagen'.“. „Es ist ein Kind.“, gab Rist ganz pragmatisch zurück und tuschelte nach wie vor so leise, als hätte er Angst, dass Lena ihn zwischen dem Brausen des Meeres und dem Stöhnen des Sturms hören könnte. „Nein, es ist eine Erscheinung. Ein 'Gespenst', wie du es genannt hast.“, wehrte Anna ab. „Macht das denn solch einen großen Unterschied?“, wollte der Skelliger wissen, der sein Leben bisher sicherlich nicht damit verbracht hatte Bestiarien zu studieren. Also nahm seine Kollegin ihm seine Leichtfertigkeit nicht übel. „Ja, macht es.“, antwortete die Kurzhaarige und sah noch einmal forschend gen Tavernenvorplatz zurück. Das weiße, jammernde Mädchen im glitzernden Schnee hatte sich nicht wieder gerührt. Noch immer saß es gebrochen zwischen all den Ruinen. „Erscheinungen sind Seelen, die an diese Welt gebunden sind, Rist. Sie sind launisch und gefährlich. Sie greifen auch an, wenn man ihnen zu nahe kommt oder sie auf Rache aus sind.“, erklärte die braunhaarige Kriegerin und war froh darüber gerade weit genug von Lena entfernt zu sein. Denn nächtliche Erscheinungen, wie sie hatten es nicht nur an sich Eindringlinge wütend anzufahren, sondern sie besaßen auch eine ganz besondere Aura: Eine üble Ausstrahlung, die auf alle Lebenden übergriff und jene genau dasselbe Leid fühlen ließ, das auch die betroffene Erscheinung auf dieser Welt hielt. Manche Geister strahlten Hass und Gram aus, andere Angst, Trauer oder Verwirrung. Es kam immer darauf an, wie und warum sie verstorben waren, an ihre letzten Gedanken vor dem letzten Atemzug und so weiter. „Hm.“, machte Rist nachdenklich. Seine Hand mit der Münze darin war ein kleines Stück weit gesunken und er schien sich dessen nicht mehr ganz so sicher zu sein, ob er sie werfen wollte oder nicht. Er sah von Anna fort, aus dem Fenster und hin zu dem weinenden Kind. „Gut, ich habe verstanden. Lass uns auf den Tagesanbruch warten. Ich habe nämlich das dumpfe Gefühl, dass es hier dann wieder Backfisch geben wird.”, murmelte der Axtkämpfer “Wenn du verstehst, was ich meine.“ Stimmen brachten Anna dazu aus dem tiefen Schlaf hochzuschrecken. Sofort saß sie im Bett wie eine Eins, blinzelte benommen und sah um sich. Kühle Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster auf den teppichgesäumten Boden herein. Man hörte unten, in der Taverne, Menschen lachen und der Geruch nach frischem Fenchel-Brot stieg der hungrigen Frau in die Nase. Irritiert wandte sie den Blick von dem Fenster mit den hübschen Vorhängen fort, hin zu dem zweiten, schön gezimmerten Bett, das da im Raum stand. Rist war nicht da. Nur sein gut gefüllter Rucksack lag am Boden nahe seiner Schlafgelegenheit herum. Auf dem Gepäckstück lag ein neues Paar lederner Handschuhe. Es waren jene, die der Skelliger gestern hier, in Redgill, gekauft hatte. „Oh, was zur Hölle…“, atmete Anna entgeistert und schälte sich einen Herzschlag später hastig aus ihrer dicken Bettdecke, die sich zu weich anfühlte, um wahr zu sein. Denn die Monsterjägerin wusste es besser. Seit gestern Nacht hatte sie eine ungefähre Ahnung davon, was hier vor sich ging und dass sie einmal mehr das Opfer einer mächtigen Illusion war. Sie strich sich den Mantel vorne glatt, hatte schließlich in voller Montur geschlafen, und setzte sich in Bewegung. Begleitet von dem fröhlichen Vogelgezwitscher, das von draußen herein drang, und dem leisen Singen, das man von unten vernehmen konnte, ging Anna zur Zimmertür und machte sich hektisch auf den Weg in den großen Schankraum. Dabei hoffte sie inständig, dass ihr Begleiter dort sei, denn es fühlte sich nicht besonders gut an HIER allein zu sein. Warum hatte der Krieger das Gästezimmer überhaupt verlassen? Hatte er Anna denn nicht aufwecken können? Dieser Idiot. Mit klopfendem Herzen und einer ungnädigen Nervosität, die sie gepackt hielt, kam Anna im unteren Stockwerk an und sah sich sofort nach ihrem Freund um. Und Rist war tatsächlich in der Taverne. Oh, zum Glück! Mit sehr, sehr kritischer, beobachtender Miene saß er in einer der Ecken und sah dem geschäftigen, fröhlichen Treiben in der Schenke zu. Er hatte weder Essen, noch ein Getränk vor sich stehen, die Finger auf der Tischfläche vor sich verschränkt und Anna hatte ihn wohl selten so finster starren sehen. Der muntere Gesang des anwesenden Skalden mit der kleinen Trommel mochte einfach nicht dazu passen. „Ich bin eingenickt und als ich wach geworden bin, war alles wieder… so.“, murmelte der Skelliger in der grünen Tunika, als sich seine Freundin zu ihm setzte. Unzufrieden deutete er mit dem unrasierten Kinn gen Schankraum. Eine gutgelaunte Magd kam Sekunden später schon an den Tisch getänzelt und lächelte den Reisenden freundlich entgegen, wollte Bestellungen aufnehmen und pries das Frühstück des Tages – Rührei mit Speck und frischem Fenchel-Brot – an. Anna und Rist winkten mit harten Mienen ab und gaben ganz entschlossen vor erst später essen zu wollen. „So etwas habe ich noch nie erlebt. Wo bin ich da nur reingeraten...?“, sprach der skellische Krieger weiter und Anna rang sich zu einem abfälligen Lachen durch. Ja genau, wo waren sie hier bloß hineingeraten? Klar, sie könnten ja auch einfach gehen, aber nach dem, was sie gestern gesehen hatten, war es schwer sich einfach so abzuwenden und quasi zu flüchten. Irgendetwas war hier faul. Es stank so sehr zum Himmel, dass man kaum drumherum kam das Geheimnis Redgills lüften zu wollen. Oder ging es nur Anna so? Von der Seite aus blickte sie zu ihrem Kollegen hin und wollte etwas sagen. So weit kam sie jedoch nicht, denn wieder kam jemand an den Tisch. Dieses Mal war es nicht die Schankmagd mit den schwarzen Locken, sondern… sondern Lena’s Bruder. Der junge Mann von gestern, der mit solch extrem apathischer Miene erklärt hatte, wie die entlaufene Katze Mimi aussah. Sofort versteiften sich die Glieder Annas etwas und sie bemerkte auch, wie sich Rist gerader hinsetzte, als er den eigenartigen Bäckerssohn erkannte. Der ausgelassene Gesang der gut gelaunten Gäste am Nebentisch begleitete den Moment mehr als nur unpassend. „Ihr habt es gesehen.“, Lena’s Bruder mit dem lethargischen Gesichtsausdruck setzte sich Anna und Rist gegenüber hin. Ohne zuvor zu fragen, ob er dürfte oder die beiden Dorfbesucher zu grüßen, tat er dies. Es mutete so an, als starre der seltsame Kerl durch sie beide hindurch, als er sprach. „Ich will nur, dass sie glücklich ist.“, sagte der dünne Mann. Hjaldrist und seine Freundin schwiegen und taxierten den Sohn des hiesigen Bäckers äußerst misstrauisch. „Nachdem sich der Waldgeist unsere Mutter geholt hat, hat sie so viel geweint. Ich habe ihr die Katze geschenkt und mir geschworen alles zu tun, um sie wieder zum Lachen zu bringen.“, erzählte der junge Dörfler vor sich hin und sah dabei aus, als sei er eine Puppe. Er war blass, emotionslos, der Blick leer. Man hätte genauso gut einen Toten hierhin setzen können. Einen Toten. Anna fiel es wie Schuppen von den Augen, als sie das realisierte und es verschlug ihr für einen Moment den Atem. Dennoch schwieg sie. „Es gibt hier stets ihr Lieblingsessen, ihre liebsten Lieder. Jeder ist froh und diese Laune sollte ansteckend sein. Doch das ist sie nicht. Lena ist unglücklich. So unglücklich. Und nachts träumt sie davon als Geist durch den Schnee zu wandeln...“, sprach der fahle Mann kryptisch weiter und tat dies, als denke er nur laut. Anna bemerkte, wie Rist neben ihr unruhiger wurde. Sie spürte unter dem Tisch, wie der argwöhnische Skelliger damit anfing nervös mit einem Bein auf und ab zu wippen. Sein Knie streifte das ihre. „Ich habe es für sie so schön gemacht und trotzdem weint sie. Ihr habt es gesehen. ICH habe EUCH gesehen.“, murmelte der Bäckerssohn, der sicherlich mehr war als ein bloßer Mensch. Ja, er war kein normaler Dorfbewohner. Er war irgendetwas anderes. Eine alte Hoffnung oder ein Überbleibsel vergangener Bemühungen um ein unbeschwertes Leben vielleicht. War er ein Magier? Nein. Doch er war der Ursprung der Illusion, die Redgill umgab, richtig? Das war er doch? „Ihr habt Lena träumen sehen.“, verließ es die schmalen Lippen des Kerles lau. Und in diesem Moment meldete sich Rist auf einmal ungläubig und mit Ärger im Ton zu Wort: „Oh, Moment mal!“, entkam es dem Schönling fast schon anschuldigend und am liebsten hätte er wohl mit der flachen Hand auf den Tisch gehauen. „Mit Träumen hatte DAS ja wohl wenig zu tun.“, erkannte der kritische Krieger richtig, doch Lena’s Bruder schien ihm gar nicht zuzuhören. „Ihr solltet gehen.“, sagte der Bäckerssohn gleichgültig „Lena tötet Besucher im Schlaf.“. Anna sah zwischen dem Dorfbewohner und ihrem Kumpel hin und her, wusste nicht so recht was sagen. „Was?“, brummte Rist pikiert, doch die Novigraderin berührte ihn in einer stummen Aufforderung am Unterarm und warf ihm einen drängenden Blick zu. Denn das seltsame Gespräch hier würde nichts bringen. Und sie glaubte mittlerweile GUT über das Bescheid zu wissen, was hier geschah und welcher böse Wunsch über dem so traumhaft wirkenden Dorf lag. Sie und ihr Kollege sollten sich vorerst zurückziehen und unter vier Augen miteinander sprechen. Und das taten sie dann auch umgehend. Die Abenteurer erhoben sich und ließen Lena’s Bruder einfach so und ohne Rücksicht im Schankraum sitzen. Denn Höflichkeiten hatten hier keinen Platz und den toten Bäckerssohn scherte es sicherlich nicht, wenn man ihn abrupt verließ. „Ich glaube, ich weiß, was hier los ist…“, fing Anna an, nachdem sie mit dem brummigen Rist zurück auf ihr kleines Zimmer gegangen war. Sofort begann sie damit auf und ab zu gehen, wie ein eingesperrtes Tier. „Und was ist hier los?“, fragte der Skelliger, der die Tür des geräumigen Raumes gerade schloss und zu seiner Kumpanin kam. „Der Bruder des Mädchens ist Schuld an dem Trugbild, das tagsüber über dem Dorf liegt. Es scheint, als sei es zu Lebzeiten sein großer Wunsch gewesen seine kleine Schwester glücklich zu sehen. Ich bin mir nicht sicher, was er heute ist, aber sicherlich kein normaler Mensch. Aber ich weiß, dass er dem Ziel Lena Freude zu bereiten nach wie vor so nachhängt, als sei hier niemals etwas geschehen...“, schlussfolgerte Anna und ihre Worte überschlugen sich beinah. Sie gestikulierte beim Sprechen ein wenig, sah nachdenklich vor sich hin und man konnte ihr ansehen, wie es in ihrem Kopf nur so arbeitete. Ein grüblerischer Ton verließ ihre Lippen, ehe sie ihre Ansprache fortsetzte. „Der Bruder wollte seine kleine Schwester nach dem Tod der Mutter wieder aufmuntern. Er wünschte ihr eine heile Welt, doch hat es nicht geschafft ihr dieses wunderschöne Leben zu geben. Irgendwann wurde das Dorf angegriffen und alle starben. Glaube ich. Vielleicht kam der Waldschrat. Doch Lena’s Bruder war so wahnsinnig versessen darauf sich für seine Schwester aufzuopfern, dass dieser starke Wunsch noch immer da ist. Und zwar als Illusion.“, sinnierte die schlussfolgernde Hexerstochter vor sich hin. Sie hatte schon vielerlei Dinge in den dicken Büchern der Wolfsschule gelesen. Auch solche, wie die, von der sie hier gerade sprach. Zwar gab es keine Geschichte, die Eins zu Eins so passiert war, wie die Misere Redgills, aber über Begebenheiten, die ähnlich waren, hatte Anna genug gelesen. „Du meinst also, dass der Wunsch von diesem Kerl so verzweifelt war, dass er nun, nach dessen Tod weiterbesteht? Dass sich dieses Verlangen nach einer heilen Welt in dieser Scheinwelt hier widerspiegelt?“, fragte Rist ungläubig und deutete mit einer weiten Handbewegung in das ruhige, hübsch eingerichtete Zimmer. Anna nickte und der fassungslose Mann sah sie an, als hätte er zu gerne geglaubt, sie erzähle einen an den Haaren herangezogenen Mist. Problem war nur, dass das lauschige Redgill, das tagsüber solch ein schönes Dorf und nachts friedhofsgleich war, Beweis genug war. Der Skelliger konnte nun also nicht einfach die Arme in die Luft werfen, dabei lachen und seine Freundin eine haltlose Spinnerin schimpfen. „Mhm, genau so ist es wohl.“, bestätigte Anna „Und weißt du, warum der Fluch überhaupt noch besteht?“ Auf diese Frage hin weitete Rist seine braunen Augen und eine plötzliche Erkenntnis traf ihn wie eine dicke Holzplanke gegen den Schädel. Man konnte es förmlich sehen. „Das Dorf ist nur deswegen so hübsch und die Leute so überfreundlich, weil es der Bruder der jüngeren Schwester noch immer recht machen will. Nur, weil sie nachts noch zwischen den Ruinen umherirrt und weint, ist er da und bemüht sich um Seelenfrieden.“, brach es aus dem dunkelhaarigen Krieger heraus und dieser richtigen Feststellung wegen konnte er stolz auf sich sein. „Genau. Lena’s Geist fühlt sich an diese Welt gekettet und so, als habe er noch etwas zu erledigen. Dabei ist er alles andere als froh. Erinnerst du dich daran, wie sie gestern um ihre Katze geweint hat?“, lächelte Anna wissend. Rist stockte. Einen Moment später zeigte der Mann in seiner nächsten Erleuchtung triumphierend auf die Novigraderin. Als wolle er damit andeuten WER seine Gedanken gerade zum Rollen gebracht hatte. „Die Katze!“, entkam es ihm „Lena trauerte vor ihrem Tod um Mimi, nach der sie sogar hat suchen lassen. Doch sie ist gestorben, bevor sie das Tier wiedergefunden hat! Wir bringen ihr also ihr Haustier zurück und sie findet endlich Ruhe.“ „Ja… besser hätte ich es nicht ausdrücken können.“, nickte Anna und wirkte selbstsicher „Und wenn Lena ihren Frieden findet, dann wird sich auch die Illusion Redgills auflösen. Denn ihr Bruder - wer oder was er auch immer ist - wird nicht mehr versuchen müssen dem rastlosen Mädchen eine heile Welt zu bereiten. Weil ihre Seele frei sein wird, um zu gehen. Einzig und allein die Katze bindet sie noch.“. Gedankenverlorenes Schweigen breitete sich auf diese augenöffnende Unterhaltung hin zwischen den beiden Anwesenden aus. Anna hatte damit aufgehört im Zimmer auf und ab zu gehen, war vor dem Fenster zum Stehen gekommen und verschränkte die Arme locker vor der Brust. Rist hatte sich auf der Bettkante einer der Schlafmöglichkeiten niedergelassen. Erst nach vielen angespannten Momenten rieb sich der Skelliger den Nacken und lenkte die Aufmerksamkeit auf seine Begleiterin zurück, die da noch immer stand und aus dem Fenster sah. Draußen spielte sich nach wie vor eine friedliche Idylle ab: Die Sonne schien und ließ den Schnee schmelzen, ein paar Kinder spielten mit einem fröhlich kläffenden Hund, die Backfisch-Verkäuferin verschenkte belegte Brötchen und eine Gruppe bunt gekleideter Waschweiber ging laut kichernd über den Platz. „Wie sollen wir Lena ihre Katze zurückbringen, wenn das Tier schon längst tot ist, Anna?“, wollte Rist ruhig wissen. Er schien schon eine ungefähre Idee zu haben, doch sprach sie nicht aus, weil er sich nicht lächerlich machen wollte. Oder wirkte es nur so? „Theoretisch sollte es klappen, wenn wir ihr die Knochen von Mimi bringen. Wir müssen die Überbleibsel von Lena finden und die ihres Haustiers zu ihr legen. Es gibt dabei nur ein Problem: Das Katzenskelett liegt im Wald, im Revier des Waldschrats.“, seufzte Anna geschlagen aus, kam zu ihrem Freund und ließ sich neben ihm auf das weiche Bett nieder. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie, legte das Kinn auf ihre Hände. Und sie zog die Brauen weit zusammen. „Ich will ungern dorthin zurück.“, murmelte Anna dann. Denn die Erinnerungen an den gestrigen Abend waren schrecklich. Wäre Hjaldrist nicht wieder schreiend aufgetaucht, um sie zu retten, wäre es um sie geschehen gewesen. Diese lebensgefährlichen Momente wollte die Hexerstochter nicht noch einmal durchleben müssen. „Wir müssen nicht in den Wald zurück, Anna.“, warf Rist nun plötzlich ein und seine Freundin sah fragend zu ihm auf. „Ich habe den Schädel gestern mitgehen lassen.“, erklärte sich der Mann sofort und fing damit an schief zu grinsen. Anna weitete die Augen irritiert, doch dann erinnerte sie sich daran, wie sich Hjaldrist inmitten des Pilzkreises der magischen Lichtung nach den Überresten der dreibeinigen Katze gebückt hatte. Das laute Chaos war kurz daraufhin ausgebrochen und die Frau hatte nicht mehr darauf geachtet, was der schlaue Skelliger tat. Er musste nach dem knochigen Schädel gefasst haben, bevor er losgerannt war. Vielleicht hatte ihnen der Waldschrat nur deswegen nachgesetzt. Der Ausdruck der Novigraderin erhellte sich unsäglich. „Du hast WAS?“, lachte die Kurzhaarige hervor und Rist’s breites, zufriedenes Lächeln schwand nicht. „Wir müssen nun also nur zusehen, wie wir das Ding an Lena übergeben.“, schloss der Kerl. Rist und Anna verbrachten den restlichen Tag damit abseits von Redgill durch die karge Gegend zu streifen, nach anderen Reisenden Ausschau zu halten oder nach ihren Pferden zu suchen. Letztes verlief dabei gut, denn weit waren Kurt und Apfelstrudel nicht gewesen. Sie hatten sich unweit des verwunschenen Dorfes aufgehalten und waren herbeigeeilt, als sie ihre Besitzer außerhalb der Scheinwelt Redgills gewittert hatten. Es schien, als seien diese Tiere klüger, als manch ein Mensch. Sie hielten sich penibel von dem vermeintlichen Geisterdorf fern, obwohl es nun, tagsüber, ruhiger und schöner nicht anmuten hätte können. Die klugen Pferde spürten, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht hatten Sie Lena gestern schon als die Erscheinung erkannt, die sie war, und waren deswegen panisch geflohen. Aber wie auch immer. Nun waren sie wieder da und standen nicht weit von Rist und Anna entfernt in der Wiese nahe dem Strand außerhalb der Ortschaft. Sie hatten die Köpfe gen Boden gesenkt und suchten zwischen dem knöchelhohen Schnee nach Grasbüscheln, die noch nicht völlig verdorrt und verwelkt waren. Ihre beiden Besitzer hielten sich vor dem rauschenden Meer auf, saßen dort auf einem alten Kahn, der umgedreht am Ufer lag. "Glaubst du, Lena's Überreste liegen in dem Haus, in dem sie einst mit ihrer Familie wohnte?", der anwesende Skelliger sah von der Seite aus zu der Frau hin, die bei ihm saß. Etwas gedankenverloren hatte Anna den schäumenden Wellen zugesehen, doch nun richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Freund in der grünen Tunika zurück. "Vielleicht. Wir werden nachsehen müssen.", die Novigraderin im dicken Wollmantel verzog die Mundwinkel in einer grüblerisch-ernsten Miene. Sie beide planten die Sache mit der Katze und der nächtlichen Erscheinung heute anzugehen. Dabei hatten sie sich darauf einigen müssen dies nachts durchzuführen, denn tagsüber lag ein zähes Trugbild über Redgill. Auch, wenn dort irgendwelche Leichen lagen, hätten sie sie jetzt nicht entdecken können. Sie mussten also abwarten und konnten erst dann walten, wenn die Illusion verblasst war: Nach der Abenddämmerung. "Hm.", machte Rist und fasste in seine tiefe Manteltasche. Er zog einen kleinen Schädel daraus hervor, den Mimis. Der Mann betrachtete den skelettierten Katzenkopf eingehend und drehte ihn zwischen den Fingern. Ein klein wenig Dreck und Moos hing noch daran. "Was wird passieren, wenn die Illusion erstmal zerstört ist?", fragte der Krieger weiter und sein Unterton klang verunsichert. "Ich nehme an, dass das Dorf dann auch am Tag zerstört am Meer liegen wird. Ohne Illusion. Mehr nicht. Wir werden es dann durchsuchen können. Vielleicht finden wir ja etwas Brauchbares.", lächelte Anna leicht. Hjaldrist schmunzelte etwas, wirkte gleich befreiter und sah von seinem Katzenschädel auf. "Etwas Brauchbares? In den vermoderten Ruinen?", lachte er leise und leicht abfällig. "Hey, bedenke, dass das Dorf seit seiner Zerstörung dem Traumbild von Lena's Bruder unterliegt. Bisher hat sich dort noch niemand richtig umsehen können. Und ich bezweifle es stark, dass man sich nachts nach Redgill getraut hat, wo dort doch ein Geist herumspaziert.", sagte die Hexerstochter. "Erinnere dich an die Worte des seltsamen Bruders der Kleinen: Lena tötet Im Schlaf. Und soweit ich diese seltsame Ausführung gedeutet habe, meinte der Mann damit einfach nur die Nacht. Bestimmt hat die Erscheinung des Mädchens schon den ein oder anderen Banditen oder ahnungslosen Reisenden umgelegt.", setzte Anna fort. "Schwer vorstellbar, dass so ein kleines Gespenst irgendwem etwas zuleide tun kann...", murrte Rist. Seine Kollegin musste schmal lächeln und schüttelte den Kopf leicht. "Hast du eine Ahnung... solche Erscheinungen sind ganz schön gefährlich. Egal, wie groß oder klein sie sind.", versicherte die Novigraderin, die schon einmal gesehen hatte, wie ihr Ziehvater gegen eine Mittagserscheinung gekämpft hatte. Ungute Monster waren das; Geister, die ihre Opfer dazu zwangen mit ihnen in den Feldern zu tanzen, bis die armen Leute vor Erschöpfung starben. Schrecklich. "Ich nehme dich einfach mal beim Wort.", gab Hjaldrist zurück und steckte sich den Schädel Mimis wieder in die tiefe Tasche. Er würde ihn aufbewahren, bis es an der Zeit wäre ihn bei Lena’s Gebeinen zu platzieren. "Hm. Ich hoffe einfach mal, wir bekommen es nicht mit Lena zu tun, bevor wir ihrem Leichnam Mimi gebracht haben. Ich habe kein Geisteröl und keine passenden Bomben bei mir und wir haben keine Zeit, um irgendetwas davon herzustellen. Ich würde gerne bald von hier verschwinden.”, seufzte die kurzhaarige Frau, die dick in ihren Mantel gehüllt auf dem umgedrehten Kahn saß. Sie fröstelte leicht. “Wir umgehen sie einfach. Wird schon klappen.”, antwortete Hjaldrist zuversichtlich seufzend. Ob er das gespielt tat oder aufrichtig, blieb dahingestellt. Anna nickte knapp. Es vergingen einige Stunden, bis der Horizont die Sonne endlich verschluckte. Und dies war auch der Augenblick, in dem sich Anna und Rist darauf vorbereiteten dem seltsamen Spuk Redgills ein Ende zu setzen. “Wir versuchen hintenrum bis zum Haus des Bäckers zu kommen. Dann sehen wir nach, ob die Überreste von Lena dort sind. Wenn nicht, ziehen wir uns sofort zurück und überlegen uns einen anderen Plan.”, schlug die geschäftige Novigraderin vor. Ihr Kumpel stapfte neben ihr durch den knöchelhohen Schnee, gen Dorf. Die letzten, rötlichen Sonnenstrahlen streiften sie dabei von der Seite und waren so kühl, wie die eisige Luft selbst. Die beiden Abenteurer hatten sich ihre Kleidung wieder dicht um die Körper gezogen, denn obgleich es heute etwas getaut hatte, war es noch immer arschkalt. “Verstanden…”, murmelte Rist in seinen dick gestrickten Schal hinein. Dann betraten sie das Dorf, das im Zwielicht lag. Langsam ließen die Trugbilder nach, flimmerten unstet, verschwammen vor den Augen der Sterblichen und lösten sich auf, als seien sie nie da gewesen. Die Abenteurer versuchten sich abseits zu halten, wie besprochen. Und im Ort, in dem immer mehr Gebäude in sich zusammenfielen, die Lichter erloschen und die Leute verschwanden, als lösten sie sich einfach so in Luft auf, blies der pfeifende Wind. Er war unangenehm und biss an den Wangen. Und dies passte zu dem Bild, das sich Hjaldrist und Anna bald bot: Als sie so weit durch die Seitengässchen geschlichen waren, dass sie die Taverne schon hinter sich gelassen hatten, waren von Redgill nur noch traurige Ruinen übrig. Die Hexerstochter stieg über eine zerschlagene Lagerkiste im Schnee hinweg, deutete ihrem Begleiter schweigend an darauf aufzupassen nicht zu stolpern. Sie hielten sich dabei nah an der Rückwand eines Hauses, das zur Nachbarschaft der Bäckershütte gehörte und als sie über weiteres Geröll stiegen, mischte sich in das Gähnen des Winterwindes wieder ein leises, bekanntes Weinen. Es klang so entfernt, konnte dennoch nah sein. Man durfte sich nicht täuschen lassen. Lena. Die Erscheinung, die sich nun irgendwo im toten Dorf befinden musste, jammerte mit hoher Kinderstimme auf und Anna hielt trocken schluckend inne. Die Frau spitzte die Ohren, lauschte. Rist hatte knapp hinter ihr angehalten. Dies bewusst so nah, dass er beinah in seine Freundin gelaufen wäre. Ihm war die ganze Situation nicht wirklich geheuer, das merkte man. Erstaunlich, dass er der burschikosen Novigraderin dennoch so sehr vertraute ihr in eine verfluchte Ortschaft nach zu stolpern und alles zu tun, was sie riet. Ja, Anna hatte Rist zwar erklärt, dass sie keine Hexerin sei und trotzdem baute der Mann auf ihr Wissen bezüglich Monstern und auf ihre langjährige Erfahrung im Kampf. Das, obwohl er nicht einmal wusste, woher Anna genau kam. Jeder andere hätte geglaubt, sie sei einfach nur eine normale, reisende Schwertkämpferin, die gerne Ungeheuer tötete. Eine Laie mit einem großen Maul. Nur Hjaldrist, der war vertrauensvoll und stellte keine argwöhnischen Fragen. Die Kurzhaarige wusste ja nicht, ob sie sich vertraut hätte, hätte sie in Rist’s Haut gesteckt. Sie hatte keine Ahnung, ob sie jemandem wie sich ÜBERHAUPT gefolgt wäre. Ernsthaft. Wer stürzte sich denn schon mit einem, von dem er nicht einmal den tatsächlichen Hintergrund kannte, in gefährliche Abenteuer und Kämpfe? Was erhoffte sich der Schönling davon? Aus dem Augenwinkel linste die Frau zu dem Skelliger zurück, der sie abwartend ansah. Noch immer standen sie im Schnee hinter dem schiefen Haus, dessen Dachstuhl beinahe zur Gänze fehlte. “Was ist?”, flüsterte der Mann, dem das angespannte Gewarte offenbar zu lange dauerte. Und Anna würde sich noch eine Weile fragen, was jenen dazu bewegte ohne nachzuhaken in alle möglichen unmöglichen Situationen zu geraten, weil seine Kollegin voran lief, um kopfüber und als Erste in eben jene zu stürzen. “Nichts. Gehen wir weiter.”, wisperte die Novigraderin lau und riss den Blick wieder von ihrem Freund los. Es war dabei eigentlich richtig ironisch, dass die beiden Reisenden flüsterten. Denn inmitten der Stille der Ruinen Redgills, die lediglich von dem Jammern des armen Geistermädchens durchbrochen wurde, bewegten sie sich wie die Elefanten im Porzellanladen. Etwas, das sie zuvor nicht bedacht hatten. Der halb angetaute Schnee, der in der Kühle der Nacht fror, knirschte unter ihren Stiefelsohlen und Metall klapperte bei jedem Schritt leise gegen Metall. Das simple Schwertheft Anna’s schabte an ihren messingfarbenen Gürtelnieten und Rist hatte sich den runden Schild schon längst vom Rücken geschnallt, um ihn zu halten. Dort hinten, neben Rucksack und Bratpfanne, hatte das Ding nämlich gegen den stählernen Bogen seiner Armbrust gescheppert. Oh, wenn Balthar das gesehen - oder eher: gehört - hätte… er hätte sich die schwieligen Hände ungläubig vor das Gesicht geschlagen. Alle beide. Doch um umzukehren war es nun längst zu spät und die beiden dummen Abenteurer waren schon zu weit in das zerstörte Dorf vorgedrungen. Außerdem hatte Lena sie bis jetzt noch nicht bemerkt, was? Bis zum Haus des Bäckers war es nicht mehr allzu weit und die nächtliche Erscheinung würde JETZT wohl auch nicht mehr auf Anna und Rist aufmerksam werden. Sie war zu beschäftigt damit ihre vermisste Katze zu beweinen. Jedenfalls hofften der Käferschubser und die Ausländerin darauf, gingen weiter. Anna horchte keine Sekunde später sofort auf, als es hinter ihr laut knackte und sie sah sich hektisch nach Hjaldrist um, der gerade auf irgendetwas Zerbrechliches, unter dem Schnee Verborgenes getreten war. Sie runzelte die Stirn kritisch, der Mann zuckte ohnmächtig die Schultern. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Es war nicht mehr weit. Nur noch fünf, sechs Meter und sie hätten die Rückseite des schiefen, kleinen Bäckerhauses erreicht. Sie wären gleich da und dann könnten sie die Gebeine Lenas suchen. Ein leises Klappern. Ein weiterer Schritt und Anna’s Schwertgriff schlug in der Stille gegen ihren beschlagenen Gürtel. In diesem Augenblick verstummte das leise, langgezogene Weinen der traurigen Kindererscheinung aberplötzlich. Dies genauso, wie der schleichende Rist und die Hexerstochter innehielten, um die Ohren auf ein Neues verunsichert zu spitzen. Gleichzeitig schalt sich Anna im Geiste eine hoffnungslose Närrin. Oh ja, WARUM hatten sie diese Aktion hier nicht besser geplant? Wieso hatten sie denn nicht beachtet, dass Ausrüstung beim Gehen Geräusche machte und Schritte im frierenden Schnee knirschten? Gerade die Frau aus Kaer Morhen war doch eigentlich keine Anfängerin, nicht wahr? Warum war sie also so dämlich vorgegangen und hatte dabei auch noch ihren Freund aus Skellige mit reingezogen? Oh Mann. Scheiße, verdammte! Anna sah vorsichtig um sich, atmete kontrolliert flach aus und lauschte angestrengt. Kaum einen Herzschlag später hörte man Rist abrupt überfordert Keuchen. Er berührte Anna warnend und mit fahrigen Fingern am Arm. Gleichzeitig blickte jene schon auf, schnell, Lena entgegen. Wie aus dem Nichts war die Erscheinung auf einmal vor ihnen beiden aufgetaucht. Das Mädchen stand da im glitzernden Schnee, regungslos und mit großen, leeren Augen. Tränen benetzten die weißen Wangen, der breite Mund der Kleinen stand leicht offen. Ihr Atem war in der kalten Luft nicht als heller Dunst erkennbar, denn er war ebenso eisig, wie die Nacht. Auch raschelte das Kleidchen Lenas nicht im schneidenden Wind, denn es war nicht aus Stoff gemacht. Anna’s braune Augen weiteten sich ein Stück und auf den Schrecken hin wich sie unbedacht ab, stieß mit dem Rücken voran an ihren Begleiter, der noch planloser in der Kälte stand, als sie. Lena rührte sich indes nicht und starrte aus geweiteten, apathischen Augen. Nur langsam verzerrte sich ihr Gesicht zu einer gequälten Grimasse, zu einer grässlichen Maske aus Pein und Zorn. Anna hörte, wie Rist ihr eine nervöse Frage zuflüsterte. Doch er kam nicht dazu jene zu beenden, denn auf einmal schrie das weiße Mädchen im Schnee auf; verzweifelt, schrill, wütend und so laut, dass es in den Ohren klingelte. Im selben Augenblick setzte sich auch die Novigraderin instinktiv in Bewegung, zog ihren Silberdolch und stieß ihren Begleiter auffordernd fort. Das nicht harsch, doch bestimmend. “Die Hütte!”, rief die Kurzhaarige Rist dabei zu und jener verstand sofort. Er wandte sich um und lief gescheucht los, wollte wahrscheinlich um das Haus herum eilen, um durch die Tür in das ehemalige Heim des Bäckers Redgills zu gelangen. Jeglicher Plan, wie ein Diebespack herumzuschleichen, war an diesem Punkt über Bord geworfen. Niemand dachte mehr daran auf leisen Sohlen durch den angetauten Schnee zu waten. Hjaldrist hetzte durch die Dunkelheit der Nacht, um die Überreste Lena’s zu finden und Anna blieb stehen, um sich der verirrten Seele eben jener zu stellen. Oh, hoffentlich ginge das gut aus! Anna hatte die nächtliche Erscheinung, das gellend heulende Mädchen, bald auf den großen Platz des ehemaligen Dorfes gelockt. Dies eher behelfsmäßig als souverän, aber dennoch. Immerhin hatte die Frau es geschafft Lena von dem kleinen, schiefen Bäckerhaus fort zu bringen, in das Rist vor weniger Zeit gestürmt war. Und während die burschikose Kriegerin inständig darauf hoffte, dass der Mann die bleichen Knochen Lenas dort finden würde, um den Schädel der Katze darauf zu platzieren, musste sie sich gegen das fauchende, tobende Gespenst des Mädchens schlagen. Mit gezogenem Dolch tat sie das und ehrlich gesagt glich die ganze Sache eher einem Wegrennen, als einem wirklichen Kampf. Denn die überforderte Anna hatte gegen eine Erscheinung, wie Lena kaum eine Chance. Ihre silberne Klinge war zwar scharf aber nicht in Geisteröl getaucht worden; sie besaß keine Bomben oder Tinkturen, die Magie durchschlugen und eine verirrte Seele verletzen könnten. Und Lena war körperlos. Man konnte sie nicht auf normalem Wege verwunden und ihre hell flammenden Attacken daher bloß aushalten, ihren Angriffen ausweichen und die heikle Situation hinauszögern. All dies im inständigen Hoffen, dass das bösartige Geistermädchen bald verschwinden würde. Angestrengt keuchend duckte sich Anna zur Seite fort, bevor ein scharfer, funkelnder Nebel über sie hinweg sauste. Er stoppte knapp hinter ihr und formte sofort wieder den Körper eines kleinen, zornigen Mädchens, das in der Luft schwebte. Lena raufte sich die Haare, heulte laut auf und stob erneut auf die aufgescheuchte Novigraderin zu. Dieses Mal war die Hexerstochter jedoch nicht schnell genug und die Erscheinung des zeternden Kindes fuhr buchstäblich durch sie hindurch. Die getroffene Kriegerin erstarrte, rang überwältigt nach Atem und beinah fiel ihr ihr Langdolch aus der Hand. Mit der freien Linken fasste sie sich an den stechenden Brustkorb und versuchte die kalte Luft schmerzlich durch die zusammengebissenen Zähne einzuziehen; doch es wollte nicht so recht klappen. Nichts desto trotz wankte die Kurzhaarige zur Seite, versuchte sich zu fassen und sah sich etwas orientierungslos nach Lena um. Noch immer fühlte sich ihre Brust dabei wie zugeschnürt an, schmerzte und drohte ihre Lungen zu erdrücken. Anna wurde es kalt, so kalt, und die Emotion, die Lena ausstrahlte, schien sie urplötzlich übermannen zu wollen. Verzweiflung und Trennungsschmerz brachen über die Frau aus dem Norden herein, wie eine brausende Welle. Eine Emotion des Verlusts packte sie, rüttelte sie durch und zerrte ihr die Schultern gen Boden. Trennung. Abschied. Vermissen. Es tat weh, so weh. Anna musste an Balthar denken. An den Abend, an dem sie aus dem kleinen Tavernenfenster in Goldenau geklettert war, um fort zu laufen. Diese Nacht war nun schon zwei Jahre her. Zwei Jahre. Zu lange. Oh, sie vermisste ihren Ziehvater. Sie vermisste Vadim und Jaromir. Sie vermisste Kaer Morhen. Und dies… machte sie traurig, so tieftraurig. Sie- Anna, deren Augen glasig geworden waren, schüttelte den Kopf, als wolle sie ihre Gedanken loswerden, wie lästige Fliegen. Die Novigraderin blinzelte benommen, hielt ihren Dolch abwehrend vor sich und ganz plötzlich schrie sie missgestimmt. Das tat die Frau einerseits, um Lena’s Aufmerksamkeit weiterhin und ausschließlich auf sich zu ziehen und andererseits, um sich selbst davon abzulenken an diesem deprimierenden, klammen Gefühl festzuhalten, das sie überkam. Denn jenes war nicht real und nur Projektion der Todesgedanken Lenas. Ja. Und sie müsste Rist den Rücken freihalten. Unbedingt. Oh, warum brauchte der Typ bloß so lange? “Anna!”, die Stimme des Begleiters der besagten Frau hallte einen tiefen Atemzug später schon über den verschneiten Platz. Eine unwohle Tatsache, denn noch immer war Lena hier und sie war rasend. Anstatt zu verschwinden, schlug das ungeheure Geisterkind zu. Anna schaffte es kaum noch den blitzschnellen Angriffen des weißen, wabernden Schemens auszuweichen, atmete unregelmäßig und wendete den Kopf flüchtig zur Seite, um zu dem aufgebracht rufenden Skelliger zu linsen. Sie tat das mit großer Aufregung im Blick, abgekämpft und ratlos. Und sie sah, wie der Krieger in Grün aus dem Bäckerhaus hetzte, den Katzenschädel von Mimi unschlüssig in der Hand. “Sie sind nicht da!”, bellte der Mann über den Vorplatz des Hauses und Anna fluchte leise “Da ist kein Skelett!” Die Überreste des kleinen Mädchens, dessen Seele hier so ärgerlich rasend wütete, waren also nicht im Haus? Kacke. Wo waren sie dann? “Verdammt!”, keuchte die Hexerstochter abgekämpft. Lena kreischte ohrenbetäubend auf und jagte der Frau in der gestreiften Jacke einen Schwall beißenden Nebels entgegen. Anna wich zurück, planlos. Rist schloss zu ihr auf und wirkte nicht viel klüger. Doch entgegen der Kampfhaltung seiner novigrader Kollegin ging er in die totale Defensive, baute sich schützend vor Anna auf und streckte die Arme abwehrend aus. Entweder im Anflug einer glorreichen Idee oder aber voller Idiotie, tat er das. “Halt!”, brüllte er der krähenden Lena daraufhin entgegen, doch die nächtliche Erscheinung beachtete dies kaum. Sie heulte weiterhin gequält, unter Tränen und mit verzogenem Gesicht, aus dem milchige Augen hervortraten. Die langen Haare und das Kleid des Geistermädchens bauschten sich auf, schwebten gespenstisch in der Luft und umgaben das fahle Kind wie eine Drohgebärde eines wilden Tieres. Ein helles, an der Haut scharrendes Funkeln schlug über den zwei Abenteurern ein und drohte sie in die Knie zu zwingen. Anna’s teurer Dolch fiel in den Schnee und gleichzeitig schaffte es die Frau gerade noch so Rist davon abzuhalten rücklings gegen sie zu stolpern. Mit dem Kreuz voran stieß er an sie, doch sie erwischte ihn sogleich an den Oberarmen und drängte ihn wieder vor, auf die Beine. “Wir können nichts tun!”, rief die Novigraderin entkräftet und hätte sie gewusst, dass es leicht wäre dem anwesenden, zornigen Geist zu entkommen, hätte sie den schnellen Rückzug vorgeschlagen. Doch Lena war unnatürlich flink. Sie hätte Hjaldrist und Anna in Nullkommanichts eingeholt und ihnen grausam zaubernd den Garaus gemacht. Ja, sie war aus dunkler Magie, einem Fluch, geschaffen, nicht aus Fleisch und Blut. Keine Waffe, die Rist und seine Kumpanin dabeihatten, könnte sie verwunden. Nicht einmal ein Bisschen. Sie war zwar klein, doch ganz klar haushoch überlegen. “Stopp!”, hörte Anna Rist erneut heiser rufen. Sie sah, wie er gestikulierte und auf einmal den Katzenschädel in die Höhe riss. Er streckte das teils moosbewachsene Gebein in die Höhe, Lena entgegen. Von hinten konnte die Frau aus Kaer Morhen nicht erkennen, wie ihr Freund dreinsah. Doch so, wie sie ihn kannte, hatte er schon wieder seine harte, bestimmende Miene aufgesetzt. Den selben zielstrebigen Blick, mit dem er Anna damals auch am Faustkampfplatz nahe Blandare angestarrt hatte. “Wir haben Mimi mitgebracht!”, entkam es dem Skelliger aus Ermangelung einer intelligenteren Idee und seine Stimme schien das verzweifelte Kreischen des Geistes des Dorfs zu durchbrechen, wie ein Schlag mit einem Streithammer. “Da!”, blaffte der Kerl weiter und sah aus, als biete er der nicht materiellen Gestalt am Platz den Katzenschädel an; als wolle er Lena das verdreckte Ding am liebsten in die gespensterhaften Hände drücken. Und tatsächlich hielt das tränenüberströmte Mädchen mit dem eingefallenen, fahlen Gesicht inne. Ihre verzogene Fratze entspannte sich allmählich und ihre leeren, weißen Augen sanken auf den Schädel in Rist’s Händen. Unangenehme Stille breitete sich über dem weitläufigen Platz aus. Sie wurde nur von dem leise klappernden Geräusch unterbrochen, das Anna’s Ausrüstung verursachte, als jene sich aus ihrer gebückten, angriffsbereiten Haltung löste. Verwundert blickte die Frau auf, fixierte die nächtliche Erscheinung ungläubig. Ja, sie fasste nicht, was hier gerade passierte. In den Büchern stand doch, dass man die Gebeine von solchen Wesen ordnen musste, um sie zu besänftigen. Man musste doch auch den Überbleibseln von Mittagserscheinungen den Kopf abtrennen und jenen zwischen die Knie der Toten legen, um die unheimlichen Erscheinungen verschwinden zu lassen. Man brachte die Knochen von verlorenen Seelen zurück an ihre richtigen Plätze, um die Geisterwesen zu bekehren. Man… man zeigte den Schemen nichts Angreifbares, um sie davon abzuhalten zu töten und zu verwüsten, denn es half normalerweise nicht. Rist zerschlug mit dem, was er hier gerade tat, also eine kleine Weltanschauung Annas; Annahmen über gewisse Gegebenheiten und Tatsachen aus dicken, staubigen Wälzern der Hexerbibliotheken. Schon wieder rettete er die Situation mit seinem völlig instinktiven, kopflosen und lebenslustigen Handeln. Er tat einfach sein Ding und hoffte darauf, dass es half. Denn abgesehen davon hatte er schließlich keine Ahnung. Und, bei Melitele’s Unterbuchse, es half tatsächlich: Lena schwebte völlig ruhig in der kalten Nachtluft und es schien, als sei der Katzenschädel in Hjaldrist’s Händen das Einzige, das sie noch sah. Als sei er der allergrößte Schatz des Mädchens, das wertvollste Schmuckstück auf Erden und hypnotisierend. Die dicken Tränen des Schemens vor Rist versiegten, Lena kam langsam, vorsichtig, näher und tat dies ohne den starren Blick von dem Tierknochen zu nehmen. Irgendwann war sie so nah, dass Anna direkt spüren konnte, wie die mitreißende, grausige Aura des Geistes schwand. Wie Verlust und Trennungsschmerz nachließen und einem wohligen Nichts Platz machten. Man fing an sich wieder… leichter zu fühlen, freier. Das Einzige, das blieb, war die beißende Kälte der Winternacht. Und als Lena den Namen ihrer Katze verhalten wisperte, war es schwer das bizarre Flüstern vom Gähnen des Windes zu unterscheiden. Des kalten Windes, der die Haarsträhnen und Kleidung des Geistermädchens nicht zu beeinflussen schien. Sie stand nur da, vor dem nervösen Rist und mit den nackten Füßen im Schnee, als sei sie wahrhaftig darin eingesunken, wie ein echter Mensch mit Körpergewicht. Und sie streckte die halb durchsichtigen, blassen Kinderhände langsam und bedacht nach dem Katzenschädel ihres verendeten Tieres aus. Die dürren Finger berührten jenen und auf einmal, ganz plötzlich, schien der toten Katze wieder so etwas wie Leben eingehaucht zu werden. Rist zuckte zusammen und gab einen überwältigten Laut von sich, als sich der Schädel ein kleines Stück weit von seiner Handfläche hob. Ein schemenhafter Kopf formte sich um ihn, nahezu transparent. Dann folgte ein Nacken, Beine, ein buschiger Schweif aus fahlem, weißlichem Licht. Und er schwebte immer höher. Hjaldrist zog seine Hände irritiert zurück, als die gespensterhafte Katze mit dem Knochenschädel von seinen Handflächen sprang, um nur wenige Zentimeter über dem harten Boden in der Luft zu landen. Sie erhob den Schwanz, machte einen leichten Buckel und strich Lena um die dünnen Beine. Einmal um das Mädchen herum ging die groteske Katze, rieb den knochigen Kopf an der schmalen Erscheinung und blieb am Ende, die leeren Augenhöhlen auf die Fremden gerichtet, stehen. Jene rührten sich in diesem grotesken Augenblick kein Stück. Anna starrte, mit morbider Faszination im Blick und halb offen stehenden Lippen. Rist’s Miene war vollends entgleist und würde sich so schnell nicht mehr einrenken. Als kaum einen Wimpernschlag später der Wind über den trostlosen Platz fegte und den beiden Abenteurern frische, leichte Schneeflocken entgegen blies, nahm er die flammenden Erscheinungen mit sich; Katze wie auch Mädchen. Als Anna blinzelte, waren Mimi und Lena fort. Und sie hatten bloß eine klamme Stille zurückgelassen. “Wenn ich deine waghalsigen, spontanen Aktionen nicht langsam so richtig gut finden würde…”, fing Anna irgendwann an Hjaldrist gerichtet an und durchbrach damit das ungläubige Schweigen im Schnee “dann würde ich dir jetzt wieder Eine verpassen, Rist.” Die kurzhaarige Frau sah von der Seite aus zu ihrem Kumpel hin und jener suchte ebenso Blickkontakt. Nur langsam machte der zerfahrene Ausdruck des Skelligers einer zufriedenen, stolzen Miene Platz. Der dunkelhaarige Krieger mit dem pelzbesetzten Kragen fing damit an schief zu grinsen. Noch breiter schmunzelte er dann, als ihm Anna plötzlich eine Faust abwartend entgegenhielt. Dieses Mal war er derjenige, der auf diese freundschaftliche Geste einging und gegen die geballten Finger der Novigraderin schlug. Er wollte Luft holen, um einen Kommentar loszuwerden - vermutlich einen blöden über Siegesfäuste -, doch so weit kam Hjaldrist gar nicht. Denn eine bekannte, unheimliche Gestalt trat in seine Sicht: Der Bruder Lenas. Oder jedenfalls der schleierhafte, kaum mehr sichtbare Schemen davon. Der sonst so pathetische, leer vor sich hin starrende junge Mann lächelte schwach. Ja, wirklich. Es war ein Ausdruck, der seine stierenden Augen nicht erreichte, und dennoch wirkte er so verändert und wohlwollend. Anna erstarrte wie zur Eissäule, als sie die fahlen Umrisse des Bäckersohnes erkannte und sie bemerkte auch, wie sich Rist neben ihr versteifte. Doch es sollte nichts Schlimmes mehr geschehen. Stumm deutete der Bruder des toten Mädchens in die Richtung des kleinen, zerstörten Anbaus seines ehemaligen Zuhauses. Ein Hinweis. Dann verschwand auch er und würde bestimmt nie mehr wiederkehren, denn seine Aufgabe hier war getan worden. Von zwei völlig Fremden. Kapitel 7: Gefährten teilen eben -------------------------------- Rist beugte sich weit über eine metallen eingefasste Truhe, die mit aufgeklapptem Deckel vor ihm stand. Schnee und kleine Trümmer lagen ringsum in der Nacht und er und Anna hatten die Lagerkiste mit den eisernen, rostigen Scharnieren gerade erst von Schutt und Dreck befreit. Nach dem Fingerzeig des sich in Luft auflösenden Bruder Lenas hatten sie sich bald vorsichtig in Bewegung gesetzt, um dem Hinweis des gönnerhaften Schemens zu folgen. Neugierig hatten sie sich dem eingestürzten Anbau des kaputten Bäckerhauses genähert. Wahrscheinlich war dieser kleine Raum, errichtet aus simplen Holzplanken und mit keinem geschliffenen Boden ausgelegt, einmal eine Art Vorrats- und Abstellkammer gewesen. Für Mehlsäcke oder Teigwannen vielleicht, für Brotgewürze und dergleichen. Und für die besagte Kiste, die die beiden abgekämpften Abenteurer nun gefunden hatten Dies irgendwo zwischen Überresten von stumpfen, grifflosen Werkzeugen, morschen Brettchen und umgekippten Regalen. Die Truhe war schwer zu öffnen gewesen, denn der starre Rost hatte es Hjaldrist nicht leicht gemacht den Verschluss des mittelgroßen Behältnisses zu öffnen. Er hatte wuchtig gegen das breite Scharnier an der Vorderseite treten müssen, damit jenes, zusammen mit dem unbeweglichen Schloss darin, abfiel. Und jetzt, vor wenigen Augenblicken erst, hatte der Skelliger die Kiste vorfreudig geöffnet. Er beugte sich vor, stützte sich mit der Linken am schmalen Truhenrand ab und fasste suchend in jene hinein, wühlte herum. Anna blickte ihm neugierig über die Schulter und weitete die Augen, in der Hoffnung so etwas besser sehen zu können. Denn es war noch immer recht finster und nur der weißliche Mondschein, der den Schnee vor dem kleinen Haus glitzern ließ, erhellte die Umgebung fahl. “Und?”, wollte die Hexerstochter ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend wissen, als ihr Freund schweren Stoff aus der Lagerkiste zog. Er warf ihn achtlos auf den Boden. Eine Dose folgte, ein paar Fläschchen, Riemen und irgendetwas, das in den Händen des aufgeregten Mannes schepperte, als er es hochhob. “Ein modriger Mantel, Lederriemen... irgendwelches Klimperzeug…”, murmelte der Skelliger wenig beeindruckt und schüttelte, den letzten Punkt unterstreichend, die kleine tönerne Dose, in der sich vermutlich Schmuck befand. Die besagten Fläschchen - vier an der Zahl und gefüllt mit undefinierbaren Flüssigkeiten - steckte er Anna wissend zu. Er könnte damit wenig anfangen, denn er war kein Trankmischer. “Da, irgendwelches Alchemiezeug, glaube ich…”, meinte er dabei. Dann hob er noch ein paar klappernde Stahlteile darbietend hoch. Fragend legte Anna den Kopf schief und fasste danach. “Armschienen. Sind uralt und den dicken Flugrost daran sieht man sogar nachts…”, brummte der Krieger und wiegte das Haupt mit der weiten Kapuze abschätzend. Einer seiner Mundwinkel zuckte unschlüssig zur Seite, dann sah er etwas gleichmütig auf. “Brauchst du die?”, wollte er wissen und sah seiner Kollegin dabei zu, wie sie mit einem Arm prüfend in eine der kettenbesetzten Metallschienen mit den Platten für Handrücken und Daumen schlüpfte. Jene passte ihr nicht recht, denn die burschikose Frau trug bereits dicke Armschienen aus Leder. Doch ohne jene würde sie die Metallrüstungsteile tragen können. Also… theoretisch. Und WENN man diese Dinger denn noch davor retten könnte auseinander zu fallen, verstand sich. “Weiß nicht. Aber zum Wegwerfen sind sie sicher zu schade, hm? Nimm du sie doch.”, meinte Anna auffordernd und schenkte Rist einen auffordernden Blick. Der Kurzhaarige nickte zustimmend, dennoch wirkte er nicht unbedingt zufrieden. War ihm nicht zu verdenken. Schlussendlich rechnete man doch mit einem Schatz, wenn man schon von einem Geisterwesen auf eine Kiste aufmerksam gemacht wurde. “Mehr ist nicht in der Truhe.”, sagte er “Ich hätte ja auf irgendetwas Wertvolleres gehofft. Für all die Mühen, die wir auf uns genommen haben, erscheinen rostige Armschienen und gammelige Tinkturen doch wie Hohn.” Anna lachte leise. “Ach komm. Das alte Zeug hier ist doch besser als nichts. Und vielleicht finden wir in den anderen Hütten ja noch etwas!”, gluckste sie optimistisch und klopfte ihrem enttäuschten Freund die Schulter. Sehr viel mehr fanden Hjaldrist und Anna jedoch nicht. Leider. Sie suchten noch eine kleine Weile, doch entschlossen sich dann dazu das ausgestorbene Redgill zu verlassen und bis zur nächsten Ortschaft weiter zu ziehen. Gen Nordwesten, so wie es Svenja, die oberwichtige, unsympathische Stadtwache vorgestern noch geraten hatte. Svenja. Sie hatte Rist als alten Bekannten erkannt und vice versa, obgleich das Geisterdorf doch nur von Illusionen bevölkert gewesen war. Das war seltsam. Sehr, sehr seltsam. Sie konnte keine Erscheinung gewesen sein und hatte so ‘echt’ angemutet. “Diese Svenja…”, fing die skeptische Anna also an, während sie Kurt, auf dem sie saß, neben dem schnaubenden Apfelstrudel her trieb. Sie sah von der Seite aus zu ihrem Kumpel hin, der etwas müde im ledernen Sattel saß. Klar, sie beide hatten ja auch zu wenig geschlafen und viel gekämpft. Die ebenso erschöpfte Novigraderin freute sich jetzt schon auf das Bett in der nächsten Schänke. Gedyneith, insofern sie es nicht wieder verfehlen würden, hatte doch ein Gasthaus? Oh, hoffentlich! “Woher kennst du sie? Es ist schräg, dass sie in Redgill war, findest du nicht?”, wollte Anna wissen und Rist horchte auf, legte die Stirn in tiefe Falten und fuhr sich gedankenvoll über das unrasierte Kinn. Er brauchte eine Weile, bis er Luft zum Antworten holte. “...Sie arbeitete in dem Ort, aus dem ich komme. Als Botin. Man lief ihr also des Öfteren über den Weg.”, erzählte der vor sich hin murmelnde Skelliger und sah nicht her. Eher konzentrierte er sich darauf vor sich hin, vielleicht auf den Weg, zu starren. “Und wie landete sie in Redgill? Dein Zuhause ist doch weiter weg, oder?”, hakte Anna skeptisch nach und ihr Blick klebte neugierig an Hjaldrist. “Ja. Und keine Ahnung. Vielleicht hatte sie ihren Beruf satt oder wurde rausgeworfen?”, meinte der Schönling lasch und zuckte mit den Schultern. Es sah dabei auffällig lethargisch aus. So, als wolle er gar nicht an Svenja oder seine Heimat denken. Warum nicht? Was verschwieg er? “Machst du dir denn keine Gedanken darüber, warum sie im Geisterdorf war? Sie kann doch keine Illusion gewesen sein. Sie hat sich auf dich bezogen und so etwas ist für Trugbilder, die für jemanden anderes geschaffen wurden, nicht üblich.”, plapperte Anna weiter. Ihre braunen Augen ließen ihren Kollegen nicht los und man sah ihr an, dass das Thema ‘Svenja’ sie ordentlich beschäftigte. Irgendetwas war mit der besagten rothaarigen Schnepfe nicht in Ordnung gewesen und diese Tatsache stank noch immer bis zum Himmel. Ja, wenn die Frau eine Illusion gewesen sein sollte, warum hatte sie dann so persönlich mit Rist gesprochen? Und sollte sie KEIN Trugbild gewesen sein… was hatte sie dann in dem verfluchten Redgill verloren? Ob sich diese Fragen denn noch irgendwie beantworten lassen würden? Völlig entkräftet kamen Rist und Anna am folgenden, späten Nachmittag zwischen ein paar verlassenen, mit Unkraut überwucherten und maroden Holzhütten im Wald an. Da waren drei kleine an der Zahl, daneben eine größere. Das weitläufigste Gebäude war ringsum offen und schon von einiger Entfernung konnte man dort die langen Werktische sehen, die unter dem eingesunkenen Strohdach standen. Sie hatten breite Ablagen, waren teils schon etwas verfallen, mit alten Werkzeugen darauf, großen Sägen und Kisten, aus denen Reste von Holzplanken ragten. “Eine Sägemühle…”, stellte Anna richtig fest, als sie Kurt inmitten der besagten Häuser zügelte, sich flüchtig umsah und sich dann langsam vom Rücken ihres braunen Tieres gleiten ließ. Hjaldrist tat es ihr gleich und nahm Apfelstrudel an den langen Zügeln, um ihn ein paar Schritte weit hinter sich her zu führen. Der Mann ließ den Blick prüfend schweifen. Es war ruhig. Auf dem Platz lag Schnee, doch die hiesigen Häuser waren halbwegs intakt. Die Werktische der unweiten, großen Überdachung sahen trocken aus und wäre die Sägemühle nicht vollkommen verlassen gewesen, hätte es hier verhältnismäßig gemütlich angemutet. Dass der Ort aber brach lag und es so aussah, als seien seine Arbeiter schon vor Wochen gegangen, gab der Atmosphäre des Platzes im Wald einen bitteren, trügerischen Beigeschmack. Dennoch würden die beiden Vagabunden heute hierbleiben müssen, nicht? Seit Redgill hatten sie kaum gerastet und nicht geschlafen. Sie waren matt, ihre Pferde müde. Und sie waren hungrig. Anna’s armer Magen knurrte schon seit einiger Zeit fürchterlich, hing ihr quälend in den Kniekehlen, und sie fühlte sich ziemlich ausgelaugt. Sie wollte endlich ruhen und das im Trockenen. An einem Ort, an dem der Wind nicht so stark blies und an dem man vor unangenehm kalten Schneeflocken, die einem in den Kragen wollten, sicher war. Das verlassene Sägewerk war also ideal, um eine Pause einzulegen, und bestimmt sah Rist das auch so. Er sah schließlich noch abgekämpfter drein, als seine Gefährtin aus den Nördlichen Königreichen. “Ist ja ziemlich ruhig hier…”, merkte der Inselbewohner an. Er wirkte nicht sehr besorgt und man sah dem Skelliger an, dass auch er sich immens darüber freute endlich einmal eine längere Zwischenrast einlegen zu können. Sicherlich tat ihm der Hintern vom vielen Sitzen auf dem harten Sattel auch weh. Oh ja, bei Melitele, Anna konnte ihren Steiß gerade kaum noch spüren, verdammte Kacke. “Was hier wohl passiert ist?”, fragte sich die Kurzhaarige, die neben ihren Freund trat. Sie zog Kurt am ledernen Zaumzeug mit sich und der Wallach folgte auch brav, hinterließ Hufspuren im tauenden Schnee und haschte mit den Zähnen nach der wollenen Kapuze seiner Herrin. “Was denkst du, Rist?”, die Frau sah zu ihrem etwa gleich großen Kollegen hin “Wir sind meilenweit um das Revier des Waldschrats Redgills herumgeritten. Ich glaube also nicht, dass er es zu verantworten hat, dass hier niemand mehr arbeitet...”. Der anwesende Skelliger gab daraufhin nur einen zustimmenden Laut von sich. Er kannte sich zwar nicht so gut aus, wenn es um rasende, gefährliche Waldwesen ging, doch es war einleuchtend, dass ein gehörnter Schrat nicht ein ganzes, riesengroßes Waldgebiet von hunderten Meilen beherrschen konnte. Um dies noch weiter zu untermauern, fasste Anna nach ihrem Wolfsamulett, machte es sich vom beschlagenen Gürtel los und sah es eindringlich an. Es reagierte nicht, kein Bisschen. Und dieses Mal war sich die Novigraderin mehr als nur sicher, dass keine Gefahr drohte. Das kleine Sägewerk hier, im winterlichen Wald, war ein unbedenklicher Ort, solange man nicht Randale machte und die Aufmerksamkeit von nahe hausenden Ungeheuern auf sich zog. Große Insekten, Nekker oder Neblinge konnten schon mal wo vorkommen; Genauso wie gierige Banditen oder die hinterhältigen Scoia'tael. Doch solange man sich von ihnen fernhielt und sie nicht auf sich aufmerksam machte, war alles gut. Anna und ihr dunkelhaariger Gefährte würden heute keinen Ärger oder Lärm mehr machen, ganz sicher nicht. Das Einzige, das sie fabrizieren sollten, war etwas zu essen. “...Das ist doch eines dieser Hexermedaillons, oder?”, Rist’s fragende, von der irrsinnigen Kälte etwas heisere Stimme riss Anna aus den seichten Gedanken und ihren Blick von dem ruhigen Anhänger in ihrer Hand fort. Sie sah sich nach dem Skelliger um, wirkte erst irritiert, doch dann nickte sie langsam. “Woher hast du es, hm? Du hast gesagt, dass du keine Hexerin bist. Hast du es geklaut oder so?”, wollte der direkte Axtkämpfer drängend wissen und brachte seine konfrontierte Freundin damit zum Lachen. Sie musterte ihn belustigt. “Nein, habe ich nicht.”, meinte sie aufrichtig und Hjaldrist sah sie abwartend und erwartungsvoll an. Seine braunen Augen wichen von ihr fort, hin zu dem Medaillon, das wie ein Wolfskopf geformt war. Da lag Interesse im Ausdruck des Skelligers und man sah ihm an, dass er mit sich haderte. Wahrscheinlich hätte er nun am liebsten impulsiv nach der wertvollen Kette gefasst, um sie an sich zu nehmen und genauer beäugen zu können. Doch er wusste nicht, ob er dürfte. Anna nahm ihm diese schwere Entscheidung also ab: Völlig locker und wie selbstverständlich gab sie ihrem Kumpel das Wolfsamulett, drückte es ihm einfach in die behandschuhte Hand und erntete dafür einen verblüfften Blick. Ja, die Kette war von großem, emotionalem Wert für sie. Doch Rist war ein Freund. Ein guter. Das hatte er schon längst bewiesen. Sie vertraute ihm und wusste, dass er sich nicht mit ihrem seltenen Medaillon aus dem Staub machen würde. Er hatte keinerlei Grund dazu. Nur langsam riss der überraschte Mann seinen Blick von der Kriegerin fort und senkte jenen auf die silberne Kette in seiner Hand. “Ich habe es von meinem Mentor bekommen. Balthar. Er ist sowas wie… mein Vater.”, erklärte Anna, stemmte sich die Hände in die Hüfte und sah, wie Hjaldrist das metallene Medaillon zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und es sich im Licht der späten, tief stehenden Nachmittagssonne vor die Nase hielt. Eine kalte Brise wehte ihnen um die Nase und bauschte ihre dicken Mäntel auf. “Er ist ein Hexer der Wolfsschule. Die Kette ist ein wichtiges Andenken und ein Symbol der Zugehörigkeit zu… naja, meiner Familie im Geiste.”, meinte die Kurzhaarige und war erstaunt darüber wie zäh ihr all dies über die trockenen Lippen kam. Sie tat sich schwer damit ihrem Gegenüber zu erklären, dass sie an ihrem kleinen Wolfskopf hing. Denn diese Empfindung bedeutete weit mehr, als nur das Schätzen eines wertvollen Schmuckstücks. Dahinter verbarg sich das Gefühl, das Anna empfand, wenn sie an Zuhause und ihre Familie dachte; Das Lächeln der guten alten Zeiten und lustiger Erlebnisse wegen und auch das stechende Heimweh, das sie ab und an überkam. Jemandem anderes solche Dinge über sich zu offenbaren, wenngleich auch indirekt, war nicht so leicht. Jedenfalls nicht für die etwas verbohrte Novigraderin, die nicht so gut mit Gefühlen umzugehen wusste. “Moment mal.”, redete Rist nun schnell dazwischen und suchte wieder skeptisch Blickkontakt. Sein Gesichtsausdruck war forschend geworden und seine dunklen Augen etwas schmal, prüfend. “Dein Vater ist ein Hexer?”, fragte er, als glaube er, er habe sich verhört. Anna nickte und kam nicht umhin etwas betreten lächeln zu müssen. Wie immer in solchen Momenten, in denen sie einen Funken Scham empfand oder sich emotional entblößt fühlte, rieb sie sich den Nasenrücken und fing damit an sich schwer zu tun ihrem gespannten Gesprächspartner weiterhin geradeaus entgegen zu sehen. Sie mochte es nicht, wenn man sie anstarrte. “Du hast gesagt, dass du keine Hexerin bist!”, entkam es dem verdutzten Skelliger gleich und er entlockte seiner Freundin damit ein amüsiertes Schnauben. “Bin ich auch nicht. Man wird nicht als Mutant geboren. Außerdem ist Balthar nicht mein leiblicher Vater.”, stellte sie sogleich richtig. “Er hat dich also adoptiert?”, fragte der kluge Hjaldrist weiter. “Ja. Ich wuchs in Kaer Morhen auf, aber ich war immer ein gewöhnlicher Mensch. Nicht so, wie die Anderen.” Auf diese Aussage hin runzelte der aufmerksame Krieger die Stirn. Doch dann schien er allmählich zu verstehen. Er gab Anna das gegossene Medaillon gedankenvoll zurück und sah so aus, als lägen ihm weitere Fragen auf der Zunge. “Also kennst du diesen Geralt? In Undvik hat man sich ab und an Geschichten von ihm erzählt. Davon, dass er die Freundschaft von Dryaden erlangt und die Begegnung mit einem goldenen Drachen überlebt hat.”, Hjaldrist blinzelte erwartungsvoll, als ihm dies entkam, doch Anna musste ihn enttäuschen. Na, immerhin verstand sie jetzt woher er wusste, dass manche Hexer Anhänger trugen, die wie Wolfsköpfe aussahen. Rist hatte Geschichten über die Vatt’ghern gehört. “Also direkt kenne ich ihn nicht, nein…”, gab die Frau zu “Ich habe ihn einmal gesehen, aber das war’s auch schon.” “Aha.”, machte der Axtkämpfer begeistert und taxierte Anna. Sie winkte indes ab. “Suchen wir uns eine Hütte aus und machen uns etwas zu essen?”, lenkte sie das Thema um “Wir können uns später ja weiter unterhalten, wenn du willst.” Hjaldrist nickte auf diesen Vorschlag hin nachgiebig, denn bestimmt wurde es auch ihm allmählich kalt. Zwar kam er von den Inseln, doch das hieß nicht, dass er es aushielt permanent in der Eiseskälte zu stehen. Also machten es sich die Reisenden bald in einem der kleinen, leerstehenden Häuser des Sägewerkgeländes gemütlich. Nun ja, so gemütlich, wie es eben ging. Sie hatten ihre Decken und wenigen Felle am dreckigen Boden des Hauses ausgelegt, im alten Kamin und mit der Hilfe von etwas Reisig und Feuerstein aus Hjaldrist’s Rucksack ein tanzendes Feuer entzündet. Ihre beiden Pferde hatten sie nebenan, im großen Werkbereich mit den Arbeitstischen abgestellt und gefüttert. Dort wären die Tiere vor der Witterung und Nässe sicher. Hjaldrist saß im Schneidersitz auf seiner kratzigen Wolldecke, unter der ein zotteliges Schafsfell lag, und polierte mit einem fleckigen Tuch und körniger Paste den Rost von den alten Unterarmschienen, die er in Redgill gefunden hatte. Anna saß ebenso am harten Grund, vor dem Kamin, und wärmte sich die kalten Hände, streckte die Beine entspannt und wohlig seufzend aus. Das Feuer warf einen orangen Schein auf Gesichter und Umgebung und zeichnete hüpfende Schatten an die Wände der alten, spartanisch eingerichteten Hütte. Es war schön an einem wärmenden, knisternden Feuerchen zu rasten, dabei etwas zu essen und angenehme Gesellschaft zu haben. Aus dem Augenwinkel linste die kurzhaarige Frau aus dem Norden zu ihrem Begleiter hin, der konzentriert an den Stahlarmschienen herum schrubbte. Er hatte eine Dose voll mit einer weißlichen Polierpaste, die markant nach Fett und Kalk roch, ein kleines Fläschchen Waffenöl von Anna und ein schlecht geschliffenes Messer vor sich stehen. Anders als Poliertuch, Öl und Paste hatte Rist dieses abgegriffene Brotmesserchen dazu benutzt in der Bratpfanne herum zu rühren, die da zwischen ihnen beiden am Boden stand. Sie hatten all ihre wenigen Reste an Proviant darin zusammen gematscht und über dem Kaminfeuer gebraten. Das, was dabei herausgekommen war, erinnerte stark an verunglücktes Bauernomelette aus Redanien oder ekligen Scheiterhaufenauflauf aus derselben Region. Es war ein Mischmasch aus Brot, Trockenfleisch, Hartwurst, Gemüse und alter Butter. Ohne Eier, die man auf langen Reisen sehr schlecht transportieren konnte, war das Ganze zwar nicht sonderlich schmackhaft, doch gut genug, um sich die ausgehungerten, grollenden Bäuche zu füllen. “Wie sind deine Eltern eigentlich so?”, Anna brach mit dieser persönlichen Frage die gemütliche, faule Stille in der Hütte, die sich dank des rußigen Kamins langsam aber sicher aufheizte. Hier und da pfiff zwar der kalte Wind durch Lücken und Spalten in der genagelten Wand, doch das war hier wahrhaftig kein Problem. Nicht nach den vergangenen, eisigen Nächten im verschneiten Redgill. Man konnte meinen, der Aufenthalt im hiesigen Haus sei im Vergleich der größte Luxus. Hjaldrist hielt mit dem Polieren seiner unlängst erlangten Rüstungsteile inne und hob den Kopf. Fragend sah er zu seiner neugierigen Freundin hin, die das frühere Thema bezüglich ihrer Herkunft wieder aufgegriffen hatte. “Ich habe dir von Balthar erzählt. Du könntest ja auch mal etwas aus dem Nähkästchen plaudern.”, forderte die Novigraderin und lächelte verschmitzt. Tatsächlich war sie sehr interessiert, wollte endlich mehr über ihren zähen Begleiter wissen. Denn er hatte bisher noch nicht viel von sich erzählt. Anna wusste so gut wie gar nichts von ihm und das war bedenklich. “Hm.”, machte der Mann bloß, schien angestrengt nachzudenken und zog die Augenbrauen dabei etwas zusammen. “Sie sind ziemlich gewöhnlich, würde ich sagen.”, meinte Hjaldrist jetzt schlicht und Anna gaffte weiterhin abwartend. ‘Gewöhnlich’ reichte ihr nicht, sie wollte mehr erfahren. “Ja, normale Bürger Undviks. Nicht reich, nicht arm. Mein Vater… hat da ein kleines Geschäft und Mutter hilft ihm dabei. Mein Bruder will es einmal übernehmen.”, erzählte der Skelliger und wich Anna’s Blick aus. Er machte sich wieder ganz leger daran an einer der stählernen Armschienen herum zu putzen. Bald wäre sie blitzblank und würde aussehen, wie neu. “Welches Geschäft denn?”, hakte die anwesende Kriegerin nach. Ihre Miene hatte sich erhellt und sie freute sich darüber, dass Hjaldrist einmal ein klein wenig über sich offenbarte. Sonst war er dahingehend ja immer etwas wortkarg und abweisend gewesen. “Mh...”, brummte der geschäftige Rüstungspolierer und zögerte. Erschien es Anna nur so oder wusste Hjaldrist gerade nicht, was er sagen sollte? Wieso? Er hatte doch wohl nicht vergessen welchen Laden sein eigener Vater leitete? Sie beugte sich leicht vor, um den Mann eindringlich anzustarren. “Kleidung und so.”, sagte Rist dann doch noch ganz frei heraus. Das leise Klappern der Armschiene in seinen Händen, die voll waren mit krümeliger Poliercreme, begleitete seine Stimme. Leicht hob er das Rüstungsteil vor sich, betrachtete es prüfend und legte es dann fort, um nach dem zweiten zu klauben. Klamotten also? Anna betrachtete den ruhigen Mann neben sich und nickte dabei kaum merkbar in ihrem stummen Verständnis. Dass die Familie ihres Freundes mit Kleidung handelte, erklärte jetzt auch, weswegen Hjaldrist solch eine gute Ausrüstung besaß, wenn es um seine grüne, bestickte Tunika und seinen gefütterten Mantel ging. Er hatte das Zeug also nicht gewonnen, gestohlen oder dergleichen, sondern es einfach von zuhause mitgenommen. Wahrscheinlich nähte seine Mutter aus all den teuren Stoffen, die der Vater anbot, hübsche Sachen für die ganze Familie. Eine nette Vorstellung! Die beiden Abenteurer saßen noch eine lange Weile da ohne viel mehr Worte zu wechseln. Hjaldrist putzte weiter an seiner neuen Errungenschaft aus Redgill herum und Anna hatte damit angefangen ein Loch in ihrer gestreiften Jacke zu stopfen. Etwas gebeugt saß sie da und stach Nadel und Faden durch den groben Stoff, der von den Dornenbüschen nahe des Waldschratreviers etwas mitgenommen worden war. Dies eher schlecht als recht, denn so wirklich gut nähen konnte Anna nicht. Sie schaffte es zwar kleinere Löcher zu reparieren oder Flicken aufzunähen, aber dabei beließ sie es dann auch schon. Ihr einziger Versuch ein Kissen zu nähen war nun schon Jahre her und war gewaltig in die Hose gegangen. Seither kaufte sie sich ihre Dinge lieber als sie selbst zu schneidern. “Hier.”, der Skelliger im kleinen Raum haschte mit dieser knappen Aussage und einer ganz deutlichen Aufforderung im Ton nach der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner stillen Kollegin. Anna blickte auf, stach sich dabei fast in den Finger. Fragend sah sie zu Rist hin, ehe sie bemerkte, dass er ihr etwas hinhielt. Ihre braunen Augen fielen auf eine der Armschienen, an denen der Krieger die letzte Zeit über so akribisch und penibel herumgeschruppt hatte. Seine Finger waren dabei etwas dreckig geworden, die genieteten Metallteile dafür sauber. Und nun bot der Käferschubser seiner Begleiterin aus dem Ausland eine der Schienen an. Es war die linke und sie sah aus, als habe man sie erst kürzlich beim Schmied abgeholt. “Hmm?”, machte die konfrontierte Novigraderin ein wenig verwirrt und sah unsicher auf. Sie sah, wie Hjaldrist sie vielsagend anlächelte. “Wir teilen uns die Beute. Du kriegst eine Armschiene, ich nehme die andere.”, erklärte sich der einfallsreiche Mann und Anna verstand endlich: Der Skelliger gab ihr hier gerade eines der Rüstungsteile. Es sollte ein Geschenk sein, nicht wahr? Jedenfalls fühlte es sich so an. Hatte er das von vornherein geplant gehabt? Ein wenig verdutzt nahm Anna das frisch polierte Teil aus Metall entgegen, hielt es in beiden Händen und sah es sprachlos an. Ihr Gefährte lachte über diese unbeholfene Reaktion leise in sich hinein. “Das… ist jetzt fast ein bisschen, äh, kitschig...”, stellte die überforderte Frau räuspernd fest, doch konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren. “Kitschig? Andere Leute haben olle Freundschaftsbändchen! Armschienen sind dagegen doch verdammt männlich.”, witzelte Rist und nun lachte auch die Trankmischerin erheitert auf. Sie nickte entschlossen, den blank gescheuerten und geölten Stahl noch immer in den Händen. “Da hast du wohl recht.”, pflichtete sie bei bevor sie innehielt, einen Herzschlag lange überlegte und sich dann ehrlich und froh bei ihrem Gefährten bedankte. Bisher hatte ihr, abgesehen von Balthar, noch nie jemand irgendetwas geschenkt. Hjaldrist nickte lächelnd und wendete sich wieder seinem Kram zu. Seine Freundin schwieg und betrachtete ihre neue Armpanzerung froh. “Rist? Meinst du, den Arbeitern hier war das Sägewerk einfach zu abgelegen? Ich meine… mehr als Pampa geht ja wohl nicht.”, meinte Anna, nach einiger Weile. Ihr Geschenk von Hjaldrist lag neben ihr, während sie das unappetitliche Abendessen in der alten Bratpfanne am Grund vor sich umrührte. Sie stocherte etwas mit dem Messer darin herum, pickte sich ein Stück Wurst auf das stumpfe Werkzeug und steckte sich den Happen in den Mund. Sie und Hjaldrist saßen noch immer vor dem prasselnden Kamin und recht bald würde sich einer von ihnen für ein paar lang ersehnte Stunden schlafen legen. Wer, das würden sie noch mit einer Runde Schere-Stein-Papier entscheiden. Und der Andere, der würde solange Wache halten müssen. Denn leider war der verlassene Ort im Wald nicht so sicher, dass man sich getrost hinlegen und dabei erwarten könnte, dass nichts geschah. Die Gefahr konnte überall lauern; gerade heutzutage und an Plätzen, wo keine Stadtwache herum marschierte und dabei schiefe Lieder summte. “Hm. Vielleicht gehörte das Werk ja zu Redgill. Die Bewohner des Dorfes starben allesamt… da würde es mich nicht wundern, dass der Platz hier nun so einsam im Wald liegt.”, antwortete Hjaldrist schulterzuckend. Er lungerte auf seinem Platz herum und hatte sich die schmutzigen Hände, die er sich beim Polieren der Armschienen eingesaut hatte, längst wieder sauber gewischt. Nun lag er bloß noch da und sah dem Feuer im maroden Kamin dabei zu, wie es an knackendem Holz und aufgeheizten Steinen leckte. Die müden Abenteurer hatten hier nicht mehr viel Brennbares gefunden, nur ein paar trockene Scheite und dürre Äste. Aber das machte nichts. Sie beide würden morgen so und so früh aufbrechen und die eine Nacht in der Sägewerkshütte sollten sie auch noch gut überstehen. “Also ich finde, dass die Häuser in Redgill viel älter und kaputter aussahen, als die hier.”, warf die Novigraderin kritisch ein und streifte sich die braune Decke, die sie sich um die Schultern gewickelt hatte, vom Körper. Mittlerweile war es halbwegs warm im Zimmer. Sie brauchte keine extra Stofflagen aus Schurwolle mehr, um sich warm zu halten. “Meinst du? Hm.”, machte Rist lau. Er war offensichtlich nicht erpicht darauf zu viel zu sinnieren oder über irgendwelche Verschwörungen oder vergangene Angriffe nachzudenken. Klar. Er war erschöpft und sah ganz schön zerstört drein. Vielleicht sollte er als erstes schlafen. Anna sah flüchtig zu dem Mann hin, der es sich auf seinem Fleck aus alten Decken und einem zotteligen Fell bequem gemacht hatte. Seine Rüstungsteile, die beim Liegen nur unangenehm gegen den Körper gedrückt hätten, hatte er abgelegt. Sie ruhten gut sortiert neben seinem gefüllten Rucksack und den Waffen herum. Die geschwungene Klinge der skellischen Axt spiegelte das Kaminfeuer ganz vage wider. Anna wollte gerade weitersprechen, als sie am kleinen Fenster der Hütte eine Bewegung wahrnahm. Nur aus dem Augenwinkel sah sie es, aber nachdem auch Hjaldrist zusammenzuckte und sich sofort angespannt hinsetzte, wusste sie, dass es keine Einbildung gewesen sein konnte. Irgendetwas war dort draußen. Es war vor dem Fenster vorbei gehuscht. Da waren zwei Augen gewesen, die den Feuerschein in der Hütte reflektiert hatten. Augen, die größer gewesen waren, als die eines kleinen Tieres, wie einer Wildkatze, einem Wolf oder dergleichen. “Hast du das gesehen?”, fragte der anwesende Skelliger sofort und seine Worte überschlugen sich dabei. Er war sofort wieder hellwach und an Schlaf war nicht mehr zu denken. “Ja.”, atmete Anna gleich und zögerte nicht damit sich zu erheben. Den Blick auf das Fenster gerichtet, das die Sicht auf die schwarze Nacht freigab, stand die Frau auf und fasste an den Griff des teuren Silberdolches an ihrem breiten Gürtel. “Anna?”, fragte Rist skeptisch und alarmiert “Was hast du vor?”. “Nachsehen.”, sagte die Kurzhaarige mit gesenkter Stimme. Sie flüsterte nicht, doch wirkte äußerst vorsichtig. “Was?”, nun machte sich auch der skellische Krieger daran sich auf die Beine zu hieven. Er klopfte sich den Dreck vom Rock und kam umgehend zu seiner Freundin. “Du willst da raus? Jetzt?”, wollte er kritisch wissen. “Wenn irgendetwas um das Haus schleicht und weiß, dass wir da sind, dann sollten wir nachsehen was oder wer es ist, solange wir alle beide noch wach sind, oder nicht?”, Anna warf ihrem planlosen Kumpel einen erwartungsvollen Blick zu. Eine stumme Herausforderung lag in ihrem Ausdruck. Rist verzog den Mundwinkel unzufrieden, doch nickte dann. Er würde Anna folgen, denn sonderlich ermattet sah er NUN nicht mehr aus. Also machte er sich kaum eine Sekunde später daran seine Waffe vom Holzboden aufzuheben. Die Hexerstochter wartete auf ihn, dann traten sie zusammen nach draußen. Und hier, vor dem Haus, war es dunkel verdammt. Hätte Rist seine kleine Öllampe kürzlich nicht an dem rasenden Waldschrat zerschlagen, um jenen in Flammen zu stecken, hätten sie die Umgebung etwas ausleuchten können. So gingen die zwei Abenteurer aber ohne Laterne oder jegliches tragbare Licht um die Sägewerkshütte herum. Sie taten dies vorsichtig und lauschend, suchend und auf leisen Sohlen. Anna hielt sich nah an dem nervösen Rist, der mit gezogener Axt voran ging, ließ den Blick schweifen und hielt die Ohren aufgeregt gespitzt. Und tatsächlich: Da waren ganz offensichtliche Spuren im Schnee. Sie sahen aus, wie die von Kinderschuhen. Wie Stiefelabdrücke eines vielleicht Zehnjährigen. Die glimmenden Augen, die die Frau vorhin aber vor dem Hüttenfenster gesehen hatte, waren nicht menschlich gewesen. Ja, die Pupillen von Menschen leuchteten im Feuerschein nicht so wie die, von Katzen, Elfen oder anderen Wesen mit Nachtsicht. Womit hatten sie es hier also zu tun? Mit einem Nekker, der Schuhe trug? Anna hatte schon von solch kleinen Monstern gehört, die so etwas taten. Es wäre nichts Neues. “Keine Angst!”, eine Stimme, die definitiv nicht Hjaldrist gehörte, drang an Anna’s Ohren. Sie klang viel heller und kam von hinten, was die aufgerüttelte Frau dazu brachte zusammen zu zucken und sofort kampfbereit herumzufahren. Ihre Augen richteten sich sogleich auf eine kleine, dunkle Gestalt, die da an der Hausecke stand, die die Reisenden soeben erst passiert hatten. War ihnen dieses sprechende Ding etwa gefolgt? Auch der Skelliger hatte sich längst umgedreht und die Axt kampfbereit erhoben. Vorsichtshalber. Nicht jedes Wesen, das man traf, war feindselig, doch man wusste ja nie. “Ich wollte euch keine Angst machen! Ich habe gedacht, Gunnar ist zurück.”, sprach die fremde Kinderstimme, doch irgendetwas sagte der Hexerstochter, dass sie es hier NICHT mit einem kleinen Menschen zu tun hatten. Der nächtliche Schatten war nicht hoch und reichte der Frau allerhöchstens bis zum Bauchnabel. Abwartend stand sie da, voller Argwohn und dazu bereit anzugreifen, wenn sie denn müsste. Rist trat zögerlich neben sie. “Wer bist du?”, fragte der dunkelhaarige Mann verstimmt “Warum schleichst du um die Hütte herum?” Auf diese drängenden Fragen hin kam der fremde Gestiefelte etwas näher. Der teils angefrorene Schnee knirschte unter seinen flachen Sohlen. Nur langsam kam er her, erhob die bloßen Hände abwehrend, und als er kaum mehr zwei, drei Meter von Anna entfernt in der Neumondnacht stand, stutzte die Kriegerin heftig. “Ich bin Lin.”, entkam es der Gestalt mit den halblangen Haaren und den großen Augen. Es war zwar finster, doch man konnte erkennen, dass deren Haut ein paar Nuancen dunkler war, als die eines Menschen und ihre lumpige Kleidung sah eigenartig aus. Das Wesen erinnerte von der schmalen, zierlichen Statur her sehr stark an einen kleinen Jungen. “Wie, ‘Lin’?”, wollte Hjaldrist misstrauisch wissen und senkte die Axt kein Stück weit. Anna aber, die dachte bereits daran den langen Silberdolch wieder fort zu stecken. Denn eine vage Ahnung ereilte sie, die ihr verriet, dass sie ihre scharfe Klinge nicht bräuchte. “Mein Name ist Lin.”, meinte das Wesen in der zu großen Weste und den fellgefütterten Kinderschuhen überraschend gesittet. Es mochte zwar klein sein, doch vom Reden her wirkte es verdammt reif und alt. Wahrscheinlich war es das auch. Oh, bei Melitele... “Ich habe hier gewohnt, aber als die Leute gingen, bin ich in den Wald zurück. Es hat hier keinen Spaß mehr gemacht ohne sie.”, erläuterte Lin und der irritierte Hjaldrist brummte irgendetwas in seinem harten Akzent, der der Alten Sprache ähnlich war. “Ein Göttling.”, meinte Anna nun auf einmal, als wolle sie damit die prekäre Situation entschärfen. Ihr Ton war genauso überrascht, wie überwältigt und passte zu ihrem verrutschten Gesichtsausdruck. Dabei war ihre Feststellung auch teils eine Frage. Denn so sicher war sie sich noch nicht. Göttlinge waren alte Wesen und Waldgeistern gleich. Sie lebten in modrigen Sümpfen oder in Forsten, zwischen tiefen Steinhöhlen und bemoosten Baumstümpfen, oft nahe der Zivilisation. Diese kleinen Leute mochten lockere Gesellschaft, seichten Humor und zeigten sich deswegen besonders Kindern gern. Sie waren im Grunde harmlos und taten einem ab und an sogar kleine Gefallen im Austausch für Essen oder Spiele. Göttlinge liebten simplen Schabernack, doch waren, wenn es um solche Späße ging, zu naiv, um bewusst wirklichen Schaden anzurichten. Jedenfalls stand es so in den Büchern. Zudem… zudem waren sie sehr selten und einem von ihnen zu begegnen glich daher einem Wunder. Anna wusste also nicht, was sie jetzt tun oder sagen sollte. “Ein Göttling? Was ist das?”, Hjaldrist sah von der Seite aus eilig zu seiner wissenden Freundin hin, ohne Lin wirklich aus den schmalen Augen zu lassen. Argwohn lag noch immer in seinem Blick und er forderte eine Erklärung. “So etwas wie, ähm… ein guter Waldgeist. Er ist also harmlos, nimm die Axt runter.”, murmelte Anna ihrem angespannten Kollegen zu und jener folgte dieser Aufforderung nur widerwillig zögernd. “Aha…”, machte der Mann aus Undvik langsam und sah zu dem ‘Jungen’ zurück, der abwartend vor ihnen stand. Neugierig betrachtete jener die Menschen, fummelte sich dabei unruhig am zerschlissenen Hemdsaum herum. “Ich habe gesehen, wie ihr gegen den wütenden Waldschrat gekämpft habt. Das war tapfer.”, sagte Lin und Anna blinzelte perplex. Moment mal! War ihnen der Kleine hier etwa die ganze Zeit über gefolgt? Weswegen? “Er hat die Leute in Redgill getötet, aber ihr seid ihm entkommen. Ich hatte Angst, dass er auch euch zerreißt.”, meinte der Göttling mit hoher Stimme und sah zu den ziemlich Sprachlosen auf. Er näherte sich weiter, schien seine Scheu allmählich zu verlieren. “...Du bist uns hinterhergelaufen?”, fragte Anna erst nach einer halben Ewigkeit des wirren Schweigens. Hjaldrist hatte seine Stimme bis jetzt noch nicht wiedergefunden. Der ungläubige Skelliger war zu beschäftigt damit das sonderbare Wesen in der Düsternis anzustarren und zu versuchen sich eine Meinung darüber zu bilden. “Ja und nein. Ich habe euch beobachtet, als ihr zur Lichtung des Schrats gekommen seid. Und wie ihr Lena die Katze zurückgebracht habt.”, gab Lin aufrichtig zu. Warum sollte er auch lügen? “Warum hast du das getan?”, wollte die Nordländerin mit dem Silberdolch wissen. “Mir war langweilig.”, erklärte der Göttling schlicht und man hörte, wie Hjaldrist einen leisen, wenig begeisterten Laut von sich gab. Der Kleine mit der großen Weste verschränkte die Arme hinter dem Rücken und lächelte breit, sah die beiden Fremden ohne jegliche Feindseligkeit im Blick und aus seinen großen Augen an. Etwas passiv stand er im Schnee und mutete an, als wolle er gar nicht mehr gehen. Ungeduldig wippte er auf seinen Füßen vor und zurück. Offenbar sah er die zwei Reisenden als einen guten Zeitvertreib oder eine angenehme Gesellschaft an. Göttlinge waren eben so. Im Grunde sahen sie nicht nur aus wie Menschenkinder, sondern hatten auch ähnliche Anforderungen, wenn es um Unterhaltung und Kurzweil ging. “Ähm.”, fiel Anna dazu nurmehr ein. Und jetzt? Sie könnte doch schlecht einen höchst seltenen Waldgeist abwimmeln, ihn verscheuchen, wie ein lästiges Tier und ihm sagen, dass er damit aufhören sollte in der Gegend herum zu schleichen, wie ein Einbrecher. Gleichzeitig war auch ihr Interesse an dem übernatürlichen Wesen geweckt worden. Schließlich traf man jemanden wie Lin nicht alle Tage. Darum überlegte sie kurz und ließ die braunen Augen nachdenklich wandern. Nach wenigen Atemzügen setzte sie zu einer Frage an. “Willst du vielleicht mit rein kommen?”, wollte sie wissen. Anna spürte, wie Rist sie auf dies hin eindringlich anstarrte: Mit einem stummen ‘Spinnst du?’ im Blick, doch er sagte kein Wort. Die Novigraderin räusperte sich leise. “Die Leute sind gegangen, weil andere Menschen sie verscheucht haben.”, erzählte Lin, als er das bereits kalt gewordene Abendessen seiner beiden neuen Bekannten penibel betrachtete. Er klaubte vorsichtig nach einem Stück aufgeweichten Brotes, das inmitten des gebratenen, fettigen Gerichtes schwamm, und sah zu Anna und Rist hin, die ihm gegenüber am Boden saßen. Erwartungsvoll warteten die beiden Abenteurer eine weiterführende Erklärung ab. Die anwesende Frau schien sich mittlerweile keinerlei Gedanken mehr darum zu machen, dass der Göttling im Haus eventuell gefährlich werden könnte. Sie baute absolut auf die Theorien aus ihren dicken Büchern, die Gestalten wie Lin als friedvoll bezeichneten. Hjaldrist’s Miene war aber noch nicht ganz so entspannt. Immer wieder taxierten seine forschenden Augen den kleingewachsenen Waldgeist, der gerade die wenigen Reste aufaß, die da in der alten Bratpfanne vor sich hin gammelten. Der Skelliger schien noch nicht so ganz zu verstehen, dass es zwischen allen Monstern und Ungeheuern auch Wesen gab, die nicht feindselig oder aggressiv waren. “Andere Leute haben sie vertrieben?”, fragte Anna neugierig nach und rückte etwas näher. Lin’s Haut sah im warmen Licht des flackernden Kaminfeuers bläulich aus und seine großen Augen trugen die Farbe von Eiskristallen. Es war ein ganz helles Blau, fast weiß, unnatürlich und auf eine etwas schräge Art und Weise faszinierend. Die dunklen Haare hingen dem Göttling lose über die Schultern und seine etwas wild durcheinander gewürfelte Kleidung hatte er wohl aus den leerstehenden Häusern der umliegenden Werksgegend entwendet. Die, die von hier fortgegangen waren, brauchten jene schließlich nicht mehr. Im Großen und Ganzen sah Lin also aus, wie ein recht schräg und unordentlich gekleidetes Kind. Also ganz abgesehen von seiner Haut und den fremdartigen Augen im sehr weise wirkenden Gesicht. “Ja. Die Druiden von Gedyneith. Sie mögen es nicht, wenn zu viele Bäume getötet werden… darum haben sie darauf bestanden, dass Gunnar und die Anderen gehen. Und weil sie über den uralten Waldschrat Bescheid wissen, der in der Nähe lebt. Man darf ihn nicht stören. Er mag Feuer und Holzfäller nicht.”, meinte der kluge Göttling, der sich einen ölig triefenden Happen Wurst in den Mund steckte und sich daraufhin das Fett von den bekleckerten Fingern leckte. Es war ziemlich seltsam ein Geschöpf wie Lin essen zu sehen und das auch noch auf solch ungeschickt anmutende Art. Nie hatte sich Anna Gedanken darüber gemacht, dass Waldwächter, wie dieser vermeintliche Junge hier, normale Lebensmittel - oder eher: zusammengemischten Schlampf aus Proviantresten, der noch nicht einmal besonders gut schmeckte - zu sich nahmen. Aber wie auch immer. Die Kämpferin horchte auf, als Lin Gedyneith und die eigenbrötlerischen Druiden erwähnte. Ihr Gesichtsausdruck lichtete sich, doch bevor sie etwas fragen konnte, kam ihr Rist dazwischen. Bisher hatte er eisern geschwiegen und beobachtet. “Wer ist Gunnar?”, wollte der Undviker, der da neben seiner Freundin auf einem verfilzten Schafsfell saß, zweiflerisch wissen. Er lungerte im Schneidersitz herum, die Hände auf den Knien und abwartend vorgebeugt. Es war, als warte er nur darauf, dass Lin irgendetwas anstellte oder bösartig wurde. Der Mann traute dem Göttling kein Stück. “Gunnar war der Anführer der Leute und mein Freund.”, erklärte das Ungeheuer, das mit dem Essen innehielt, kurz überlegte, sich noch einen kleinen Bissen gönnte, doch dann davon abließ noch mehr des verunglückten Omeletts zu sich zu nehmen. War wohl besser so. Brav und ruhig blieb Lin sitzen, am blanken, harten Boden. Es schien ihn keineswegs zu stören. “Er war der Aufseher des Sägewerkes?”, resümierte Hjaldrist fragend und sah aus, als habe er sich eigentlich eine spannendere Geschichte erwartet. Eine aufregendere, als eine, in denen ein paar Holzfäller von baumknutschenden, zeternden Druiden fortgejagt wurden, damit sie den Wald nicht noch mehr rodeten. “Ja, er war der Anführer.”, nickte Lin. Und nun kam Anna wieder dazwischen: “Weißt du, wo die Druiden sind?”, wollte sie schnell wissen und schaffte es nicht so ganz ihre Aufregung zu verbergen. Sie war etwas nervös geworden, kaute sich auf den ohnehin schon kurzen Fingernägeln herum. “Ja.”, versicherte der Göttling “Warum?”. “Ich möchte mit ihnen über wichtige Dinge sprechen.”, erklärte die Hexerstochter gleich und musste erleichtert lächeln. Denn der Kleine hier hatte gerade tatsächlich und wie selbstverständlich erwähnt, dass er die zurückgezogenen Druiden kannte, die die Novigraderin nun schon seit Tagen zu finden versuchte. “Mhm.”, machte Lin jetzt unbeschwert und fragte nicht weiter nach. Ihm schien es vorerst als Antwort zu genügen, dass Anna die Mistelschneider sprechen wollte. “Manche von ihnen reden nicht. Ich weiß nicht wieso. Vielleicht sind sie stumm.”, entkam es dem offenherzigen Göttling noch und daraufhin war es Rist, der die angesprochene Angelegenheit und das Mysterium um die schweigenden Naturmänner erklärte. “Weil sie ein Schweigegelübde abgelegt haben. Für manche Druiden ist das so üblich.”, sagte der Skelliger belehrend. Anna sah überrascht zu ihm hin und ihre Brauen wanderten in die Höhe. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr kriegerischer Kumpel so gut über die traditionellen Gebräuche der hiesigen Druiden Bescheid wusste. Aber nun gut… er war schließlich auf dem Inselarchipel aufgewachsen. Vermutlich lernte man hier schon früh viel über die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Und die Druiden waren von Skellige nicht fort zu denken. Sie gehörten schließlich zur alten Kultur der Inseln und begründeten gar Säulen eines Naturglaubens mit. Womöglich konnte man sie ja sogar mit Priesterinnen oder Schamanen anderer Völker vergleichen. “Schweigegelübde?”, hakte Lin neugierig nach und legte den Kopf mit den schwarzen Haaren schräg. “Sie legen einen Eid ab, der besagt, dass sie für eine gewisse Zeit lang nicht sprechen dürfen. Eine ziemlich lange Zeit sogar.”, erklärte Hjaldrist besserwisserisch und setzte sich endlich etwas gelassener hin. Er nahm die Hände von den Knien, entspannte das Kreuz merklich und allmählich schien sich auch die etwas ungute Atmosphäre zwischen ihm und dem Göttling im Feuerschein zu lichten. Denn er merkte, dass man sich ganz normal mit diesem unterhalten konnte. “Aha. Verstehe.”, meinte Lin nur. “Da musst du dir also einen Druiden suchen, der reden darf, Anna.”, fügte er nurmehr überflüssigerweise, doch wohlwollend, hinzu. Und die Novigraderin wunderte sich nicht darüber, dass das bläuliche Wesen wusste, wie sie hieß. Schließlich war es ihr und Rist ja eine Zeit lang gefolgt. Sicherlich hatte es sie dabei auch belauscht. “Genau.”, machte die burschikose Frau zustimmend nickend. Dann setzte sie zu einer weiteren, drängenden Frage an. Sie haderte etwas, überlegte und klaubte nach Worten, doch holte schlussendlich Luft, um den Göttling vor sich wieder anzusprechen. “Könntest du uns denn zeigen, wo die Druiden sind, Lin?”, wollte sie wissen und hoffte inständig darauf, dass der Angesprochene zustimmen würde. Dieses Mal starrte Rist sie zum Glück auch nicht mehr so an, als sei sie eine Wahnsinnige. Noch immer sah er zwar etwas zweifelnd drein, doch auch er hatte sicherlich wenig Lust darauf sich wieder zu verlaufen. Und der Gedanke daran von einem ortskundigen Waldbewohner, der sich bisher als sehr freundlich erwiesen hatte, nach Gedyneith geführt zu werden, erschien großartig. Oder nicht? “Ja, das kann ich. Sie sind nicht so weit weg.”, stimmte der hilfsbereite Lin sofort zu. Normalerweise, da banden sich Göttlinge an einen Ort oder an eine Gruppe von Menschen. So stand es jedenfalls in den Bestiarien. Wenn die besagten Orte jedoch zerstört wurden oder sich die Bezugsmenschen zu sehr veränderten, ging der kleine Waldgeist und suchte sich eine neue Bleibe. Dies war wohl der Grund, weswegen Lin sich dazu bereit erklärte zu helfen. Wäre die hiesige Sägemühle noch intakt und deren Arbeiter noch hier gewesen, hätte er sich Rist und Anna niemals gezeigt. Er hätte schlicht keinen Grund dafür gehabt. Vielleicht suchte er nach der Abreise der Sägewerksarbeiter ja sogar nach einem neuen Ziel oder Lebenszweck? “Wirklich?”, entkam es Anna nun erfreut und ein breites, erfreutes Lächeln spannte sich über ihre Züge. Sie schlug die Handflächen dabei einmal freudig aufeinander. Wieder nickte das eigenartige Wesen und gab sich, als sei es selbstverständlich oder keine große Sache, dass es den Reiseführer mimen würde. Lin ließ den Blick von der Kurzhaarigen vor sich zu deren Begleiter schweifen und machte sich dann wieder daran noch etwas von dem zu essen, das die besagten Abenteurer heute ‘gekocht’ hatten. Kapitel 8: Kräuterproben-Pläne ------------------------------ Nach einer Nacht, die zum Glück ereignislos verlaufen war, wenn man von der Begegnung mit Lin absah, trieben die Reisenden ihre Pferde schon früh durch den Wald. Der Göttling mit der bläulichen Haut und den hellen Augen war all die Stunden über geblieben und im Gegensatz zu Anna und Hjaldrist war er kein Bisschen müde gewesen. So hatte er die Zeit mit der jeweils wachen Person verbracht. Während Rist sich als erstes hingelegt hatte, um mit dem Rücken zu den Anderen zu schlafen, hatte sich Anna im Flüsterton mit Lin unterhalten. Irgendwann hatte sie ihre Gwent-Karten hervorgeholt und sie ihrem neuen Bekannten gezeigt. Tatsächlich hatte sie dann damit angefangen Lin beizubringen, wie das besagte Kartenspiel funktionierte. So leise, als möglich hatte sie dem gespannten Waldgeist also eines ihrer beiden Gwent-Decks - Monsterkarten - zugeschoben, um ihren zweiten Stapel, der aus Karten der Scoia’tael-Fraktion bestand, dagegen auszuspielen. Am Anfang war dies recht holprig passiert, doch schon nach etwa einer Stunde hatte Lin verstanden und damit angefangen die verspielte Begeisterung der Novigraderin zu teilen. Er mochte Gwent und hatte die schön gedruckten, etwas abgegriffenen Karten auch abseits des Spielens genau betrachtet. Viele der Monster darauf hatte er wiedererkannt und sich darüber erstaunt gezeigt, dass Künstler es schafften jene so detailgetreu zu zeichnen. Die Zeit in der Sägewerkshütte, die Anna damit verbracht hatte ‘Wache’ zu halten, war also schnell vergangen. Hjaldrist hatte ein paar Stunden geschlafen, bevor man ihn geweckt hatte, damit sich auch die Frau etwas ausruhen könnte. Bestimmt hatte der liebe Göttling auch den Skelliger gut und bis zum Morgengrauen unterhalten. Die Trankmischerin der Runde hatte davon jedenfalls nichts mehr mitbekommen, denn sie hatte unerwarteterweise geschlafen wie ein Stein. “Und? Was habt ihr heute Nacht so gemacht?”, schmunzelte Anna, als sie von der Seite aus zu ihrem besten Freund hinsah, der auf Apfelstrudel saß und jenen neben Kurt her trieb. Die Pferde trotteten gemütlich durch den Wald und stiegen gemach über Wurzeln und Steine hinweg, die nicht völlig vom Schnee bedeckt waren. Der Atem aller stieg als heller Dunst auf, denn so früh war es noch sehr kalt. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Doch bald würde sie das und dann würde es hoffentlich wieder tauen. “Lin hat mich gefragt, ob ich Gwent spiele.”, erwähnte Rist und zog die Zügel etwas straffer. Seine Hände steckten in seinen alten, dicken Handschuhen. Die neuen aus Redgill waren schließlich nur Trugbilder gewesen; magisch angereicherte Luft, wenn man es denn so banal betiteln konnte. “Und?”, grinste Anna abwartend. Tatsächlich fragte auch sie sich, ob ihr Freund ein Kartenspieler war oder nicht. “Ich habe ein paar Karten. Die habe ich ihm gezeigt.”, gab der Undviker zu und zuckte mit den Schultern. Dann sah er sich forschend um, beinah schon verstohlen. Seine braunen Augen suchten Lin. Denn der Göttling hatte sich geweigert auf eines der viel zu hohen Pferde zu steigen. Er zog es vor von selbst durch den Wald zu gehen und hatte den Abenteurern versichert schnell genug zu sein, um mit dem Schritt der zwei Pferde mithalten zu können. Ob er dabei wirklich spazierte oder lief? Oder hatten eigenartige Wesen wie er andere Methoden sich schnell fortbewegen zu können? Vor Kurzem hatte Anna ihn noch im raschelnden Dickicht gesehen, nun war er wieder verschwunden. Bestimmt würde der freundliche Göttling aber bald wieder auftauchen. Spätestens dann, wenn Hjaldrist und die Ausländerin vom rechten Weg abkämen. Es war ein wenig befremdlich ein Waldwesen als Reiseführer zu wissen, doch es war auch sehr erleichternd und absichernd. Anstatt nämlich planlos umher zu reiten, konnten sich Rist und Anna auf den Kleinen mit den schwarzen Haaren und den seltsamen Klamotten verlassen. Das war doch was! “Er ist eine große Hilfe.”, meinte die dankbare Novigraderin und zog die Aufmerksamkeit ihres dunkelhaarigen Kumpans damit wieder auf sich. Unter seiner wärmenden, fellbesetzten Kapuze sah der hübsche Axtkämpfer wieder her. “Ich frage mich nur, ob er etwas dafür will…”, kritisierte der Krieger und das zurecht. Normalerweise verlangten Göttlinge irgendwelche Dinge oder Lebensmittel als Bezahlung für ihre ‘Dienste’. Der kleine Begleiter der beiden Vagabunden hatte bisher aber noch keine Belohnung gefordert. Vielleicht käme das ja noch. Später. Wenn sie die Druiden Gedyneiths erst einmal gefunden hätten. “Wer weiß? Warten wir einfach ab.”, lächelte die Kurzhaarige unbeschwert, setzte sich im harten Sattel bequemer hin und streckte die Beine etwas aus, bevor sie die wadenhohen Stiefel wieder zurück in die Steigbügel stellte. Sie hatte letztere lang gelassen und mimte damit den skellischen Reitstil ihres Kollegen, der in der Tat entspannter war, als der ihre. “Du machst dir keine Sorgen?”, wollte der unerfahrene Hjaldrist skeptisch wissen. “Nein. Wenn Göttlinge irgendwelche Bezahlungen verlangen, dann sind die meistens recht trivial und klein. Man muss wirklich nichts befürchten, glaube mir…”, versicherte Anna lächelnd und trieb Kurt über eine dicke Wurzel, die aus der Schneedecke herausragte. Recht gleichgültig trottete das Pferd darüber hinweg, interessierte sich nicht sehr für die Umgebung und war deswegen auch generell schwer zu erschrecken oder aufzuscheuchen. Das war gut. Apfelstrudel aber, der hielt in diesem Moment vor der breiten Wurzel an, wie ein störrisches Maultier, das keine Lust mehr darauf hatte schweres Gepäck zu schleppen. Man hörte seinen Herrn im Morgengrauen murren, dann leise fluchen. Anna verkniff sich ein Lachen, als Rist es nur mit Mühe und Not schaffte sein widerspenstiges Tier über das feuchte Holz hinweg steigen zu lassen. Na, ging doch! “A d’yaebl aép arse! Es ist nur eine Wurzel!”, hörte man den wenig angetanen Krieger dabei maulen “Beim Seidenhöschen meiner Großmutter! Na, geh schon, du Esel!”. Also schön, das war’s. NUN konnte die Novigraderin, die ihren braunen Wallach gezügelt hatte, um auf ihren Freund zu warten, das erheiterte Lachen nicht mehr zurückhalten. Amüsiert kicherte sie, wandte sich am Pferderücken ein Stück und sah sich nach Hjaldrist um. “Deine Großmutter trägt Seidenhöschen? Na, ich wusste ja nicht, dass skellische Frauen gehobenen Alters auf so etwas stehen.”, bemerkte sie witzelnd und entlockte nun auch dem Käferschubser einen belustigten Laut. Apfelstrudel die Fersen noch einmal in die Flanken hebend schloss er zu Anna auf und grinste ein “Wenn du wüsstest…” Wenn sie wüsste? Also sie war sich ja nicht sicher, ob sie wissen WOLLTE. Eher nicht. Sie hatte zwar nichts gegen Frauen, die hübsche Unterwäsche trugen - im Gegenteil - doch Omas in derselbigen waren dann eine grausige Vorstellung, die die Frau aus Kaer Morhen eher nicht brauchte. Gegen Abend begann es zu regnen. Die Temperaturen waren so weit angestiegen, dass die Kälte auf den Inseln nicht mehr für dicke Schneeflocken ausgereicht hatte. So prasselte das Wasser, wie aus Kübeln vom schwarzen Himmel und verwandelte den Schnee ringsumher zu Matsch. “Und DAS im Winter…”, schnappte Anna und rieb sich die Oberarme unwohl. Sie und die anderen beiden hatten es gerade noch so in eine Höhle geschafft, zu der Lin voran gelaufen war. So waren sie also nicht patschnass geworden und müssten sich die Ärsche nicht wegen durchgeweichter Kleidung abfrieren. Erleichtert atmete Hjaldrist durch und ließ seinen Rucksack scheppernd auf den steinernen Boden plumpsen. Die Grotte war nicht sehr groß und sie ging auch nicht tief in den Felsen, der zu einer kleinen Anhöhe inmitten des Waldes gehörte, hinein. Sie war verlassen und in der Mitte des Höhlenraums waren die rußigen Überreste eines längst verlassenen und erloschenen Lagerfeuers zu erkennen. Ein paar verkohlte Holzscheite markierten die Mitte der kleinen Zuflucht in einem kreisrunden Fleck. Ansonsten gab es hier keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Platz je von irgendwem besucht worden war - außer von Wildtieren und anderen Wesen, verstand sich. Der Forst war tief und sehr dicht. Schwer vorstellbar, dass sich hier je eine Menschenseele her verirrte. “Lin, wie lange brauchen wir noch bis Gedyneith?”, wollte Anna wissen, als sie sich nach dem Göttling umsah, der sich neben Rist’s großen Rucksack auf den Boden gesetzt hatte. Der Kleine wiegte den Kopf nachdenklich und ließ die großen, eisblauen Augen ebenso grüblerisch wandern. “Morgen sind wir da.”, meinte er daraufhin zuversichtlich. “Morgen erst? Ich dachte, die Druiden seien nicht so weit weg.”, warf der anwesende Undviker ein und zeigte sich eher unzufrieden darüber, dass er es sich heute Nacht wieder auf dem kalten, steinharten Boden eines unfreundlichen Ortes bequem machen müsste. Der Mann runzelte die Stirn tief, doch regte sich nicht weiter auf. Auch Anna seufzte bedauernd. “Dann bleiben wir wohl besser hier, bis der Regen nachgelassen hat. Wäre Gedyneith näher gewesen, hätte ich ja vorgeschlagen trotz des Scheißwetters weiter zu reiten.”, schlug die Hexerstochter vor und legte ihren schweren Rucksack jetzt ebenso ab. Leise klimperten die metallenen Schnallen daran dabei und als Anna das Gepäckstück los war, streckte sie sich einmal wohlig stöhnend. “Ja, lass uns abwarten und weiterziehen, sobald es nicht mehr so pisst.”, murrte Hjaldrist. Er hatte sich zu seinem Zeug gehockt, wühlte darin herum und zog ein kleines Säckchen aus hellem Leinen daraus hervor. Dann machte er sich daran seine zusammengerollte Decke vom Rucksack zu binden. Man sah Kurt und Apfelstrudel vor dem Höhleneingang herumstehen; den Einen müde schnaubend, den Anderen am Boden nach Gras suchend. Der Regen schien ihnen nichts auszumachen. Schließlich blitzte und donnerte es nicht. Ein Gewitter hätte die beiden sicherlich verschreckt, aber ein ordentlicher Regenguss ging an den Wallachen vorbei, wie Eiseskälte an hartgesottenen Skelligern. Mittlerweile hatte Anna’s liebstes Exemplar der selbigen seine Decke am Höhlenboden ausgelegt und sich darauf niedergelassen. Rist öffnete das kleine Säckchen, das er aus seinem Rucksack gefischt hatte, und klaubte daraus eine Dörrpflaume hervor. Urgh. Anna hasste diese zähen, klebrigen Dinger. Im Gegensatz dazu schien Lin’s Interesse aber geweckt worden zu sein, denn sofort kam er zu Hjaldrist hin, beugte sich vor und warf einen eifrigen Blick in dessen kleinen Proviantbeutel mit dem braunen Verschlussbändchen. “Hier. Willst du was davon?”, war der Krieger auf der Baumwolldecke gestern noch so misstrauisch und nahezu feindselig gewesen, wenn es um den anwesenden Göttling ging, so schien er heute viel gelassener und freundlicher zu sein. Er hielt Lin sein Trockenobstbeutelchen hin und sah den Kleineren abwartend fragend an. “Was ist das?”, wollte das langhaarige Waldwesen wissen und pickte sich etwas aus dem Säckchen. Es betrachtete das Dörrobst eingehend. “Was du da hast ist eine getrocknete Feige. Die kommen aus Serrikanien.”, erklärte der Skelliger in der grünen, bestickten Tunika geduldig und Lin hörte ihm gespannt zu. “Wo ist Serrikanien?”, fragte das bläuliche Wesen sofort interessiert. “Weit im Südosten.”, meinte Rist und schien sich offenbar gut mit Geografie auszukennen. Nicht jeder tat das. Bauern scherten sich nicht viel um das, was mehr als ein, zwei Meilen um ihren Hof herum geschah und normalen Bürgern waren zumeist nur die großen Städte der angrenzenden Ländereien bekannt. Vielleicht hatten sie ja schon von Serrikanien oder anderen, abgelegeneren Orten gehört, doch wo jene genau lagen, das wussten sie dann doch nicht. Der kluge Skelliger hier schien sich also für die weite Welt zu interessieren und vermutlich hatte er in der Vergangenheit Landkarten studiert oder mit Kundigen darüber gesprochen. Das war nicht überraschend. Mittlerweile hatte Anna nämlich durchaus bemerkt, dass Hjaldrist kein ungebildeter und einfältiger Kämpfer war, dessen einziges Talent darin bestand mit der Axt zuzuhacken. Der Mann hatte Köpfchen. “Warst du schon einmal dort?”, fragte Lin, bevor er seine süße Trockenfeige probierte und dabei noch größere Augen bekam, als er sie eh schon hatte. Es schien zu schmecken. “Nein.”, seufzte Rist “Aber ich würde es gerne einmal sehen.” “Du könntest hingehen.”, schlug der Göttling naiv vor und steckte sich den Rest der serrikanischen Feige in den Mund, um daraufhin schon nach etwas zu fischen, das wie eine getrocknete Apfelscheibe aussah. Der Käferschubser musste leise in sich hinein lachen. “Man geht nicht einfach mal so nach Serrikanien…”, merkte er an. “Ist es so weit?” “Ja…” “Anna und ich können dich begleiten, dann wird es nicht langweilig.”, schlug Lin vor und sah sich jetzt lächelnd nach der stillen Novigraderin um, die zu ihm und Hjaldrist kam. Mit etwas erstauntem Blick, der der Tatsache galt, dass der Göttling gemeint hatte, er wolle mit in die Wüste, setzte sie sich langsam zu jenem und Hjaldrist auf die erdfarbene Decke am Höhlenboden. “Äh…”, machte der Skelliger nurmehr und warf seiner Freundin einen zerstreuten Blick zu. Die vor den Kopf geschlagene Frau sah fort und hin zu Lin, der sie nach wie vor abwartend ansah. “Du willst uns begleiten?”, hakte Anna ungläubig nach. Sie meinte damit nicht nur Serrikanien, denn eine Reise dorthin war erstmal eine weit entfernte Utopie. Sie hatte dabei eher die generelle Idee ihres kleineren Begleiters im Sinn. Denn Vorschläge, wie gemeinsames Herumziehen waren nicht gewöhnlich für eigenbrötlerische Waldgeister, die im Grunde sesshaft waren. Noch nie hatte sie von einem reisenden Göttling gehört oder gelesen. “Ja, das wäre lustig!”, versicherte Lin und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Seltsamer Kerl. Rist schien sich dasselbe zu denken und sah über den Kopf des Göttlings unschlüssig zu der Novigraderin hin. Er zuckte die Achseln. Und auch Anna entschied sich dazu erst einmal nicht näher auf das Thema einzugehen. Wer wusste schon, wie ernst man Lin’s Worte nehmen konnte. “Das wäre es wohl…”, entgegnete die Frau dem Waldgeist daher lasch. Sie würden ja sehen, was passieren würde, wenn sie Gedyneith erreicht hätten. Vielleicht waren Göttlinge ja wankelmütig und zu naiv, um ernsthaft über eine längere Reiseplanung nachzudenken. Kinder schlugen schließlich auch oft die fantastischsten Dinge vor und vergaßen sie kaum einen Tag später schon wieder. Bestimmt war die Frage nach dem gemeinsamen Herumziehen seitens des Waldgeschöpfes hier auch nur eine halbernste und ungewichtige Aussage gewesen. Schweigen breitete sich zwischen den drei Anwesenden aus und Anna lauschte dem Regen. “Was willst du denn eigentlich so Wichtiges von den Druiden wissen?”, Hjaldrist sprach erst nach einer gefühlten Ewigkeit in die Stille hinein und drehte den Kopf zu Anna, die neben ihm auf der Decke saß und dem Höhlenausgang nachdenklich entgegenblickte. Noch immer regnete es stark und es roch nach nasser, karger Erde und feuchtem Holz. Es war anders als Sommer- oder Frühlingsregen, während denen man das feuchte Gras und die frische Natur riechen konnte, den weichen Waldboden und das Moos. Der Regen im Winter war kalt und unangenehm, man freute sich nicht über ihn. “Hm?”, machte die angesprochene Novigraderin, die gerade mit offenen Augen vor sich hin gedöst hatte. Sie hatte die Beine angezogen, das Kinn auf den Knien. Lin saß etwas abseits und schien irgendetwas aus Stöcken und altem Laub zu basteln. Er war vollends konzentriert darauf mit den kleinen Ästen und den modrigen Blättern herumzuspielen. “Ich suche die Formel für eine Art Trank.”, erklärte die Kriegerin aus den Nördlichen Königreichen dann und hob den Kopf, sah Rist aufrichtig entgegen. Jener wirkte nicht überrascht. “Dachte ich mir fast.”, meinte er “Und welcher Trank ist das?” “Hast du schon einmal von der Kräuterprobe gehört?”, wollte die Monsterkundige geheimnisvoll wissen. Nachdem ihr Freund mithalf und ihr in Zukunft wohl noch viel unter die Arme greifen würde - auch, wenn es um Experimente der Kräuterprobe ging -, schuldete Anna ihm ein paar Erklärungen, was? “Äh, nein.”, gab Hjaldrist zu “Ich bin ja kein Alchemist, so wie du.” “Ich bin keine richtige Alchemistin.”, lachte die Kurzhaarige “Ich weiß nur, wie man die ein oder andere Tinktur mischt.” “Ja, und du hast unterwegs andauernd angehalten, weil du irgendwelches Unkraut oder ein schiefes Gebüsch gesehen hast. Genau das machen Alchemisten auch.”, grinste der schelmische Skelliger und es war klar, dass er seine Begleiterin gerade ein wenig aufziehen wollte. “Hey, du wirst dich nochmal drüber freuen, dass ich das ‘Unkraut’ von letztens mitgenommen habe!”, beschwerte sich Anna und schaffte es nur mit Mühe und Not nicht zu schmunzeln “Spätestens dann, wenn du dir bei dem Mistwetter eine Erkältung holst! Das Unkraut ist nämlich Salbei. Und Salbei ist gut gegen Halsschmerzen.” “Ich hole mir keine Erkältung.”, meinte der Undviker lässig und das konnte man ihm wohl genauso abnehmen. Ja, angeblich gab es hier auf den Inseln Leute, die in Eiswasser sprangen, um den Kreislauf anzukurbeln. Verrückt! “Verschrei es nur nicht, mein Freund!”, konterte die Novigraderin dennoch und versuchte dabei verheißungsvoll zu klingen. Stattdessen hörte man ihr aber an, dass sie die kleine Diskussion hier genauso ernst sah wie Hjaldrist. Nämlich gar nicht. Gut, dass sie beide sich auf dieser Ebene so gut verstanden. Vermutlich war dies auch einer der Punkte, der dazu beitrug, dass es sich so anfühlte, als kenne Anna den Käferschubser schon ihr Leben lang. “Ja, ja, ja. Aber was ist denn nun mit deiner Probe da, hm?”, lenkte jener das Gespräch wieder in eine andere Richtung und kam damit auf das Thema vom Anfang zurück: Anna’s Anliegen, das sie überhaupt erst nach Skellige geführt hatte. Die kurzhaarige Frau hielt kurz inne und die Atmosphäre in der Höhle wurde abrupt wieder ruhiger und strenger. Nicht todernst, aber auch nicht mehr so kindisch-neckend wie gerade eben noch. “Hm. Die Kräuterprobe wird eingesetzt, um Menschen zu Hexern zu machen. Zu Mutanten, Vatt’ghern.”, eröffnete die Frau aus Kaer Morhen wissend und Hjaldrist horchte auf. Auf einmal wirkte er ziemlich interessiert und musterte seine zielstrebige Freundin aufmerksam. Der Mann rutschte etwas näher, wartete ab, und sein aufmerksamer Blick war eine stumme Bitte darum weiter zu sprechen. “Das Problem ist, dass sie nur bei Männern funktioniert. Als Frau kann man sie nicht bei sich anwenden. Und genau darum geht es mir: Ich, ähm, will eine Kräuterproben-Formel finden, die man auch bei Frauen einsetzen kann.”, gestand Anna und wich dem Blick ihres starrenden Kollegen dabei langsam aus. Sie atmete seufzte und wirkte dabei so, als müsse sie am Rande gegen Resignation ankämpfen. Denn ganz ehrlich? Bisher war ihre anstrengende Suche nach der besagten, brisanten Alchemieformel ziemlich schleppend und ergebnislos verlaufen. Im Grunde war sie zwei Jahre lang durch die Nördlichen Königreiche gereist, hatte versiertere Trankmischer genervt, geforscht, Kräuter gepflückt und dabei gehofft, sie käme bald schneller voran. Oh Mann. Am Anfang, nachdem sie von Balthar fortgerannt war, war sie immens motiviert gewesen. Stur und ehrgeizig, doch mit wenig Plan, war sie losgezogen und hatte geglaubt, sie könne alles schaffen. Langsam aber sicher zweifelte sie aber an sich. Und sie wüsste nicht was tun, würden ihr die Druiden Skelliges nicht weiterhelfen können. “Warte kurz…”, bat Rist nun endlich und fiel damit aus seinem Schweigen. Er runzelte die Stirn und wartete, bis Anna ihn wieder ansah. Dann sprach er langsam und konzentriert weiter. “Es gibt einen Trank, der Männer zu Hexern macht. Du kannst ihn nicht nehmen, weil du eine Frau bist. Aber du willst eine Hexerin werden. Also möchtest du die Druiden fragen, ob sie eine Kräuterprobe für dich mischen können?”, wollte der schlaue Mann wissen und man konnte seinen Kopf förmlich arbeiten hören. Er schien mit der ganzen Angelegenheit noch nicht allzu viel anfangen zu können. “So ungefähr, ja. Aber es ist etwas komplizierter, als das.”, antwortete die Novigraderin. Der Wind pfiff in die Höhle, trug ein paar vereinzelte Wassertropfen mit sich. Noch immer prasselte der Regen draußen nieder, als kippe jemand am Himmel einen bodenlosen Wassertrog über dem grauen Land aus. “Die Kräuterprobe ist kein einfacher Trank, den man einfach so nimmt. Es ist vielmehr, naja, eine Art Prozess, der länger dauert. Es gibt Niederschriften darüber, in denen nur von einem Absud die Rede ist. In einem anderen Werk, das ich gefunden habe, sind die Rezepte für drei Tränke, die man in bestimmter Reihenfolge schlucken muss. Carla Demetia Crest, eine Zauberin der Aretusa-Akademie hat recht viel darüber verfasst. Jedenfalls… habe ich viel gelesen und nachgeforscht, habe versucht herauszufinden, wo genau der Haken bezüglich weiblicher Hexer ist und-”, weiter kam Anna nicht, denn Rist fragte dreist dazwischen. “Was passiert denn mit Frauen, die versuchen die Kräuterprobe zu durchlaufen?”, wollte er wissen. “Uhm.”, die Nordländerin räusperte sich und wurde kleinlaut “Sie sterben. Ihre Organismen halten die Prozedur nicht aus.” “Bitte, WAS?” “Ich sagte ja: Das Ganze ist nicht so einfach.”, stöhnte die Kurzhaarige hervor. “Und du willst diese Formel hernehmen, verändern und an dir ausprobieren? Oder wie? Wie an einem Versuchskaninchen?”, Hjaldrist wirkte nicht sonderlich begeistert, im Gegenteil. In gewissem Maß bereute Anna es in diesem Augenblick schon, dass sie ihren Kollegen in ihre halsbrecherischen Pläne eingeweiht hatte. “Ja, auf kurz oder lang will ich das machen.”, murmelte die burschikose Frau und erntete äußerst kritische Blicke dafür. Rist beugte sich etwas vor, sah die hadernde Novigraderin todernst an. Die Kriegerin riss sich am Riemen, um nicht ein Stück weit zurückzuweichen, blieb standhaft und sah ihren Freund aus Skellige stur an. Sie versuchte so entschlossen und selbstsicher auszusehen, als möglich. Was schwer war, denn sie wusste in der Tat über die Risiken der Kräuterprobe Bescheid. Doch diese Gefahren waren ein hohes Risiko, das sie hinnahm. Schmerzen oder körperliche Veränderungen waren der Preis, den sie zu zahlen bereit war. Niemand könnte dies ändern oder sie von ihrem prekären Vorhaben abbringen. Niemand. “Mach dir keinen Kopf, Rist. Es wird gut gehen.”, versicherte Anna noch, bevor der Angesprochene protestieren konnte. In gewisser Weise war es ja wirklich lieb von ihm nun so finster und kritisch zu starren. Dass er es tat hieß nämlich, dass er sich sorgte und seine Freundin sehr mochte. Er wollte nicht, dass ihr etwas zustieß oder sie gar starb. Die Monsterjägerin musste lächeln. “Pah.”, machte Rist, doch sein Ton war nachgiebig “Ich dachte mir damals, als du mir mit den vier Gabelschwänzen ankamst, ja schon, dass dich deine Sturheit irgendwann ins Grab bringen wird.” “Wir haben die Viecher besiegt und dabei ganz schön viel Geld und Ruhm eingeheimst!”, fügte Anna gleich verteidigend hinzu und ihr Gegenüber schnaufte, verschränkte die Arme vor der Brust. “Wohl wahr.”, sagte er. “Also vertrau mir einfach. Ich werde jemanden finden, der mir mit der Kräuterprobe weiterhelfen kann und wenn du willst, kannst du mich dann ja dabei unterstützen damit klar zu kommen.”, entkam es der Kurzhaarigen und sie sah wie Hjaldrist die Stirn abermals in Falten legte. Er wirkte nicht überzeugt und das, wiederum, führte dazu, dass sich Anna etwas dämlich vorkam. Ein dümmliches Grinsen und ein Kratzen des Hinterkopfes seitens der ambitionierten Möchtegern-Hexerin waren Resultate von letzterem, genauso wie ein trockenes Schlucken und ein sehr, sehr flaues Gefühl in der Magengegend. “Ich soll dann also versuchen dich wiederzubeleben, wenn du wegen deinem Kräuterkram aus den Latschen kippst und dir der Schaum vorm Mund steht.”, stellte Hjaldrist plump fest und traf damit den Nagel auf den Kopf. Und ganz ehrlich? Tatsächlich erhoffte sich Anna dies insgeheim, wusste aber auch, dass sie es nicht überheblich einfordern könnte. Denn es ging hier um sehr viel Verantwortung. Ja, was, wenn sie irgendwann wirklich damit anfangen würde zu experimentieren und wild zusammen gepanschte Absude zu trinken, in der Hoffnung eine Hexerin zu werden? Was, wenn sie dann kollabierte oder sonst was geschah? Rist, wäre er dann überhaupt noch bei ihr, wäre für sie verantwortlich, wie eine Mutter für ihr kleines, wehrloses Kind. Wie ein Heiler für seine kranken Patienten. “Ja… das könntest du...”, sagte Anna betont langsam, denn herausreden könnte sie sich nicht mehr, und sah den abschätzigen Undviker dabei ziemlich kleinmütig an. Es wurde still in der kleinen Höhle und man hörte nur noch, wie Lin im Hintergrund mit einem Stock am dreckigen Boden herum schabte. Das Plätschern des kalten Regens begleitete dieses Kratzen, doch ansonsten war es ruhig. Die Anspannung, die sich in die klamme Atmosphäre mischte, war kaum auszuhalten. Anna wurde nervös, ihre Hände feucht. Und sie wusste nicht warum, aber sie bekam ein wenig Angst. Angst davor, dass Hjaldrist ihr nun sagen würde, dass sie sich zum Teufel scheren solle mit ihrer Kräuterprobe. Dass er seiner Wege gehen würde, weil er keine Lust darauf hatte bei wahnwitzigen und lebensgefährlichen Experimenten mitzuwirken. Anna wollte nicht wieder allein sein. Betreten und sich die Hände nervös knetend wartete sie ab und brachte es kaum zustande ihren Begleiter geradeaus anzusehen. Erst nach vielen, zu lang erscheinenden Momenten sah die betreten abwartende Novigraderin, wie sich der Skelliger die trocken gewordenen Lippen beiläufig mit der Zunge befeuchtete und Luft holte. Und während er das tat, vergaß Anna im Gegenzug darauf zu atmen. “Du willst doch nur, dass ich dich küsse.”, brummelte der Mann nun und der armen Kriegerin blieb das Herz beinah stehen. Als sie aber realisierte, was Hjaldrist da gerade von sich gegeben hatte - eine dämliche, wie gewohnt feixende und etwas zynische Anspielung auf Mund-zu-Mund-Beatmung beim Wiederbeleben - fand sie wieder Luft zum Atmen und ihre so unruhige Miene rutschte in eine amüsiert-angewiderte Richtung. Mit einem Schlag lockerte sich ungute Stimmung in der kleinen Waldhöhle wieder, wurde angenehmer und leichter. So, wie sie es zwischen Freunden auch sein sollte. “Pah.”, machte Anna abfällig, um die Sache mit dem Küssen nicht kommentarlos auf sich sitzen zu lassen. Und dann, als sie den Gesichtsausdruck ihres schief lächelnden Kumpels sah, fühlte sie tiefe Erleichterung. Denn sie hatte jetzt das Gefühl, dass Hjaldrist ihr weiterhin helfen würde. So oder so. * Gedyneith hatte keine Taverne. “Oh nein…”, jammerte Anna, als sie mit Kurt am Zügel die weitläufige Gegend betrat, die recht hügelig war. Dies war nicht ungewöhnliche für Skellige, doch was ihr auffiel war, dass diese besagten Hügel teils bewohnt wirkten. Also nicht so, dass jemand sein Zelt DARAUF aufgeschlagen hatte, nein. Es mutete an, als wohnten Menschen IN den Hügeln. In Höhlen, die in eben jene geschlagen worden waren. Gleich die erste Anhöhe, die sie sah, verfügte an der steilen Vorderseite über eine kleine, schiefe Holztür, die von zwei Blumentöpfen gesäumt war, aus denen verdorrte Stängel ragten. Auf dem größten der kleinen, verschneiten Berge hier wuchs ein massiver Baum, der bestimmt Jahrhunderte alt sein musste. Wie ein riesiger Wächter, der seine dicken Arme nach allen Seiten ausstreckte, ragte er über den Ort, in dem Feuerschalen und Bänke standen und aus dem auch hier und da eine Stimme an die Ohren der Reisenden drang. Aber es gab kein Gasthaus. Außer, man hatte eines in einen der blöden Hügel gegraben, doch das bezweifelte Anna stark. Dabei hatte sie sich schon so auf ein deftiges Essen und etwas Umtrunk gefreut. Dennoch verdunkelte sich ihre Miene nicht lange. Denn von Weitem erkannte sie bereits eine Gestalt, die durch Gedyneith wanderte: Einen gebückten Mann mit einem langen, weißen Rauschebart und einem seltsamen Hut am Kopf, der mit den Flügeln irgendeines braun melierten Vogels geschmückt war. Der offensichtliche Druide stützte sich auf einen knorrigen Holzstab und trug eine alte, verwaschene Robe, die reich mit Knotenornamenten bestickt war. Und als Hjaldrist und Anna langsam näherkamen, blieb er stehen, sah fragend auf. Eines seiner Augen war milchig-weiß, vermutlich blind. Der Alte hatte tiefe Lachfalten im runzligen Gesicht und betrachtete die Neuankömmlinge abwartend. Die anwesende Novigraderin drückte ihrem Freund die Zügel von Kurt energisch in die Hand. “Hallo!”, Anna beschleunigte ihren Schritt jetzt, als sie rief, und winkte dem Druiden zu. Jener blieb weiterhin stehen und wartete geduldig ab. Erst, als die Frau bei ihm angekommen war, nickte er zum Gruße. “Einen schönen Tag wünsche ich, Töchterchen.”, sagte der Fremde mit dem Stock. Er lächelte warmherzig und man sah dabei, dass einer seiner schiefen Eckzähne fehlte. Seine Stimme war rau und klang besonnen. “Guten Tag.”, begrüßte der Mistelschneider dann auch Rist, als jener mit den zwei Pferden an den Zügeln daherkam. Lin war nirgendwo zu sehen, doch er war in der Nähe und hielt sich versteckt. Der Göttling wollte nicht von den Bewohnern Gedyneiths gesehen werden, hatte dies vor weniger Zeit klar gemacht. “Kann ich etwas für euch tun?”, wollte der Druide wissen und sofort rückte Anna mit der Sprache heraus. Sie hatte zu mühsam gesucht und war zu lang herumgereist, als dass sie nun um den heißen Brei herum reden wollte. “Ich suche jemanden, der sich mit der Kräuterprobe auskennt.”, meinte sie aufgeregt und trat von einem Bein nervös auf das andere. Hjaldrist sah sie von der Seite aus ganz eigenartig an. “Hmmm…”, machte der bucklige Druide nachdenklich und stützte sich schwer auf seinen mannshohen Spazierstab, an dem ein paar klappernde Holzperlen und Federn baumelten. Mit der freien Hand fuhr er sich bedächtig durch den langen, silbergrauen Bart und musterte erst die jüngere Frau vor sich, dann den dunkelhaarigen Mann mit den hübschen Zügen. Er hob die buschigen Brauen etwas, fing wieder damit an zu lächeln und Anna sah dies schon als Bestätigung. Vorfreudig wartete sie ab, als der Alte langsam und grüblerisch nickte. “Ja… mh...”, machte er, strich sich wieder durch die dichte Gesichtsbehaarung. “Töchterchen, ich habe noch nie von solch einer Probe gehört.”, sagte der Trankmischer dann auf einmal freundlich und mit ungebrochener Ruhe im Blick. Anna stutzte heftig. Auch Hjaldrist verzog irritiert das Gesicht. Es stellte sich am Ende heraus, dass kein Druide Gedyneiths etwas über die Kräuterprobe wusste. Manche von ihnen hatten einmal am Rande etwas davon gehört, ja, auch unter anderen Namen, doch das war es auch schon. Einer der Alchemisten, ein sehr verwirrter, hatte Anna weismachen wollen, dass zwei Schlucke von Weißer Möwe aus jedem einen Hexer machten. Ein anderer Kerl hatte die hoffnungsvolle Frau und ihr Anhängsel aus Undvik fortscheuchen wollen, weil sie so neugierig und hartnäckig nachgefragt hatten. Mit dem schiefen Stab hatte er nach den Jüngeren geschlagen und gemeint, dass sie sich doch nach Mörhogg scheren sollten. Ein Bekannter dieses aufbrausenden Arschlochs hatte sich schnell dafür entschuldigt. Im Großen und Ganzen war die Aktion sich von Lin zu den Druiden führen zu lassen, also vergebliche Müh gewesen. Ein völliger Reinfall, wie immer. Und die ratlose Anna, die wusste nicht mehr weiter. Seit sehr langer Zeit hatte sie sogar einmal wieder geheult, wie ein Schlosshund und das hieß schon was. Normalerweise flennte die sture Kriegerin aus Kaer Morhen sehr selten, aber vorhin hatte sie erbärmlichst jammernd in den Armen Rists gehangen. Sie wüsste ja nicht was machen und sei so dumm. Sie habe keine Ahnung, wo sie noch hin sollte, wo sie, verdammt nochmal, weitersuchen könnte. Sie sei ja in so großer Hoffnung nach Skellige gereist und das auch noch auf solch einem verkackten, schaukelnden Scheißschiff. Und sie hasse ihr Leben. Hjaldrist hatte Anna derweil nur unbeholfen den Rücken oder den Kopf getätschelt und kaum etwas gesagt. Was hätte er auch murmeln sollen? Er hatte ja auch erst vor Kurzem erfahren welchen Plänen Anna nacheiferte und hatte selbst keine Ahnung von Hexerdingen. Also hatte er nur da gesessen und die starke Schulter zum Ausweinen gespielt. Es hatte geholfen. Denn nun saß die geknickte Novigraderin mit den leicht geröteten Augen schon wieder recht gefasst da und kaute lustlos auf einem Brot herum, das dick mit Butter und Honig bestrichen war. Der bucklige Druide, den sie beim Eintreffen in Gedyneith getroffen hatten, der alte Nielson mit dem blinden Auge, hatte sie zu sich nach Hause eingeladen. Dies damit sie die ungnädige Winternacht unter einem Dach und in der Wärme verbringen konnten. Er war zwar ein quälend langsamer, doch liebevoller Mann, der eine immense innere Ruhe ausstrahlte. Soeben legte er in seinem alten, knarrenden Ofen ein paar trockene Holzscheite nach. Der Bärtige hatte den viel jüngeren Besuchern zu essen aufgetischt, Tee gekocht und ihnen angeboten auf ein paar Fellen auf seinem Boden zu schlafen, denn Gästezimmer gab es in Druidenhöhlen nicht. Jene bestand nämlich aus einem einzigen Raum, in dem alles Nötige stand. Nielson’s Heim war demnach sehr sporadisch eingerichtet, doch nicht ungemütlich. Es war jedenfalls besser als eine weitere Nacht unter dem freien, verregneten Himmel. Ein Seufzen verließ Anna’s kratzende Kehle; es war das gefühlt zwanzigste innerhalb der letzten halben Stunde. Im rostigen Ofen knisterte das wärmende Feuer und man hörte, wie der Regen auf den Boden vor der Druidenhöhle prasselte. Nielson kam zu der stummen Nordländerin und ihrem Kollegen an den Tisch, setzte sich ächzend dazu und schenkte jedem etwas von seinem dunklen Tee nach. Ohne zu fragen löffelte er dann noch ein paar Löffel Zucker in jede Tasse, zog ein kleines Fläschchen hervor, dessen Inhalt stark nach Selbstgebranntem roch, und gab davon jedem noch einen kräftigen Schluck in das warme, süß duftende Getränk. “Mein Großvater Sondre pflegte immer zu sagen…”, fing der bedächtige Alte an “Dass Alkohol konserviert. Wenn man bedenkt, wie alt ich nun schon bin, hatte er wohl recht. Möge er in Frieden ruhen.” Hjaldrist musste verhalten grinsen und fasste nach seiner Tasse, um mit einem Holzlöffelchen darin herum zu rühren. Doch Anna verzog die Miene kaum. Schnöde Welt. “Mädchen, sei doch nicht so traurig.”, meinte der herzliche Druide daher liebenswürdig und schob ihr ihre gut gefüllte Teetasse wohlwollend zu. Das Aroma nach Schwarztee mit Zucker und starkem Alkohol stieg der Kurzhaarigen wohlig in die Nase. “Ich bin mir sicher, dass du finden wirst, was du suchst…”, versicherte der Mann lieb “Das tut man immer, wenn man nur hartnäckig genug darauf besteht.”. Rist nickte schwach und zustimmend, war sicherlich froh über die moralische Unterstützung durch Nielson und sah von der Seite aus zu seiner niedergeschlagenen Freundin in der rot-schwarz gestreiften Jacke hin. “Ja, mach doch nicht so ein langes Gesicht, Anna. Wir fragen einfach anderswo.”, schlug er erstaunlich zuversichtlich und locker vor. “Und wo?”, murmelte die Novigraderin und sah nicht von ihrem unangerührten Honigbrot auf, das vor ihr auf einem Holzteller lag. “...Ich hätte eine Idee.”, gab der Krieger zu und nach dieser Aussage hob Anna den Kopf, um ihn Hjaldrist sofort fragend zuzuwenden. “Welche Idee?”, wollte sie wissen und wirkte um einen Deut wacher, jedoch noch nicht überzeugt. “Es kann sein, dass ich da wen kenne.”, sagte der Skelliger hintergründig und sah die Monsterjägerin aufmunternd an. Irgendetwas in seinem Blick sprach aber gleichzeitig dafür, dass es ihm schwer fiel von diesem ‘Bekannten’ zu sprechen. “Wen?”, hakte die Hexerstochter mit der trüben Miene nach. “Ähm, ich kenne da noch einen Druiden nahe Hindarsfjall. Er ist ein ziemlich ‘eigener’ Eremit, doch er wird mit uns sprechen.”, versicherte Hjaldrist wohlwollend und rang sich zu einem Lächeln durch, das Anna mit einem unschlüssigen Blick quittierte. Ihre schmalen Schultern waren ein Stück weit gesunken, doch sie nickte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer war immerhin besser, als gar keiner. “Hier.”, Hjaldrist warf Anna am übernächsten Morgen eine etwas fleckige Pergamentrolle zu. Überrascht fing die Frau jene auf und sah fragend drein. “Was ist das?”, wollte sie wissen und linste über das alte Papier zu ihrem Freund hin. Der Skelliger faltete gerade seine dicke Baumwolldecke zusammen, um sie daraufhin zusammen zu rollen und an seinem Rucksack zu befestigen. Sie beide hatten zwei Nächte in Gedyneith verbracht, bei relativ gutem Essen und unterhaltsamer Gesellschaft durch den alten Nielson und dessen besten Freund, einem weiteren Druiden namens Pak. Eigentlich hatten sie nicht so lange bleiben wollen, doch nachdem sie sich nicht so gut und schnell erholt hatten, wie erhofft, hatten sie sich dazu entschieden noch etwas länger im verschlafenen Druidenhain zu bleiben. Es war eine gute Entscheidung gewesen und schlussendlich hatten sie es ja nicht eilig. “Eine Karte. Ich habe sie gestern von Nielson’s Kumpel bekommen. Er kartographiert Vorkommen von irgendwelchen magischen Orten auf Skellige oder so ähnlich.”, erläuterte Rist, der am Boden hockend aufsah und sich dann daran machte den Ledergurt festzuzurren, der seine Decke an seinem gut gefüllten Gepäckstück hielt. Anna machte große Augen, senkte jene dann aber schnell auf die Papierrolle in ihren Händen und entfaltete sie. Ihr Blick fiel auf eine detailreiche Zeichnung der Skellige-Inseln. Noch nie hatte sie sich das Inselarchipel in einem Atlas angesehen und ehrlich gesagt hatte sie daher auch keine so richtig geografische Ahnung über die Landschaft hier gehabt. Nur eine ungefähre. Wenn sie bisher gereist war, dann nämlich durch das Mitfahren auf Bauernkarren und Händlerwägen. Sie hatte sich durchgefragt, nach Wegweisern Ausschau gehalten. Und in den Nördlichen Königreichen hatte dies auch gut geklappt. Dort war die Gegend schließlich weniger verwildert und auch flach, überschaubarer. Skellige, das war dahingehend ein ganz anderes Kapitel, verwinkelt, bergig und mit sehr viel Wildnis zwischen den kleinen Örtchen. “Da, rechts drüben, ist Hindarsfjall.”, murmelte die Frau mehr zu sich selbst, als sie sich die schöne Karte vor die Nase hielt und die peniblen Beschriftungen darauf musterte, die mit schöner, geschwungener Handschrift und schwarzer Tinte angebracht worden waren. “Und wo ist…”, wisperte die Kriegerin weiter “Gedyneith. Ah, da… oh je…” Ja, oh je. Denn um nach Hindarsfjall zu kommen müsste man über das Meer. Anna hasste das Wasser abgrundtief. Sie hatte ja gehofft ihr neues Ziel sei irgendeine Stadt auf der großen Hauptinsel aber dem war nicht so. Hindarsfjall war eine kleine, eigene Insel. Mist. “Rist, wie weit ist es von hier bis zum Meer? Wir werden ein Boot brauchen.”, die laienhafte Trankmischerin schielte noch einmal prüfend auf die Karte. “Hm…”, brummte der anwesende Skelliger nachdenklich. Sie beide waren hier, in Nielson’s Höhle, allein. Der Alte war früh losgegangen, um irgendwelche magisch geladenen Nordlichter zu sehen. Oder so ähnlich. War ja auch egal. “Hm, fünf Meilen, schätze ich. Kaer Trolde und Kaer Muire sind zusammen an die 40 Meilen breit und 45 lang.”, schätzte der kundige Landsmann und erhob sich, nachdem er all sein Zeug in seinem großen Rucksack verstaut hatte. Er selbst trug bereits seine volle Montur und war daher reisebereit. Auch Anna müsste sich nurmehr das lederne Schwertgehänge umschnallen. “Also brauchen wir bis zum Meer keinen Tag?”, wollte sie verunsichert wissen und ließ die Karte in ihren Händen sinken. “Ja. Sollten wir nicht wieder in irgendein Fettnäpfchen treten, dann sollten wir bald dort sein. Und dann suchen wir uns eine Möglichkeit nach Hindarsfjall überzusetzen.”, meinte Hjaldrist und kam näher, nahm die Landkarte der Inseln wieder an sich, um selbst einen guten Blick darauf zu werfen. “Siehst du die kleinen Inseln da? Im Norden der großen? Da müssen wir hin.”, erklärte Rist und deutete auf zwei längliche Inselchen, die sich geografisch über der Hauptinsel Hindarsfjalls befanden. Weit weg vom größten Dorf Larvik und vermutlich auch entfernt von jeglicher Zivilisation lagen sie. “Ich schätze, in zwei Tagen sind wir an unserem Ziel. Also solange wir nahe dem Walfriedhof jemanden finden, der uns auf seinem Boot überschiffen kann, eben. Schwimmen ist ja mal keine Option.” “Gut, das kann ich nämlich nicht.”, schnaubte Anna mürrisch. “Wie? Du kannst nicht schwimmen?”, als er dies fragte, sah der Käferschubser ein wenig perplex von seiner neuen Karte auf, die ihm Pak für ein paar Kupfermünzen vermacht hatte. Die Novigraderin nickte und schien sich nicht besonders dafür zu schämen, dass sie in Wasser unterging wie ein Stein. Mittlerweile stand sie eben dazu. “Nein, kann ich nicht.”, sagte die geständige Frau und schmunzelte ein wenig verlegen. “Man wollte es mir früher einmal beibringen. Aber nachdem mich Onkel Vadim damals einfach so in den Fluss nahe Kaer Morhen geworfen hat, weil er dachte, man bringe Kindern genau so das Schwimmen bei, habe ich mich später mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Ich bin nämlich fast ersoffen. Du hättest Balthar sehen sollen, als er das erfahren hat…”, lachte Anna leise. Rist schüttelte daraufhin ungläubig grinsend den Kopf, wurde aber schnell wieder etwas ernster. “Das erklärt wohl auch, warum du immer so über Schiffsreisen schimpfst. Tse. Du solltest Schwimmen lernen, Anna.”, riet er. “Ach, ich gehe einfach nicht ohne Boot zu tief in irgendwelche Gewässer.”, konterte die Schwertkämpferin, doch sie hatte die vage Befürchtung, dass ihr zäher Kumpel diese Antwort nicht akzeptieren würde. Früher oder später würde er die arme Nichtschwimmerin sicherlich in irgendeinen See tunken und sie darüber belehren, wie das mit dem Kraulen und Tauchen funktionierte. “Und was, wenn das besagte Boot kentert?”, wollte Rist hartnäckig wissen und stemmte sich eine Hand in die Seite. Sein Blick war wissend, ein klein wenig überlegen. Denn im Grunde argumentierte er einmal wieder gut und hatte vermutlich auch Recht. Doch Anna hatte trotzdem kein sonderlich großes Verlangen danach ins kalte Meer zu springen. Dass sie als Siebenjährige beinah ertrunken wäre, steckte ihr noch immer tief im Hinterkopf und hinderte sie bis heute daran weiter als bis zu den Knien ins Wasser zu gehen. Sie wollte es nicht noch einmal durchleben müssen so viel davon zu schlucken, dass man sich übergeben musste, oder das Mistzeug in die Lungen zu bekommen und sich die Seele aus dem armen Leib zu husten. Was das anging war sie aus guten Gründen ein Angsthase. Anna verzog die Mundwinkel mit abfälliger Miene und wandte sich, um zu ihrer Ausrüstung zu gehen, die sich unweit auf einem der alten Eichenholz-Stühle befand. Ihr Rucksack stand auf dessen Sitzfläche, ihr Schwertgurt hing über der schiefen Lehne. Sie fasste nach letzterem und warf dabei einen prüfenden Blick auf Schnalle und Eisennieten. “Hier in Skellige wird einem das Schwimmen schon im Kleinkindalter beigebracht.”, erzählte Rist währenddessen weiter und wollte das Thema, das Anna so sehr nervte, nicht ruhen lassen. Denn in seinen Augen erschien es wohl als besonders wichtig. Gerade hier, im Westen. “Ihr wachst ja auch alle am Meer auf. Das gab es da, wo ich lebte, nicht.”, entgegnete Anna, als sie sich ihre Waffen umschnallte und den Rucksack schulterte. Damit war das Thema 'Schwimmen' für sie gegessen. “Gehen wir?” Kapitel 9: Neue Ziele und der Weg zum Meer ------------------------------------------ Es gab einen Weg, der bis zum Walfriedhof führte, an dem sich die beiden Abenteurer die Möglichkeit ein Boot zu finden erhofften. Dieser besagte Weg war schmal und mehr ein Trampelpfad, als eine richtige Straße. Er führte fort von Gedyneith, gen Norden, und würde, wenn man nach Rist’s neuer, handgezeichneter Karte ging, bald eine Kehre gen Osten machen. An diesem Punkt hätten es Anna und ihr Begleiter dann nicht mehr allzu weit. “Die Walfänger werfen die Überbleibsel ihrer Beute dorthin. Sie verkaufen und verarbeiten nur das Fleisch und den Tran der Wale, manchmal vielleicht Innereien oder dergleichen. Aber für die Knochen haben sie keine Verwendung. Jedenfalls nicht für so viele und große.”, erklärte Hjaldrist, der vor Anna her ritt. Der matschige Weg war zu schmal, als dass man seine Pferde nebeneinander gehen lassen könnte. Aufmerksam sah die Novigraderin dem Rücken ihres gesprächigen Freundes entgegen. Der Morgen hatte längst gegraut und sie waren nun schon wieder seit zwei Stunden unterwegs. Die Sonne stand noch relativ tief und ihre schwachen Strahlen bahnten sich ihren Weg nur mühsam durch den Hochnebel hindurch, der über Skellige hing, wie ein trostloser Vorhang. Es war ekelhaft klamm. “Darum heißt der Ort auch Walfriedhof, musst du wissen...”, meinte Rist weiter. “Begräbt man Leute hier, auf den Inseln, auch?”, fragte Anna in dem Zuge nach, denn sie hatte gehört, dass Beisetzungen nicht überall genauso abliefen, wie in den Nördlichen Königreichen. In Serrikanien, ganz weit im Osten, gab es zum Beispiel sogenannte Himmelsbestattungen: Man brachte die Toten auf einen Berg und überließ sie dort den Vögeln. Jedenfalls glaubte die Frau dies einmal irgendwo gelesen zu haben. Anna ließ die Zügel von Kurt etwas locker. Der braune Wallach ging brav hinter Apfelstrudel her. Dies mit etwas gesenktem Kopf und gewohnt lethargisch. “Helden und Könige werden im Norden verbrannt, anstatt in die Erde gebettet zu werden. Ich selber würde es ja auch vorziehen zu Asche verarbeitet zu werden, wenn ich mal tot bin. Ich habe nämlich keine Lust darauf von den Würmern oder Ghulen gefressen zu werden.”, schmunzelte die Hexerstochter noch. “Hm ja. Hier in Skellige sind neben dem klassischen Verbrennen auch Seebestattungen üblich. Jedenfalls für Anführer und Helden.”, erzählte Hjaldrist. Er sah über seine Schulter zu seiner Freundin zurück, hatte die Zügel in der einen Hand und fuhr sich mit der anderen über das Kinn. “Wohlhabende Leute, die mehrere Boote besitzen, baren ihre Toten auf einem solchen auf und übergeben die Leiche dem Meer. Also bis das besagte Boot von einem Feuerpfeil in Brand gesteckt wird, versteht sich.”, sagte der heute sehr redselige Krieger und wandte sich wieder ab, um nach vorn zu sehen. Der Wald war hier noch etwas dichter, trotz der im Winter fehlenden Blätter. Man musste beim Reiten aufpassen keinen kahlen Ast gegen den Schädel zu bekommen oder das Pferd vom Weg abkommen zu lassen. “Huh…”, machte Anna unschlüssig darüber, was sie von den skellischen Seebestattungen halten sollte. Man schiffte Tote also aufs Meer und verbrannte sie dann dort? Warum zündete man sie nicht gleich zu Land an? “Die Asche des Toten mischt sich in das Meer und man sagt, dass die Seele des Verstorbenen über das Wasser zu den Ahnen geleitet wird.”, sagte Rist, als hätte er Anna’s Gedanken gelesen. Überrascht sah sie auf, doch dann musste sie abschätzig lachen. “Aha. Also das wäre ja nichts für mich… aber ich bin ja auch kein Jarl.”, meinte sie und sah nicht, wie auch der Käferschubser in sich rein grinste. Denn er ritt schließlich nach wie vor weiter vorne. “Unsere Tradition gibt Trauernden auch die Möglichkeit sich den Toten bei dieser Reise anzuschließen.”, fügte der Skelliger wissend hinzu. “Wie?” “Jedem steht es offen zu einem Verstorbenen auf das Totenboot zu gehen und zusammen mit ihm zu den Ahnen zu gehen, wenn du verstehst, was ich meine.”, erklärte der Mann und lenkte Apfelstrudel um einen dicken Baumstamm herum, der quer über dem Waldweg lag. Das starrsinnige Pferd gab sich dabei weniger widerspenstig, als sonst. “Ernsthaft?”, keuchte Anna “WER tut denn sowas?” “Naja… nicht wenige, um ehrlich zu sein: Liebende, die sich ein einsames Leben ohne ihren Partner nicht vorstellen können, alte Eheleute oder sogar Kinder, die sich sehr stark mit ihren verstorbenen Eltern verbunden fühlten. Die Gründe sind vielzählig.”, sinnierte Hjaldrist weiter, als sei all das völlig gewöhnlich. Und das war es für ihn sicherlich auch. Er kam ja von hier. “Mh.”, machte Anna und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Sie öffnete die trockenen Lippen hinter dem wärmenden Schal erst ein paar Wimpernschläge später wieder: “Würdest du auch auf einem Boot verbrannt werden wollen, wenn du mal tot bist, Rist? Also rein theoretisch. Denn du bist ja kein Held. Also NOCH nicht.”, fragte sie den Krieger, der gemächlich vor ihr her ritt, neugierig und sie schmunzelte, als sie den Punkt mit dem Heldentum ansprach. Sie hörte Hjaldrist lachen. “Wenn mich bis dahin kein Monster, gegen das du mich in den Kampf geschickt hast, aufgefressen und wieder ausgeschissen hat, dann ja.”, kommentierte er feixend “Dann will ich auf einem Boot verbrannt werden, wie ein Jarl.” “Hm?”, machte Anna irritiert “Monster, gegen die ICH dich geschickt habe?” “Aard. Schon vergessen?”, hörte man den Mann locker sagen und er erinnerte die Nordländerin damit daran, dass er ihr versprochen hatte als ‘Aard aus Fleisch und Blut’, mit Axt und Schild, voran zu stürmen, wenn Anna schrie. Eine Vorstellung, die die Kurzhaarige wieder dazu verlockte amüsiert und schief zu lächeln. “Ach ja.”, antwortete sie gespielt grüblerisch und verheißungsvoll “Das skellische Aard…” “Man könnte auch ‘Aard Skellig’ sagen.”, fügte Hjaldrist an und löste damit eine prompte, betretene Stille aus. “Das war ein Wortwitz.”, schnaubte er auf dieses ungläubige Schweigen hin überflüssigerweise und warf Anna einen erneuten Schulterblick zu. Die Frau lachte knapp und dann schwiegen sie wieder eine Weile. “Hast du eigentlich Lin gesehen?”, fragte Anna nach einiger Zeit des stummen Reitens. Der Waldweg vor ihnen war nach wie vor schmal, doch die Vegetation ringsum hatte sich langsam aber sicher gelichtet. So konnte man endlich nebeneinander her traben, ohne darauf vorbereitet sein zu müssen irgendwelchem Geäst auszuweichen, das einem die Wangen zerkratzte. Das zwar so eng, dass man sich dabei beinah mit den Steigbügeln berührte, doch es war besser, als permanent im Gänsemarsch zu reisen. Anna sah ihrem Begleiter lieber ins Gesicht, wenn sie mit jenem sprach, anstatt dessen Pferd auf den Arsch zu glotzen. “Nein…”, entgegnete der Skelliger, doch schien sich keine großen Sorgen um den Göttling zu machen. “Ich dachte mir ja schon, dass er nicht mit nach Serrikanien gehen würde.”, lachte Anna in sich rein und fing sich dafür einen belustigten Blick seitens Rist ein. “Göttlinge sind wohl wankelmütig… so wie Kinder eben. Wahrscheinlich hat er irgendetwas gefunden, das ihn mehr interessiert, als wir.”, schätzte die kurzhaarige Kriegerin noch und zuckte leicht mit den Schultern. “Vielleicht klebt er nun ja irgendeinem der Druiden an den Fersen.”, gluckste Hjaldrist halbernst. “Meinst du? Oh je…”, gab Anna ebenso schmunzelnd zurück “Aber wie auch immer… du wolltest mir vorhin von dem Walfriedhof erzählen, bevor wir zu Toten und lebenslustigen Aards gekommen sind. Schon vergessen?” Der Mann mit den feinen Zügen hielt auf diese Erinnerung hin inne und hob die Brauen unter seiner gefütterten Kapuze. Tatsächlich schien er es selbst komplett vergessen zu haben, dass er beim früheren Gespräch noch nicht zu Ende gekommen war. Und was war schuld daran? Flache Wortwitze. “Richtig.”, entkam es dem Reiter langsam und er nickte. “Du hast gesagt, dass die Walfänger die Knochen der Tiere dorthin werfen.”, wiederholte Anna das Gesagte ihres Kollegen, wie eine stolze Schülerin, die vor ihrem Lehrer ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagte, und sah jenen daraufhin erwartungsvoll an. Sie mochte Geschichten über andere Kulturen und Gebräuche sehr. Hjaldrist zuzuhören war also ein guter, interessanter Zeitvertreib. “Ja genau. Und die Dörfler kommen dann zu dem Walfriedhof, um sich Knochenteile zu holen. Manchmal ziehen ganze Familien los, um große Rippen zu tragen.”, meinte der Käferschubser und erklärte dies auch gleich. “Die Knochen werden für den Hausbau verwendet, für Hütten. Man kann jene nämlich nicht nur aus Holz zimmern.”, sagte der Sachkundige und lächelte leicht. Wale und Hausbau? Faszinierend, irgendwie. “Man baut aus Knochen Hütten?”, ganz klar war das Bild, das die fantasievolle Anna dazu vor ihrem geistigen Auge sah, ein anderes, als das in der Realität. In ihrem Kopftheater, da bestanden ganze, fantastische Häuser aus makaber zusammen genagelten, grauen Riesenknochen. Mit Türrahmen aus weißem Gebein und Tischen aus Walwirbeln. Doch dem war in der Wirklichkeit nicht so. “Ja, mehr oder weniger. Man kann sie als Trägerbalken oder für Dachstühle verwenden. Wenn man sie zurechtsägt, dann sehen sie nicht viel anders aus, als Bretter. Nur heller. Und ein weiterer Unterschied ist auch, dass sie nicht so schnell abbrennen, wie Holz.”, entkam es dem Undviker belehrend und von der Seite aus sah er zu seiner Freundin hin, deren Miene sich in vager Erkenntnis lockerte. “Ah…”, machte sie. Das morbide Knochenhaus in ihrem Schädel war mit einem Mal zerschlagen worden. War wohl gut so. “Die Taverne in Blandare hatte übrigens ein Gebälk aus Walknochen.”, grinste der Krieger jetzt und sah Anna abwartend an. Der Gesichtsausdruck der Kurzhaarigen lichtete sich weiter, wurde überrascht und einen Deut verdattert. “Oh.” “Ja… siehst du? Walknochen sind hier ein ganz normaler Baustoff. Und aus den kleinen Knochenteilen kann man Schmuck oder Speerspitzen schnitzen. Du wirst schon sehen, sobald wir da sind.”, meinte Hjaldrist nett und drückte Apfelstrudel die Fersen in die Flanken, als der Gaul schon wieder Anstalten machte wegen einem großen Busch am Wegesrand Halt machen zu wollen. Rist’s Zügelzerren brachte Momente später aber nichts mehr, als Apfelstrudel etwas ganz anderes, als einen etwas zu groß geratenen Dornenbusch sah. Als da nämlich eine kleine Gestalt im Sichtfeld der Reisenden auftauchte, recht hastig und von rechts, scheute das Pferd des unvorbereiteten Skelligers. Rist wurde von dieser plötzlichen, heftigen Reaktion so sehr überrascht, dass er sich beinah nicht im Sattel halten konnte. Apfelstrudel stieg erschrocken und sogar Kurt hob den Kopf nervös und wich leicht tänzelnd ab. Ganz im Gegenzug zu dem völlig aufgebrachten Tier Rists, das mit den Hinterbeinen ausschlug und laut wieherte. Hjaldrist beschwerte sich ebenso energisch, wie sein Tier, zog die ledernen Zügel stramm und versuchte den störrischen Apfelstrudel unter Kontrolle zu bekommen. “Ey!”, blaffte der Mann “Wirst du Ruhe geben!” Der Skelliger zog den Kopf seines Pferdes in eine seitliche Beuge, blieb sattelfest. Und tatsächlich schnaubte der Hellbraune nach wenigen aufregenden Sekunden nur noch hastig und aufgebracht, wehrte sich aber nicht mehr gegen seinen Herrn und trat bloß am Stand von einem Fuß auf den anderen. Aufgescheucht sah auch Anna drein und war froh darüber, dass Rist unbeschadet auf dem Rücken seines ‘Esels’ sitzen geblieben war. Ihr Blick wanderte auf die kleinwüchsige Gestalt weiter vorn. Lin. Der Göttling hob die Hände in einer stummen Geste, als wolle er seine Bekannten unbedingt davon abhalten weiter zu reisen. “Gefahr!”, rief der Kleine mit der hellen Stimme und auch Hjaldrist horchte jetzt auf. “Lin!”, stellte Anna fest und konnte sich eines anschuldigenden Tones nicht erwehren. Der blauhäutige Waldgeist hatte Apfelstrudel ganz schön erschreckt. Das hätte böse ausgehen können! Nicht selten fielen nämlich sogar geübte Ritter von ihren Rössern, brachen sich dabei das Genick oder wurden von den beschlagenen Hufen der angstvollen Viecher zertreten. “Gefahr?”, entkam es Hjaldrist und man sah Lin heftig nicken. Anna machte sich daran von Kurt herunter zu steigen, nahm beide Füße aus den Steigbügeln und schwang einen davon über den Pferdehals, um daraufhin vom breiten Rücken des Tieres zu springen. Balthar hätte sie dafür stets brummig ermahnt und ihr tadelnd den erhobenen Zeigefinger gezeigt. Er habe ihr ja zum tausendsten Mal erklärt, dass man ein Bein im Steigbügel ließ, das zweite hinten über die Lende des Pferdes schwang und so, mit dem Gesicht ZUM Ross, von eben jenem herabstieg. Wie von einer Leiter. Und dass man NICHT von dem Vierbeiner hüpfte, als hätte man auf einer Schaukel gesessen. Denn nahm man beide Stiefel aus den Steigbügeln, gab man die Kontrolle ab und mit Pech rannte der Gaul los, bevor man überhaupt dazu käme dessen Rücken zu verlassen. Es war Anna egal. Denn Balthar war nicht hier und Kurt ein phlegmatisches Tier, das eher den ganzen Tag lang auf einem Fleck stand, anstatt wild herum zu galoppieren. Anna erwischte ihr Reittier am dunklen Zaumzeug und kam damit auf Lin zu, blieb vor dem aufgeregten Göttling stehen und beugte sich ein kleines Stück weit zu jenem hin. “Welche Gefahr, hm?”, wollte sie wissen. Der Kleine fasste nach ihrem weißen Hemdzipfel, zog auffordernd daran und sah bittend zu der Größeren auf. “Da, wo die Knochen sind, sind böse Menschen. Sie haben einen Mann und seine kleine Tochter erstochen.”, erklärte der Waldbewohner furchtsam. “Böse Menschen?” “Ja, sie reden vom Töten und Rauben. Sie sind nicht nett, ganz und gar nicht.”, meinte Lin eindringlich. “Du bist den ganzen Weg vorgelaufen?”, fragte Hjaldrist, der nun ebenso heran ritt und dann von Apfelstrudel herunterkam. Mit dem Gesicht zum Pferd, wie bei einer Leiter. Lin nickte. “Ich dachte mir, ich sehe einmal nach, ob da ein Boot ist. Ihr habt doch gesagt, ihr braucht eines.”, klärte der gewiefte Göttling auf und sah zwischen Anna und Rist hin und her. Dass er das Pferd des letzteren vorhin so erschreckt hatte, schien ihm nicht als Schuld im Nacken zu sitzen. Es war, als sei es ihm nicht bewusst, was er getan hatte. “Und..?”, wollte Hjaldrist wissen, der neben seine Freundin trat und sich eine Hand in die Taille stemmte. Das mit seinem scheuenden Gaul ließ er außen vor, ja, er vergaß es schon wieder. “Da ist ein Boot. Aber es gehört den bösen Männern.”, sagte Lin gleich aufrichtig und sah so ernst drein, wie er es mit seinem kindlichen Äußeren eben konnte. “Verstehe…”, murrte der anwesende Skelliger zögernd und ließ den nachdenklichen Blick wandern, bis jener fest an Anna hängen blieb. Rist starrte eigenartig. Eine stumme Aufforderung schlich sich langsam auf die Züge des Mannes. Die und ein wölfisches Lächeln. Auch seine Kollegin, die zunächst noch irritiert ausgesehen hatte, lächelte auf einmal verschmitzt. Den sie beide waren sich einig: Wer es schaffte vier Gabelschwänze auf einen Schlag zu töten, hätte keine großen Probleme damit sich gegen eine Horde dummer Banditen und Mörder zu erwehren. Knapp eine Stunde später schlug inmitten des Lagers der besagten Banditen eine kleine Bombe ein. Zusammengemischt aus relativ simplen Zutaten wurde die Waffe in der Umgangssprache der Hexer als ‘Serrikanische Sonne’ bezeichnet. Denn das kühl explodierende Gemisch, das hochging, wenn sein Behältnis harte Bekanntschaft mit dem Grund machte und zerbrach, blitzte ordentlich auf und wirkte auf die empfindlichen Augen so, als starre man direkt in die sengende Wüstensonne. Es knallte also, blitzte unerträglich hell. Das Banditenlager war längst in Aufruhr, denn Hjaldrist und Anna waren schon seit einer Weile hier. Es lag Zorn im Blick der besagten, burschikosen Frau und er war nicht unbegründet. Denn sie und Rist hatten die Banditen belauscht, vorhin. Sie hatten ihre Pferde bei Lin im Wald gelassen, hatten sich vorsichtig genähert und sich unweit hinter ein paar Felsen und hohem Gestrüpp versteckt, um sich ein gutes Bild der verzwickten Lage zu machen. Und die beiden Vagabunden hatten mit angehört, was der Anführer der fremden Bande hier gesagt hatte: Dreckig und rau gelacht hatte er, der stinkende Großkotz, und dabei verlautbart, dass man den hiesigen Druiden ans Leder solle. Dass man ‘diese Verrückten abschlachten müsse, denn sie verbreiten Lügen und Angst’ und ‘dass sie ja sicherlich auch irgendwo Weiber hätten, in Gedyneith, die man mal ordentlich durchbumsen könnte. So wie die Schlampen in Lofoten’, dem Dorf, das man im letzten Monat niedergebrannt hatte. Als Anna dies aus dem Mund des widerwärtigen Kerls gehört hatte, hatte sie schon impulsiv loslaufen wollen, um dem Bastard die im Sonnenlicht blitzende Klinge wohin zu stecken. Doch der vernünftigere Rist hatte sie an der gestreiften Jacke zurückgehalten und sie scharf wispernd ermahnt. Sie hatten daraufhin abgewartet. Und sich besprochen. Sie hatten sich darauf geeinigt mit den wüsten Fremden zu reden, wenngleich es auch schwerfiel. Denn es war klüger einen Kampf gegen acht Mann zu verhindern, als sich sofort in das Gefecht gegen sie zu stürzen. Eine lobenswerte Einstellung, die im Endeffekt nicht viel gebracht hatte. Natürlich nicht. Denn nun toste inmitten der großen Walknochen am Sandstrand der gnadenlose Kampf. Die stupiden Banditen hatten partout nicht verhandeln wollen, hatten auf Rist’s diplomatische Worte gespuckt und verlangt dessen wütender Begleiterin einmal in die Bluse linsen zu dürfen. Im weiteren Verlauf hatte Hjaldrist einen ordentlichen Schlag mit einem Knüppel kassiert und Anna einen harten Stoß, der sie hatte stolpern lassen. Das direkt auf den matschigen Boden und neben die halbnackte Leiche eines blonden Mädchens von etwa dreizehn, vierzehn Jahren, war sie gefallen. Es war die Kleine, von der Lin erzählt hatte. Kämpfer fuhren just herum und fassten sich schreiend an die Augen. Geblendet und unfähig die nächsten paar Atemzüge über etwas zu sehen, schwangen sie fahrig die Waffen, taumelten und hoben nach dem Nichts. Und dieses knappe Zeitfenster, diese günstige Gelegenheit, nutzten Anna und Hjaldrist. Mit Kampfschreien auf den Lippen stürzten sie auf die Widersacher los. Dies völlig unbedacht, aufbrausend, laut. Anna’s Stahlschwert nahm einem der Männer das Leben, bevor jener überhaupt realisierte, was geschah. Die Kräuterkundige riss ihr langes Schwert metallen sirrend herum und wehrte einen barschen Schlag ab, stieß mit dem harten Knauf zu und rammte ihn einem der bärtigen Banditen gegen den kahlen Schädel. Hjaldrist, indes, wuchtete sich mit dem Schild voran gegen einen der grollenden Fremden, bugsierte ihn zurück und ließ ihn rücklings taumeln, ehe er jenem mit der Axt den Schädel spaltete. Es mutete vielleicht grausam an, doch was diese rüden Männer in Gedyneith angerichtet hätten, wäre weit schlimmer gewesen. So boshaft, wie das mit dem blonden, toten Mädchen und ihrem ermordeten Vater, der keine zehn Meter entfernt und mit dem starren Gesicht im schäumenden Meerwasser lag. Da war kein Platz mehr zum Verhandeln gewesen, keine Chance darauf, dass die Räuber und Vergewaltiger auf zwei dahergelaufene Jüngere gehört hätten. Die schlecht ausgerüstete Bande, vernarbt, abgebrüht und moralisch verkommen, hatte das hier verdient. Oh ja, und wie! Jedenfalls in den Augen der Monsterjäger, die hier walteten, wie die Richter. Anna hob ruckartig den linken Arm und spürte, wie ihre metallene Armschiene, zu der Rist das Gegenstück trug, einen Eschenknüppel davon abhielt schmerzhaft auf sie nieder zu gehen. Sie ächzte, wankte einen Schritt zur Seite. Sie entspannte und ballte die kalten Finger ihrer Linken wieder, die vom vorangegangenen Hieb nur so kribbelten. Die sture Novigraderin gönnte sich aber keine Pause und schlug mit dem Schwert kraftvoll nach dem mit dem Knüppel, doch jener wich etwas ungeschickt aus und sie verfehlte ihn. Egal. Anna setzte ihm hartnäckig nach und bemerkte im Augenwinkel, wie Hjaldrist soeben die Axt aus der Hand geschlagen wurde. Doch anstatt jener nach zu laufen und sich nach ihr zu bücken, verschwendete er keine Zeit und griff nach seiner großen Armbrust. Es wäre ohnehin müßig gewesen wieder an die wertvolle Waffe zu kommen, denn der Banditenanführer mit den fauligen Zähnen war zu schnell bei ihr gewesen und hatte sie gierig haschend an sich genommen, wie eine Trophäe. Grölend hob er das schöne Stück gerade in die Höhe und wünschte seinen beiden Feinden einen langen und schmerzvollen Tod. Er würde später ‘den noch warmen Leichnam der Ausländerin ficken und dem verschissenen Skelliger den kleinen Schwanz abschneiden’, verkündete er selbstsicher drohend und so energisch, dass er dabei spuckte. “Anna!”, Rist’s Ruf nach Unterstützung wirkte und die kurzhaarige Frau war erstaunlich schnell bei ihrem Kumpan, um diesmal diejenige zu sein, die sich zwischen ihm und den verbliebenen sechs Banditen aufbaute, wie ein unüberwindbares Hindernis. Und während sie das tat, lud ihr Freund seine kunstvoll geschnitzte Armbrust nach. Er stellte sie hastig vor sich, legte einen Bolzen ein, spannte den Bogen. Man konnte von Glück sprechen, dass er der einzige Fernkämpfer war, der sich hier am Walfriedhof schlug. So müssten die Abenteurer schließlich nur auf Schwerter, Äxte und Eschenknüppel Acht geben, die geschwungen wurden. Nicht auch noch auf umherfliegende Geschosse mit schneidenden Spitzen, die einem zu leicht das Leben nehmen konnten. Der todbringende Bolzen des zielsicheren Hjaldrist pfiff am Kopf der Novigraderin vorbei und traf den eines Banditen frontal, bohrte sich in dessen Auge. Schmerzlich johlend beugte sich der nach Schweiß miefende daraufhin, kippte plump nach vorn um und zuckte ein paar letzte Male. Anna beachtete es nicht weiter, sondern riss ihre hungrige Stahlklinge vor, um das schartige Schwert eines größeren Räubers kraftvoll zur Seite fort zu schlagen. Sie wich aus und ihr dunkelhaariger Kumpel hielt sich bewusst hinter ihr. Sie stach dem Fremden die scharfe Schneide zwischen die Rippen, ihr Freund lud und schoss. Es waren wenige Wimpernschläge später nur noch vier finster dreinblickende Banditen übrig. Zwei der breit gebauten Feinde stürmten jetzt gleichzeitig auf Anna zu; einer davon war der mit Hjaldrist’s Axt. Die gehetzte Frau machte einen Ausfallschritt nach rechts und duckte sich unter einem Hieb fort. “Verfluchtes Weibsbild!”, bellte Einer. Sie fuhr herum, stellte das linke Bein etwas versetzt zurück und wahrte einen festen Stand. Ihre braunen Augen waren zu Schlitzen verengt und an ihrem Gesicht und dem hellen Hemd klebte zähes Blut. Es war Großteils das ihrer Gegner, doch auch ihr eigenes hatte sich dazu gemischt. Bevor sie früher die Serrikanische Sonne geworfen hatte, hatte sie nämlich einer der verfluchten Verbrecher an der linken Seite erwischt. Es brannte wie Feuer, doch hinderte sie keinesfalls daran es jetzt mit gleich zwei bulligen Typen auf einmal aufnehmen zu wollen. Rist, der in Anna’s Rücken gestanden hatte, hatte derweil mit dem Schießen aufgehört, denn einer der Fremden war von hinten auf ihn los gerannt. Gerade noch so war der Undviker sich wendend einem Schlag eines Kriegshammers entkommen. Bevor er nach seinem Buckler fassen konnte, ging der dumpfe Stahl schon wieder auf ihn nieder und reflexartig riss der Mann seine Armbrust hoch, machte einen weiten Seitenschritt. Man hörte es hölzern krachen, Splitter flogen durch die kalte Winterluft und ein gepflegter Metallbogen fiel in den Sand. “Scheiße!”, presste Rist zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und warf den kläglichen, kaputten Rest seiner teuren Armbrust fort, wurde zurückgestoßen und fiel rücklings. Anna sah nurmehr, wie sich der jetzt am sandigen Boden liegende Hjaldrist schnell zur Seite rollte und damit einem dritten Hammerschlag auswich, der seinen Brustkorb mit wenig Mühe zertrümmert und seine Eingeweide dabei zu Gulasch verarbeitet hätte. Heftig zuckte sie ob dieses Bildes zusammen und eilte zur Hilfe. Die verbleibenden Banditen folgten ihr natürlich. Einer sehr stark blutend, der andere hinkend. Doch sie beide hatten unerschütterlichen Kampfesmut und Blutdurst im Blick. Ein Hieb mit Rist’s Axt verfehlte Anna’s Scheitel Sekunden darauf nur knapp. Schwer und schnell atmend kam die Kurzhaarige in die Nähe ihres engen Freundes, der es gerade so geschafft hatte wieder auf die Beine zu kommen. Sie blaffte seinen Namen, er sah sich nach ihr um. Das Hexer-Stahlschwert wurde geworfen, Hjaldrist fing es und war nicht länger unbewaffnet. Anna zog ihren Dolch, hob ihn schützend vor sich und wich von ihren harschen Gegnern zurück, wie eine fauchende, angriffslustige Katze. Der Schnitt, der ihr das Hemd seitlich aufgerissen und die helle Haut verwundet hatte, jagte einen zuckenden Schmerz durch ihren Körper. Er stachelte sie in diesen Augenblicken, zusammen mit dem Adrenalin in ihrem wallenden Blut, nur noch weiter an. Schweiß machte ihr die Stirn feucht und klebte ihr vereinzelte, dunkle Haarsträhnen an das Gesicht. Anna sah nicht zu ihrem Freund hin, als jener gleich an ihrer Seite war und das Bastardschwert kampfbereit anhob. Rist’s Kiefermuskulatur arbeitete, denn seine Zähne mahlten zornig. Der Skelliger sah nicht minder erregt aus, als seine Kollegin. Die Banditen würden sterben. “Bastarde!”, keuchte die Novigraderin aufgebracht und mit düsterer Miene “Elende Arschlöcher!”. Ihre Gedanken hingen dabei noch immer an dem blonden Mädchen, das unweit mit Blut und Samen an den nackten Beinen im Dreck lag. Einer der Banditen lachte donnernd; der mit Hjaldrist’s Axt und Anführer der widerlichen Bande. Die anderen drei stimmten dem rauen Gelächter mit ein, als bräuchte ihr ekelhafter Boss diese Bestätigung. Oder vielleicht waren sie ja auch wie Schafe und machten ihrem ‘Leittier’ alles nach? Einer der Kerle - der, der vorhin schon so stark geblutet hatte, weil ihm Anna den Bauch zerschnitten hatte - war auffallend blass geworden. War zu erwarten gewesen. Und er sackte plötzlich in sich zusammen, wie ein nasser Sandsack, während er noch immer gespielt lachte. Dann verstummte der schwer Verwundete und blieb stöhnend liegen. Seine drei Kollegen hielten inne, sahen fragend zu ihrem verblutenden Freund hin. Eine Sekunde, die Anna und Rist ausreichte. Ja, ein Moment, in dem die Frau den Silberdolch abrupt in die Richtung der drei noch stehenden Banditen hob, als wolle sie mit dessen Spitze auf jene zeigen. Sie holte Luft. “Aard!”, brüllte sie aus vollster Kehle und es dauerte keine zwei Atemzüge, dass der damit gemeinte Hjaldrist überrascht blinzelte und dann grimmig-zufrieden grinsen musste. Er stob los, nach vorn und den Gegnern entgegen. Anna folgte ihm. Hjaldrist fegte den verbliebenen Gegnern entgegen, als sei er ein wahrhaftiges Hexerzeichen: Ein Stoß mit dem massiven Buckler, ein Bandit wankte zurück. Ein Schlag mit dem Hexerschwert, einer der finsteren Verbrecher schrie auf. Ein heftiger Tritt gegen ein Knie und der Anführer der Bande knickte beinah ein. Bevor irgendwer noch mehr tun konnte, war auch Anna mit im aufgebrachten Geschehen. Von hinten war sie an den ersten, wankenden Fremden heran geeilt und packte ihn an einem der dicken Gurte seiner ledernen Torsorüstung, die sich auf dem breiten Rücken kreuzten. Die hitzige Frau riss den Größeren rücklings und hart an sich, fuhr mit der freien Waffenhand vor und legte ihm die blitzende Schneide ihres wertvollen Dolches an die ungeschützte Kehle. Silberwaffen waren für Monster gedacht. Und die anwesenden, stinkenden Räuber aus Skellige gehörten zu jenen. Die Trankmischerin zog die Klinge ruckartig über den Hals des Mannes. Bevor er schreien konnte, durchtrennte sie ihm Stimmbänder, Luft- und Speiseröhre. Sie war so wütend und angestachelt, dass sie dem Kerl die blutdürstige Schneide beinah bis zu den Nackenwirbeln durch das Fleisch gedrückt hätte. Abrupt ließ die den groben Rückengurt wieder los und den schwer verwundeten Banditen nach vorn taumeln. Jener ließ sein Schwert fallen und fasste sich mit beiden Händen an die Kehle, aus der das dunkelrote Blut nur so heraussprudelte. Der Mistkerl röchelte, was in einem widerlich nassen Gurgeln endete. Dann sackte er auf die Knie, fiel mit dem Gesicht voran in den feuchten Sand und blieb liegen. Anna sah hektisch auf und ließ die Augen wandern. Da war Rist. Und vor ihm der Anführer der Verbrecherbande. Der dritte Kerl war augenscheinlich schon tot und lag verdreht am Boden. Also blieb nurmehr der Boss der Kriminellen. Es dauerte keinen Augenblick, als Rist mit lautem Gebrüll auf den losging, der ihm seine wertvolle Axt gestohlen hatte. Der Mann aus Undvik, der erstaunlich gut mit dem Schwert umgehen konnte, hatte seinen Schild fortgeworfen und umfasste Anna’s Waffe mit beiden Händen. Er hob sie ausholend über den Kopf und wollte die Klinge wuchtig auf den dreckigen Hünen vor sich niedergehen lassen. Der Bandit war um einiges größer, als der sichtlich jüngere Skelliger, breiter und haariger. Das auf nahezu widerwärtige Art, ungepflegt und hässlich. Neben diesem Vergewaltiger sah Hjaldrist aus wie ein Elf. Das Stahlschwert sauste durch die Luft, verfehlte den mies gelaunten Verbrecher. Jener war zur Seite ausgewichen, lief Rist nun entgegen und bugsierte ihn mit einem heftigen Stoß des stahlbewehrten Unterarms zurück. Anna warf derweil ihren Dolch ein Stückchen weit hoch, um ihn an der Klinge wieder aufzufangen. Sie wartete kurz ab und beobachtete, wie Hjaldrist Schwierigkeiten damit bekam eine sichere Entfernung zu dem rasenden Banditen zu bekommen. Eine gute Schwertlänge Abstand, die schaffte er nicht, denn der Hüne drängte immer mehr auf ihn ein, fuchtelte mit der Axt und schrie wie wild herum. Und dann... dann stand der wüste Kerl plötzlich mit dem breiten Rücken zu Anna. Er schien sich völlig auf den aufgescheuchten Rist zu konzentrieren, beachtete die Nordländerin gar nicht mehr. Ein Fehler. Anna holte aus. Einen Wimpernschlag später flog ihr gezielt geworfener Silberdolch und traf den großen Kerl weiter vorn knapp unter der rechten Schulterplatte. Gerade so, dass er nicht das schützende Leder der mächtigen Schulterpanzerung des haarigen Mörders, sondern verwundbares Fleisch, erwischte. Es war reines Glück. Anna’s braune Augen weiteten sich, als sie erkannte, dass sie tatsächlich getroffen hatte und der Bandit zu ihr herumfuhr. Der Bärtige wollte zeternd nach hinten fassen, um sich die Silberklinge aus dem Kreuz zu ziehen, doch er war dermaßen muskelbepackt, dass er es nicht vermochte. Er war wie ein Riesenaffe, der die Hände nicht hinter dem Rücken verschränken konnte. Er schrie zornig, blutete. Hjaldrist schlug mit dem Schwert zu und hackte dem durcheinander gebrachten Fremden den dicken Waffenarm ab. Das Gliedmaß fiel, Rist’s Axt noch immer umklammernd, zu Boden. Sekunden später fand der einarmige Krieger den Tod. Dann war es endlich still. Nurmehr das schäumende Meer brauste und die Möwen schrien. Ganz, ganz weit entfernt konnte man im Wind eine Sirene kreischen hören. Leise Flüche brummend stakste Hjaldrist ein tiefes Durchatmen später schon auf seine Axt zu, die im hellen Sand lag. Er trat mit einem Fuß auf den Räuberarm, der seine Waffe hielt, und entzog sie dessen Fingern, spuckte angewidert aus. Dann hob er den wirren Kopf an, um zu seiner Freundin aufzusehen, die zwischen all den Leichen stand und Blickkontakt suchte. “Alles gut?”, wollte der schwer atmende Undviker kritisch wissen. “Ja.”, Anna nickte. Sie fasste sich prüfend an die Seite und senkte den Kopf, um sich ihre versehrte Haut zu betrachten. Mit der flachen Hand fasste sie an den Schnitt, zuckte dabei etwas zusammen. Die Wunde war nicht tief. Sie blutete schon gar nicht mehr und brannte nur unangenehm, mehr nicht. “Nimm die dreckigen Pfoten da weg. Das entzündet sich sonst noch.”, merkte Rist an, der näher kam, und Anna sah skeptisch auf. Sie ließ die Hand brav sinken. Ihr Hemd war seitlich aufgeschlitzt worden und hing ihr dort ab der Mitte des Brustkorbes offen vom Oberkörper. Der kalte Wind pfiff unangenehm darunter und sie fröstelte. “Was für ein Mist… das Oberteil war neu.”, meinte sie bloß genervt, wischte sich die Hände am Schoß ab und wollte sich die ausgefransten Hemdenden unbeholfen in den Hosenbund stecken, damit sie nicht so flatterten. “Du kannst später eins meiner Hemden haben, wenn du willst. Komm, gehen wir erst mal zu Lin zurück.”, Hjaldrist legte die schmutzige Hand an den Rücken der Novigraderin und deutete mit einem Drängen in die Richtung des Waldes an, dass die Frau mitkommen sollte. Und das tat sie auch, nachdem sie von ihrem kaputten Hemd abgelassen hatte. “Das war ziemlich gut!”, meinte sie und kommentierte damit die herausragenden Fähigkeiten ihres Freundes im Kampf. Sie ging etwas abgekämpft neben ihm her, warf einen Seitenblick zu Rist. “Du bist ein gutes Aard.”, stellte sie weiter fest und brachte den verdreckten Skelliger damit zum Grinsen. Seine dunkle, ernste Miene - eine Nachwirkung des vorangegangenen Kampfes -, schwand allmählich und machte der Erschöpfung Platz. “Ich habe also nicht zu viel versprochen?”, meinte der Mann schmunzelnd. “Nein.”, bestätigte Anna und klopfte ihm die Schulter, woraufhin der Skelliger jammerte, denn der Typ mit dem Eschenknüppel hatte ihm dort eine schöne Prellung beschert; einen Bluterguss, der die Haut des Undvikers noch lange zieren würde. Am Nachmittag waren die Abenteurer dann wieder zurück beim Walfriedhof, dessen Grund stellenweise blutig rot getränkt war. Sie hatten sich gewaschen, das salzige Meerwasser dafür nutzend. Und die beiden hatten die Leichen der Banditen zur Seite geschafft. Die reglosen, stinkenden Körper lagen unweit hinter einem Haufen Walknochen und kleine Krebse machten sich bereits hungrig über sie her. “Wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden. Die Leichen werden Ertrunkene oder Ghule anlocken…”, meinte Anna, die gerade ihren Rucksack in das kleine Boot warf, das sie am Strand vorgefunden hatten. Es hatte den Räubern gehört. Die, wiederum, hatten es sicherlich von irgendeinem armen Fischer gestohlen. Hjaldrist und die Novigraderin beluden das Bötchen gerade und zwar mit allem, was sie besaßen. Das schloss also nicht nur gefüllte Rucksäcke mit ein, sondern auch die Dinge, die sich in den Satteltaschen von Kurt und Apfelstrudel befunden hatten. Sie würden die Pferde nämlich nicht mit nach Hindarsfjall nehmen können. Dafür war das Boot nicht groß genug. Lin hatte sich daher angeboten auf die Reittiere aufzupassen. Etwas, das Anna und Rist nicht wirklich ernst genommen hatten, doch sie hatten sich so gegeben, als täten sie es. Sie hatten sich bei dem Göttling bedankt und sein Angebot einfach angenommen. Im Grunde war es ja einerlei. Sie hätten die Pferde so oder so zurücklassen müssen. Wahrscheinlich würden die klugen Tiere nach Gedyneith zurückgehen, denn dort gab es Futter. Oder gar nach Blandare, weil sie sich an ihr altes Heim erinnerten. Diese Vierbeiner hatten es an sich zu ihren gewohnten Stallungen zurückzukehren, wenn sie einmal reiterlos waren. Daher gab es im Krieg ja auch so viele Verrückte, die die Köpfe irgendwelcher bedeutsamer Personen an die Sättel von deren Pferden schnallten und den Gäulen daraufhin einen Klaps gegen das Hinterteil verpassten, damit sie nach Hause rannten. Die flinken Tiere agierten damit wie Überbringer für böse Drohungen und, naja, unverkennbare Botschaften. “Also schön, rein mit dir!”, forderte Hjaldrist beschwingt auf, nachdem die wenigen Habseligkeiten von ihm und seiner Kumpanin auf dem Segelboot verstaut waren. Da waren die beiden Rucksäcke, ein paar Decken, Proviantsäckchen und Anna, die gerade vorsichtig in das ungeliebte, schwimmende Ding stieg. Halb im Wasser schaukelte das Bötchen vor sich hin und die nervöse Frau streckte die Arme zur Seite aus, um das Gleichgewicht zu finden. Oh, verdammte Kacke. “Habe ich schonmal erwähnt… uh… dass ich das Bootfahren hasse?”, beschwerte sich die Kurzhaarige abschätzig, doch Rist lachte nur heiter. Er stemmte sich mit dem gesamten Körpergewicht gegen das Boot und schob es dem ruhigen Wasser entgegen, bis es keinen Kontakt mehr mit dem Sandstrand hatte. Bis zu den Waden kam der Krieger ins Meer und Anna glaubte, er käme nun ohne Umschweife mit auf das schwimmende Transportmittel. Sie wollte sich vorsichtig setzen. Doch da hatte sie die Rechnung ohne ihren Freund gemacht, der sie ganz gerne triezte. Denn der ließ den Bootsrand längst nicht los und richtete sich auch nicht auf, um an Bord zu steigen. Nein, er gab dem scheiß Schwimmding einen ordentlichen Schubs, dass es nur so wackelte. Anna erschrak unsäglich, als sie fast vom Boot stolperte und der kurzen Schrecksekunde wegen japste sie sogar einen überforderten Laut. Sofort ging sie hektisch auf die Knie, hielt sich krampfhaft am Mast fest und machte sich damit so richtig lächerlich. Hjaldrist lachte teils belustigt, teils schadenfroh. “Hoppla!”, meinte er scheinheilig. “Du Arsch!”, keifte die kurzhaarige Novigraderin und war ganz blass um die Nase geworden. “Was denn?”, grinste der Schönling schief, kam dann endlich mit auf das Fischerboot und schüttelte die nassen Füße “Ich wette, wenn du schwimmen könntest, hättest du dich jetzt nicht fast eingepisst!” Wahre Worte. “Was?”, schnappte Anna “Na und?” “Ach, komm! Schmollst du nun etwa?”, lachte Hjaldrist neckend weiter. “Pah!”, machte Anna bloß und saß stur und mit verschränkten Armen am Boden des Bootes herum. Noch immer war ihr ganz mulmig zumute. Und, oh, wurde es ihr gerade übel? “Das Wasser ist hier nicht tief. Du wärst schon nicht ertrunken.”, merkte der anwesende Skelliger an, als er das Segel des Fischerbootes versiert entrollte und mithilfe von Tauen spannte. Aus dem Augenwinkel sah er zu dem Häufchen Elend, das da auf den verwitterten Holzplanken saß. Noch immer grinste er wissend, dieser Idiot. “Lass mich!”, schnappte die arme Schwertkämpferin mit der wunden Seite, die sich ein zu großes Hemd ihres Kumpels ausgeliehen hatte “Das war ganz und gar nicht lustig!”. “Ich finde schon. Und weißt du was? Lern schwimmen.”, gluckste der Mann und Anna trat wie ein trotziges Kind nach seinen Stiefeln. Dies nach wie vor mit eng vor der Brust verschränkten Armen. Ein Gehabe, das den Inselbewohner erneut auflachen ließ. “Das kriegst du irgendwann zurück!”, maulte die beleidigte Frau “Du wirst schon sehen!”. * Das zerklüftete Inselchen Hindarsfjalls, das die Abenteurer angesteuert hatten, war im Vergleich zur Hauptinsel richtig klein. Es hatte noch nicht einmal eine richtige Anlegestelle, geschweige denn einen Hafen. Hjaldrist hatte sich darum gekümmert das Fischerboot gezielt um die besagte, schmale Insel herum zu lenken, abseits von gefährlichen Strömungen, die einen zu schnell gegen die harten Klippen getragen hätten. Was das Segeln anging, war der Mann genauso bewandert, wie im Umgang mit seiner Axt. Und das war gut, denn Anna war ihm an Bord des schaukelnden Bootes keine große Hilfe. Die zwei Reisestunden zur See hatte sie nämlich damit verbracht auf einer Decke zu sitzen, die sie sich am Bootsboden ausgerollt hatte, und ab und an ziemlich bleich über die niedrige Reling zu starren. Einmal, da hätte sie sich fast übergeben, hatte sich hinlegen müssen und ganz schön wehleidig gejammert. Rist hatte sie an diesem Punkt schon nicht mehr verarscht oder blöde Bemerkungen über ihre plagende Angst vor tiefem Wasser gemacht. Er war schlussendlich klug genug, um zu erkennen, wann Schluss war und es nicht mehr als spaßig galt sich über Freunde lustig zu machen. Also hatte er Anna einfach in Ruhe gelassen und sich darum gekümmert das Fischerboot sicher gen Hindarsfjall zu bringen. Vor wenigen Minuten erst hatten sie dann angelegt. Und Anna war heilfroh darüber gewesen wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Sie stand nun auf der Wiese, die zum Wasser hin abfiel, atmete tief durch und sah dabei zu, wie Rist das dumme Boot an Land zerrte. Dessen Segel war wieder säuberlich zusammengerollt worden. Als große Leinenrolle schaukelte es nun ganz schwach im Wind, der den Geruch nach Meersalz und Algen über die kalte Insel trieb. “Na, ist wieder alles in Ordnung?”, rief der Skelliger zu seiner Kumpanin herüber, als er das Boot sicher am schmalen Strand abgestellt hatte. Er klopfte sich den Sand von den Händen und sah abwartend zu Anna. Jene nickte, wirkte aber nicht ganz so aufrichtig. Denn noch immer war es ihr ganz schön übel. Ihre Knie waren butterweich. “Wenn ich daran denke, dass wir auf demselben Weg wieder zurück nach Kaer Trolde müssen, wird es mir ganz anders…”, seufzte die arme Kurzhaarige tief aus. “Vielleicht finden wir ja einen Drachen, der uns auf seinem Rücken zurückfliegen lässt!”, schmunzelte ihr fantasievoller Gefährte. “Du glaubst gar nicht, wie lieb mir das im Gegensatz zum Bootfahren wäre…”, entgegnete Anna bloß, lächelte aber schon wieder “Aber ich bezweifle, dass sich hier ein Drache befindet.” Hjaldrist zuckte mit den Schultern. Dann nickte er in die Richtung des Fischerboots, in dem sich noch all das Gepäck befand. “Packen wir zusammen. Wir sollten bald los, denn es wird schneller dunkel sein, als es uns lieb ist.”, schlug der Undviker in der grünen Tunika vor und hob den Blick prüfend gen Himmel. Sie hätten heute vielleicht noch zwei, drei Stunden Tageslicht. Und nachts war das Wandern nicht nur ungemütlich und unübersichtlich, sondern auch gefährlich. Gerade auf Skellige, wo die Monster und Tiere viel größer und harscher waren, als anderswo. “In Ordnung. Du weißt, wo wir lang müssen?”, erkundigte sich Anna und ihr Freund wiegte den Kopf nachdenklich. “Ja… in etwa. Wir finden den Weg schon, denn so groß ist die Insel nicht.”, versicherte er. Hoffentlich hatte er Recht. Kapitel 10: Der verrückte Onkel ------------------------------- Die kleine, alte Hütte lag irgendwo zwischen hohen Tannen, am Fuße eines weit ansteigenden Hügels. Auf den oberen Lagen dieses Bergleins lag noch Schnee, während das schmale Tal völlig frei war von dem Eis. Aus dem Kamin der hölzernen Hütte mit dem Strohdach stieg Rauch auf und in der abendlichen Dämmerung konnte man im Innern des Gebäudes Lichtschein erkennen. Im Großen und Ganzen war es ein unscheinbares, schlichtes Häuschen. Mit einer Wäscheleine, die sich über einen mickrigen, niedrig umzäunten Kräutergarten spannte. Eine fleckige Hose hing darauf und flatterte im Wind. Sie sah aus, als hinge sie schon länger da und als hätte man sie vergessen. “Das ist es?”, fragte Anna ihren Freund skeptisch und deutete auf das tannengesäumte, schiefe Haus. Hjaldrist nickte selbstsicher. Sie beide waren querfeldein gelaufen, über Wiese, Berg und Bäche. Und endlich waren sie an ihrem Ziel. “Wir haben Glück, dass wir die Hütte so schnell gefunden haben… es wird Abend.”, kommentierte der Skelliger und schritt wacker voran. Es führte kein Weg zu dem abgelegenen Haus von Rist’s Bekannten. Es lag völlig verwildert da und man musste durch hohe, verdorrte Gräser gehen und aufpassen, dass man auf der mit Schlaglöchern zerklüfteten Ebene nicht noch stolperte. Anna fasste an die breiten Riemen ihres Rucksacks, den sie schleppte, und straffte die Schultern, atmete einmal tief durch. Dann folgte sie ihrem Kollegen bis zur Tür des einsamen Heimes der verlassenen Insel. Mit Argusaugen beobachtete sie, dort angekommen, wie ihr Freund anklopfte. “Geht weg!”, die Stimme eines krächzenden Mannes drang Augenblicke später schon patzig aus der Hütte. “Ich kauf nix!”, blökte der Inselbewohner dort drin und man sah, wie Hjaldrist die Augen genervt verengte. Er wirkte jedoch nicht überrumpelt oder dergleichen. Vermutlich kannte er dieses kauzige Gehabe seines Bekannten schon. Anna stand tatenlos neben dem Skelliger und wartete ab, hob die Augenbrauen verwirrt und musterte die Holztür, an die man mit weißer Farbe irgendwelche Runen gezeichnet hatte. Die Frau aus den Nördlichen Königreichen konnte jene nicht lesen. “Was? Wir sind keine Händler. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass es solche Leute hierher verschlagen könnte? Lass uns rein, Adlet!”, maulte der Käferschubser drängend. “Nein, oh nein!”, protestierte der eigensinnige Kerl im Haus “Fort mit euch, Halsabschneider! Oder ich jag nen Bären auf euch! Nein, zwei!” Anna blinzelte überfordert und ihr dümmlicher Blick wanderte von der runenverzierten Holztür zum ratlos werdenden Hjaldrist zurück. Die Miene der Frau sprach tausend Worte, sie musste nichts sagen. “Ja, zwei Bären und ein Stinktier! Habt ihr schon mal mit nem Stinktier zu tun gehabt? Ha! Ich sage euch: Ihr solltet um eure Leben laufen!”, kebbelte der Mann in der alten Hütte weiter und Anna wusste nicht, ob sie nun lachen oder genervt aufstöhnen sollte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Aus dem Augenwinkel sah sie noch immer abwartend zu ihrem Freund hin. “Argh!”, machte Rist und hätte sich wohl gern die Haare gerauft “Ich habe doch gesagt, dass wir keine Fremden sind! Ich bin es, Hjaldrist!” “Ja, ja, ja, das kann jeder sagen! Ja, es is leicht sich als wichtiger auszugeben, als man ist, um einzubrechen und arme Leute auszurauben! Aber ich falle nicht darauf rein, oh nein! Und wenn ihr sagt, dass ihr Halbjørn und Svantje heißt!”, meckerte der paranoide Einsiedler weiter und man konnte sich vorstellen, wie er gerade mit hochrotem Kopf in seiner schiefen Hütte saß. Oh Mann. “Wer sind Halbjørn und Svantje?”, wisperte Anna Rist fragend zu. Jener riss den genervten, starren Blick nicht von der Hütte vor sich fort. Es war mittlerweile schon dunkel. “Meine Eltern.”, murmelte der Undviker. “Ah…”, machte die Hexerstochter langsam und fragte nicht weiter nach - obwohl sie es gerne getan hätte -, sondern musterte die fest verschlossene Tür nur wieder. Sie würde Hjaldrist später noch löchern. “...Du hast gesagt, er würde mit uns reden, Rist.”, setzte die Frau dann noch brummig nach, meinte es aber nicht böse. Sie war bloß hungrig und ihr war kalt. Geduld zu bewahren war in dem Fall nicht so einfach. Hjaldrist entkam ein ohnmächtiger Laut. “Tut er doch auch, oder nicht?”, meinte er patzig. Na super. Dann wandte er sich wieder mit erhobener Stimme an den, der sich in seinem Heim verbarrikadierte. Rist schien kurz zu überlegen, kratzte sich nachdenklich am unrasierten Kinn. Dann aber, schien ihm etwas einzufallen und er holte Luft für seinen nächsten Appell an seinen scheuen Bekannten. “Onkel, mach auf. Ich habe hier eine Alchemistin, die mit dir über deine Arbeit sprechen will!”, entkam es dem hoffnungsvollen Mann und Anna stutzte augenblicklich. Überrascht sah sie zu ihrem Begleiter hin, taxierte ihn eindringlich. “Onkel?”, keuchte sie ungläubig. Hjaldrist nickte und seufzte langgezogen aus. In der Hütte war es ruhig geworden. Adlet schien wohl zu überlegen. Und tatsächlich hörte man Sekunden später, wie jemand am knarzenden Dielenboden an die Türe kam und einen Schlüssel im knarrenden Schloss umdrehte, zweimal. Die Scharniere quietschten vernehmlich, als die Tür dann einen vorsichtigen Spalt weit geöffnet wurde und ein Druide feindselig herausspähte. Seine braunen Augen fielen zunächst auf Anna und taxierten sie eingehend, blieben am Ende jedoch fest an Rist hängen. Der Blick des Onkels weitete sich und ein positiv überraschtes ‘Oh!’ verließ in einer plötzlichen Erkenntnis seine Lippen. Dann öffnete der Kerl seine Türe endlich weit und fing damit an breit zu lächeln. Sein Ausdruck war auf einmal sonnenhell. Und, oh, ganz ehrlich? Die verblüffte Anna hatte sich, als sie die Stimme des Älteren vorhin gehört hatte, einen grauen Eremiten vorgestellt. Einen eigenbrötlerischen, buckligen Typen, so wie Nielson. Einen urigen, dicken Kauz, wie Pak. Aber dem war nicht so, ganz und gar nicht. Vor ihr und ihrem Begleiter stand ein Mann, der wirkte, als sei er nicht älter als dreißig Jahre. Er hatte dieselben Augen, wie Rist, die gleichen dunklen Haare, die an den Schläfen aschblond meliert waren. Und er hatte keinen Bart, was ihn vermutlich noch jünger wirken ließ. Das einzige, das an ihm absolut eigen aussah, war seine Kleidung: Eine erdfarbene Pluderhose mit Längsstreifen, eine ebenso dunkle Tunika und ein Mantel, der anmutete, als habe der Mann ihn selbst aus zehn alten, zerschlissenen Überwürfen zusammengenäht. Auf seinem Kopf prangte ein schmutziges Käppchen mit lederner Borte, in der ein getrockneter Hühnerfuß steckte. Grotesk hoben sich die Vogelkrallen vom Hütchen ab und verliehen Adlet ein sehr seltsames Aussehen. Ja, das beschrieb es wohl vage. Der Mistelschneider breitete die Arme soeben einladend aus, während der unwohl berührte Rist merkbar steif stehen blieb. “Hjaldrist! Bist das wirklich du? Bei den Göttern, du bist groß geworden!”, meinte Adlet mit völlig veränderter, guter Laune. Dann kam er auf seinen Enkel zu und umarmte ihn in solch einer unbeholfenen Art, dass allein das Zusehen ein befremdliches Gefühl von Fremdschämen in Anna auslöste. Sozial schien der Ältere ja nicht sehr versiert zu sein. Betreten grinste die Frau und verkniff sich ein lautes Auflachen. Sie hoffte nicht auch noch so ‘überschwänglich’ begrüßt zu werden, wie ihr bester Freund. Man hörte, wie sich Rist räusperte und sah, wie dessen Onkel den Armen wieder losließ, um sich der abwartenden Hexerstochter zuzuwenden. Er schniefte, obwohl er eindeutig nicht erkältet war. War er etwa gerührt? Nein. Er zog die Nase einfach nur so hoch. “Und du hast dein Mädchen mitgebracht! Hallo, hallo!”, lächelte der Druide mit den auffallend schönen Zähnen. In seiner Welt, da war er ganz klar einer der Hübschen, was? Wenn man denn mal von seinem sehr eigensinnigen Kleidungsstil absah, verstand sich. Nur warum? Weswegen sah dieser Typ so ansehnlich aus? “Äh, sie ist nur eine Freundin.”, korrigierte Rist mit gerunzelter Stirn, doch sein wirrer Onkel schien ihn nicht mehr zu beachten. Er hatte nurmehr Anna im Blick. “Willkommen!”, flötete der Mann im bunten Mantel und kam her, um nun auch die Besagte ungeschickt an sich zu drücken. Leider. Ein Schauer lief ihr dabei über den Rücken und sie hielt die Luft an. Oh, herrje. “Hallo.”, entkam es der umarmten Kurzhaarigen etwas tonlos und sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. Der ulkige Onkel ließ sie wieder los und beäugte sie nett, fasste beherzt nach ihren Fingern und dies löste in der Novigraderin den nächsten Anflug von Unwohlsein aus. Sie war es nicht gewohnt von irgendwelchen fremden Typen an den Händen genommen zu werden. Aber wer war das schon? Trotzdem fügte sie sich. “Na, kommt herein. Es gibt frischen Sewantenpilz-Tee!”, verkündete der Druide, erwischte nun auch die Hand seines überrumpelten Enkels und zerrte beide Jüngeren mit in sein Haus. Die Vagabunden kämen ihm nicht mehr aus. Der Innenraum der hölzernen Hütte Adlets war nicht groß, wie Anna wenige Atemzüge darauf schon feststellen durfte. Er bestand aus einem Haupt- und einem Nebenzimmer. Letzteres war durch eine Tür von ersterem getrennt. Es gab hier einen kleinen Kamin mit Kochstelle, einen Tisch, vor dem eine schiefe Bank und ein Hocker standen, zwei alte Regale voller Bücher und Aufzeichnungen und eine Kommode, auf der dutzende Fläschchen mit allen möglichen Tränken darin standen. Viele von ihnen waren verstaubt, genauso wie ein dürrer Tannenzweig, der wie zur Dekoration an der Wand hing. Und der einsame Zweig war nicht das Einzige, das Adlet angebracht hatte, um seine Hütte zu verschönern: Seine Vorhänge waren wohl einmal Kleidungsstücke gewesen, die er behelfsmäßig zerschnitten und vor die Fenster genagelt hatte. Seine Regale und die Holzkommode waren bunt und in unmöglichen Farbkombinationen angemalt worden. An der Decke hatte man Mobiles aus kleinen Knochen, Muscheln und Fischbein befestigt, die leise und klimpernd aneinanderschlugen; es war seltsam, wie melodisch dies klang. Den Boden säumte als Teppich ein abgetretenes Bärenfell und in einer Ecke stand ein Räuchergefäß, das einen starken Geruch nach süßlichem Harz und Rosmarin verbreitete. Anna machte große Augen. Bei Melitele’s Arsch, war das hier eigenartig. “Setzt euch, setzt euch!”, Adlet bugsierte die zwei Abenteurer gen Tisch und wuselte dann schon zu seiner Kochstelle, um dort eine gräuliche Flüssigkeit in eine verbeulte Teekanne zu schöpfen. Das war wohl der Pilztee, von dem er gesprochen hatte und den Anna eigentlich nicht probieren wollte. Aber sie beschwerte sich nicht und wahrte ein höfliches Benehmen. Schließlich kannte die den schniefenden Druiden noch nicht und wollte ihn nicht beleidigen, indem sie seine gut gemeinte Einladung abwies. Sie fing sich einen vielsagenden Blick von Hjaldrist ein, der bestimmt genauso dachte, wie sie selbst. Der Mann im grünen Rock machte sich daran den schweren Rucksack und seine Ausrüstung abzulegen, stellte den Schild fort und lehnte die Axt daneben an die Wand. Adlet, der schon wieder geschäftig dabei war sich mit seiner eingedellten Kanne zu nähern, hielt inne und sah seinem Enkel zu. Seine dunklen Augen blieben an der Waffe des Jüngeren hängen und für eine Sekunde verrutschte seine Miene leicht. Er schniefte schon wieder, bevor er redete. War das etwa ein Tick von ihm? “Oha.”, machte der Onkel hintergründig “Da hat dir dein Vater aber ein schönes Geschenk gemacht.” Rist schwieg. Anna, die sich die Jacke soeben ausziehen hatte wollen, wirkte irritiert und hielt inne. Geschenk? “Wie kommst du denn damit zurecht, hm?”, hakte der Druide freundlich nach und schien viel mehr zu wissen, als es irgendwem lieb war. “...Gut.”, antwortete der konfrontierte Hjaldrist jetzt langsam und diese Aussage klang schon fast, wie eine Frage. So, als wisse er nicht, wieso sein neugieriger Verwandter fragte, wie er mit seiner Axt umzugehen vermochte. Irgendwas stank hier doch zum Himmel. “Was ist denn mit der Axt?”, warf Anna naiv interessiert ein und es mutete so an, als hätte ihr Kumpel ihr dafür am liebsten einen harten Schlag auf den Hinterkopf verpasst. Er warf ihr einen seltsamen Blick zu und verzog die Mundwinkel höchst unzufrieden. “Sie ist ein Erbstück. Weiter nichts.”, entgegnete der Undviker schlicht, doch Anna wollte ihm nicht glauben. Ja, in dem Augenblick fühlte sie sich so, als wisse sie noch immer viel zu wenig über ihren Freund. Adlet sah zwischen den beiden hin und her, doch dann hob er die Teekanne einladend an. Mit seinem drängend gastfreundlichen Getue rettete er die angespannte Atmosphäre so vor dem Kippen. “Sewanten-Tee! Setzt euch, Kinderchen!”, lächelte er. Es dauerte daraufhin nur eine kleine Weile, bis der leicht nervöse Druide neben seinem gesüßten Pilztee, der ohne den ganzen Honig darin scheußlich bitter schmeckte, auch Essen auftischte. Und jenes war, den Göttern sei Dank, nur ein gewöhnlicher Eintopf aus verschiedenen Gemüsesorten, die der Onkel Rists selbst angepflanzt und geerntet hatte. Schließlich lebte er recht einsam auf einer abgeschiedenen Insel und Händlerkarawanen kamen HIER sicherlich nicht sehr oft vorbei. Anna rührte in ihrem heißen Eintopf, der etwas dünn war. Er glich schon fast einer Suppe, doch roch vorzüglich. Vorsichtig pustete sie in ihre dampfende Holzschüssel, um das Gericht abzukühlen. Kartoffeln schwammen darin herum, genauso wie ein paar Möhren, Kräuter und Sellerie. Und Petersilie. Die Ungeheuerjägerin mochte Petersilie. “Also, Onkel...”, fing Hjaldrist an, als er nach einem großen Stück des selbstgebackenen Nussbrots am kleinen Tisch fasste “Anna sucht nach einem Rezept für einen Trank und ich dachte mir, du könntest ihr vielleicht helfen.” “Hm.”, machte der angesprochene Ältere mit vollem Mund. Er legte die Stirn in tiefe Falten und schluckte nicht runter, bevor er sofort weitersprach. “Ich? Aha?”, nuschelte er und verlor dabei beinah seinen halb zerkauten Happen Gemüse. Anna verzog das Gesicht leicht, doch schnell schlich sich ein belustigter Ausdruck auf ihre Miene. Adlet war eigenartig. Am Anfang hatte sie nicht so recht gewusst, wie sie damit umgehen sollte, doch langsam aber sicher fing sie damit an ihn echt amüsant zu finden. Und obwohl er ein schräger, schniefender Vogel war, schien er im Grunde richtig liebenswürdig zu sein. “Ja, wir waren bei den Druiden in Gedyneith, Nielson und Pak, doch die konnten uns nicht weiterhelfen. Darum sind wir hier.”, erklärte Rist und tunkte etwas Brot in seinen dampfenden Gemüseeintopf. “Du bist nicht hier, um sie mir vorzustellen?”, wollte der Onkel wissen und nickte in die Richtung der arg zusammenzuckenden Novigraderin. Er tickte einmal wieder. Mittlerweile fiel dies der Frau schon kaum mehr auf, weil er es so oft tat. “Was?”, entkam es dem Käferschubser pikiert “Nein. Ich sagte doch: Sie ist nur eine normale Freundin!” “Ach so!”, schmunzelte Adlet schelmisch und Anna musste sich eines verhaltenen Auflachens erwehren. Hjaldrist fasste sich entnervt an das Gesicht und schüttelte den Kopf dabei ungläubig. Bestimmt fragte er sich, was er hier überhaupt tat. “Na dann. Wie soll ich denn helfen, hm?”, wollte der Druide mit dem Hähnchenfuß am Hut wissen und lenkte die Aufmerksamkeit auf Anna “Was ist das für eine wichtige Sache, dass nicht einmal die versoffenen Idioten im Druidenhain helfen konnten?” “Ich, äh…”, die Ausländerin wirkte ein wenig überrumpelt davon, dass Adlet die Leute von Gedyneith als ‘versoffene Idioten’ bezeichnete. Nielson und Pak hatten viel getrunken, stimmt, aber ob das auch auf all die anderen zutraf? Sie wusste ja nicht... “Hast du schon einmal von der Kräuterprobe gehört?”, fragte die erwartungsvolle Kriegerin zögerlich und sah, wie die Augenbrauen des Alten in die Höhe schossen. War das nun ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? “Du meinst die Formel der Hexersleute?”, fragte der mit den wenigen aschblonden Strähnen jetzt und Anna’s Gesichtsausdruck entgleiste vollends. Sie wirkte baff, tatsächlich, und sah einen Augenblick lang so zu Rist hin, als wollte sie ihm aufgeregt sagen: ‘Er weiß was! Hör nur! Er weiß was!’. Anna wurde ganz zappelig. “Ja, davon habe ich gehört, Mädchen.”, versicherte der eigenbrötlerische Druide, nickte und schien so, als sei sein Interesse geweckt worden. Er fasste nach seiner scheppernden Teekanne und schenkte sich etwas von seinem fürchterlich bitteren Tee nach, gab vier Löffel Honig dazu. “Ich erforsche Absude, die stärker machen, musst du wissen.”, erzählte der bedachte Eremit, bevor Anna überhaupt dazu kam etwas zu sagen “Vor allem Tränke, die aus normalen Menschen Vildkaarle machen, ja, ja.” Die perplexe Kurzhaarige horchte auf. Sie wusste nicht, was Vildkaarle waren, doch hoffte, dass Adlet damit Mutanten meinte, Hexer. Erleichtert fing sie damit an zu lächeln und hörte aufmerksam zu, denn der Onkel ihres Kumpels war mit seinen Ausführungen noch nicht fertig. “Während meiner Forschungen, da habe ich auch weitere Absude entdeckt. Zusammen mit meiner lieben Kollegin Märthe habe ich einen Trank entwickelt, der Mäuse zu Kühen macht. Ja, ihr habt richtig gehört! Mäuse zu Kühen! Manchmal auch Mäuse zu Riesenmäusen oder zu stinkenden Fleischbatzen… aber meistens werden sie zu Kühen. Ja. Also in zwei von zehn Fällen. Das ist eine gute Quote!”, erklärte der verrückte Onkel mit dem schiefen Hühnerfuß-Hütchen weiter und lachte stolz. “Mäuse zu Kühen...?”, fragte Rist skeptisch dazwischen und zog die Brauen zusammen. “Ja, mein Junge!”, sagte der bewanderte Druide mit geschwellter Brust. “Und warum genau braucht man sowas?”, wollte der jüngere Skelliger wissen und sein bartloser Onkel grinste rätselhaft. Jedoch nicht lange, denn er offenbarte seine Motivationen schnell: “Stell dir nur mal vor, Hjaldrist: Es gibt eine Dürre oder einen Krieg und die Leute hungern, weil ihnen die Raubritter und so, du weißt schon, alles genommen haben. Sie haben nichts mehr, das sie sich zwischen die Kiemen klemmen können. Also komme ich, der große Adlet Falchraite, auch ‘Adlet, der starke Naturphilosoph’ genannt, und gebe Mäusen meinen Kuhtrank. Mäuse gibt es ja immer und überall. Also... jedenfalls gibt man den Mäusen die Tränke und, ha, die Leute haben plötzlich Rinder, die sie essenkönnen!”, verkündete der schlaue Alchemist überschwänglich und breitete die Arme aus, als präsentiere er sich selbst vor einem großen Publikum. Stolz sah er in die kleine Runde, Lob erwartend, und schniefte. Und während Anna erstaunt starrte, legte Rist den Kopf wenig überzeugt schief. “Das ist großartig!”, entkam es der beeindruckten Hexerstochter nach einer kurzen Pause und sie schlug die Handflächen freudig zusammen. Hjaldrist schwieg derweil und überließ ihr das Fachsimpeln. Er machte sich lieber daran noch etwas Eintopf in seine alte Schüssel zu schöpfen, denn er kannte sich mit komischen Kuh-Mäusetränken und derlei Kram nicht aus. “Ja, nicht?”, grinste der Onkel weiter und schob sich das abstruse Hütchen am Kopf zurecht. Wenn er so strahlend und schief lächelte, sah er noch jünger aus, als sonst. Wie alt er wohl tatsächlich war? “Und was sind Vildkaarle, Adlet?”, fragte Anna gleich interessiert und kam damit auf ein früheres Thema zurück, das sie brennend interessierte. “Das”, der dunkelhaarige Skelliger mit den hellen Strähnen hob belehrend einen Zeigefinger “sind Krieger, die sich in Bären verwandeln. Sie sind so alt, wie Skellige selbst und gehören zu unserer Kultur! Also mehr oder weniger.” Erstaunt blickte Anna drein und sah, wie der essende Rist nebenher zustimmend nickte. Vildkaarle waren also die berühmten Berserker? Sie hatte von jenen gehört. Während ihrer Suche hatte sie einmal etwas über deren Kult gelesen, doch nicht gewusst, ob es sich um fantastische Märchen handelte oder ob es die berüchtigten Bärenkrieger Skelliges tatsächlich gab. “‘Iss dein Abendbrot, sonst kommt der Vildkaarl und verschlingt dich ohne dich zu zerkauen’!”, zitierte die Frau eine Zeile aus einem ihrer staubigen Bücher in Kaer Morhen. Wieder lachte der anwesende Einsiedler. Er wirkte beeindruckt. “Eine Drohung an Kinder, die ihr Gemüse nicht aufessen wollen.”, nickte Adlet “Richtig, richtig. Du bist klug!” “Also ist es wahr. Die Berserker gibt es wirklich!” “Natürlich, Töchterchen. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht sie zu erforschen. Sie und das Blut und die Pilze, die diese Verwandlung möglich machen. Ach, ich liebe Pilze! Große, kleine, mittelgroße Pilze! Schwammige, feste, flache, hohe...”, schwärmte der schräge Druide und war völlig in seinem Element. Selig lächelnd betrachtete er Anna. “Pilze, mhm. Merkt man.”, kommentierte Hjaldrist abschätzig von der Seite und spielte damit auf den grässlichen Sewantentee an. Sein Onkel überhörte ihn geflissentlich. “Es sind sechs verschiedene Pilzarten in dem Absud, der einen zum Bär macht. Sechs Pilze und Hydragenum, Rebis und Karmin. Die Formel ist schwierig zu mischen, höchst kompliziert!”, erzählte der gelehrte Mann weiter und seine angetanen Worte überschlugen sich dabei fast. “Und was weißt du über die Kräuterprobe?”, fragte Anna. Es war vielleicht dreist dem Alten so ins Wort zu reden, doch sie konnte einfach nicht anders. Sie war viel zu aufgeregt. Eines der Knochenmobiles in der Hütte schepperte leise. In der Hütte auf Hindarsfjall zog es, wie in einem Vogelhaus. “Es ist die Prüfung der Gräser, durchgeführt an jungen Knaben, um jene zu Mutanten zu machen. Ich habe darüber gelesen und vor vielen, vielen Jahren eine Abschrift eines Manuskripts von Aretusa zwischen die Finger bekommen. Ich hatte meine Quellen, ja, und als Bruder des angesehenen Halbjørn Falchraite einige gute Kontakte!”, erzählte Adlet weiter und beugte sich verschwörerisch vor. Er setzte zum Sprechen an, leiser als noch zuvor, und räusperte sich, als wolle er sich unbedingtes Gehör verschaffen. “‘Am dritten Tag waren alle Kinder gestorben, ausgenommen ein Knabe von kaum zehn Jahren. Dieser, zuvor von heftigen Konvulsionen geschüttelt, fiel mit einem Mal in eine tiefe Ohnmacht. Seine Augen hatten einen Blick wie Glas, mit den Händen zerrte er ohne Unterlass an der Decke oder fuhr damit durch die Luft, als wolle er eine Feder fangen. Sein Atem ging laut und rau, ein kalter, klebriger und übelriechender Schweiß trat auf seine Haut. Da flößten sie ihm abermals das Elixier in die Adern ein, und der Anfall wiederholte sich. Diesmal begann Blut aus seiner Nase zu fließen, und der Husten wurde zum Erbrechen, worauf der Knabe vollends schwach und kraftlos wurde. Die Symptome hielten zwei Tage lang unvermindert an. Die Haut des Kindes, bis dahin von Schweiß bedeckt, wurde trocken und entzündet, der Puls verlor seine Stetigkeit und Genauigkeit, war jedoch ziemlich stark, eher langsam als schnell. Er kam kein einziges Mal mehr zu sich, auch hatte er zu schreien aufgehört. Schließlich brach der siebte Tag an. Der Knabe erwachte wie aus einem Schlaf und öffnete die Augen, seine Augen jedoch waren wie die einer Schlange…’”, zitierte der Trankmischer. Zähes Schweigen breitete sich auf diese dunklen Worte hin in der kleinen Holzhütte aus. Anna sah Adlet aus großen, beeindruckten Augen an, als schere sie sich nicht um den grausigen Inhalt der vorangegangenen Schilderung. Hjaldrist aber, der hatte sich ziemlich verspannt und starrte ungläubig in die Richtung seiner Freundin. Er hatte gar damit aufgehört unbeteiligt in seinem dünnen Eintopf herumzurühren und wirkte plötzlich ziemlich schockiert und aufgebracht. Das Kaminfeuer knisterte tanzend vor sich hin und der Kessel darüber blubberte und verströmte einen markanten, bitteren Geruch nach Sewantenpilzen. Das Aroma vermischte sich mit dem Räucherwerk aus Harz und Rosmarin. Vor der schiefen Eremitenhütte kam ein Sturm auf und ließ die entfernten Wellen laut brausen. “So steht es in den Niederschriften der werten Carla Demetia Crest! Ich habe später auch das Rezept der drei Absude gesehen.”, meinte der Onkel wissend und schlug die braunen Augen in einer unpassend klugen Miene nieder. Anna atmete einmal erleichtert durch und lächelte derweil froh. “Ich bin auf der Suche nach einer Form der Kräuterprobe, die Frauen zu Hexerinnen machen kann.”, eröffnete die Novigraderin nun ganz direkt und Adlet stockte. Der irre Druide sah sie tatsächlich so an, als habe er sich verhört. “Wie?”, wollte er wissen “Eine Prüfung der Gräser für Mädchen?” Anna nickte und stützte die Unterarme auf den Tisch, sah den Onkel Hjaldrists ernst an. “Glaubst du, du kannst mir helfen?” “Mh…”, der Druide verengte die Augen grüblerisch und fing damit an gen Zimmerdecke zu sehen. Sein Blick wanderte unstet, seine Gedanken sprangen sichtlich hin und her. Was mochte er sich wohl denken? Es verging eine halbe Ewigkeit, bevor er weitersprach. “Für Mädchen…”, murmelte er vor sich hin und wiegte den Kopf abschätzend. “Ich weiß nicht, ob das möglich ist… die Mixtur schadet weiblichen Organismen im Vornherein. Man müsste sie stark abändern.”, fing er dann an und linste zu der ambitionierten Kurzhaarigen zurück, besah sie von oben bis unten. Tiefe Skepsis lag in seinem Blick. “Vielleicht geht es, vielleicht auch nicht. Und wenn, dann muss man lange forschen. Ich habe für meinen Kuhtrank zehn Jahre gebraucht.”, gab der Druide zu. “ZEHN Jahre?”, platzte es aus Anna heraus und sie fiel beinah vom kleinen, antiken Hocker, auf dem sie saß. “Man muss Geduld haben und viele verschiedene Absude ausprobieren, meine Liebe.”, erklärte Adlet “In deinem Fall an Menschen. An Frauen. Keine einfache Angelegenheit. Wirklich nicht leicht. Und moralisch verwerflich!” Anna’s Blick sank auf die abgegriffene Tischplatte. Sie zog die Brauen weit zusammen und wusste nicht so recht was sagen. Ja, sie war zwar froh darüber endlich jemanden getroffen zu haben, der über die Kräuterprobe Bescheid wusste. Aber… zehn Jahre? Sie sollte zehn Jahre weiterforschen und suchen, in der Hoffnung irgendwann einmal eine Tinktur zu finden, die stimmte? Ob sie überhaupt so lange überleben würde? Sie wollte die Absude doch an sich selbst testen. Was, wenn sie dabei einmal einen Unfall hätte und starb? “Aber”, setzte der Onkel des Käferschubsers fort “Ich kann dir das normale Rezept für die Gräserprüfung geben. Und Ratschläge. Damit könntest du selbst forschen, Mädchen!” “Sie heißt Anna.”, hörte man Rist von der Seite aus murmeln. “Na, wie wäre es? Ich gebe dir das Rezept im, äh, Gegenzug für einen Gefallen!”, schlug der tickende Druide vor. Er lächelte schon wieder dümmlich-sanft. “Welchen Gefallen?”, fragte Anna langsam und vorsichtig nach. Denn bei einem Mann wie diesem Einsiedler hier wusste man ja nie. Vielleicht wollte er ja einen Finger der Frau, um ihn sich neben das Hühnerbein in die Hutkrempe zu stecken? “Ich-, uhm, also vorgestern, da ist mir eine Riesenmaus meiner Kuhtrank-Experimente entlaufen. Muschmusch der Name. Er ist nun irgendwo auf der Insel. Mhm. Ich brauche ihn wieder, sonst wird Märthe ganz schön beleidigt sein.”, schniefte der Mann und nickte, als wolle er sich selbst beipflichten. “Bring mir Muschmusch, Töchterchen, und ich helfe dir, wo ich kann.”, sprach der Eremit seine Bedingungen aus und die Novigraderin musterte ihn überrascht. Sie sollte nur eine mutierte Maus einfangen? Nichts leichter als das! “Gut!”, entkam es der Frau also entschlossen “Ich bringe dir die Maus lebend zurück und du erzählst mir alles, was du weißt!” “Wer ist eigentlich diese Märthe, von der du andauernd sprichst?”, wollte Anna neugierig wissen, als sie und Rist noch am späten Abend mit dem wirren Adlet zusammensaßen. Der gastfreundliche Druide war offenbar alles andere, als geizig und hatte ein, zwei Stunden nach dem dünnen Eintopf etwas aufgetischt, das er als seine selbstgemachte ‘Heringsmarmelade’ bezeichnete. Tatsächlich sei dieses Zeug, das vor allem aus Fisch bestand, recht beliebt auf Undvik. Es war dort, in einem Dorf namens Urskar erfunden worden, hatte Hjaldrist wissend gemeint. Ja, die Leute aus Urskar seien berühmt für ihren eingelegten Hering und aßen ihn nicht nur dann, wenn sie fürchterlich verkatert waren, sondern auch zum Frühstück, Mittag- und Abendbrot. Einfach so. Alles machten sie angeblich aus dem Fisch, selbst Kompott. Und Marmelade. Nun war diese gräuliche Heringsmarmelade aber nicht so, wie Konfitüre aus Obst und Früchten, sondern pikanter Natur. Sie war salzig und ließ sich auf Brot streichen. Das hatte letztlich dazu geführt, dass man sie nannte, wie man sie eben nannte. Und sie schmeckte in kleinen Maßen wirklich gut. Anna hatte schon zwei Brote damit gegessen, hatte Rist aber noch nicht überholt. Denn der lag mit ganzen drei Stücken vorne. Adlet, der schlürfte lieber noch etwas von seinem kalt gewordenen Gemüseeintopf, während seine Knochen- und Muschelmobiles im Hintergrund leise vor sich hin klimperten. “Märthe”, fing der bartlose Druide an und schniefte vernehmlich “Ist meine Kollegin und eine gute Freundin. Sie lebt auch hier auf der Insel. Sie hilft mir, wo sie kann und macht den allerbesten Brennesselsalat.” “Ähm. Verstehe.”, entgegnete Anna. Der Onkel von Hjaldrist war auf diesem einsamen Stück Land also nicht vollkommen allein. Ob die andere Druidin, die hier hauste, wohl genauso eigen war, wie er? Mit verrückten Experimenten im Kopf, mutierten Tieren und so weiter? “Werden wir sie kennenlernen?”, hakte die interessierte Hexerstochter weiter nach und Adlet zog die Stirn kraus. “Das kommt drauf an, wie lange ihr bleibt, Mädchen.”, meinte er nachdenklich und hatte Anna bisher kein einziges Mal bei ihrem Namen genannt. Er bezeichnete sie ständig nur als ‘Mädchen’ oder ‘Töchterchen’. Ein Ding, über das sie hinwegsah. Denn der anwesende Alchemist war, nun ja, speziell. Bestimmt bemerkte er selbst nicht einmal, wie sehr. “Wenn ihr bis nächste Woche bleibt, dann werdet ihr sie sehen, ja. Dann kommt sie mich besuchen und wir arbeiten mit Muschmusch weiter. Also insofern du Muschmusch findest. Er ist, musst du wissen, ein gewitztes Kerlchen und ich bezweifle ja, dass es so einfach wird ihn aufzuspüren.”, sinnierte der Alte, der jedoch jung aussah, brach eine dicke Brotscheibe in ein paar mundgerechte Stücke und warf sie allesamt in seine kleine Eintopfschüssel, als wolle er darin einen Matsch aus eingeweichtem Brot und Gemüse fabrizieren. Anna rümpfte kaum merklich die Nase, als sie dies beobachtete. “Es wird nicht so schwer sein eine Maus zu finden, die mutiert ist, Onkel.”, warf Hjaldrist jetzt selbstsicher ein. Er schmierte sich soeben sein viertes Brot mit Butter und Heringsaufstrich. “Und wenn wir schon dabei sind…”, setzte der hungrige Mann fort “Wie groß soll diese Muschmusch denn sein?” “DiesER. Muschmusch ist ein Er.” “Ja, die Maus halt. Wie groß ist sie?”, wollte der Undviker wissen und wirkte entnervt, als sein Onkel die Nase abermals trocken hochzog. Der Tick seines Verwandten schien ihn zu stören. “So groß, wie eine Kuh natürlich!”, sagte Adlet so, als wolle er mit dieser Tatsache prahlen. Anna verschluckte sich an ihrem Bissen Fischbrot, als sie das hörte, musste husten und klopfte sich fest gegen die Brust. Sie sah nicht, wie auch Rist kurz stutzte. “...Ja. Na dann.”, machte der Krieger in Grün zerfahren und fragte nicht weiter nach. Es wäre wirklich nicht schwer eine Maus zu finden, die so groß war, wie ein Rind. Und die Insel war schließlich auch nicht riesig. Hier musste man doch sicherlich nicht einmal angestrengt suchen, um dem Riesennager früher oder später über den Weg zu laufen. Am nächsten Tag suchten die zielstrebigen Abenteurer schon früh nach der entlaufenen Maus von Adlet. Obwohl sie am Vorabend noch lange wach gewesen waren, waren sie schon vor dem Morgengrauen auf den Beinen. Es hatte die ganze Nacht über wüst gestürmt, doch immerhin hatte es nicht mehr geschneit, im Gegenteil. Es war etwas wärmer geworden. Geschlafen hatten Anna und Rist am Boden im Wohnbereich des verrückten Onkels. Nah am Kamin und in ihren Schlafsäcken, auf dem Bärenfellteppich und unter den klappernden Mobiles, die einen recht melodisch in den kurzen Schlaf begleitet hatten. Und nun spazierten sie unweit der Hütte herum, vor der Adlet gerade ein Loch schaufelte, und suchten. Warum der Druide eine Mulde grub, war so unklar, wie so vieles andere an ihm auch. “Hier… ein Fußabdruck. Wer sagt’s denn!”, entkam es Anna, als sie über einem Fleck mit niedergetretenem Gras hockte und den Umriss des länglichen Abdruckes musterte. Er war unverkennbar der eines Hinterlaufes einer Maus - einer ziemlich großen, wohlgemerkt. Adlet hatte also nicht fantasiert oder gelogen. Er hatte Muschmusch tatsächlich mutieren lassen und das Vieh war nun so groß, wie eine Kuh. Wenn nicht sogar größer. Wer wusste das schon? “Hier ist noch einer.”, meinte Rist winkend nach Aufmerksamkeit haschend und deutete auf einen weiteren Tatzenabdruck im welken Gras. Seine teuer bestickte Tunika bauschte sich in der salzigen Brise, genauso wie sein dunkler Mantel. Anna’s Augen folgten dem Fingerzeig ihres aufmerksamen Freundes und fielen auf eine weitere Fährte in der matschigen Wiese, auf der unlängst erst der Schnee geschmolzen war. Und irgendwie fand sie es schade zu den kargen Wintermonaten hier gelandet zu sein. Bestimmt war Skellige im Sommer richtig, richtig schön. Mit einer atemberaubenden Fauna - grün und voll mit Kräutern, die man sammeln könnte - und nicht so trostlos, wie momentan. Die Monsterjägerin mochte den ungnädigen, arschkalten Winter des Westens nicht. “Stimmt. Und hier, sieh mal!”, Anna zog etwas von einem nahen Dornenstrauch und hielt es ihrem staunenden Begleiter vor die Nase. Es war ein großes Fellbüschel und dessen weiße Haare struppig und dick. So sehr, dass sie schon fast an Wildschweinborsten erinnerten. “Unsere Maus ist also weiß. Gut zu wissen, was?”, schmunzelte Rist. Die mächtigen Pfotenabdrücke Muschmuschs liefen für jemanden, der Fährtenlesen konnte, unverkennbar bis zu dem kleinen Nadelwäldchen, das an Adlet’s Heim grenzte. Ins Unterholz, zwischen dichte Büsche und kahles Geäst. Etwas mühsam und ächzend kämpften sich Hjaldrist und Anna voran, schoben kratzendes Gestrüpp fort, hackten mit Axt und Schwert nach schmalen Ästen. Doch irgendwann, da verlor sich die Spur auf einmal. Ganz plötzlich hörte sie auf, irgendwo zwischen ein paar Tannen und einem trockenen, dornigen Brombeerstrauch, in dem sich Rist’s schöner Mantel soeben verfing. Nahe einer offenen Lichtung geschah das. Unschlüssig hielt Anna inne, sah um sich und ihre forschenden Augen versuchten herauszufinden, ob die Fußabdrücke des Riesennagers vielleicht irgendwo anders wieder auftauchten. Der anwesende Skelliger klaubte sich solange ein paar verdorrte Blätter vom hübschen Rock und schloss zu der prüfend um sich sehenden Frau auf. Er hatte der versierten Hexerstochter bisher das Spurenlesen überlassen und nur ab und an irgendwelche Kommentare eingeworfen. Er war schließlich ein simpler Krieger. Jemand, der eher mit dem Schild und erhobener Waffe voran stürmte, anstatt am feuchten Boden umher zu krabbeln und penibel irgendwelche zertretenen Gräser oder umgeworfene Baumstämme zu beäugen. “Die Spur verliert sich hier...”, machte Anna unzufrieden und sah auf, wirkte einige Momente lange sehr ratlos, doch eilte dann schon zu den nächststehenden Bäumen und Büschen, um jene eindringlich zu begutachten. Genauso, wie Balthar es ihr beigebracht hatte, tat sie dies. Hjaldrist gab einen grüblerischen Laut von sich, kratzte sich am Hinterkopf und folgte. Was sollte er auch anderes tun? “Was, wenn Muschmusch wieder klein geworden ist?”, fragte Anna dann auf einmal zögerlich langsam in die Stille hinein, als spräche sie mit sich selbst, und rückte sich den dicken Schal etwas zurecht. Sie richtete sich auf und wand sich zu Hjaldrist um. “Meinst du wirklich, das ist passiert?”, seufzte der Skelliger mürrisch, zog die Brauen zusammen und steckte sich die Hände in die tiefen Manteltaschen. “Naja, naheliegend wäre es doch.”, entgegnete die Frau. Tatsächlich war es möglich, dass Muschmusch einfach wieder geschrumpft war. Es würde zumindest erklären, warum die riesigen, unübersehbaren Tatzenabdrücke im Morast einfach so aufhörten. So, als wären dem Nager auf einmal Flügel gewachsen, mit denen er davongeflattert war. “In dem Fall wird es wohl doch schwieriger als gedacht die Maus zu finden…”, brummte Hjaldrist vor sich hin und auch Anna wirkte nicht unbedingt erfreut. “Mäuse in Häusern fangen kann ich. Sie aus Lagerhallen vertreiben auch. Aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie man hier, auf dem offenen Land und im dichten Forst, eine klitzekleine Maus finden soll. Vielleicht wurde sie ja sogar schon von irgendeinem Raubtier gefressen.”, Anna stemmte sich die Hände in die Seiten und einer ihrer Mundwinkel zuckte unwohl zur Seite. “Wir könnten eine Falle aufstellen.”, schlug Rist ganz bodenständig vor. Eine gute Idee, wenngleich dabei die große Möglichkeit bestand nicht nur Muschmusch zu fangen, sondern auch andere Nager. “Hm… ja. Die Maus wird hier im Wald wohl zu Fressen finden und daher nicht hungrig sein, doch wenn wir irgendetwas besonders schmackhaftes in die Falle legen, kommt sie vielleicht. Solange sie noch lebt eben. Wahrscheinlich werden wir mehrere Anläufe brauchen. Muschmusch ist nicht das einzige Tier hier.”, sinnierte die Kriegerin grüblerisch vor sich hin und wiegte den Kopf nachdenklich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. “Versuchen wir’s einfach.”, grinste Rist und seine Freundin gab einen zustimmenden Ton von sich “Mit einer Falle, die nicht tödlich ist. Es ist besser, als einfach nur planlos durch den Wald zu rennen.” Eine Falle, die sich zum todlosen Fangen nützlich zeigte, war bald gefunden. Wie es sich herausgestellt hatte, besaß Adlet neben seiner vermissten Maus ein paar weitere Nager in allen möglichen Farben. In einem kleinen Anbau seines Hauses befand sich eine Art Stall, in der er die Tiere untergebracht hatte. In kleinen Käfigen, die reichlich ausstaffiert waren mit Stroh, kleinen, schiefen Häuschen und Futter. Man konnte sagen, was man wollte, doch die fetten Versuchstiere hatten bei dem Onkel kein allzu schlechtes Leben. Wenn man denn von all den seltsamen Experimenten mit Absuden und Tinkturen absah, wohlgemerkt. Im besagten Mäusestall, in dem mitunter auch eine Ratte und ein nacktes Wiesel hausten, hatten Anna und Rist einen nicht benutzten, halb rostigen Käfig gefunden. Er war kaum eine halbe Elle lang und genauso breit. Die beiden Abenteurer hatten den Draht, der das Käfiggitter formte, eingeschnitten und um ein kleines Loch herum nach innen gebogen. Die Maus könnte also in das enge Behältnis huschen, doch käme nicht mehr heraus. In der Theorie jedenfalls. Man würde es ausprobieren müssen, denn andere Optionen gab es nicht. Und das taten sie dann auch: Sie gingen zurück zur Lichtung, in denen sich Muschmusch’s klare Fährte verloren hatte und stellten die kleine Falle dort auf. Im Innern des Käfigs hatten sie etwas fürchterlich stinkenden Käse und leckere Heringsmarmelade drapiert. Eine Zeit des gespannten Abwartens stand jetzt bevor. Denn viel mehr, als einen Fangkäfig aufzustellen konnte man im Moment schließlich nicht tun. Die Wartezeit vertrieben sich die zwei Reisenden damit in Adlet’s Hütte herumzulungern, Gwent zu spielen oder mit dem schrägen Onkel Rists zu plaudern. Besonders Anna fachsimpelte viel mit dem Älteren, diskutierte bei Tee und Brotkuchen über Alchemiezutaten und alte Niederschriften oder Märchen über die Kräuterprobe. Dabei erwähnte Adlet, dass es auch in Toussaint jemanden gäbe, der sich mit der Lieblingsthematik Annas beschäftigte. Irgendeinen Professor, dessen Name der zerstreute Druide vergessen hatte, doch der in der schillernden Hauptstadt fernab des dreckigen Nordens lebte. Oder gelebt hatte, je nachdem. Eine Tatsache mehr, die sich die freudige Hexerstochter im Geiste notierte. Und gleichzeitig interessierte sie nicht nur das Trankmischen und Rezepte für Brotkuchen mit Honig, sondern auch noch etwas ganz Anderes, Unausgesprochenes. Oder eher: Jemand. Seit dem vergangenen Abend war die burschikose Frau nämlich äußerst skeptisch. Man möchte gar meinen misstrauisch. Und zwar ihrem Begleiter Hjaldrist gegenüber. Dessen Onkel hatte nämlich mehrere Dinge anklingen lassen, die sehr bedeutungsvoll oder in ihren Ohren rätselhaft geklungen hatten. Und während jener das getan hatte, so war es der klugen Frau durchaus aufgefallen, hatte der genervte Hjaldrist immer wieder abgelenkt oder das Thema so schnell, als möglich gewechselt. Ja, Anna mochte vielleicht vom verbohrten, emotional ungeschickten Schlag sein und lieber über Monster oder irgendwelche Kräuter reden, als über alles andere. Dennoch besaß sie eine gewisse Menschenkenntnis. Und jene sagte ihr, dass mit Rist und seinen ganzen Geschichten über seine Herkunft irgendetwas nicht ganz stimmte. Es war eine dunkle Vermutung, die ihr auch heute Nacht permanent im Schädel umherirrte. Die Kräutersammlerin fragte sich, warum ihr Kollege so auffallend abwehrend auf Adlet’s Bemerkungen über Eltern und geerbte Äxte reagiert hatte. Noch hatte sie ihn aber nicht darauf angesprochen, obwohl sie glaubte ein gutes Recht darauf zu haben. Schließlich hatte sie Hjaldrist auch sehr viel über sich erzählt. Über ihre halsbrecherischen Pläne und ihr Zuhause zum Beispiel. Außerdem reisten sie nun schon eine ganze Weile miteinander und verstanden sich prächtig. Ja, sie beide standen sich in gewisser Weise sogar recht nah. Es stieß der Kurzhaarigen also sauer auf, dass sich ihr Freund von den Inseln dermaßen verschlossen hielt und bisher nicht mehr von sich gegeben hatte, als die Geschichte über seine Familie, die dem Handel von Kleidung nachging. War dies vielleicht eine Lüge gewesen? Ja, denn welcher Tuchhändler besaß denn eine Familienaxt oder gute Kontakte zu Zauberinnen von Aretusa? “Ich bin mal für kleine Drachenreiter…”, warf Hjaldrist im faulen Ton, neben Heißgetränken und Kuchen, ein und erhob sich, strich sich den Gehrock beiläufig glatt. Anna nickte leicht und nippte unschuldig an ihrem Sewanten-Tee, sah dem Kerl derweil aber verschlagen nach. Und sobald er die alte, zugige Hütte mit den bunten Kommoden verlassen hatte, stellte sie ihre Tasse entschlossen ab und fixierte Adlet, der ihr gegenüber saß, mit drängendem Blick. Denn die Zeit des Nachhakens war gekommen. Sie hatte eine Ewigkeit darauf gewartet mit dem schniefenden Alchemisten alleine zu sein und nun war Rist endlich weg. Gerade, da wollte der gelehrte Druide am Tisch wieder mit einer Ausführung über Vitriol und Pilze anfangen, doch Anna unterbrach ihn hektisch. Sie hatte es schließlich eilig, denn allzu lange würde Hjaldrist ja nicht weg sein. “Adlet.”, fing die abrupt ernste Frau an und der Trankmischer hielt ob dem irritiert inne, blickte fragend drein “Eure Familie. Handelt die mit Kleidung?”. Auf diese Frage hin hob der Alte die wohlgeformten Brauen weit an und betrachtete Anna, als verstehe er nicht so recht. So, als habe er sich gar verhört. “Kleidung?”, fragte der Onkel mit dem schief sitzenden Hähnchenfuß-Hut verwirrt “Warum sollte sie denn mit Kleidung handeln?” Aha. Hjaldrist hatte also gelogen, dieser Betrüger. “Eine Jarlsfamilie handelt doch nicht mit sowas, Mädchen. Gibt es dort, wo du herkommst, denn Adelige? Die lassen sich Kleidung BESORGEN, aber verkaufen selbst keine.”, lachte der Druide gutherzig, tickte und schüttelte etwas ungläubig den Kopf. Und Anna, die verstummte augenblicklich. Sie war sprachlos. Aus geweiteten Augen sah sie dem verrückten Skelliger verdutzt entgegen und hatte den Mund einen Spalt weit offenstehen, weil sie eigentlich etwas sagen hatte wollen. Stattdessen blieb ihr nun aber erst einmal bloß der Atem weg. Völlig tonlos saß die Frau da und starrte den lächelnden Adlet an, als habe er ihr gerade erzählt, hinter seiner Hütte wohne ein wahrhaftiger Drache. Der Käferschubser, Rist, war ADELIG? Und viel mehr noch: Er war der Sohn von einem JARL? Von dem Undviks? Oh, bei Melitele’s langer Unterbuchse! Anna hatte zwar nicht so viel Ahnung von politischen Verhältnissen außerhalb der Gebiete, in denen sie bisher gereist war, aber Jarls waren doch so etwas Ähnliches wie Gräfe oder Herzöge, oder? Richtige Herrscher. Sie hatte schon von einem der Jarls hier gehört, diesem Crach An Creppel, oder wie er hieß. Und dieser berühmte Kerl hatte ganz schön was zu sagen. War Rist’s Vater auch so einer? Hatte jede der Inseln Skelliges einen? Und unterstanden sie einem König? Oder wem? Fragen über Fragen. Doch leider war keine Zeit, um sie zu stellen, denn der, um den es hier eigentlich ging, kam zurück ins Haus spaziert. “Wenn es noch etwas aufklärt, kommt die Sonne durch und wir können nachher draußen auf der Holzbank sitzen.”, merkte Hjaldrist an, als er wieder in die warme Stube trat, in der es nach süßlichem Räucherwerk roch. Er kam gelassen daher und schloss die knarrende Hüttentür hinter sich. Adlet sah auf, wirkte erfreut und nickte. “Das Wetter wird besser, das ist schön, ja, ja.”, pflichtete der eigenartige Druide bei und war gleich wieder ganz in seinem Element “Wenn die Sonne durchkommt, Kinder, kann ich euch eine meine Erfindungen zeigen! Ein kleines Wasserrad, das sich wie von selbst in einem Glas voller Wasser dreht. Es funktioniert aber nur mit Sonneneinstrahlung! Ich habe drei Monate gebraucht, um es zu entwickeln.” “Ähm. Aha.”, machte der desinteressierte Rist nur und kam wieder an den Tisch, setzte sich und fischte nach seiner Tasse mit widerlich süßem Tee. Anna sah von der Seite aus zu ihm und das so sonderbar taxierend, dass der Skelliger mit dem Trinken innehielt und die Kriegerin aus fragend verengten Augen betrachtete. “Was ist?”, wollte er wissen. Und erst an dem Punkt schien die Novigraderin zurück in das Hier und Jetzt zu fallen. Sie blinzelte irritiert, setzte sich dann wieder gerader hin und verkniff sich ein lautes Räuspern. Oh, Mann. “Uhm, nichts.”, redete sie sich heraus “Ich bin nur etwas müde.” Ihr Freund nickte auf diese Aussage hin verständnisvoll. Schließlich hatten sie wirklich nicht sehr viel geschlafen. Schuld daran waren vor allem die unterhaltsame Gesellschaft Adlets und der tosende Wind, der heute zum Glück wieder nachgelassen hatte, anstatt an den nahen Tannen zu reißen. “Ich halte euch meine Zehen gedrückt, Kinder! Alle zehn!”, lächelte der wirre Druide unbeholfen, als er Anna und Rist später, am frühen Abend, verabschiedete. Dabei verhielt er sich, als würden die beiden zu einer langen Reise aufbrechen und ihn nie wieder sehen: Der Mistelschneider nahm Anna’s behandschuhte Hand und drückte sie fest. Dann klopfte er seinem Enkel noch einmal die Schulter, bevor er jenen halb umarmte, was einmal wieder ziemlich hilflos aussah. Anna wich ein Stückchen ab, verkniff sich ein Lachen. Und Rist ließ die ungeliebte Prozedur einfach mit mürrischer Miene über sich ergehen. “Wir sind bald wieder da, Onkel.”, versicherte der Skelliger dabei, atmete entnervt durch und warf seiner wartenden Freundin einen vielsagenden Blick zu. Seine Miene sprach dabei tausend Worte und Anna musste noch immer ganz breit schmunzeln. Gleichauf fragte sie sich, wie es dazu gekommen war, dass Adlet zum Druiden und Einsiedler geworden war. Sie war gerade dabei sich an den überwältigenden Gedanken zu gewöhnen, dass sie mit einem Jarlssohn reiste, der nicht einmal wusste, dass sie nun seine wahre Identität kannte. Doch dass der ältere Undviker, Adlet, hier so mutterseelenallein wohnte und nicht ganz richtig im Kopf zu sein schien, war der Hexerstochter ein kleines Rätsel. Hatte man ihn etwa hierher verbannt, weil er einen fragwürdigen Schein auf seine hochrangige Familie geworfen hatte? Hatte der arme Mann gehen müssen, weil er sich nicht als Bruder des Jarls von Undvik hatte zeigen können? Vielleicht würde die neugierige Novigraderin den ansehnlichen Alten später danach fragen. Ja, mit Glück bekam Hjaldrist ja die Scheißerei und würde für ein, zwei Stunden aus der Hütte seines pilzliebenden Verwandten verschwinden. “Gehen wir.”, der besagte Käferschubser berührte Anna drängend am Arm, als er an ihr vorbei marschierte. Und erst an diesem Punkt sah die Kriegerin wieder aus ihren Gedanken auf. Sie sah noch einmal kurz zu Adlet hin, vor dem Rist ganz offensichtlich floh, winkte ihm knapp zu und machte sich daraufhin daran zu ihrem Kumpel aufzuholen. Sie wollten in den Wald, um dort nach ihrer Mausefalle zu sehen. Womöglich hätten sie Muschmusch ja schon mithilfe von Käse und Heringsmarmelade gefangen. Und tatsächlich befand sich in der improvisierten Fangfalle eine Maus. Eine weiße auch noch dazu. Rist riss eine Faust siegreich in die Luft, als er dies sah, und gab ein triumphierendes ‘Jawoll!’ von sich. Und auch Anna begann damit über das ganze Gesicht zu strahlen, wie ein Honigkuchenpferd. Sie kämpfte sich hinter ihrem Freund, der bereits bei der Falle war, aus dem Gebüsch, wobei sie beinah über eine kleine Wurzel stolperte, und eilte froh zu Hjaldrist. Neben ihm hockte sie sich hin und fasste nach dem kleinen Käfig, in der ein helles Mäuschen mit roten Augen saß. Ein Albino. Welch ein großer, toller Zufall, dass sie es geschafft hatten Muschmusch gleich beim ersten Anlauf zu fangen. Es war unglaublich. “Muschmusch!”, lachte Anna erfreut und auch ihr grinsender Kollege war nicht weniger erleichtert. “Er ist also wieder klein geworden. Welch ein Glück, hm? So müssen wir keine Riesenmaus zurück zu deinem Onkel schleifen.”, entkam es der glücklichen Novigraderin und mit der Mausefalle, die sie wie einen Schatz in ihren Händen hielt, blickte sie zu ihrem zustimmend nickenden Freund hin “Lass uns zurück zu Adlet gehen.” Mit einem weiteren Blick auf die weiße Maus, die in aller Seelenruhe an dem Stück Köderkäse nagte und sich daher nicht wirklich um ihre Umgebung zu scheren schien, erhob sich die Frau in der gestreiften Jacke wieder. Sie war ihrem Plan bezüglich der Kräuterprobe hiermit endlich ein Stück weit nähergekommen. Zwar hatte sie bereits gewusst, was in etwa in die Absude dafür gehörte und welche Kräuter und Alkohole benötigt wurden, doch in welchen Konzentrationen das passierte, war ihr bisher stets ein Geheimnis gewesen. Ein Geheimnis, das Adlet lüften würde, sobald er seine Lieblingsmaus wieder bei sich hätte. Anna wollte sich also schon federnden Ganges abwenden, um zur Hütte des Eremiten zurück zu kehren, als Hjaldrist sie mit einem ungewohnt bittenden Ton aufhielt. Er klang auf einmal so ernst. “Warte.”, sagte er. Die Frau blieb nach ein, zwei Schritten stehen und wandte sich fragend zu ihrem Freund um, der da auf der matschigen Lichtung stand. Er sah streng aus, irgendwie besorgt. Was war denn los? “Bist du dir sicher, dass du das tun willst?”, fragte der veränderte Krieger jetzt und rührte sich nicht vom Fleck. Er wirkte, so wie er dastand, ein wenig verloren. Es passte nicht zu ihm. Ganz und gar nicht. “Was meinst du?”, wollte Anna vorsichtig wissen. Muschmusch hatte seinen Happen Käse aufgefressen und fing damit an protestierend am metallenen Drahtgestell seines Käfigs herum zu nagen. Man konnte ihn leise fiepen hören. “Die Sache mit dieser Kräuterprobe. Nachdem Onkel davon geredet hat, weiß ich ja nicht so recht, ob es eine gute Idee ist dahingehend zu experimentieren, Anna.”, sagte Rist ruhig, doch man sah ihm an, dass ihm die heikle Angelegenheit alles andere als egal war. Klar. Sonst hätte er seine Kollegin ja auch nicht darauf angesprochen. Noch bevor die burschikose Frau antworten konnte, redete der Skelliger dazwischen. “Der Junge in der Erzählung hat eine Woche lang gelitten und ist beinah gestorben. So, wie all seine Freunde zuvor. Wenn die Kräuterprobe wirklich SO abläuft, dann-... naja, es ist gefährlich. Richtig gefährlich. Das ist dir doch klar?”, meinte der Jarlssohn und tat sich mit dem Einwand sichtlich schwer. Die konfrontierte Novigraderin schwieg nach den Worten Rists eine ganze Weile. Auch ihr Gesichtsausdruck war härter geworden und noch immer hörte man die Maus nervös am Käfiggitter nagen. “Hjaldrist...”, seufzte die Monsterjägerin. Es kam selten vor, dass sie ihn mit seinem vollen Namen ansprach. Wenn sie das tat, dann nur, wenn sie stritten oder über wirklich bedeutende Dinge redeten. “Deswegen will ich die Sache ja erforschen. Damit sie unbedenklich für Frauen verwendet werden kann.”, erklärte sie, als spräche sie mit einem Kind. Es war eine Lüge. Mutationen herbeizuführen, ohne das Testsubjekt dabei in arge Lebensgefahr zu bringen, war eine Utopie und wäre auch nach jahrzehntelanger Forschung nicht möglich. Wäre dem so, dann hätten die Hexerszünfte ihre Kräuterprobe für Jungen längst weiterentwickelt. Stattdessen gab es aber immer weniger Leute, die sie überhaupt einsetzten. Jedenfalls erzählte man sich das so. Außerdem war es nicht wahr, dass Anna ihre Rezepte weitergeben wollte. Keine Frau, außer sie selbst, sollte sich einer lebensgefährlichen Kräuterprobe unterziehen und dabei das hohe Risiko eingehen zu sterben. Und dennoch wirkte die Kräuterkundige im Moment so selbstbewusst und locker. Es war ein Leichtsinn, der von ihrem sturen Entgegenstreben herrührte. Von diesem hartnäckigen Kampf um das, was sie sich mehr, als alles andere wünschte. Und das schon seit dem Kindesalter. Anna würde alles tun, um eine Hexerin zu werden. Eine wahre Mutantin, wie Balthar, Vadim oder Jaromir. “Ich glaube nicht, dass so etwas jemals unbedenklich sein kann.”, konterte Rist. Woher auch immer gerade diese arge Skepsis kam, sie hatte sich in ihm festgesetzt. Der viel zu schlaue Skelliger würde nicht so leicht nachgeben. “Ich habe doch gehört, was mein Onkel gesagt hat. Normalerweise ist er für jeden alchemistischen Mist zu haben, doch nachdem du ihm deinen Plan offenbart hast, hat er gezögert. Das ist kein gutes Zeichen. Adlet zögert sonst nie, er ist zu verrückt dafür.”, sprach Hjaldrist weiter “Aber gestern, da hat er zu lange gezögert.” Anna entkam ein tiefes Seufzen. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, also ließ sie ihren Freund ausreden. Mit dem unglücklich piepsenden Muschmusch im Käfig stand sie einfach nur da und spürte, wie ihr die Feuchtigkeit des nassen Waldbodens kalt in die Stiefel kroch. Jene waren offenbar nicht mehr ganz dicht. Die Hexerstochter sollte bald einen Schuster aufsuchen. “Ich habe mir am Anfang nicht viel dabei gedacht, weil ich keine Ahnung von deinen Tränken hatte. Aber mittlerweile weiß ich Bescheid, Arianna. Gut genug, um zu wissen, dass die ganze Angelegenheit kein Spiel ist.”, appellierte der bange Mann an seine wagemutige Begleiterin. “Es ist auch kein Spiel.”, gab sie zurück und war erstaunt darüber, wie gelassen sie dabei klang. “Ich denke trotzdem, dass du es unterschätzt.” “Nein, tue ich nicht.” Nun war es Hjaldrist, der abgespannt seufzte und Anna dabei unverändert todernst ansah. So, wie jemand, der versuchte seinen Standpunkt klarzumachen und durchzusetzen. Und nach wie vor war da diese gut gemeinte Besorgnis in seinem Ton, die es einem schwer machte ihm gegenüber böse zu werden. Normalerweise, da wäre Anna nun schnell ziemlich aufbrausend geworden, hätte direkt und unfreundlich geantwortet oder das Gespräch schnippisch beendet. Doch nun tat sie das nicht, sondern stand einfach nur da. Natürlich war ihre Haltung ihrem Lebensziel gegenüber unverrückbar, dennoch ließ sie sich auf die Situation ein. Rist hatte ein unverschämtes Glück. “Ich kann dich nicht davon abbringen, es zu versuchen, oder?”, seufzte der Mann kritisch und steckte sich die Hände in die Manteltaschen, was ihm ein noch unschlüssigeres, fast scheues Aussehen verlieh. Ja, es hätte nurmehr gefehlt, dass er ungelenk und stöhnend einen kleinen Stein vor sich wegtrat. “Nein. Kannst du nicht.”, gab die starrsinnige Frau aus Kaer Morhen zurück. Daraufhin legte sich eine ungute Stille über die Lichtung der kleinen Druideninsel. Es war ein unangenehmes Schweigen, das einen dazu drängte etwas zu sagen, weil es wie mit unsichtbaren Messerchen stach und die Luft dick machte. Daher holte Anna Luft zum Sprechen. “Hast du ein Ziel, das du unbedingt erreichen willst?”, fragte sie ihren abwartenden Kollegen nun. Die Miene des Kriegers lichtete sich ein klein wenig und er sah sie unschlüssig an. Anna wartete keine Antwort ab. “Kannst du es dir vorstellen dieses Ziel, diesen Plan, einfach fallen zu lassen, wie eine heiße Kartoffel? Zurück nach Hause zu gehen und dich deinem Alltag zu fügen, bis du alt und schrumpelig bist und stirbst?”, setzte die Kurzhaarige fort und schien damit irgendetwas in dem stillen Krieger zu erreichen. Sie wusste nicht, was es war, doch der Undviker wirkte urplötzlich betroffen und seine Augen begannen damit unstet zu wandern. Er runzelte die Stirn leicht, fixierte irgendeinen Punkt neben Anna und fuhr sich nachdenklich über das unrasierte Kinn. Wieder schwiegen sie, doch nicht lang. “...Nein.”, entkam es dem Mann dann endlich. Er suchte erneut Blickkontakt und wirkte dabei weniger verloren, als noch zuvor. Was er sich wohl gerade dachte? Seine Kumpanin lächelte schwach. “Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.”, versicherte er mit mehr Standhaftigkeit in der Stimme. Zufrieden und anerkennend nickte Anna ihm zu. Hjaldrist schien zu verstehen. “Ich auch nicht.”, meinte die Nordländerin und stellte sich damit wieder auf dieselbe Stufe, auf der sich auch ihr Freund befand. Keiner lief dem anderen nach, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen und niemand bettelte den jeweils anderen um irgendetwas an. Sie beide waren Leute, die ihre eigenen Pläne hatten und dies akzeptierten sollten, einander halfen. Anders würde eine weitere gemeinsame Reise nicht funktionieren. “Gehen wir zu Adlet zurück.”, lächelte Anna schmal und Rist nickte. Kapitel 11: Eine wertvolle Belohnung ------------------------------------ Muschmusch hörte den ganzen Weg über nicht damit auf an dem Gitter seines schmalen Gefängnisses zu nagen, zu fiepen und in der Falle herumzulaufen, wie wild. Hatte er anfangs noch so gleichgültig an dem stinkenden Köderkäse genagt, so fand er gerade keine Ablenkung mehr im Essen. Stattdessen drehte das Tier halb durch, wollte raus und steckte die Nase durch den Gitterdraht hindurch, um bissig nach Anna’s Handschuh zu schnappen. Man hörte die Frau leise fluchen. “Wie, zur Hölle, hält sich Adlet dieses dumme Tier eigentlich?”, wollte sie wissen. Denn die eigensinnige Maus schien Käfige ganz und gar nicht zu mögen. Die brummige Novigraderin stieg über einen Ast hinweg, der da am Weg lag und sah bereits die Wiese, die sich vor dem Wald auftat. Sie wären bald da. “Keine Ahnung.”, meinte Rist nahezu amüsiert “Vielleicht gibt er Muschmusch zwischendurch ja Schlaftränke. Oder er beduselt ihn mit seinem Räucherwerk. Wer weiß?”. “Oh Mann.”, war das einzige, das Anna noch dazu einfiel. Und dann rumste es plötzlich, als fiele etwas vom Himmel. Die Hexerstochter wusste nicht, wie ihr geschah, alles passierte so schnell. Irgendetwas traf sie wuchtig von vorn, warf sie rücklings in den Dreck. Sie hörte Rist irgendetwas rufen, dann ein fremdartiges Grölen. Als sie, am Boden sitzend, den Kopf hob, sah sie nurmehr weißes Fell. Viel Fell. Fell, das zu einem Tier gehörte, das so groß war, wie ein Pferd. Nein, größer sogar! Die Maus, die sich vor wenigen Sekunden noch aufgebracht scharrend in ihrem Käfig befunden hatte, war plötzlich explosionsartig angewachsen, trat mit einer der massigen Pfoten beinah auf die Frau am Boden und bäumte sich auf, warf sich herum. Einen überwältigten Laut von sich gebend, rutschte die sprachlose Anna am Hinterteil zurück. Dass sie dabei in der matschigen Wiese saß, bemerkte sie in dem prekären Moment gar nicht. “Anna!”, schrie Rist durch das gehetzte Schnarren der Monstermaus hindurch und es hätte nur eine Haaresbreite gefehlt, da hätte Muschmusch ihn mit dem schlagenden Schwanz getroffen. “Anna, er haut ab!”, brüllte der Mann und dann passierte genau das, was er soeben vorausgesagt hatte. Der weiße, gigantische Nager mit den roten Augen machte kehrt und rannte fluchtartig los. Und Rist, der folgte dem Tier instinktiv und ohne zu zögern. Er wartete nicht darauf, dass sich seine perplexe Freundin vom dreckigen Boden aufrappelte und sich ihm in der plötzlichen, unerwarteten Jagd anschloss. Denn so, wie Anna schien es ihm bereits wie Schuppen von den Augen gefallen zu sein: Adlet hatte mit dem Berserkertrank der skelliger Bärenkrieger experimentiert, um die Formel so anzupassen, dass sie aus Mäusen Kühe machte. Bei Muschmusch hatte das nicht funktioniert und dies aus gutem Grund, wie die Abenteurer später noch erfahren würden. Stattdessen wirkte der Absud auf die weiße Maus so, wie er es bei den Vildkaarlen tat: Jene verwandelten sich nur, wenn sie in Rage gerieten. Und sobald sie sich beruhigten, wurden sie wieder normal. Adlet’s Maus durfte also um keinen Preis entkommen und ihre Panik verlieren. Denn wäre dem so, würde sie schneller wieder schrumpfen als es allen Anwesenden lieb war. Anna raffte sich hoch und rannte los, um Hjaldrist zu folgen. “Lauf!”, brüllte sie, während sie wie eine Blöde über Stock und Stein hetzte. “Ich lauf ja!”, bellte Rist zurück und machte einen Satz über einen kniehohen Felsen, behielt das Gleichgewicht gerade noch so, als es nach dem flachen Stein leicht bergab ging, und eilte weiter durch den rutschigen Matsch, der einem am Rocksaum hoch spritzte. Die beiden Abenteurer jagten der panischen Riesenmaus hinterher, die sich als ganz schön schnell herausstellte. Zwischen Bäumen rannte Muschmusch hindurch, dass es nur so krachte und trampelte dabei Büsche und Sträucher einfach so nieder. Das ängstliche Fiepen des Tiers war dabei kein liebes Mäuspepiepen mehr, sondern glich einem Bärengrölen gepaart mit einem schrillen Kreischen einer Harpyie. Es war ein Ungeheuer, das der verrückte Adlet da geschaffen hatte - zum Glück aber kein sonderlich aggressives, sondern bloß ein übergroßes Fluchttier, das nun panisch dabei war ein Versteck zu finden. Ein Ding der Unmöglichkeit, denn der Körper von Muschmusch war viel größer, als der eines Büffels, sein Schweif an die zwei, drei Meter lang und die Hinterpfoten halb so lang wie ein stämmiger Skelliger. Anna schob aufgebracht einen dürren Ast beiseite, lief auf eine Steigung zu. Ihre Ausrüstung klapperte bei jedem Schritt rhythmisch und ihr brauner Wollumhang bauschte sich hinter ihr auf. Die Frau legte einen Zahn zu, während Muschmusch den Hügel bereits erklommen hatte, folgte dem Tier und musste an der ärgsten Steigung die Hände zur Hilfe nehmen, um nicht rücklings dorthin zurück zu fallen, woher sie gekommen war. Fahrig fasste sie nach einem welken Büschel Gras, das ihr Gewicht jedoch nicht hielt. Mitsamt der Wurzel riss die Novigraderin es aus, fluchte und fiel beinah wie ein plumper Sandsack zurück. Rist war aber hinter ihr und gab ihr einen Schubs, damit es ihr leichter fiel den Hügel zu erklimmen. Und er folgte ihr schwer atmend, sah am höchsten Punkt angekommen eiligst suchend um sich. “Da!”, er deutete nach vorn. In die Richtung, in der die weiße Riesenmaus soeben zwischen ein paar dichten Tannen verschwand. Der schwer atmende Mann und seine Freundin nahmen die Beine erneut in die Hände und liefen drauflos. Eine halbe Ewigkeit lang hetzten die zwei Reisenden Muschmusch nach, völlig fertig und durchgeschwitzt. Doch noch immer und wie durch ein Wunder schafften sie es das fliehende Tier im Blick zu behalten. Etwas, das aber nicht viel helfen würde, denn es war schwer anzunehmen, dass Anna und Rist die weiße Maus noch einholen könnten. “Werf ne Bombe!”, blaffte der Skelliger rüde. “Bist du wahnsinnig?”, keuchte Anna und trat im Laufen in eine knöchelhohe Wasserlache. Scheiße. “Nur eine, die blendet!”, forderte der Krieger weiter und rannte neben der Alchemistin her. “Die fliegt niemals so weit!”, rief die Kurzhaarige und spürte, wie ihr die Seiten damit anfingen zu stechen. Sie atmete in ihrem Stress nämlich falsch. So ein Mist. “Dann müssen wir sie einkesseln!”, entgegnete der Jarlssohn heiser. “Wo denn?”, Anna sah nicht zu ihrem Freund hin als sie redete, achtete stattdessen auf den Weg und versuchte Herrin über ihr schlimmer werdendes Seitenstechen zu werden. Tief atmete sie aus, hustete. “Keine Ahnung!”, stöhnte Hjaldrist und hätte sich gerade wohl sehr gern die dunklen Haare gerauft. Ja, verdammt! Was sollten sie denn machen? Sie könnten nicht ewig rennen. Und sobald sich Muschmusch in sicherer Entfernung wiegen würde, würde er sicherlich wieder abrupt schrumpfen. Dann wäre Anna’s Hoffnung die exakte Rezeptur für die klassische Kräuterprobe zu erhalten erstmal wieder dahin. “Er ist weg…”, keuchte Rist, als er viele Augenblicke später neben Anna zum Stehen kam und die Hände abgekämpft auf die weichen Knie stützte. Die Frau hatte ebenfalls angehalten, nachdem die große Maus längst aus dem Sichtbereich verschwunden und auch nicht mehr zu hören war. Oh Mist. Oh Kacke! Der armen Nordländerin entkam zwischen zusammengebissenen Kiefern ein unverständlicher Fluch und sie schüttelte den Kopf, wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Wie eine Irre war sie mit ihrem Freund durch den Wald gerannt, hatte sich dabei des Öfteren fast auf die Schnauze gelegt, ganz schön nasse Füße bekommen und sich die gute Hose eingesaut. Und wofür? Für nichts. “Scheiße!”, entkam es Anna auf diesen Gedanken hin nur noch frustriert. Etwas Anderes fiel ihr nicht mehr ein, als Hjaldrist ihr einen Seitenblick zuwarf. “Was machen wir jetzt?”, wollte er wissen. “Ich weiß nicht…”, meinte die Novigraderin in einem ohnmächtigen Ton und mit nach wie vor unruhig gehendem Atem. Sie hielt sich die Seite, die noch immer unangenehm stach. “Ich schätze… wir müssen von vorn beginnen. Eine Falle aufstellen und dann zusehen, dass sich Muschmusch am Ende nicht wieder verwandelt.”, murrte die Frau unglücklich und sah Rist ratlos an, zuckte lethargisch mit den schmalen Schultern. Es entlockte dem Skelliger einen entnervten Laut. Er atmete tief durch, spuckte aus. Die Anstrengung und die kalte Luft hatten auch ihm eine schmerzende Lunge beschert, so schien es. “Tja.”, meinte er dazu nur mehr mürrisch “Dann gehen wir mal zu Adlet zurück.” Mit schwerem Kopf nickte Anna, schlug die braunen Augen besiegt nieder. Noch bevor sie jene aber wieder öffnete, hörte sie eine dünne Frauenstimme, die von der Seite her zu ihr herandrang. “Guten Tag. Ihr Armen seht aus, als wärt ihr vor einem fürchterlichen Monster geflohen.”, eine recht direkte Begrüßung der Fremden, die irgendwo zwischen kahlem Dickicht und dornigen Büschen aufgetaucht war. Anna sah sofort auf und zu jener hin, musterte sie alarmiert, doch wurde schnell wieder ruhiger. Da stand eine Frau mittleren Alters, mit kastanienbraunem Haar, das zu einem Dutt gebunden war. Sie trug ein einfaches Kleid in Grün und Braun, einen alten Mantel mit einigen, bunten Flicken daran und einen Korb mit rotem Karodeckchen. Aus diesem Korb ragten ein paar Gewächse hervor, ein dicker Baumpilz, etwas Rinde und ein kleiner Bund Schneeglöckchen. Die grünlichen Augen der Dame, die selbst von etwas Entfernung an Waldseen erinnerten, taxierten die Abenteurer eindringlich, doch sie lächelte sanft. “Ich habe euch schon von weitem gehört und mich gefragt, was hier los sei. Wovor lauft ihr denn weg? Hier auf der Insel gibt es keine gefährlichen Tiere oder Ungeheuer… und die Bären halten derzeit Winterschlaf.”, meinte die Frau und kam näher. “Wir-... äh.”, fiel Anna dazu nur ein. Ein wenig perplex über die Anwesenheit der besonnenen Skelligerin hatte es ihr sie Sprache verschlagen. Bei Melitele, sie hatte jene zuvor gar nicht bemerkt! So sehr war sie darauf bedacht gewesen dem laufenden Muschmusch nach zu kommen. “Hast du eine große Maus gesehen?”, fiel Hjaldrist dreist ins Wort und interessierte sich offenbar nicht sehr für die Fremde mit dem Weidenkorb. Jene legte den Kopf fragend schief, lachte irritiert und leise. “Eine Maus?”, fragte sie, als habe sie nicht richtig gehört. “Ja, eine riesige, ganz in weiß.”, erklärte der erschöpfte Skelliger schnaufend. “Nein.”, sagte die Kräutersammlerin zurückhaltend und ein Deut Furcht wollte sich in ihren Unterton mischen “Ich habe noch nie von solchen Mäusen gehört, um ehrlich zu sein. Sind wir etwa in Gefahr?” “Ich schätze nicht.”, antwortete der Käferschubser schlicht und die Frau im grünen Kleid atmete erleichtert durch. “Was macht Ihr hier?”, fragte Anna jetzt dazwischen und meinte damit natürlich die Dame mit dem Dutt. Jene mutete schon wieder etwas konfus an. Denn eigentlich sollte es doch logisch sein, was sie hier tat, oder? Man sah es doch. Und außerdem... “Ich? Ich lebe hier.”, erzählte sie und bemühte sich um ein erneutes Lächeln, das ihre Verunsicherung jedoch nicht überspielen konnte. Ihr Blick streifte die teuren, teils kunstvoll geschmiedeten Waffen der Abenteurer und blieb schlussendlich an dem silbernen Wolfsmedaillon hängen, das Anna an ihrem Gürtel trug. “Mein Name ist Märthe.”, fügte die Frau noch hinzu und die Gesichter der anderen Anwesenden erhellten sich etwas. “Oh!”, entkam es Anna “Adlet’s Freundin!” Die Fremde, die nun nicht mehr allzu fremd erschien, nickte langsam und wirkte überrascht darüber, dass man sie vom Hören-Sagen kannte. Wahrscheinlich wunderte sie sich auch der seltsamen Tatsache wegen, dass die beiden Jüngeren hier mit dem eigenbrötlerischen Adlet zu tun hatten. “Ihr kennt ihn?”, fragte die Kräutersammlerin befangen nach. Sie schien eine vorsichtige Person zu sein, zart besaitet und ein wenig schüchtern. Sie hatte sicherlich äußerst selten mit Fremden zu tun. “Ja, wir sind momentan zu Besuch.”, versicherte Anna und die Druidin vor ihr betrachtete sie von Mal zu Mal mit eigenartigerem Blick. Denn es war abwegig, dass jemand wie der ‘Große Naturphilosoph’ Hindarsfjalls, Adlet, Besucher bekam. Er war schließlich ein Eremit auf einer vermeintlich einsamen Insel. Niemand von außen besuchte ihn sonst. “Ähm, das hier ist Adlet’s Enkel Rist. Und ich bin Anna.”, stellte sich die Novigraderin etwas spät vor und deutete dabei auch auf ihren stumm abwartenden Begleiter, um ihn mit einzubinden. Märthe machte daraufhin große Augen. “Oh!”, staunte sie “Und deswegen hat Adlet euch darum gebeten seine Maus einzufangen? Gab es wieder Komplikationen mit seinen Experimenten?” “Kann man so sagen, ja.”, tönte Rist unzufrieden und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Druidin in dem schlichten Kleid musste unweigerlich lachen; es klang liebenswürdig und sanftmütig. Die Frau war sympathisch und ganz offensichtlich kein Bisschen verrückt. Schwer vorstellbar, dass sie sich so gut mit Rist’s schrägem Onkel verstand. Aber manchmal, da zogen sich Gegensätze ja bekanntlich an. “Ich verstehe.”, lächelte die Dame nett, sah zwischen den beiden Jüngeren hin und her, zögerte lang. Dann aber näherte sie sich leichtfüßig. Anna fiel es auf, dass Märthe stark nach Alchemiezutaten und Kräutern roch. Nach Thymian, Kerbel, Lakritz und Rebis. Vor allem aber nach Thymian. “Hier.”, sagte die Mistelschneiderin dann auf einmal und hielt ihren Korb vorsichtig ein Stückchen weit hoch, damit man einen guten Blick auf das erhaschen konnte, was sich darin befand. Hjaldrist kam schnell zu den Frauen, linste zusammen mit Anna neugierig in das Weidenkörbchen. Und dort, zwischen Schneeglöckchen und etwas Baumrinde, saß Muschmusch. Das kleine, weiße Fellknäuel schien wieder absolut ruhig zu sein, ganz plötzlich, und putzte sich mit den Vorderpfoten das dreckige Köpfchen. “Waas?”, entkam es Anna im langgezogenen Flüsterton und sie staunte nicht schlecht. Und auch ihr Freund weitete die braunen Augen und blickte etwas fassungslos zur tierfreundlichen Märthe auf, die nach wie vor liebevoll lächelte. “Ich war misstrauisch, weil ich euch nicht kannte. Aber nachdem ihr Freunde, nein, Familie von Adlet seid… nun ja.”, erklärte sich Märthe, die Muschmusch vor fremden Bedrohungen hatte schützen wollen, sogleich betreten. Freunden aber, denen zeigte sie sich offenherziger. “Er ist wieder klein!”, platzte es aus Hjaldrist heraus und Anna nickte “So schnell?” Die hübsche Kräutersammlerin mit dem Weidenkorb lächelte rätselhaft. “Märthe!”, Adlet machte ein ganz schön dummes Gesicht, als seine beiden Gäste zusammen mit Märthe bei ihm auftauchten. Sofort bat er seine ruhige Druidenkollegin in seine Hütte und quasselte etwas von Rosinenbrot und Kräutertee. Dabei warf er auch Anna einen drängenden Blick zu, sah forschend zu Rist. “Was ist mit Muschmusch?”, murmelte der Onkel dem Jüngeren so leise zu, als wolle er nicht, dass Märthe dies mitbekam. Jene hörte aber augenscheinlich ganz gut, sah zu Adelt zurück und räusperte sich vernehmlich. Sofort zuckte der schräge Druide zusammen, als sei er ein Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Sein groteskes Käppchen mit dem getrockneten Vogelfuß daran rutschte ihm schief auf die Stirn und er musste es wieder geraderücken. “Die Maus ist hier.”, antwortete die Kräutersammlerin anstatt der jüngeren Abenteurer und hob ihren Weidenkorb demonstrativ ein Stückchen weit an, schob das rote Karodeckchen darauf beiseite. Adlet bekam große Augen und hatte er zuvor noch so verkrampft gewirkt, so bekam seine Miene gleich einen besänftigten Ausdruck. Der Mann mit den weichen Zügen eilte zu dem kleinen Korb und sah hinein, erkannte seine weiße Maus und wirkte unsäglich angetan. “Muschmusch!”, stellte er freudig fest und fasste zwischen Schneeglöckchen und Baumpilz, um das kleine, pelzige Tier hervor zu fischen. Als es zappelig auf seiner Hand saß, betrachtete er es eingehend und nickte zufrieden. Aus dem Augenwinkel linste er wissend zu Anna hin und die damit konfrontierte Novigraderin wusste, was sich der Druide gerade dachte. Ja, er nahm nun sicher stark an, dass Märthe die gesuchte Maus gefunden hatte - was auch stimmte. Nicht Anna, deren wichtige Aufgabe dies eigentlich gewesen war. Als der Hexerstochter das gewahr wurde, wurde ihr Ausdruck härter und sie schluckte trocken, wurde nervös. Denn schließlich ging es hier nach wie vor um ihr heiliges Kräuterproben-Rezept. Um ein Hoffen auf eine Formel, das ihr hier gerade wie Sand zwischen den kalten Fingern hindurch rieselte. Enttäuschung wollte sich schon in der flauen Magengrube der Kurzhaarigen breitmachen, doch dann sprach die gute Märthe. Und was sie sagte, zerschlug Anna’s vage Befürchtungen und dunkle Annahmen sofort: “Die beiden Jungspunde hier haben Muschmusch eingefangen. Doch er hat sie beißen wollen, daher haben wir ihn in meinen Korb gesetzt.”, log die wohlwollende Frau mit den kastanienbraunen Haaren ohne schlechtes Gewissen. “Ooh!”, machte Adlet daraufhin positiv überrascht, blickte zu den beiden Vagabunden, dann zurück zu Märthe. Seine weiße Versuchsmaus war ihm mittlerweile in den weiten Ärmel gekrochen, um es sich dort bequem zu machen. Es schien den Alten nicht zu stören. “Und ich befürchtete schon, du kamst ihnen zuvor, liebe Märthe.”, lachte Adlet schniefend. “Nein, nein. Ich war bloß in der Gegend und habe Zutaten für meine Heiltränke gesammelt.” Anna’s Gesichtsausdruck erhellte sich ungemein und sie fing damit an zu lächeln, als hätte man sie soeben von einer schrecklichen Pein erlöst. Auch Hjaldrist schien erleichtert zu sein und entspannte die zuvor so unruhig geballten Fäuste wieder. Er atmete tief aus. “Aber sag, Adlet, was hast du denn bitteschön mit Muschmusch gemacht?”, wollte die skeptische Druidin wissen. “Na, den Kuhtrank habe ich getestet.”, erwiderte der kauzige Mann und bat die anwesenden Drei beiläufig an seinen antiken Tisch. “Die Maus ist ein Männchen, mein Lieber.”, stellte Märthe belehrend klar und Adlet gegenüber schien sie ein wenig rauer zu sein. Hier war sie keineswegs schüchtern und wisperte auch nicht. “Jaja, ich weiß.” “Adlet. Kühe sind weibliche Rinder.” “Ja.”, der eigenbrötlerische Druide nickte hastig. Es schien in seinem wirren Kopf auch dann nicht zu klicken, als sich Anna und Hjaldrist bereits die Hände vor die entgeisterten Gesichter schlugen. Märthe sah ihn unter hochgezogenen Augenbrauen an. Sie setzte sich an den abgegriffenen Esstisch, stellte ihren Kräuterkorb neben sich am Boden ab. Es roch nach Thymian. “Eine männliche Maus kann nicht zur weiblichen Kuh werden. Das ist so klar, wie die Tatsache, dass Eins und Eins zusammengezählt Zwei ergeben.”, warf die Frau mit den grünen Augen ein, als sei sie eine Professorin der oxenfurter Akademie. Und es war so logisch. Selbst Anna oder Rist hätten darauf kommen können, dass man das Geschlecht eines zu mutierenden Tieres nicht veränderte, indem man ihm einen Trank einflößte, der nur die Gattung des Wesens verformen sollte. Die skelliger Bärenkrieger wurden durch ihre Absude doch auch nicht zu Amazonen. “Oooh…”, Adlet schien endlich, ENDLICH, ein Lichtlein aufzugehen. Er starrte Märthe an, als hätte sie ihm gerade einen weiteren, großen Durchbruch in seiner Forschung ermöglicht. Oweia. Der Onkel hier schien also nicht nur etwas komisch im Kopf zu sein, sondern auch noch vergesslich und zerstreut. “Verstehst du? Und wir haben die Formel doch für weibliche Mäuse angepasst. Bies-Geifer statt Gabelschwanzsekret, Mistelzweig statt Zaunrübe und Haarschleierlinge statt Spitzwegerich!”, klärte Märthe streng auf und Adlet nickte wissend, hektisch. “Ja, ja, ich weiß!”, versicherte er hüstelnd “Wie konnte ich das nur vergessen? Ojemine...” “Du wirst wohl alt.”, lachte die sanftmütige Druidin nun anstatt ihrem Freund eine böse Standpauke zu halten. Dabei lächelte sie schon wieder und schüttelte nachgiebig den Kopf. “Komm, mach uns etwas Tee, Adlet. Und gib mir das Rosinenbrot her, ich schneide es für uns alle klein.”, seufzte sie. Während Märthe sich also daran machte das besagte Brot zu schneiden und der geschäftige Adlet im Hintergrund leise summend Teewasser aufsetzte, trat allmählich wieder eine gemütliche Ruhe ein. Anna hatte sich für einige Momente in das kleine Nebenzimmer zurückgezogen - das eigentliche Schlafzimmer des irren Onkels -, um sich umzuziehen. Schließlich hatte sie sich die lederverstärkte Hose auf der Jagd nach Muschmusch ganz schön eingesaut. Zurück in den Hauptraum der Hütte mit dem moosbedeckten Strohdach kam die Frau etwas später in einer simplen Stoffhose aus Leinen und in einem geborgten, etwas zu großen Hemd ihres undviker Begleiters. Denn sie selber hatte keine Oberteile mehr übrig, die nicht völlig ramponiert waren. Anna müsste also nicht nur zum Schuster, sondern auch zum Schneider. DAS würde wieder viel Geld kosten. Besser, sie und Hjaldrist suchten sich demnächst ein paar lohnende Aufträge. “Ich verkaufe oder tausche meine Tränke vor allem an die Priesterinnen des Freya-Tempels. Sie leben auch auf Hindarsfjall, auf der Hauptinsel. Mit dem Boot fährt man dort etwa eine Stunde hin, wenn der Wind gut weht. Es ist nicht so weit.”, erzählte Märthe Rist, während sich Anna zu ihnen an den Tisch setzte. Aufmerksam sah auch die Hexerstochter zu der offenen Druidin hin. “Bei dieser Gelegenheit besorge ich auch immer Lebensmittel und all die Dinge, die man hier, auf der Dracheninsel nicht bekommt.”, lächelte die Frau mit dem Dutt. “Du setzt ganz allein mit dem Boot über? Das ist mutig.”, meinte Rist und wirkte etwas verblüfft dabei “Das Meer kann ganz schön tückisch sein.” “Und gleichzeitig bin ich auf Skellige geboren. Wer wären wir denn, wenn wir nicht mit der See zurechtkämen?”, fragte Märthe, schnitt eine weitere Scheibe Rosinenbrot zurecht und schenkte dem Jarlssohn ein warmherziges Lächeln. “Dracheninsel?”, fragte Anna dazwischen, wechselte damit völlig das Thema und die Kräutersammlerin nickte sogleich. “Ja. Unter welchem Namen kanntet ihr diesen Ort hier denn?”, wollte Märthe interessiert wissen. “Äh naja… als ‘Das ist die Insel, wo wir hin müssen’?”, erklärte die Novigraderin kleinmütig, lächelte verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. Hjaldrist, der neben ihr auf der schiefen Bank saß, wirkte noch betretener. Denn schließlich war er ein Landsmann. Anna nicht. Offenbar hatte auch er nicht gewusst, dass man die kleine Insel hier als Dracheninsel bezeichnete. Oder? “Drakensund. So nennen die Skelliger die Umgebung.”, klärte Märthe nett auf und drapierte das klein geschnittene Brot, das süßlich roch und beim Schneiden ganz schön gekrümelt hatte, auf einem ovalen Holzteller. Sie schob die Speise in die Mitte der hölzernen Ablage, damit jeder zugreifen könnte. “Warum?”, fragten Rist und Anna wie im Chor. Sie warfen sich dieser Tatsache wegen dumme Blicke zu. “Geduld…”, mahnte die braunhaarige Druidin mit den Waldsee-Augen sanft “Ich erzähle euch die Sage um Drakensund gern, wenn ihr das wollt.” Die jüngeren Abenteurer nickten gespannt, redeten nicht mehr eilig dazwischen und warteten einfach nur ab. Adlet kam zurück an den Tisch, stellte ein rostiges Tablett ab, auf dem eine metallene Teekanne und fünf Becher aus dunklem Holz standen. Jedem schob er einen davon hin. Selbst der unbesetzte Platz ihm gegenüber bekam einen. Dann begann die kluge Märthe damit zu sprechen. “Es begab sich einst, dass ein wohlhabender Jarl im Norden von Hindarsfjall lebte. Sein Name war Janne Erik Heymaey. Eines Tages klopfte ein armer, betagter Mann an die Tür der großen Festung des Jarls und bat um Essen und Almosen. Doch der alte Bettler wurde fortgescheucht und man drohte ihm wüst mit dem Schwert. Da wurde der Arme grantig und hob die Faust wütend in die Höhe. Er versprach in zwanzig Tagen wieder zu kommen und dabei etwas für den kaltherzigen Jarl Janne Erik mit zu bringen. Tatsächlich kam das Männchen nach drei Wochen wieder, doch es war nicht allein. An einer roten Schnur führte es einen grünen Drachen mit spitzen Zähnen und großem Maul hinter sich her. Der Atem des Tieres namens Myrgtabrakke war Feuer und sein langer Schweif schlug ganze Häuser nieder. Die Männer des Jarls flohen vor Angst und der Bettler lachte, als sein geflügelter Drache die Burg des Janne Erik zerschlug. Dann ging das Männchen wieder, zufrieden und mit Myrgtabrakke an dem roten Band. Als der Alte verschwand, begann es zu blitzen und zu donnern und zu regnen, wie aus Eimern. Es schüttete so viel und so lange, dass eine tosende Flut über das Land des Jarls kam und er mitsamt seinem Clan nach Süden fliehen musste. Sein Land und seine Festung wurden überschwemmt und liegen auch heute noch tief am Meeresgrund. Genau auf dem, der zwischen der Hauptinsel Hindarsfjalls und der Dracheninsel liegt. Die Dracheninsel, die bekam ihren Namen später von den Skelligern, weil man glaubt, dass sich das Männchen und sein Drache hierher zurückgezogen haben, um in einer tiefen Höhle zu hausen, die von funkelnden Sternen erhellt wird. Niemand, selbst Fremde nicht, trauen sich hierher, denn der alte Bettler ist nachtragend und Myrgtabrakke launisch. Doch wer es schafft den Drachen und den Armen zu besiegen, findet in deren Höhle einen Schatzhort von unvorstellbarem Wert, mit glitzernden Juwelen und Waffen, die niemals stumpf werden.”, erzählte die Kräuterkundige ruhig und so fesselnd, dass die beeindruckte Anna ihr wie gebannt entgegensah. “Hier lebt ein Drache...?”, wollte die burschikose Trankmischerin wissen und klang dabei sehr naiv. Märthe und Adlet mussten lachen. “Der Sage nach, ja. Doch bisher haben wir weder ihn noch das alte Männchen mit der roten Schnur gefunden.”, erklärte Märthe amüsiert und schürzte sich beim Lachen die Lippen mit einer Hand. “Es ist ja auch nur ein Märchen.”, fügte Hjaldrist belehrend hinzu und zuckte mit den Schultern. Dennoch lächelte er und wirkte sichtlich begeistert von Märthe’s Erzählkünsten. “Jedenfalls ist mir nun klar, warum diese Insel hier so einsam ist. Und warum hier nicht so viele Menschen leben.”, meinte er und seine Begleiterin aus Novigrad nickte beipflichtend. “Ach. Es liegt wohl auch daran, dass es hier einfach zu abgeschieden ist, nehme ich an.”, gluckste die anwesende Druidin mit dem kastanienbraunen Haar “Wie gesagt muss man sogar mit dem Boot über das Meer, um an einige Lebensmittel zu bekommen. Ich denke, dass Orte wie die Drakensund nur etwas für Einsiedler, wie uns sind.” Die ältere Dame nickte während ihrer letzten Worte gen Adlet, der soeben jedem etwas Kräutertee einschenkte. Selbst in den sechsten Becher, der niemandem gehörte, goss er großzügig etwas von dem Getränk, das dampfte und angenehm nach Kamille und Lindenblüten duftete. “Ja, ja”, lachte der so jung aussehende Eremit belustigt “Wir leben am Pickel am Arsch von Skellige!” “Adlet!”, mahnte Märthe den Mann nach dieser obszönen Aussage, doch konnte sich eines belustigten Schmunzelns trotzdem nicht erwehren. Und hätte jemand durch das Fenster der abgelegenen Hütte auf Drakensund gelinst, hätte er vier Leute erblickt, die gemeinsam lachten. Er hätte gesehen, wie ein Mann mit einem seltsamen Hütchen einem jüngeren auf die Schulter klopfte und wie jener dann den Becher hob und sich alle mit dampfendem Tee zuprosteten. Der Fremde hätte erkannt, wie die ältere Frau mit dem Dutt der jüngeren etwas Brot reichte. Und wie die ganze Gruppe locker und gut gelaunt beisammensaß. Doch natürlich sah niemand durch das dreckige Fenster der Hütte mit dem moosbewachsenen Dach. Denn die Dracheninsel lag einsam im reißenden Meer und kein Skelliger traute sich hierher. Nicht einmal Fremde kamen zu Besuch, weil sie sich vor dem Männchen und Myrgtabrakke fürchteten. Anna sah Adlet aufmerksam zu, als der Alte ein Blatt Papier auf den Tisch legte, ein Tintenfässchen entkorkte und ein kleines Ledermäppchen öffnete, in dem sich eine braun gescheckte Schreibfeder befand. Er zog sie hervor und fuhr sich mit dem gefiederten Ende des Schreibgerätes nachdenklich über das glatte Kinn. Dann gab er einen grüblerischen Laut von sich. Märthe war vor etwa zwei, drei Stunden gegangen und die beiden Abenteurer waren wieder mit dem eigenbrötlerischen Einsiedler allein. Anna hatte jenen bald auf die Kräuterprobe angesprochen, deren Formel sie als Belohnung für das Wiederfinden Muschmuschs erhalten sollte. Und Adlet hatte genickt und versichert, dass er ihr alles aufschreiben würde, was er wusste. Die Rezeptur sei lang und die Abmessungen der Ingredienzen müssten penibel geschehen. Ein Tröpfchen einer bestimmten Zutat zu viel, ein Kräuterstängel zu wenig oder ein leicht erhöhter Alkoholgehalt der Absude und sie wären nutzlos oder gar absolut tödlich. Also giftiger, als sie es ohnehin schon waren. “Also, mal sehen…”, flötete Adlet zuversichtlich und tunkte die Federspitze in die Tinte, strich sie am Rand des Tintenfässchens ab und setzte sie auf das knitterige Pergament vor sich. Mit leise kratzendem Geräusch wanderte die Feder dann über das fleckige Papier. Auch Hjaldrist lehnte sich etwas vor, um seinem schniefenden Onkel auf die Finger schauen zu können. “Man nehme die Drüse eines Mantikors und entziehe ihr die Säure…”, fing Adlet an und schrieb, was er da laut und wissend aussprach. Seine Handschrift war überraschend schön und zog sich in schwarzer Tinten schwungvoll über das fleckige Papier. “Hmmm… Während die Drüsenhaut mindestens zehn Tage in der Sonne getrocknet werden muss, wird das Säurensekret aufgefangen und bewahrt…”, sinnierte der Druide weiter und Anna machte große Augen, als sie ihm aufmerksam lauschte und zwischen dem Alten und seinem Geschreibe hin und her sah. Der Eremit ließ den Blick noch einmal schweifen und hörte nicht damit auf zu reden. Mit der gescheckten Feder fuhr er sich erneut über das rasierte Kinn, setzte sie dann jedoch nicht mehr auf das Pergament, sondern zuppelte sich lieber ein rotes Lederbändchen zurecht, das er an seinem rechten Handgelenk trug. “Nach der Drüsentrocknung zerstampfe und zerreibe man die Trockenhaut zusammen mit einem Bund Spitzwegerich und koche beide Ingredienzen zusammen mit zehn Unzen Wasser über dem Feuer auf, ja, ja.”, sprach er und tickte. Abwartend starrte Anna ihn an. “Elf Momente müssen dabei vergehen, ehe man den Absud von der Flamme nimmt. Er wird mit der Schale der Alraunenwurzel vermischt und nach einer Ziehzeit von drei Wochen durch ein sauberes Tuch gesiebt.”, entkam es dem skelliger Druiden wissend. Noch immer schrieb er nicht und die Zeilen, die er zuvor verfasst hatte, waren bereits getrocknet. Anna blinzelte irritiert. Ganz im Gegensatz zu ihr schritt ihr Freund Rist aber ein: “Onkel.”, fing er ernst an “Du vergisst gerade auf’s Schreiben” Adlet lenkte die Aufmerksamkeit auf diesen Hinweis hin wirr auf seinen Enkel, zog die schön geformten Brauen hoch und gab einen überraschten Laut von sich. Dann musste er leise und herzlich lachen. “Oh!”, machte er und Anna glaubte, der wirre Einsiedler veralbere sie beide gerade. Doch das tat er nicht. Er war so zerstreut, dass er wirklich auf das Schreiben vergessen hatte. “Ooh, ja, ich sollte die Details niederschreiben, ich Dummkopf…”, lächelte der alte Trankmischer und Hjaldrist warf Anna einen entnervten Seitenblick zu. Jene kratzte sich ratlos am Hinterkopf. Oh je. “Also… noch einmal!”, dieses Mal setzte Adlet seine Schreibfeder endlich wieder auf das alte Pergament, nachdem er sie großzügig in Tinte getaucht und abgestrichen hatte. Er räusperte sich und fing noch einmal bei den Kräutern von früher an. Erst nach ein paar weiteren Ausführungen über die Bitterkeit diverser Wurzeln und das Auskochen von dem Pilz Kartoffelbovist, endete der Alchemist endlich. Zufrieden sah er auf und Anna’s hoffnungsvolle Augen glänzten freudig. “Das, Mädchen, ist die Formel für den ersten Trank. Man nennt ihn ‘Muttertränen’.”, merkte der kauzige Kerl an, stellte seine Feder in das Tintenfass und fasste nach seiner Teetasse. Bedacht nahm er einen Schluck des duftenden Kräutertees, den er stark gezuckert hatte. Dann aber setzte er sein Tun fort. “Kommen wir also zu dem zweiten Absud: Dem Queckensaft…”, sagte er, rückte sich das Hähnchenfuß-Hütchen zurecht und schniefte abermals leise, bevor er mit spitzen Fingern nach seinem Schreibgerät griff. Etwa eine halbe Stunde später erst, nach vielen Erklärungen über gewisse Pflanzen und komplizierte alchemistische Herangehensweisen, überreichte Adlet Anna die Formel, die in ihren Augen der größte Schatz auf Erden war. Dankend und strahlend, wie die Sommersonne, nahm sie jene entgegen und zweifelte dabei nicht daran, dass Adlet die Rezeptur durcheinandergebracht haben könnte. Obwohl er jene aus dem Kopf heraus zu Papier gebracht hatte und es bekannt war, wie verwirrt er war, vertraute die Frau dem Onkel. Sie nickte anerkennend, ließ den Blick dann auf das Pergament in ihren Händen fallen. Dabei sah sie aus wie ein kleines Kind, das endlich ein heiß ersehntes, so hart gewünschtes Geburtstagsgeschenk bekommen hatte. Und in ihrem Innern, da sah es freilich noch überschwänglicher aus. Die Novigraderin hatte sich selten so sehr gefreut; ihr Herz machte einen Sprung und am liebsten wäre sie vor Begeisterung mitgehüpft. Doch sie versuchte sich halbwegs zu fassen, räusperte sich. “Adlet”, fiel ihr dann noch ein “Die Sache, die Märthe über weibliche Mäuse gesagt hat… über diese Anpassung eures Trankes. Könntest du das wiederholen? Ich würde es mir gerne notieren.” Erwartungsvoll sah die Ausländerin den Onkel auf diese Bitte hin an. Jener nickte wie selbstverständlich und schob der Jüngeren sein Schreibzeug zu. Beherzt fasste Anna nach der schönen Schreibfeder. “Bies-Geifer statt Gabelschwanzsekret, Mistelzweig statt Zaunrübe und Haarschleierlinge statt Spitzwegerich.”, diktierte Adlet langsam und die kurzhaarige Novigraderin kritzelte diese Zutaten in einer Randbemerkung neben die geschwungene Schrift des geduldigen Druiden. Sie selbst hatte im Gegenzug eine richtige Sauklaue. Doch das war einerlei. Außer ihr müsste das hier eh niemand lesen können. Nachdem Anna also ihre Notizen hingeschrieben hatte, stellte sie die Schreibfeder in deren Fässchen zurück und betrachtete das wertvolle Papier vor sich am Tisch noch einmal, als glaube sie nicht, dass es tatsächlich existierte. Dann hob sie den Kopf, fixierte Adlet dankbaren Blickes. Was folgte war eine enge Umarmung für den positiv überrascht lachenden Druiden. Eine ehrliche und herzliche auch noch dazu. * Es verging beinah ein halbes Jahr, in dem sich Anna kaum von der kleinen Dracheninsel entfernte. Es war relativ spontan gewesen, ungeplant, doch nach einer Einladung seitens des gastfreundlichen Adlet hatte sie sich dazu entschlossen bei jenem zu bleiben und zu lernen. Denn sie war keine herausragende Alchemistin gewesen, bloß jemand, der hier und da einmal Tränke aus Hexerbüchern nachgebraut hatte. Um etwas Großes, wie die Kräuterprobe zusammenmischen zu können, verlangte es aber viel Können. Können, das die junge Novigraderin ganz klar nicht besessen hatte. Also hatte der wirre Adlet sie wie einen Lehrling aufgenommen und auch Märthe war oft vorbeigekommen, um nach der kurzhaarigen Frau und deren Fortschritten zu sehen. Sie hatte Anna wertvolle Dinge beibringen können; über Wurzeln, Kräuter, Tinkturen und Monstereingeweide. Kurzum: Die Skelligerin und ihr ungleicher Freund Adlet waren Anna gute Mentoren gewesen. Dies an die sechs Monate lang. Oder waren es sieben? Auch Hjaldrist war nicht verschwunden. Zwar war er sehr oft nach Hindarsfjall oder gar Kaer Trolde aufgebrochen - denn er hatte kein halbes Jahr stillsitzen und seiner ambitionierten Kumpanin dabei zusehen können, wie sie langweilige Tränke zu mischen versuchte -, doch er war immer wieder zurück nach Drakensund gekommen. Wie Anna, hatte er in dieser Zeit bei seinem Onkel gelebt. Er hatte jenem dabei geholfen Holz zu hacken, hatte gejagt und Adlet wo es ging handwerklich unter die Arme gegriffen. Das oftmals für eine ganze Woche im Monat. Dann war er wieder verschwunden, um irgendwelche Dinge auf den Hauptinseln zu erledigen oder um sich kleine Abenteuer zu suchen. Oft hatte er von gewissen Geschehnissen erzählt und bedauert, dass Anna sie wegen ihrem ‘blöden Alchemiekram’ verpasst hatte. Doch nach dem besagten halben Jahr, so fand Adlet, sei die gelehrige Hexerstochter gut dafür gewappnet Experimente hinsichtlich der Kräuterprobe durchzuführen. Das hieß: Absude zu mischen, die den drei Tränken der Probe der Gräser ähnlich waren. Denn sie hatte bewiesen, dass sie sich mit Mineralien und Gewächsen auskannte und Absude oder Gifte auf den Milliliter genau richtig zubereiten konnte. Ihr letztes Projekt war schließlich etwas gewesen, das sehr nah an den Vildkaarltrank der Skelliger herankam. Mit dem Unterschied, dass der Absud am Immunsystem und an gewissen anderen Zellen ansetzte, anstatt aus einem einen Bären zu machen. Die Tinktur, so glaubte man, käme einer sehr schwachen, niedrig dosierten Kräuterprobe nahe. Wie ein Hundertstel der eigentlichen Probe sollte der Trank wirken und Anna könnte damit testen, inwiefern sie die Zutaten vertrug oder nicht. Es war einigermaßen ungefährlich. Jedenfalls in der trockenen Theorie und wenn man es nicht so eng sah. Daher war die Novigraderin wild entschlossen es zu versuchen und zwar an sich selbst. Natürlich. An wem denn sonst? “Also schön.”, Anna’s ernster Blick hing an den beiden kleinen Phiolen, die da vor ihr am Tisch lagen. Zusammen mit dem guten Adlet und Rist, der gerade erst vom Fischen zurückgekommen war und nun ganz schön nervös aus der Wäsche sah, saß die hoffnungsvolle Frau in der Hütte des alten Druiden. In den kleinen Glasbehältnissen vor ihr befanden sich zähflüssige Mixturen. Die eine war grünlich, die zweite milchig weiß; die erste der kleine Auszug einer ‘Pseudo-Kräuterprobe’, die andere ein Mittelchen, das den Magen etwas vor dem scharfen Absud schützen sollte. Denn man wusste ja nie. Und egal, wie schwach konzentriert die genmanipulierende Mischung in Phiole Eins war, war sie dennoch Gift. Ein Toxin, das Anna zuvor noch nie zu sich genommen hatte, denn kein Mensch, der bei klarem Verstand oder guter geistiger Gesundheit war, tat dies. Die sture Novigraderin aber, die stand just knapp davor sich etwas in den Rachen zu kippen, von dessen Wirkung sie nicht überzeugt und deren Wirksamkeit sie sich nicht sicher war. “Wir haben die Formel so angepasst, dass sie von weiblichen Immunsystemen ausgehalten werden sollte und die Konzentration ist so schwach, dass ich im schlimmsten Fall nur hohes Fieber bekomme.”, fasste die nervöse Anna so selbstsicher zusammen, wie sie es in diesem Augenblick nur konnte. Adlet, der mit am Tisch saß, nickte schniefend. “In der Theorie ist dem so, ja, ja.”, pflichtete er zuversichtlich bei “Es wird gutgehen. Nimm zuerst das Magenmittel, dann das andere. So wie besprochen, Mädchen. Wir passen auf dich auf.” Anders als die Novigraderin und der ältere Skelliger, sah Rist nicht ganz so glücklich aus. Er kaute sich schon die ganze Zeit etwas geplagt auf den ohnehin schon recht kurzen Fingernägeln herum. Seine Aufgabe wäre es seine Freundin gleich festzuhalten, sollte sie unter dem Einfluss des am Tisch liegenden Absuds unerwarteter Weise durchdrehen oder versuchen jemanden der Anwesenden abrupt aggressiv anzugreifen. Ein Gedanke, der dem grüblerischen Hjaldrist nicht zu gefallen schien, doch sie waren hier an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gab. Oder? Ja, für Anna gab es jetzt kein Schwanzeinziehen mehr; nicht nach all der Arbeit, die sie in den letzten Monaten in das Studieren der Alchemie und der Trankmischerei gesteckt hatte. Alles hatte zu dem heutigen Tag hingeführt. Zu dem, an dem die zielstrebige, wahnsinnige Nordländerin zum ersten Mal in ihrem Leben Gift schlucken würde. Also streckte die braunhaarige Frau die kalte, feuchte Hand zögerlich nach dem Magenmittel aus, nahm die Phiole an sich und entkorkte sie mit den Zähnen, um sich den Inhalt des Röhrchens folgend in den Rachen zu kippen. Das milchige Zeug schmeckte etwas bitter, doch vor allem süßlich. Wusste der Teufel, was Adlet alles in diesen ekligen Trank gemischt hatte. Dann warteten sie. Erst, als der Onkel Rists Anna zuversichtlich auffordernd zunickte, griff die Frau nach dem zweiten Fläschchen, um den kleinen Korken aus jenem heraus zu fummeln. Ihr Blick fiel noch einmal auf ihren besten Kumpel, der ihr äußerst aufgebracht gegenübersaß, dann trank sie den dreckig grünlichen Absud in einem Zug aus. Adlet beugte sich, die Unterarme am abgegriffenen Tisch, etwas vor und starrte Anna aufmerksam abwartend an. Und Hjaldrist mutete nicht weniger nervös an, als vorher und bewegte ein Bein unter dem Tisch auf und ab, wie eine eilige Nähmaschine. Sie schwiegen und die Stille, die sich über sie legte, war drängend und erwartungsschwer. Doch… es geschah nichts. Anna sah den beiden stummen Männern unverändert entgegen, saß ruhig auf ihrem Platz. Eine Minute lang, zwei, drei. So lange, bis sich ihre Miene schon zu einem unglücklichen Ausdruck verzog und sie gefrustet Luft holte, um sich selbst eine Närrin zu schelten. Ja, sie musste einen Fehler gemacht haben. Irgendwo, irgendwie. Sie und Adlet mussten den Trank zu schwach angemischt haben und wahrscheinlich vertrug die Kräuterkundige viel mehr von dem Gift, als erwartet. Es wirkte also nicht, verdammt. War alles umsonst gewesen? Waren ihre Bemühungen am Ende vergebens? “Es funktioniert nicht.”, murmelte die Frau und einer ihrer Mundwinkel zuckte genervt. Sie bemerkte nicht, wie Adlet auf einmal große Augen machte und Rist so aussah, als wolle er von seinem Platz hochspringen. Zur selben Zeit blinzelte die Frau, der die Farbe restlos aus dem Gesicht gewichen war, überfordert und stockte augenblicklich in ihrem Tun. Ein schaler Geschmack machte sich in ihrem Mund breit, klebte ihr die staubtrocken gewordene Zuge an den Gaumen. Sie atmete tief ein und sah kleine, weiße Pünktchen, die damit anfingen am Rande ihres Sichtfeldes herum zu hüpfen. Ihr Blick wurde eng und ihre Pupillen so weit, dass man das Haselnussbraun darin kaum noch sehen konnte. All die Bilder vor ihr verschwammen zu einem Wirrwarr aus bunten Farben und undeutbaren Formen. Da war ein lautes Sausen in ihrem rechten Ohr und ihr war übel, so übel. Anna musste trocken würgen. Mechanisch stand sie auf, wie von Sinnen, und taumelte dabei, wie eine Betrunkene. Dann umarmte sie ganz plötzlich die klamme Schwärze. Sie bemerkte es nicht einmal mehr, wie sie fiel und harte Bekanntschaft mit dem Bärenfell-belegten Holzboden machte. Sie hörte nicht mehr, wie Hjaldrist irgendetwas rief und Adlet besorgt auf knarrenden Dielen näherkam. Die Alchemistin spürte nicht, wie ihr bester Freund sie eng an sich zog und aufgelöst mit ihr sprach. Denn die süße Ohnmacht ließ sie nicht wieder los. Kapitel 12: Für Füchse lebt es sich schlecht auf Drakensund ----------------------------------------------------------- Hunger. Sie hatte Hunger, müsste was zu fressen finden, aber bald. Sie hatte nicht viel erwischt die letzten Tage über. Nur eine kleine Maus. Eine ganz dünne. In der Nähe waren Wölfe gewesen. Sie hatten ein Reh gerissen, nicht alles davon gefressen. Heute Früh. Sie hatte es gehört, gerochen. Jetzt waren die Wölfe weg. Ja, sie waren fort. Gut. Sie müsste schnell sein, hatte Hunger. Sie wollte fressen. Geduckt huschte der schmale Vierbeiner durch das dichte Unterholz, die dunklen Ohren gespitzt und aufmerksam, nahezu geräuschlos. Die Füchsin hörte gut, nahm das vernehmliche Rascheln zwischen den Erlenzweigen über ihrem Kopf wahr. Dort war ein Eichhörnchen. Etwas weiter vorn trotteten zwei Wildschweine tief grunzend durch den feuchten Wald. Sie scherten sich nicht viel um ihre Gesellschaft mit dem dichten, rotbraunen Fell, denn sie war keine Bedrohung für sie. Sie ließen sie passieren und gruben lieber mit den Schnauzen im Schlamm, als sich nach dem kleineren Waldbewohner umzusehen. Hunger. Das Reh war nicht mehr weit, gleich da vorn. Es roch gut. Die Raben waren schon da. Auch die Fliegen. Egal. Die Beute war groß und jeder bekäme seinen Teil. Aus dem verwachsenen Dickicht schlich die Füchsin hervor und obwohl sie davon abgelassen hatte zu rennen, stoben die vier Raben mit den blutigen Schnäbeln auseinander. Sie krächzten verärgert, flatterten hektisch und zogen sich abwartend zwischen die nahen Baumkronen zurück. Der Vierbeiner am Boden vernahm jeden einzelnen ihrer Flügelschläge und zuckte mit den pelzigen Ohren. Er bemerkte selbst eine Rabenfeder, wie sie langsam gen Grund segelte und still im grünen, satten Gras liegen blieb. Es wurde Sommer, die Pflanzen gediehen prächtig und das duftende Moos an den Baumstämmen ringsum leuchtete rötlich in der Abenddämmerung. Eine sanfte, salzige Brise wehte über die Dracheninsel und kündigte eine warme Nacht an. Die hungrige Füchsin biss zu und riss einen dicken Fleischbrocken aus der Flanke des seltsam verdrehten Rehkadavers, den die Wölfe heute Morgen zurückgelassen hatten. Fliegen surrten laut und es würde nicht lange dauern, bis sich auch die Maden an dem toten Tier laben würden. Die schwarzen Raben würden sich auch sie holen. Genauso, wie sie sich die schmackhaften Augen aus dem Schädel des verendeten Rehs gehackt hatten. Nun aber, war die kleine Füchsin am Zug. Gierig und ausgezehrt fraß sie, steckte die Schnauze tief in die aufgerissene Bauchhöhle des starren Kadavers, kaute, schmatzte, leckte. Und dies so hastig, dass man glauben könnte, sie stehe knapp vor dem Hungertod. Sie verschlang das blutige Fleisch bis zu dem Punkt, an dem sie ein unweites Knacken im Unterholz wahrnahm. Da war ein Rascheln auf der genau gegenüberliegenden Seite; eines direkt hinter ihr. Sofort zuckte das Tier zusammen und sein Kopf schnellte alarmiert in die Höhe. Den Hals reckend und die guten Ohren spitzend, verharrte es an Ort und Stelle. Es mutete gar an, als habe er eine kurze Zeit damit aufgehört zu atmen. Vorsichtig schnupperte die Füchsin und streckte die schwarze Nase in die Luft. Da waren drei. Es knackte. Es raschelte. Der Wind trieb die warnenden Gerüche hierher. Wölfe. Sie hatte nicht gut genug aufgepasst. Pfoten am weichen Waldboden. Große Tiere, sie liefen. Sie müsste weg. Sie könnte nicht bleiben. Die Wölfe kamen näher, sie waren fast da. Sie hechelten und brummten. Zu spät. Das Knurren des ersten Wolfes klang kehlig und glich einem dumpfen Grollen. Der zweite und der dritte kamen ebenso aus dem dornigen Gebüsch; mit funkelnden Augen und gefletschten, spitzen Zähnen. Instinktiv wich die Füchsin zurück, senkte den Kopf weit, doch ließ die anderen drei Vierbeiner nicht aus den wachen Augen. Zwei von ihnen waren grau und struppig, der dritte war schwarz wie die Nacht. Doch sie teilten alle dieselben ockerbraunen Augen, die die arme Füchsin so aggressiv fixierten. Sie hatte es kaum bemerkt, da hatten sie sie bereits eingekreist und brummten bedrohlich ob ihrer erlegten Beute, wegen der sie zurückgekommen waren. Die dumme Füchsin war zu nachsichtig gewesen, hatte sich vom plagenden Hunger dazu verleiten lassen zu überstürzt hierher zu laufen und sich Fleisch aus dem erlegten Reh der Anderen zu stehlen. Ein großer Fehler. Denn nun zogen die Wölfe ihren Kreis enger um das rotbraune Tier, das nicht wusste, in welche Richtung es abweichen sollte. Es sträubte die Nackenhaare in einer vergebenen Geste sich größer machen zu wollen, als es eigentlich war. Und die Füchsin duckte sich, als entkäme sie damit den bösen Blicken der Wölfe und als mache es sie unsichtbar. So weit, dass ihr Bauch beinah den feuchten Waldboden berührte. Aus einem verstummenden Knurren seitens des konfrontierten Tieres wurde ein leises Winseln, als es den buschigen Schwanz mit der weißen Spitze einzog. Es japste, rührte sich am Ende kein Stück weit mehr. Und dann, ganz plötzlich, durchbrach eine fremde Stimme den frühen Abend. Da war ein Kampfgeschrei, dann ein Stein, der inmitten der hier versammelten Tiere einschlug und den toten Rehkörper beinah am Schädel traf. Noch ein harter Stein kam, dann ein dritter. Wie von der Hornisse gestochen fuhren die Vierbeiner hoch. Die Wölfe drehten die Köpfe aufgeschreckt und rissen die Aufmerksamkeit abrupt von der bemitleidenswerten Füchsin los. Und letztere, anders als die viel größeren, verdutzten Waldbewohner, lief los. Und zwar so schnell sie nur konnte. Sie müsste weg. Schnell. Sie hatte Angst. Die Wölfe wollten sie töten. Da waren Menschen. Sie hatte Angst. So schnell sie ihre dunklen Pfoten tragen konnten, floh die kleine Füchsin. Sie sprang über Stock und Stein, atmete hechelnd, hetzte durch das knackende Unterholz und schlug einen Haken. Knapp vor dem Eingang zu einem halb eingesackten Dachsbau hielt sie so abrupt an, dass sie sich fast überschlug. Sie wollte sich in das schmale Erdloch zwängen, doch schaffte es nicht. Eilig begann sie damit zu graben, versuchte den Kopf noch einmal in den alten, verlassenen Bau zu stecken, grub weiter, versuchte es erneut. Vergebens. “Anna!”, donnerte die Stimme durch den Wald. Die Menschen kamen. Sie waren schlimmer, als die Wölfe. Viel, viel schlimmer. Sie würden sie töten. Sie musste graben, nein, verschwinden, laufen. Anna. Das Wort kannte sie. Woher? Sie wusste es nicht. Da waren drei Menschen und sie kamen immer näher. Sie konnte nicht weiter graben, musste laufen. Sie würden sie erschlagen. Die Füchsin ließ panisch von dem schmalen Erdloch ab und stob wieder drauflos, sprang angestrengt schnaufend in ein Gebüsch, zwängte sich unter einer Wurzel hindurch, robbte durch das Laub. “Bleib stehen!”, fluchte einer der Menschen “Zum Teufel nochmal!” “Märthe! Das Netz!”, rief ein anderer. Der Vierbeiner mit dem rötlichen Fell wurde von einem Stein an der Schulter getroffen und stürzte. Er jaulte hoch auf, doch war nicht so schwer verletzt, dass er nicht weiter rennen könnte. Die getroffene Füchsin kam daher auf die Pfoten und setzte erneut dazu an hinkend zu laufen, panisch jammernd. Und dann fiel auf einmal etwas auf sie. Ein Fangnetz. Es war so schwer, dass es sie zu Boden drückte und ihr die Möglichkeit nahm sich frei zu bewegen. Das Tier japste ängstlich, knurrte, wälzte sich herum, doch verfing sich dadurch nur noch schlimmer in den Seilen. Die verzweifelte Füchsin biss nach den rauen Tauen, als könne sie jene im Nu durchkauen. Sie wand sich, wie ein Fisch, doch es brachte nichts. Denn schon war einer der Menschen bei ihr, dann ein zweiter. Sie hatte Angst. “Du hast ein gutes Ziel, Hjaldrist…”, betonte jemand und der Angesprochene packte die laut und erbärmlich winselnde Füchsin durch das Netz am Nackenfell. Auch der Mensch atmete schnell und schwer, weil er hatte laufen müssen. Er war der Jäger und der Vierbeiner würde heute noch sterben müssen. So war es mit den schrecklichen Menschen. “Ich hatte mal ne Armbrust. Los, Onkel, betäub sie schon, bevor sie nen Herzinfarkt kriegt.”, kommentierte er während der Vierbeiner zappelte und sich zu wehren versuchte. Er schnappte mit den spitzen Zähnen nach dem Menschen auf sich, doch erwischte jenen nicht. Wieder jaulte er, schnaubte aufgerüttelt, hechelte vor Stress. Noch immer klebte ihm Blut vom toten Reh am Maul. “Märthe, das Mittel, bitte.”, schniefte der eine “Junge, halt sie gut fest.” Ein Tuch. Es stank. Es stach in der Nase. Sie müsste beißen, schnappen. Die Menschen würden es nicht leicht mit ihr haben. Nein! Einer nahm sie zwischen die Knie. Sie konnte sich nicht rühren. Nein! Er hielt ihr die Schnauze zu. Nein! Das Tuch kam näher. Es stank so sehr. Sie wurde auf einmal so müde. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie wollte schlafen. Hjaldrist ließ den Kopf der Füchsin erst wieder los, als das im Netz gefangene Tier schlaff am Waldboden lag und nur noch so flach atmete, dass es beinahe so wirkte, als sei es tot. Völlig ruhig lag es da, die Glieder reglos am Boden und das Maul leicht geöffnet, dass die Zunge heraushing. Die braunen Augen des Vierbeiners standen noch halb offen, doch dessen apathischer und leerer Blick verriet, dass er längst weggetreten war und tief schlief. Die Füchsin wehrte sich nicht mehr, hatte diesen Kampf verloren. “Gut gemacht.”, Adlet klopfte seinem entnervten, schwitzenden Enkel die Schulter, als sich jener langsam erhob und den Vierbeiner am Grund kritisch betrachtete. Der jüngere Skelliger stemmte sich eine Hand skeptisch in die Seite und warf den Blick zu seinem freudigen Onkel hin. Auch Märthe war da und wirkte nicht weniger erschöpft, als ihre beiden Begleiter. Feucht klebten ihr ein paar verirrte Strähnen der kastanienbraunen Haare an der Stirn. Sie wischte sie fort, atmete tief durch und lächelte erleichtert. Ihr Mantel saß etwas schief. “Noch sind wir nicht fertig…”, murmelte der anwesende Axtkämpfer und wirkte alles andere als beruhigt. Seine schmalen Augen taxierten den älteren Skelliger, seinen Druidenonkel, auffordernd. “Ja, ja, wir werden ihr ein Gegenmittel geben. Oder wir warten noch ein paar Tage. Ich bin mir sicher, sie wird wieder sie selbst.”, lächelte der tickende Mistelschneider gelassen. “Sie rennt seit zwei Wochen SO über die Insel!”, Hjaldrist deutete dabei auf den bewegungslosen Fuchs im Fangnetz “Du glaubst doch selber nicht, dass sie von selbst wieder normal wird?” “Geduld, Geduld!”, mahnte der Onkel bedächtig “Bringen wir sie erst einmal zur Hütte zurück. Und halte die Augen offen, Kindchen. Nicht, dass uns die Wölfe nachkommen. Sie mögen zwar scheu auseinander gelaufen sein und noch etwas zu Fressen haben, doch man weiß ja nie.” “Keine Sorge.”, warf die liebe Märthe jetzt ein und lächelte hintergründig “Sie werden uns in Ruhe lassen. Gehen wir.” * Als Anna zum ersten Mal zu sich kam, völlig verwirrt und panisch, schrie sie laut und schlug wie wild um sich. Nachdem sie den brummenden Kopf gedreht und die glasigen Augen aufgerissen hatte, erblickte sie rötlich braunes Fell an ihren Armen, schwarzes an ihren Händen und Fingernägel, die aussahen wie spitze Krallen. Die Frau schlug irgendeine fremde Hand weg, die sie festhalten wollte, wand sich herum und fiel. Ohne, dass sie überhaupt verstand, was geschah, landete sie mit der unsagbar schmerzenden Schulter voran am harten Boden, keuchte auf und wimmerte. Sie wusste nicht, wo sie war, wer bei ihr war, was sie war. Sie johlte einfach nur verzweifelt, doch nicht lange, denn viel zu schnell holte sie die Ohnmacht wieder ein. Als Anna zum zweiten Mal aufwachte, übergab sie sich, denn ihr flauer Magen rebellierte wie er es noch nie zuvor getan hatte. Irgendwer erwischte sie an den Schultern - natürlich auch an der geprellten - und sie gab einen heiseren Schmerzenslaut von sich, bevor sie abermals würgte und röchelte. Doch außer saurer Galle und Speichel wurde ihr zitternder Körper nun nicht mehr los. Sie bemerkte gar nicht, wie sie nach ein paar kehligen Atemzügen wieder einnickte und in ihrem vorhin Erbrochenem liegen geblieben wäre, hätte man sich nicht um sie gekümmert. Als Anna die matten Augen zum dritten Mal aufschlug, blieb alles ruhig. Das einzige Geräusch, das die stille Nacht durchbrach war ein erschrockener Laut ihrer Kehle, dann das Rascheln ihrer wollenen Decke. Sie setzte sich abrupt auf, sah hektisch um sich und mutete an, als sei sie just aus einem Albtraum hochgeschreckt. Die Alchemistin hörte, wie sich neben ihr jemand leise regte, als schrecke er ebenso aus dem Schlaf hoch. Da, auf einem Stuhl neben dem ungemütlichen Bett, saß Hjaldrist. Ziemlich schief und in sich eingesunken tat er das, was davon zeugte, dass er gedöst haben musste. Anna beachtete ihn zunächst nicht, sondern richtete den schockierten Blick sofort auf ihre nackten Arme. Jene sahen normal aus, menschlich. Da war kein rotes Fell, nur blanke, helle Haut und die Tätowierungen, die sie seit knappen zwei Jahren trug. Flach atmete die irritierte Frau aus, als sich ihre Miene ein wenig entspannte, und sie drehte die Hände langsam, betrachtete sie im Schein einer kleinen Kerze am Nachttischchen. Keine Klauen, kein Pelz. Sie hatte nur schlecht geträumt. “Na, Fuchs, wieder unter den geistig Anwesenden?”, Rist’s neckende Stimme riss Anna aus ihren seichten Gedanken. Sie hob den Kopf mit den ziemlich unordentlichen Haaren. Die wirre Frisur passte zu ihrem entrückten Blick. Man hörte den Skelliger in dem grünen Rock erleichtert seufzen. “Meine Fresse, endlich…”, entkam es dem Mann erleichtert und er erhob sich langsam, ächzte leise und streckte sich, dass seine Schultern knackten “Ich dachte, du kämst gar nicht mehr zu dir.” Die müde Novigraderin, die nicht mehr als ein zu großes Hemd trug und wie belämmert auf dem harten Bett Adlets saß, musterte Rist skeptisch. “Was?”, fragte sie lasch und wusste noch nicht so recht, was sie mit der eigenartigen Situation anfangen sollte. Ja, was war los? Nachdenklich verengte sie die braunen Augen und fixierte einen wahllosen Punkt neben ihrem Kumpel, zog die Stirn kraus. Also… sie hatte den Absud getrunken, den sie mithilfe Adlets zusammengemischt hatte. Ja, genau. Sie hatte zuerst das Magenmittel genommen, etwas gewartet und sich dann den eigentlichen Trank in den Rachen gekippt. Anna musste daraufhin ohnmächtig geworden sein. “Du erinnerst dich nicht?”, hakte Rist von der Seite aus nach und sah die Kurzhaarige an, als finge er erst jetzt damit an ihre Verwirrtheit zu verstehen “An kein Bisschen?”. “Ich habe den Trank getrunken. Und dann bin ich umgefallen.”, murmelte die Kräuterkundige wenig selbstsicher und ihr Freund zog die Brauen weit hoch. Anna musterte ihn kritisch, verzog dann aber ob eines plötzlichen Juckreizes am Kopf das Gesicht und kratzte sich; zuerst an der einen Stelle, dann an einer anderen. Es wurde nicht besser. Der armen Monsterjägerin entkam ein genervtes Stöhnen. “Moment mal. Hast du etwa Flöhe?”, kommentierte ihr Kollege all das wenig angetan und rümpfte die Nase. “Was?”, murrte Anna, doch wurde den Gedanken nicht los, dass der Jarlssohn Recht haben könnte. Ja, ganz plötzlich erschien es der wirren Frau so, als jucke es sie am ganzen Körper. Eine ziemlich unlustige Sache, doch Rist fing auf einmal damit an zu lachen. Natürlich tat er das, der Arsch! Anna fluchte leise und verstand die Welt nicht mehr. “Du hast Flöhe!”, gluckste der hübsche Skelliger belustigt und die pikierte Anna quittierte dies mit einem geworfenen Kissen. Hätte sie die Kraft dafür besessen, hätte sie es dem Deppen bei sich regelrecht um die Ohren gedonnert, dass es nur so geknallt hätte. Doch sie war unerklärlich schwach und daher bekam der Skelliger das daunengefüllte Ding bloß weniger verheerend ins Gesicht, fing es auf. “Eigentlich logisch. Warum haben wir nicht daran gedacht?”, warf Rist ein und ehe er weitersprechen konnte, maulte Anna dazwischen. “Was? Logisch? Was redest du da?”, wollte die entnervte Frau ziemlich patzig wissen. Denn im Moment besaß sie bei Weitem keinen so seichten und lockeren Humor, wie ihr Freund. Sie saß da, müde, hungrig und entkräftet, während ihr der Schädel juckte, wie sonst was. Und Rist, der fand das ‘logisch’? Gar nichts war logisch! Was war hier überhaupt los? “Der Trank, den du genommen hast”, fing der anwesende Undviker dann an und wurde dabei wieder etwas ernster, doch konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen “War eine abgewandelte Form von Onkel’s Vildkaarl-Absud.” Anna erstarrte nahezu, sah Rist aus geweiteten Augen an und schleichend, aber sicher, kam ihr eine düstere Ahnung. “Was…?” “Du bist nur nicht zum Bär geworden, sondern zu einem Fuchs.”, erklärte der wissende Hjaldrist und legte das zuvor geworfene Kopfkissen vorsichtig zu Anna auf das Bett zurück. Dabei näherte er sich so zögerlich, als habe er Angst, die Frau könnte treten oder schlagen. Oder beißen. Wäre in Anbetracht der letzten Tage ja nicht so abwegig gewesen. Anna’s Blick sank auf einen der Arme ihres Kumpels. Jener war dick einbandagiert worden. Gleichzeitig wurde ihr Ausdruck ungläubig und starr, dann finster. Sie schwieg. “Du bist, nachdem du den Absud getrunken hast, kreidebleich geworden und umgekippt. Wir haben dich danach ins Bett gebracht und Adlet hat dir irgendeine Medizin eingeflößt, die gut für den Kreislauf sein sollte. Am nächsten Morgen warst du fort. Doch deine Kleidung und all dein restlicher Kram waren noch da.”, sprach Rist weiter und ließ sich auf der harten Bettkante der Novigraderin nieder. Er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, gestikulierte beim Sprechen leicht mit den Händen und sah dabei zu seiner immer entsetzteren Kumpanin hin. Der entrückten Alchemistin war der Mund staubtrocken geworden und sie fand keine Worte. “Onkel vermutete schnell, dass du dich wohl verwandelt haben könntest. Als wir dich auf der ganzen Insel nicht finden konnten - und wir haben drei Tage lang gesucht - waren wir uns dessen sogar sicher. Wir wussten nur nicht, welches Tier du bist. Märthe meinte dann irgendwann, dass du ein Fuchs seist. Weiß der Teufel, woher sie das wusste. Die Frau ist sehr, sehr seltsam. Aber naja, sie hatte Recht. Wir haben uns also auf die Lauer gelegt und gewartet, weitergesucht. Und dann, eine Woche später haben wir deinen Schlafplatz entdeckt.”, erzählte der Schönling und Anna hörte ihm einfach nur mit halb offenstehenden Lippen zu. “Im Endeffekt warst du etwas mehr als zwei Wochen lang da draußen. Wir haben es geschafft dich einzufangen. Ich habe dir einen Stein nachgeworfen, getroffen und dich mit einem Fangnetz erwischt.”, erläuterte der Krieger weiter und kratzte sich am Kinn. Seine Ausführung über den Stein erklärte nun auch die schmerzende, bandagierte Schulter der Frau. Von dem Verband ging ein starker Geruch nach Rebis und Talg aus. Zutaten, wie sie für Heilsalben benutzt wurden und die unglaublich gut gegen Muskelzerrungen und Prellungen halfen. “Du lagst hier dann noch zehn Tage flach, warst ziemlich krank. Aber offenbar bist du endlich wieder über dem Damm, was?”, fragte Hjaldrist froh und Anna blinzelte überfordert. Sie atmete tief aus und ihre braunen Augen wanderten unstet, als sie versuchte all das zu ordnen, was ihr Freund gerade gesagt hatte. Abwartend saß jener nun auf der schmalen Bettkante. Zehn Tage? Hatte der Kerl jene über andauernd hier gesessen und aufgepasst? Die überraschte Nordländerin zog die schmalen Augenbrauen zusammen und verkniff es sich gewaltsam sich mit beiden Händen am juckenden Kopf zu kratzen. Also, nochmal von vorne: Der grünliche Trank, den sie zu sich genommen hatte, hatte sie zu einem Fuchs gemacht. Sie war abgehauen und war zwei Wochen lang auf vier Pfoten über Drakensund gestreift. Dann, nachdem Märthe die Männer der Insel zu Anna geführt hatte, hatten Rist und Adlet die Verwandelte eingefangen und wieder hierher gebracht… und dann? “Wie...”, fing die Kurzhaarige stockend an und klang auf einmal ganz kleinmütig “Ich meine… habe ich mich von selbst wieder zurück verwandelt?” Hjaldrist schüttelte den Kopf sogleich. “Nein. Onkel hat dir irgendetwas eingeflößt, dass das bewerkstelligt hat. Frag mich aber bloß nicht, was das für ein Elixier war. Ich kenn mich mit dem Kram nicht aus.”, bat der Mann räuspernd. Anna fuhr sich mit verzogenem Mundwinkel über den etwas blassen Nasenrücken und senkte den Kopf dabei grüblerisch. “Mhm.”, machte sie daraufhin nur. Sie war völlig durch den Wind und bräuchte wohl etwas Zeit, um die so surreal erscheinenden Erzählungen ihres engsten Freundes zu verkraften. Jener schien das auch zu verstehen - zum Glück - und erhob sich jetzt. “Ich sage Onkel Bescheid, dass du wach bist. Er schläft zwar längst, aber schließlich hat er die Scheiße verbockt. Also soll er aufstehen und helfen.”, brummte der Jarlssohn bestimmend. Dann ließ er Anna für ein paar Augenblicke allein. Kaum eine Stunde später saß Anna, noch immer recht zerstört aussehend, in leichte Leinenkleidung und eine warme Decke gehüllt, am Tisch des seltsam gekleideten Druiden. Hjaldrist hatte jenen tatsächlich aufgeweckt und ihn drängend dazu gebracht etwas zu Essen zu kochen. Es war stockfinster draußen und der Mond stand schon hoch am wolkenverhangenen Himmel. Dennoch wirkte der alte Druide froh; darüber, dass seine ‘Patientin’ und ehemalige Schülerin endlich wieder bei sich war. Der summende Mann stand gerade vor seinem Ofen und haute ein Dutzend Eier in eine alte, verbeulte Pfanne, deren Griff schon rostete. Sein Hähnchenfuß-Hütchen saß beachtlich schief auf seinem Haupt. “Schön, dass du wach bist, Mädchen. Wir sorgten uns schon um dich.”, sprach Adlet, während er die Eier in seiner Pfanne verrührte. Es roch nach heißer Butter. “Bestimmt hat dir Hjaldrist schon erzählt, was passiert ist. Mh, das war äußerst interessant.”, flötete der tickende Skelliger und salzte das Rührei, das jetzt schon verführerisch duftete. Anna’s Magen knurrte ganz schön und ihr war regelrecht schlecht vor Hunger. So entkräftet fand sie nicht einmal den Antrieb dazu sich fürchterlich beim unbeschwerten Adlet darüber zu beschweren, dass er das, was passiert war, als ‘interessant’ betitelt hatte. “Interessant, sagst du?”, maulte Rist dafür dazwischen und die Novigraderin, die sich die Baumwolldecke enger um die Schultern zog, horchte auf. “Das war eine riesen Kackscheiße!”, schnarrte der jüngere Skelliger verstimmt und hatte damit absolut Recht. Ja, Danke, Rist. Anna musste schwach in sich hinein schmunzeln, als sich der anwesende Druide näherte, um ihr eine Schüssel voll mit Rührei vor die Nase zu stellen. Adlet musterte die Jüngere zufrieden, lenkte den Blick dann aber auf seinen Enkel, der nach wie vor ziemlich aufgebracht wirkte. “Solche Dinge können passieren, wenn man in der Alchemie experimentiert, Junge.”, schniefte der alte Skelliger neunmalklug. Anna schaufelte sich bereits gierig Eierspeise in den Mund und kratzte sich mit der freien Hand am juckenden Kopf. “‘So etwas kann passieren’?”, wiederholte Rist die Worte seines viel zu gelassenen Verwandten genervt “Sie hätte draufgehen können! Die Wölfe hätten ihr im Nu den Hals durchgebissen!” “Umso besser, dass wir sie davor gefunden haben.”, schloss Adlet dieses Gemecker lächelnd. Es war wie ein stilles ‘Halt die Klappe, Junge’. Hjaldrist schien zu verstehen und verschränkte die Arme eng vor der Brust. Das Einzige, das ihm hierzu noch einfiel war ein ungläubiges Kopfschütteln und ein tiefes, unzufriedenes Stöhnen. Denn er wusste, dass es so und so nicht viel brächte herumzumeutern. Adlet war auf seine ganz eigene Art und Weise stur. Man würde gegen ihn und seine geliebten Tränke anreden, wie gegen eine Wand. Eine schniefende Wand. Es blieb in dieser ruhigen Nacht nicht nur beim Essen. Denn natürlich hatte Hjaldrist seinem Onkel noch die Erkenntnis über die Flöhe seiner geplagten Freundin dargelegt, während jene den Boden zu ihren Füßen unwohl berührt betrachtet hatte. Denn die Angelegenheit war Anna verdammt peinlich, ganz klar. Flöhe zu haben war schließlich ein Zeichen dafür unsauber zu sein, nicht wahr? Die Kräutersammlerin aber, die wusch sich regelmäßig und achtete auf sich. Nur daran zu denken, dass da kleine Viecher auf ihr herumkrabbelten und sie bissen, ließ sie angeekelt erschaudern. Adlet jedoch, der hatte das mit einem simplen Schulterzucken hingenommen und seinen Enkel dazu angewiesen den Waschzuber aufzustellen. Das inmitten des Kräutergartens hinter dem Haus, denn schließlich war IN der Hütte ja kein Platz dafür und die Nacht war äußerst lau. Man würde sich den Arsch im Freien also nicht abfrieren, denn es wurde Sommer. “Ich habe noch eine Mixtur aus Hundspetersilie und Hopfendolden übrig. Wir mischen sie in das Badewasser. Außerdem kannst du sie dir auch getrost unverdünnt über die Haare schütten, Mädchen.”, belehrte Adlet Anna, die nervös abwartend im Gras stand und den Älteren skeptisch musterte. Genauso kritisch linste sie zu Rist hin, der im Hintergrund Wasser schleppen musste, es aber ohne Muh und Mäh tat. Augenscheinlich war es ihm wichtig zu helfen und obwohl er es nicht aussprach, schien er heilfroh darüber zu sein, dass Anna wieder sie selbst war. Denn er war ganz geschäftig dabei mit Kübeln voller Wasser herbeizulaufen. “Muss… das jetzt sein...?”, stammelte die Novigraderin und riss sich am Riemen, um sich nicht am Knie zu kratzen. Gleichzeitig juckte ihr der Rücken wie blöd. “Du willst doch nicht mit den Flöhen ins Bett?”, schniefte Adlet ernst “Du bekommst damit doch kein Auge zu.” Da hatte er Recht. Anna senkte den Blick störrisch, doch schüttelte den kurzhaarigen, wirren Kopf dann bald und gab nach. Der Onkel lächelte zufrieden. “Und glaube mir. Eine einzige Anwendung meiner Mixtur genügt und du bist die Plagegeister los!”, versprach der erfahrene Trankmischer stolz. Er klopfte der Frau lieb die unverletzte Schulter und drückte jene zuversichtlich. “Solange das Zeug keinen Floh aus ihr macht!”, konnte man Rist vernehmen, als er einen weiteren Eimer Wasser aus dem nahen Bach in den kleinen Zuber kippte. Er schien seinem Onkel nach wie vor böse zu sein. Doch Adlet lachte nur amüsiert. “Nein, nein!”, meinte der Druide glucksend und rückte sich sein verqueres Hütchen zurecht. Dann drückte er Anna sein halbvolles Fläschchen Badezusatz in die Hand. “Rufe einfach, wenn du etwas brauchst, Mädchen.”, meinte er noch nett. Dann verschwand er zusammen mit Rist ins Haus mit dem Strohdach und zog den Vorhang des Fensters, das gen Kräutergarten zeigte, zu. Man konnte sagen was man wollte, doch der verwirrte Druide verstand wohl, dass es Frauen nicht besonders gern mochten beim Baden beobachtet zu werden. “Ey.”, machte Rist auffordernd und riss die dösende Anna damit aus einem leichten Schlaf. Sofort fuhr sie zusammen und schreckte hoch, verschluckte dabei beinah das bittere, bläulich gefärbte Wasser im Zuber. Es platschte, als die Frau zurückzuckte und sich sofort gerader hinsetzte. “Was…”, entkam es der Kurzhaarigen lahm und sie blinzelte schlaftrunken. Sie musste eingenickt sein. Das Badewasser war zwar nicht warm, doch wegen der Juckreiz-lindernden Wirkung durchaus angenehm. So sehr, dass die nach wie vor kraftlose Anna tatsächlich im Badetrog lehnend eingedöst war. Und das mit dem Wasser bis zum Kinn. Nun aber, war sie hellwach, denn sie realisierte, wie sich Hjaldrist auf den schmalen Rand der hölzernen Wanne stützte, um die Alchemistin mit den nassen Haaren auffordernd anzusehen. Anna verschränkte beide Arme sofort schützend vor der Brust und zog die Beine an, um möglichst alles zu verstecken, das man ihr wegstarren könnte. Dann wurde ihr zuvor noch so verwirrter Ausdruck bissig. “He!”, machte sie anschuldigend und konnte sich ein ‘Schau weg!’ sparen, denn ihr schlauer Kumpel aus Undvik wusste natürlich gleich Bescheid. Nur ein ziemlich dummer Idiot hätte jetzt nicht gewusst, was die überspitzt ablehnend-scheue Körpersprache der konfrontierten Frau sagte. Rist rollte, sich kaum einer Schuld bewusst, mit den dunklen Augen und sparte sich einen Kommentar. “Du bist eingeschlafen.”, schnaufte er ohne auch nur ansatzweise wegzusehen “Ich habe schon geglaubt, das Mischzeug von Onkel hat dich zum Fisch gemacht. Komm endlich rein, sonst wachsen dir wirklich noch Schwimmhäute.” “Wa-was?”, keuchte die unbekleidete Novigraderin im Wasser mit unverändert verärgerten Ausdruck. Die zähe Abgekämpftheit, die ihr aber nach wie vor in den Gliedern steckte, ließ sie dabei ein klein wenig dümmlich aussehen. “Ich komme erst raus, wenn du wegsiehst!”, beschwerte sie sich und war froh über die dunkle Nacht. Im fahlen Mondlicht und dem Schein ihrer Lampe am Boden konnte man wenigstens nicht erkennen, dass sie so rot anlief, wie eine Tomate. Schon seltsam. Schließlich hatte sie sich mit diesem Kerl hier schon genug Zimmer oder sogar Betten geteilt, wenn letztere denn breit genug gewesen waren. Doch so war sie eben. Obwohl sie zwischen ruppigen Männern aufgewachsen war, war sie stets darauf bedacht vor jenen nicht viel Haut zu zeigen. Eher verhielt oder kleidete sie sich selbst, wie ein Kerl, anstatt auch nur einen freien Oberschenkel oder ein zu tiefes Dekolletee blitzen zu lassen. Ein verkrampftes Verhalten, das von ihrer strengen Erziehung herrührte. Früher, da hatte man stets penibel darauf geachtet, dass sich Anna nicht von irgendwelchen schleimigen Typen oder untervögelten Perversen abschleppen ließ. Man hatte ihr eingebläut, dass es schlecht sei, wenn sie ein Mann so sah, wie sie gerade eben war: Nackt. All dies saß ihr also so unterbewusst im Hinterstübchen, dass sie genau in diesem Moment richtig, richtig zornig wurde. Dies, obwohl Hjaldrist, ein sehr guter Freund, nicht einmal etwas Schlimmes tat oder anstößige Dinge sagte. Der Jarlssohn sah der Frau im kleinen Badezuber einfach nur etwas kritisch entgegen und wollte, dass sie endlich ins Bett ging und sich ausruhte. Mehr nicht. Es war nett gemeint, dennoch fauchte Anna herum. “Ich… ich kenne euch Typen doch! Ich weiß genau, was ihr euch in solchen Situationen denkt, jawohl! Und was in eurem Kopf vorgeht!”, beschwerte sich die aufgerüttelte Novigraderin, als seien ihre Worte spitze Waffen. Die Falten auf Rist’s Stirn wurden immer tiefer. “Ihr schnappt jede Gelegenheit beim Schopf, um uns Frauen anzugaffen! Und wenn wir nicht aufpassen, dann-” “Jetzt halt mal den Rand, Flohbeutel.”, unterbrach der ziemlich schlecht dargestellte Skelliger und die Hexerstochter, die ihre Anklagen gemotzt hatte, als habe sie sie auswendig gelernt, hielt inne. “Glaubst du etwa, ich hätte noch nie eine Frau nackt gesehen? Oh, ich bitte dich.”, konterte der anwesende Krieger nur locker. Ein verständliches Argument, wenn man bedachte, wer und was er war. Bestimmt waren ihm die Mädchen auf Undvik früher zu Füßen gelegen. Und man musste ihn sich ja nur ansehen. Sicherlich war er DER Lieblingskunde in jedem Bordell, denn er war hübsch und gepflegt. “Außerdem habe ich dich längst nackt gesehen. Nachdem du dich zurückverwandelt hast, nämlich. Tiere haben keine Klamotten an, weißt du.”, schnaubte Hjaldrist “Ich habe dir sogar alle zwei Tage ein frisches Hemd angezogen, als du besinnungslos warst. Damit du dich nicht angegafft fühlst, wenn du aufwachst.” Auf diese Aussage hin machte sich eine unangenehme Stille zwischen den Anwesenden breit. Anna schaffte es plötzlich nicht mehr ihrem schmerzhaft ehrlichen Kumpel in die Augen zu sehen und wäre am liebsten ganz tief im kalten, bitteren Badewasser versunken. Sie presste die Lippen schmal aufeinander und die schlechte Atmosphäre war geladen und dick. Oh je. “Und außerdem”, setzte der Skelliger dann auf einmal fort, als müsse er sich rechtfertigen, und brach damit das stichelnde Schweigen “Bist du nicht mein Typ. Du bist so flach, wie ein Brett und siehst aus wie ein Kerl. Also scheiß dich nicht ein.” Anna’s braune Augen verengten sich wieder etwas und sie richtete jene zurück auf ihren Freund. Da war es wieder, das böse Starren. Und sie wollte schon empört nach Luft schnappen. Rist grinste leicht, als er das mitbekam und nickte dann recht unbeschwert in die Richtung des schiefen Hauses. Denn er hatte gewonnen, so schien es. “Und jetzt komm rein. Du gehörst ins Bett.”, mit diesen Worten wandte sich der Krieger ab, doch ging nicht, sondern wartete. Denn er fürchtete wohl, dass es die schwache Anna nicht mehr allein aus dem Badezuber und in die alte Hütte schaffen würde. Ungeduldig wippte er mit einem Fuß auf und ab und hielt den Blick demonstrativ weg, in die Ferne, gerichtet. Die sprachlose Frau im Badewasser starrte noch immer und konnte sich trotz allem nicht des Zorns erwehren, der ihr die Eingeweide fest zusammenknoten wollte. Denn sie… sie fühlte sich beleidigt und bloßgestellt. Sehr sogar. Und gleichzeitig fühlte sie sich zum ersten Mal richtig gekränkt, weil sie jemand als zu burschikos betitelt hatte. Ja, es stimmte sie außerordentlich enttäuscht, dass Rist gemeint hatte, sie sei unattraktiv. Denn Anna war nicht unattraktiv. Oder…? Grummelig senkte die müde, nasse Novigraderin den Blick, fasste sich prüfend an die Brust. Und sie war auch kein Brett! Also... ein Bisschen vielleicht. Aber sie sah NICHT aus, wie ein Mann! Rist war gemein! Kapitel 13: Verhängnisvolle Zeiten für Drachenjäger --------------------------------------------------- Anna saß auf der kleinen Holzbank vor der alten Hütte und sah Adlet dabei zu, wie er die Erde eines Beetes vor der Tür umgrub. Er wollte darin neue Kräuter anpflanzen, hatte er gemeint, und gerade, da sei die beste Zeit dafür. Also ließ die Frau ihn walten und lehnte sich stattdessen lieber etwas in der wärmenden Sonne zurück und streckte die Beine aus, die in ihrer wieder sauberen, lederverstärkten Hose steckten. Seit der ganzen Misere rund um ihr Zurückverwandeln waren ein paar wenige Tage vergangen und die wieder flohlose Novigraderin hatte sich gut erholt. Zusammen mit Rist hatte sie sich also dazu entschlossen demnächst abzureisen. Schließlich gab es hier, auf Drakensund, nichts mehr, das sich so recht für sie lohnen könnte. Sie hatte viel von Adlet gelernt, war einmal ordentlich auf die Schnauze gefallen und hatte erkannt, dass es keine kluge Idee war, gewisse Absude unter der Fuchtel eines Mannes abzuändern, der zu sehr auf Gestaltwandlung stand. Sie würde lieber anderswo weitersuchen und alleine forschen. Nebenher stand auch erstmal eine aufregende Zeit an, in der es galt viele Monster zu töten. Denn die Geldkatze Annas war so gut wie leer. Sie musste schon die zu großen Hemden von Hjaldrist tragen, weil ihre eigenen allesamt hinüber waren. Und in den Taschen des besagten Skelligers sah es auch nicht sehr viel besser aus, obwohl er einer Adelsfamilie entstammte. Also würden die Abenteurer erst einmal zurück nach Kaer Trolde reisen und daraufhin weitersehen. Morgen, denn heute war es dafür schon etwas spät. Oder übermorgen. Ja, klang gut. “Adlet, sag mal...”, fing Anna an, als sie den arbeitenden Älteren beobachtete. Jener, in simpler, dreckiger Hose und einer Flicken-übersäten Tunika mit hochgekrempelten Ärmeln steckend, sah auf und hielt mit seinem fröhlichen Geschaufel inne. “Was bedeutet denn dieses Bändchen da?”, wollte die Frau wissen und deutete in die Richtung des einen Handgelenks ihres ehemaligen Lehrers. Jener zog die Augenbrauen überrascht hoch, denn vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass die Novigraderin solch einen Blick für Kleinigkeiten hatte. Tja. Die hatte sie aber, denn wenn man in Kaer Morhen neben dem Kämpfen und Monsterkunde noch etwas lernte, dann das. Details waren wichtig. Immer. “Das?”, schniefte der Druide und hob die Rechte etwas an, damit man das rote Armband daran sehen konnte. Anna war dieses Ding schon des Öfteren aufgefallen. “Märthe hat es mir gegeben. Sie knüpft sehr gerne solche Dinge. Andernorts, hat sie gemeint, nennt man so etwas ‘Freundesbändchen’. Daher hat sie es mir geschenkt. Wir sind schließlich Freunde.”, lächelte der kauzige Mann und stützte sich auf seinen schartigen Spaten. Auch Anna musste schmunzeln. Sie fand es ja schon recht süß, was da zwischen Adlet und dessen Kräuterfreundin lief. Ob da mehr dahintersteckte, als eine gute Freundschaft? Man möchte meinen, Rist’s Onkel sei ein sozial verkrüppelter Typ, der absolut nichts vom Kontakt zu anderen Menschen hielt. Aber dem war nicht so und die Annahmen darüber bloße Vorurteile wegen irgendwelcher Klischees über Druiden. Ja, dieses verkorkste Schubladendenken ging in den Nördlichen Königreichen manchmal sogar so weit, dass man behauptete, Mistelschneider steckten unerwünschte Besucher in Weidenpuppen und zündeten sie an, um daraufhin betend und schräge Lieder singend um jene herum zu tanzen. Alles Blödsinn. Jedenfalls hatte Anna auf ihrer Reise noch keinen Druiden getroffen, der sie hatte anzünden wollen. Die einzigen Leute, die andere in Brand steckten, waren die dämlichen Hexenjäger, die Hatz auf Frauen mit roten Haaren oder zu guten Kenntnissen über die Alchemie machten. Auf bucklige Weiber mit schwarzen Katzen und Damen, die sich als Heilerinnen verdingten und dabei zu viel Geld verdienten. Ja, mancherorts würde man gar Anna auf den Scheiterhaufen führen, weil sie war, wer sie eben war. Oder nicht? Diese Spinner. Die eigenbrötlerischen und teils ulkigen Druiden waren dahingehend ja richtig, richtig angenehm. Apropos... “Und… Adlet?”, fing die Frau aus Kaer Morhen noch einmal zögerlich an und erneut hielt der besagte Mann in seinem Tun inne, um zu ihr zurück zu linsen. Eine Brise fuhr durch die nahen Sträucher und ließ deren Blätter kaum hörbar rascheln. “Was denn, Mädchen?”, wollte er wissen und richtete sich etwas auf. “Wie kam es eigentlich, dass du ein Druide wurdest? Ich wollte dich das schon ewig einmal fragen, weißt du.”, gab die ehrliche Kurzhaarige zu und ihr erdbefleckter Gesprächspartner mit dem Hähnchenfuß-Hut musste lachen. “Du bist ja ganz schön neugierig.”, stellte der gutmütige Onkel fest und schniefte leise. Er wirkte dabei nicht sonderlich genervt, sondern so freundlich und ungetrübt, wie eh und je. “Ohne meine Neugierde wäre ich heute wohl nicht hier auf Drakensund.”, grinste Anna schlagfertig und wieder lachte Adlet in sich hinein. Ihm schien die Art seiner Kollegin zu gefallen. “Das stimmt.”, meinte er und nickte, wandte sich der Jüngeren dann wieder zur Gänze zu und steckte die alte Schaufel in die weiche, umgegrabene Erde. Dreck klebte dem Mann an der Wange. “Also?”, wollte die Novigraderin erwartungsvoll wissen und lehnte sich aufmerksam vor. Sie erdreistete sich einfach, denn sie wusste, dass sie dies durfte. Adlet war nämlich ein geduldiger Mann und noch nie hatte sie ihn zornig gesehen. Um ehrlich zu sein, konnte sie sich einen wütenden Hühnerfuß-Onkel gar nicht vorstellen. Dieser Kerl war doch mit sich, seinen Kräutern und den blöden Mäusen vollkommen im Einklang. “Das Ganze ist eine sehr lange Geschichte, Töchterchen.”, fing der Druide an und schien nach Worten zu klauben. Er sah nachdenklich gen Himmel, über den ein Vogelschwarm zog, und gab einen grüblerischen Ton von sich. Dann aber, schien er eine passende Erklärung gefunden zu haben: “Meine Familie hat eine Vergangenheit, in der die Elfen vorkommen. Die Aen Seidhe, ja, ja. Das war früher sehr anstößig. Weißt du, Mädchen, ich glaube, dass es heute vielen egal ist, wenn sich Elfen und Menschen nahekommen. Aber damals, holla, da war das eine ganz, ganz blöde Sache.”, erzählte der Kräuterkundige, als spräche er mit einem Kind und Anna verstand nicht so ganz. Doch sie unterbrach ihren ehemaligen Mentor nicht, sondern hörte zu. Sie war es mittlerweile gewohnt, dass Adlet relativ, naja, wirr sprach. “Jedenfalls kam es zu einem Abkommen zwischen den Elfen und den Menschen Undviks, das besagt, dass jede vierte Generation der Falchraites, also meiner Familie, eine Person hergeben muss, die dann zu einem Weisen wird.”, erklärte Adlet schniefend und nickte, als wolle er sich selbst heftig beipflichten. Anna runzelte die Stirn tief. Der Begriff eines Weisen passte ihr an diesem Punkt nicht so recht. Denn Adlet-... ach, wie auch immer. Doch die Sache mit den Aen Seidhe, die musste stimmen. Es war eine Tatsache, die der Kriegerin endlich zu verstehen gab, warum Adlet so dermaßen jung aussah und auch Rist’s Äußeres nicht von schlechten Eltern war. Warum ihr Kumpel nicht anmutete wie ein typischer, hünenhafter Skelliger mit langem Rauschebart und einem Körper, wie ein Schrank. Oh ja, die Elfenangelegenheit erklärte gerade SO viel. Und Anna würde ihren besten Kumpel in Zukunft noch ganz schön damit aufziehen können, glaubte sie. Im Geiste rieb sie sich schon vorfreudig die Hände. “Eine Person in jeder vierten Generation. Und in meiner, da war ich das, ja, ja. Und mein Bruder, der alte Haudegen, wurde zum Jarl.”, lächelte der Druide breit und nahezu stolz. Dies war auch das Ende seiner kurz zusammengefassten Geschichte, die der Hexerstochter dezent verquer erschien. Abkommen mit Elfen, die aus Menschen Druiden machten? Das war schon schräg. Und es klang, wie aus einem billigen Märchen. Ob sie Hjaldrist auch einmal danach fragen sollte? DER würde ihr im Gegensatz zum Onkel ja sicher besser und direkter erklären können was Sache war. WENN er denn überhaupt antworten würde, verstand sich. “Du… warst also bei irgendwelchen Elfen, die dir beigebracht haben, wie man Tränke mischt?”, fragte die interessierte Anna langsam nach und ihre braunen Augen taxierten den tickenden Älteren dabei eingehend. Jener lächelte nach wie vor, während seine Miene irgendwo den Funken eines verzwickten Rätsels in sich trug. Es schien in dieser Situation gar für einen Wimpernschlag lang so, als sei der Gute viel schlauer, als er immer tat. “Ja, kann man so sagen, ja.”, antwortete der Druide recht simpel und ohne weitere Ausführungen. “Und warum bist du nach dieser, ähm, Ausbildung nicht nach Undvik zurück?”, hakte die Frau weiter nach. “Ach, da ist es immer so kalt, Mädchen. Und es gibt dort Eisriesen. Ich fand diese Insel hier im Gegensatz viel gemütlicher.”, eine Antwort, die in Anna’s Ohren klang wie eine lasche Ausrede. Doch wieso? Als Rist wieder zu der alten Hütte mit dem eingesackten Strohdach kam, sah er alles andere als zufrieden aus. Am Morgen war er losgezogen, um nach den Krabbenkäfigen Adlets, in denen jener die besagten Krustentiere fing, zu sehen. Mit Glück hätte sich darin ja gar ein dicker Hummer befunden, der ein gutes Mittagessen abgegeben hätte. Doch das Gesicht des Skelligers, der außer seiner normalen Stoffkleidung bloß seine Axt bei sich trug, sprach von keiner leckeren Mahlzeit bei lauschigem Wetter. Als er einen Kübel, in denen ein paar wenige, kleine Krabben herum zappelten, abstellte, stützte er die Hände in die Hüfte und fixierte Anna dunklen Blickes. Er atmete einmal tief durch. Was war los? “Die Boote sind weg.”, brummte er und ob dieser Aussage hielt selbst der geschäftige Adlet damit inne seine Kräutersetzlinge in die Erde vor dem Haus zu verfrachten. Der Alte hob den hutbedeckten Kopf und sah irritiert her. “Wie? Die Boote sind weg?”, hakte die anwesende Novigraderin perplex nach und erhob sich sofort von ihrer bequemen Holzbank “Alle drei?”. Hjaldrist nickte. “Verschwunden sind sie. Einfach so. Gestern Nachmittag waren sie noch da.”, meinte der verstimmte Krieger und sein Onkel kam besorgt näher. “Oh, herrje...”, machte Adlet und putzte sich die dreckigen Hände an der hellen Arbeitstunika ab. “Wir hatten schönes Wetter, keinen Sturm. Sie können nicht einfach so weg sein.”, entkam es Anna jetzt und nur allmählich realisierte sie überhaupt, was ihr Kollege da gerade gesagt hatte: Die kleinen Segelboote der hier Ansässigen waren fort. Und wenn sie nicht wieder auftauchen würden, dann könnten es Rist und Anna vergessen morgen zurück nach Kaer Trolde zu reisen. Ja, sie würden hier festsitzen, verdammt! “Hast du denn an der richtigen Stelle nachgesehen?”, wollte Adlet ruhig wissen und bekam dafür einen abschätzigen Blick zugeworfen. “Ich weiß ja wohl, wo unsere Boote sein sollten, Onkel.” “Hmmm…”, machte der Druide, der die Nase trocken hochzog “Aber warum sollte jemand die Schiffchen von euch, mir und der lieben Märthe stehlen?” “Du glaubst, jemand hat sie gestohlen?”, fragte Anna beunruhigt “Wer denn? Hier kommt doch niemand her!” Der Onkel tickte abermals und zuckte daraufhin mit den schmalen Schultern. “Vielleicht haben auch irgendwelche Tiere die Taue zerbissen und die Boote sind fortgeschwommen. Womöglich treiben sie an irgendeiner anderen Stelle wieder an Land. Die Strömungen sind stark und wenn die Flut kommt, schwemmt sie immer alle möglichen Dinge an den Strand. Einmal, da war da sogar ein kleiner Wal dabei. Bei den Schöpfern, da habe ich mich erschrocken! Er lag da tagelang herum und als ich ihn angepiekt habe, ist er nahezu explodiert. Das hat vielleicht gestunken, sage ich euch. Gärgase, ganz fürchterlich, nein, nein...”, erzählte der zu jung aussehende Druide und kratzte sich nachdenklich am glatten Kinn. Die Novigraderin linste hintergründig zu ihrem Freund Rist hin, der nur einmal wieder mit den braunen Augen rollte und den Kopf schüttelte. “Was auch immer genau passiert ist… wir brauchen die Boote wieder.”, schnaufte Anna nun und verzog die Mundwinkel unzufrieden. Denn wenn sie ganz, ganz ehrlich zu sich war, wollte sie endlich weg von hier. So viel sie auf dem schönen Drakensund auch gelernt hatte, so wollte sie wieder in die weite Welt hinaus, kämpfen, Geld verdienen, etwas erleben, weitermachen, weg von dem langweiligen und eintönigen Alltag. Die Aussicht darauf würde sie aber wohl oder übel hinten anstellen müssen. Denn ohne Boot käme sie erstmal nirgendwo hin. “Rist, sollen wir nachsehen, ob wir sie nicht doch irgendwo finden?”, setzte die nordländische Kriegerin nach und sah hoffnungsvoll zu ihrem abwartenden Freund hin, der den Kopf leicht wiegte, dann aber nickte. Bis zum Strand war es schließlich nicht so weit. Etwa eine halbe, dreiviertel Stunde zu Fuß und sie wären da. Ohne Gepäck reiste es sich schnell. Tatsächlich waren die Boote fort. An der Stelle, an denen man sie halb an Land gezogen und angebunden gehabt hatte, ragten nunmehr einsame Holzstümpfe aus dem nassen Sand. Kein angebissenes Tau lag herum und demnach konnten auch keine Tiere oder Ungeheuer für das Fehlen der Schiffchen mit den eingerollten Segeln verantwortlich sein. Anna runzelte die Stirn und seufzte schwer aus. “Ich hab’s ja gesagt…”, meinte Rist und nickte in die Richtung der improvisierten Anlegestellen “Als hätte sie jemand losgemacht, um damit weg zu segeln. Als ob man sie gestohlen hätte. Aber da sind keine Spuren im Sand.” Die enttäuschte Trankmischerin nickte beipflichtend und ließ den Blick suchend schweifen. Vom Meer her blies eine angenehme, salzige Brise und in etwas Entfernung konnte man das helle Kreischen von Sirenen vernehmen. Es war näher als sonst… oder kam es der Hexerstochter nur so vor? Sie war nicht so oft am Strand gewesen. Ihre Augen wanderten weiter, über Sand, Felsen, Wiese, am Meer entlang. Möwen tummelten sich rechts, nach einer kleinen Anhöhe, über der Küste. Etwa eine halbe Meile von dem Punkt entfernt, an dem Rist und die Frau gerade standen, flatterten die weißen Vögel wild im Kreis und setzten zwischendurch immer wieder einmal laut quakend zur Landung an. Dass sie sich so konzentriert an einem Fleck am klaren Himmel hielten, war nicht normal. Man musste kein Hexerslehrling sein, um zu wissen, dass gewisse Vögel genau SO über tödlich Verwundeten, verendenden Tieren oder Aas kreisten. “Dort hinten.”, Anna deutete auf die Möwen am Himmel und Rist’s wache Augen folgten dem Fingerzeig aufmerksam. Ihm entkam ein leiser Laut der Erkenntnis. “Sehen wir nach?”, fragte er zu seiner Freundin zurücksehend und jene nickte sofort. “Ja, besser ist das.”, glaubte sie und setzte sich daraufhin schon mit ihrem Kollegen in Bewegung. Sie eilten nahezu und das vielleicht gar ein wenig vorfreudig. Denn sie rochen Ärger. Und Ärger, der bedeutete auch immer ein kleines Abenteuer. Von dem Gedanken angestachelt, dauerte es nicht lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Und als sie das taten, verzogen sie die Gesichter angewidert. “Urgh, das stinkt…”, murmelte Anna, während Rist etwas von sich gab, das klang wie ein ‘Was zur Hölle?’ im derben skelliger Akzent. Vor ihnen erstreckten sich Eingeweide und Stücke davon, Knochen und Fetzen von Häuten. Sie lagen direkt am Strand, bis zurück zur Wiese verstreut, und stanken bestialisch. So groß, wie sie waren, stammten sie wohl von größeren Tieren. Von Rindern vielleicht. Sich das etwas zu große Hemd hoch, vor Nase und Mund, ziehend, näherte sich die Nordländerin den blutigen Därmen, zwischen denen Möwen herum staksten, um sich gierig ihren Anteil zu holen. Zögerlich hockte sich die Frau zu einem der Fleischbrocken hinab, beäugte ihn ohne ihn anzufassen und unterdrückte ein trockenes Würgen. Hjaldrist kam neben ihr zum Stehen und beobachtete sie skeptisch. “Was machst du da?”, wollte er wissen und versuchte sich mit der Hand Frischluft zuzufächeln - natürlich vergeblich. “Siehst du das?”, kam es als Gegenfrage hinter dem schützend hochgezogenen Hemd “Die Größe der Alveolen hier… diese Verästelung der Bronchien da. Das spricht dafür, dass das eine Pferdelunge ist. Ich bin mir ziemlich sicher. Obwohl sie schon aufgequollen ist.” Rist legte die Stirn auf diese genaue Erörterung hin schweigend in Falten und schien nicht zu wissen, was er mit der vorangegangenen Information anfangen sollte. Anna sah auf, ehe sie sich wieder erhob. Tatsächlich gehörten die gammelnden Überbleibsel hier - der Zeichnung und Größe nach - also einem Pferd. Oder eher: Mehreren Pferden. Das ganze Blut und Fleisch, die Knochen, der mächtige Gestank… sie sprachen für mindestens fünf, sechs Tiere. Aber warum? Was war hier passiert? “Ich habe auf der Insel noch nie ein Pferd gesehen…”, murmelte Rist verhalten und Anna verengte die dunklen Augen grüblerisch. Noch immer hielt sie sich den dünnen Stoff ihres geborgten Oberteiles halb vor das Gesicht. Dies half eher schlecht als recht, denn der süßliche Geruch nach Verwesung war stechend und brannte fast schon in der Nase. “Ja… was mich aber noch mehr beunruhigt ist, dass-”, weiter kam die gelehrte Novigraderin aber nicht, denn ein schrilles Kreischen und ein huschender Schatten, der das Sonnenlicht für eine Sekunde lang durchbrach, ließ sie heftig zusammenzucken. Hjaldrist wich wie aus einem Reflex heraus ab, erwischte Anna harsch am Unterarm und zog sie dabei mit sich. Ledernes Flügelschlagen erfüllte die laue Luft. Ein weiterer, hoher Schrei begleitete es. Und während kaum zehn Meter weiter eine Sirene zwischen den blutigen Eingeweiden landete, um mit den spitzen Zähnen hungrig danach zu schnappen, hielten sich zwei weitere Ungetüme flügelschlagend über den Köpfen von Anna und Rist, fauchten aggressiv und waren drauf und dran vom Himmel zu stoßen, um die armen Menschen anzufallen. Ihre Flügelspannweiten betrugen locker drei bis vier Meter und ihre weiblich und durchaus menschlich erscheinenden Oberkörper mit den häutigen Flügeln gingen in lange, fischgleiche Flossen über. Es waren schreckliche Monster, wie sie in Sagen von Meerjungfrauen vorkamen; nur weniger schmeichelnd und hübsch als in diesen ausgeschmückten Märchen. Ja, ihre Gesichter unter den strähnigen, langen, braunen bis blonden Haaren waren zu ekelhaften, wütenden Fratzen verzerrt und ihre Gebisse glichen denen von Raubfischen. Manche von ihnen besaßen keine Nasen, sondern nur zwei Löcher in der Mitte der Gesichter. Wie die, die in Totenschädeln prangten. “Was zum-?”, keuchte Anna überrumpelt und schalt sich innerlich eine Närrin. Dafür, dass sie nicht daran gedacht hatte, dass stinkende Kadaver nicht nur einfache Ertrunkene, sondern auch gefährliche Ungeheuer, wie die fliegenden Sirenen - oder Havfru, wie man sie noch nannte - anlockten. Sie hatte in ihren Büchern darüber gelesen, klar, doch in der Praxis noch nie so direkt mit den Meereskreaturen zu tun gehabt. Schließlich fand man diese Ungetüme in den Nördlichen Königreichen äußerst selten. Dort stieß man eher auf dutzende Ertrunkene oder Seeschlangen, als auch nur eine Sirene vor die Augen zu bekommen. Hier, auf Skellige, waren diese Scheißviecher überall. Und während zwei von ihnen just böse schnarrten und schrien, kamen noch drei, vier weitere von ihnen daher. Dies sehr flink - was auch erklärte warum Anna und Hjaldrist sie vorhin nicht hatten kommen sehen. “Ist hier irgendwo ein Nest?”, entkam es der Hexerstochter abfällig, als Rist sie weiter fortzerrte. “Lauf!”, bekam sie nur sehr hektisch und laut als Antwort. Der drängende Krieger ließ ihren Arm endlich los und tat, wozu er Anna gerade aufgefordert hatte. Und auch die Frau nahm die Beine in die Hände und rannte drauflos, so schnell sie nur konnte. Denn sie war so gut wie unbewaffnet, hatte bloß ihren Dolch dabei und gar keine Rüstung. So, wie Rist seine Lederrüstung nicht trug und seinen Buckler in der Hütte von Adlet gelassen hatte. Und ganz ehrlich? Auch MIT all diesen Sachen - mit Schild, Schwert und schützender Rüstung - wäre es gerade eher unklug gewesen gegen ein halbes Dutzend Sirenen zu bestehen, denn Hjaldrist und Anna waren nur zu zweit. Und sie hatten blöderweise keine Flügel. Mit dem Kreischen zweier Sirenen im Nacken liefen die beiden Abenteurer, die sich heute ein wenig zu weit zwischen rauschendes Meer und dreckige Knochen gewagt hatten, also über die Ebene und sprangen über Steine und Schlaglöcher in der Wiese. Und nicht nur über jene. Denn hier und da lagen, ebenso wie am Strand, verwesende Fleischstücke im Dreck. Fast rutschte Anna auf einem davon aus, fasste sich gerade noch so und stieg dabei in irgendwas Feuchtes, Schmatzendes. Verwesungsflüssigkeit spritzte ihr an den Knien hoch und sie gab einen angeekelten Laut von sich. “Was zum Geier?”, schrie sie, als sie versuchte mit ihrem Kumpel Schritt zu halten. “Keine Ahnung!”, blaffte jener nur und seine grüne, bestickte Tunika bauschte sich beim Laufen. Eine der Sirenen stob vom Himmel, um nach einem spontan entdeckten Leckerbissen aus Magen und Speiseröhre eines Pferdes zu haschen. Somit war den zwei Gabelschwanztötern nur noch eine der Bestien auf den Fersen. Sie keifte böse, flatterte und stieß aus der Luft herab wie ein Falke, verfehlte den hastenden Hjaldrist nur knapp und stürzte beinah komplett nieder. Doch sie fing sich und stieg ungeschickt flatternd wieder auf. Ihr gellendes Kreischen klingelte nur so in den Ohren. “Scheiße!”, keuchte Rist, doch änderte seine überforderte Meinung schon wenige Laufschritte später: “Wenn die das wieder macht”, rief er unter schwerem Atem “Erwischen wir sie!” Anna, die sofort verstand, was ihr Kumpel meinte, pflichtete diesem waghalsigen Plan ohne zu zögern zu. Ohne zu wissen, wieso genau, nickte sie gleich und ihr entkam ein selbstsicheres ‘Alles klar!’. Doch klar war ihr gerade gar nichts. Ja, warum lagen da Teile von toten Pferden am Strand und in der Wiese? Knochen, Haut, Därme. Warum waren jene so weitläufig verstreut? Wie widerliche Köder, die Untiere anlocken sollten. Die braunen Augen der abgekämpften Frau weiteten sich ob dieser plötzlichen Erkenntnis, doch sie hielt nicht inne. Als Hjaldrist rief, fuhr sie zu jenem herum und sah, wie er die Havfru mit den grünlich schimmernden Schuppen an einem der Flügel packte und aus der Luft fischte. Ohne nachzudenken und vollkommen instinktiv kam die Nordländerin zu Hilfe, zog ihren Dolch und warf sich, wie Rist, regelrecht auf das wild fuchtelnde und beißende Wesen mit den langen, brünetten Haaren. Es kratzte, protestierte und wollte mit den Schwingen schlagen, doch vergeblich. Denn es dauerte keine zwei Atemzüge lange mehr, da trieb Anna dem hässlichen Meeresungeheuer schon den Dolch zwischen die Rippen. Unter Hjaldrist, der die verhältnismäßig kleine Sirene mit aller Kraft auf den Boden gedrückt hatte, um sie davon abzuhalten wieder loszufliegen, zuckte der halb menschlich anmutende Körper mit den nackten Brüsten und verdrehte sich, wie der einer sterbenden Schlange. Die Atemzüge der nasenlosen Sirene wurden ob des Stichs mit dem Silber feucht, röchelnd. Sie spuckte dunkles Blut, das jeglichen Schrei erstickte. Hjaldrist dachte jedoch nicht daran das sich im Todeskampf windende Wesen loszulassen, presste es an den Flügeln gen Grund und hatte damit eine ganz schöne Mühe. Anna half ihm dabei, drehte ihr langes Messer im Körper des Meeresungeheuers. Und dann wurde es still. Der Körper der Sirene erschlaffte allmählich, hörte auf zu zittern und unkontrolliert zu zucken. “Wir müssen schnell zu Adlet zurück.”, sagte Anna, als sie den rot befleckten Dolch ruckartig aus dem geflügelten Körper zog. Das Blut wischte sie beiläufig und mehr schlecht als recht im Gras ab. Hjaldrist nickte zustimmend, sah zu seiner Kumpanin auf, als jene wieder auf die Beine kam und ließ sich von ihr hoch helfen. Unberuhigt sah er auf den leblosen Körper der Havfru hinab und ein Schatten huschte über seine Miene. “Irgendwas stinkt hier doch bis zum Himmel. Und damit meine ich nicht die Pferdeeingeweide.” “Ihr habt eure armen Pferde umsonst getötet. Hier gibt es keinen Drachen und keinen Schatz.”, lächelte Adlet, der sich auf seinen rostigen Spaten stützte und etwas Erde an der Wange kleben hatte. Vor ihm standen drei bewaffnete Kerle in abgenutzten, speckigen Lederrüstungen. Einer von ihnen wirkte etwas untersetzt und hatte ein breites Gesicht mit einem beinah noch breiteren Mund, wodurch er irgendwo an einen hässlichen Frosch erinnerte. Die anderen beiden, ungepflegten Hünen mit den braunen Bärten schienen Brüder zu sein, denn sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Sie waren groß, mit breiten Schultern und kantigen Gesichtern voller Pickelnarben. Ihre feuchten Stirne waren niedrig, ihre Intelligenz sicherlich noch schmäler. Unweit hinter ihnen, etwas abseits und mit misstrauischen Blicken, standen weitere Vier in zotteligen Pelzwesten und mit geschulterten Äxten. Eine davon sah aus, als sei sie gar ein simples Holzfällerwerkzeug. Skelliger Banditen. Oder Söldner. Und sie waren auf den Kopf des Drachen aus, von dem man sich in dem Märchen rund um Drakensund erzählte. “Ha! Du sagst uns sofort, wo das Vieh ist, verflixter Mistelschneider!”, blökte der Frosch in einem kaum verständlichen skelliger Dialekt, rückte sich die Schärpe mit dem gelben Karomuster zurecht “Oder es setzt was!”. Offenbar war auch er nicht der Hellste. “Aber, aber! Werdet doch nicht gleich so unfreundlich.”, bat der harmonieverliebte Adlet, der inmitten seines neu angesetzten Kräutergärtchens stand und darin ein wenig verloren wirkte. Er schob sich das Hähnchenhütchen aus der Stirn. Anna wollte schon zu ihm laufen, doch Hjaldrist hielt sie drängend an der Schulter zurück. “Warte.”, flüsterte der hübsche Skelliger mit dem dunklen Blick. Sie beide versteckten sich, nachdem sie, wie die Blöden hierher gelaufen waren, in einem dichten Gebüsch und kniffen die Augen zusammen, als könnten sie damit besser in die Ferne sehen. Sie verstanden die Worte, die die Drachenjäger von sich gaben, nur bruchstückhaft. Doch dies reichte, um zu wissen, was lief. Schließlich sprach die aggressive Körpersprache der Fremden auch Bände. “Worauf warten?”, wollte Anna gezwungen leise wissen, als sie da neben Rist im Dreck, zwischen Ästen und Dornen, hockte “Wir müssen deinem Onkel helfen.” “Ja, aber indem wir einfach wild auf die Typen da losstürmen, helfen wir niemandem. Hast du gesehen, wie viele das sind? Wir sollten sie irgendwie überrumpeln.”, konterte der kluge Krieger und lehnte sich etwas vor. Den Blick hielt er auf Adlet und die fremde Meute gerichtet, die meterweit gegen den Wind stank. Dies vor allem nach altem Schweiß und Schnaps. “Diese Männer sind wegen dem Märchen hier. Adlet hatte also Recht, indem er damals meinte, dass viele Skelliger - gerade auf Hindarsfjall - noch immer daran glauben.”, wisperte Anna verstimmt und Rist nickte “Diese Idioten.” “Und bestimmt waren es auch sie, die unsere Boote geklaut haben.”, schätzte der Jarlssohn “Einfach nur so, aus Boshaftigkeit. Oder für eine spätere Erpressung?” Weiter vorn maulte der Frosch schon wieder unglücklich vor sich hin und schrie einen seiner hünenhaften Kollegen an. Der Zwilling schnaubte pikiert, schüttelte den Kopf abwehrend. “Und warum waren da keine Spuren? Und sie müssen doch auch auf einem Schiff gekommen sein. Wo ist das?”, murmelte Anna leise und fummelte sich einen kleinen Zweig aus den kurzen, braunen Haaren. “Wenn sie vor der Flut hier gelandet sind, wundert es mich nicht, dass da bei der Anlegestelle keine Spuren im Sand waren. Das Wasser kommt beizeiten doch bis zum Gras hoch.”, flüsterte Hjaldrist und so, wie seine Kollegin ärgerte er sich bestimmt mächtig darüber, dass der Großteil seiner guten Ausrüstung in Adlet’s Hütte lag. Oh, wie schön wäre es gerade in Rüstung zu stecken und all seine Waffen bei sich zu wissen! “Und Boote, Anna, die kann man auch gut zwischen Felsen und hohem Schilf verstecken. Die Kerle sind zu siebt. Da braucht man kein sonderlich großes Schiff.”, meinte der Fachmann und linste zu seiner Kumpanin hin, die all das mal so hinnahm. Sie hatte es bekanntlich ja nicht so mit Booten und dem Meer. Ihr Kumpel schon. “Und was machen wir jetzt?”, wollte Anna ungeduldig wissen, während sich Adlet erneut an die fremden Männer richtete: “Außerdem, müsst ihr wissen, liebe Leute, sind Drachen keine Aasfresser. Drachen und ihre nahen Verwandten reißen eher lebende Beute und sind teils wirklich, wirklich wählerisch. Nur in sehr seltenen Ausnahmen-”, belehrte der geschulte Druide den kleineren Froschmann, doch der Fremde quakte ihm sofort dazwischen und warf die reichlich tätowierten Arme ärgerlich in die Höhe. “Halt den Rand!”, beschwerte sich der wütende Drachenjäger, der sich ganz schön dämlich vorkommen musste “Oder wir machen Kräutergulasch aus dir, verdammter Mistelschneider!” “Wir sind keine lieben Leute!”, brummte einer der Schränke nebenher und Adlet erhob die erdbeschmierten Hände sofort abwehrend. Die Hexerstochter schielte wieder zu Rist hin. “Also, falls du darauf wartest, dass diese Typen gehen oder sich dein ungeschickter Onkel aus der Sache herausredet, dann ist das vergebliche Hoffnung, Rist.”, wisperte Anna ihrem Freund scharf zu und zupfte auffordernd an dessen Ärmel. Der Mann gab daraufhin ein verhaltenes, entnervtes Stöhnen von sich und schien einzusehen, dass sie beide heute nicht das Glück haben würden, dass der schmutzige Haufen Schatzjäger von selbst oder durch die gutgemeinten Worte von Adlet verschwänden. “Schön, gehen wir also hin.”, nickte der Undviker “Wir versuchen zu reden und wenn das nicht hilft, hauen wir ihnen auf’s Maul.” Eine Äußerung, auf die hin sich Anna ein Auflachen verkneifen musste. Hjaldrist schlug also vor erst einmal zu reden, anstatt gleich Rambazamba zu machen? Gewagt. Aber schön. Er hatte ja Recht. Schließlich stand auch das Leben seines ulkigen Verwandten auf dem Spiel. Also setzten die Abenteurer dazu an sich zu erkennen zu geben. “Hey!”, Rist ging vor, als sie sich aus dem dichten Gebüsch schälten, um zielstrebig auf die Fremden zuzumarschieren. Anna hielt sich dicht bei ihm und versuchte eine genauso harte Miene aufzusetzen, wie ihr Kumpan. Es gelang ihr auch, denn die barsche Novigraderin hatte sich bei solchen Dingen nie schwergetan. Rau und kämpferisch zu wirken lagen ihr genauso im Blut, wie ihre Neugier und der unglaubliche Drang danach etwas zu erleben. Da sich unter der Fuchtel von ihrem Ziehvater Balthar und dessen Kollegen befunden hatte, hatte sie es sich angewöhnt zu sein, wie sie. Doch seit den vergangenen Jahren ihrer Reise wusste die Burschikose, dass es oft nicht sehr einschüchternd wirkte, wenn sie einen bösen Blick aufsetzte. Selbst dann nicht, wenn sie schwer bewaffnet auf ihre Gegner zuging und dabei eine Kartätsche zündete. Und der Grund dafür war simpel: Sie war eine Frau. Gerade in den Nördlichen Königreichen wurde man nicht oft sehr ernst genommen, wenn man als ‘Dame’ in Männerkleidung und mit einem Schwert an der Hüfte herumlief. Anna hatte dies schnell und schmerzlich herausfinden müssen. Und während es ihr am Anfang noch tierisch auf den Leim gegangen war von Kerlen als unterlegen angesehen zu werden und sich dumme Meldungen über ‘Frauen hinter’m Herd’ anhören zu müssen, hatte sie irgendwann damit angefangen das weit eingeschränkte Weltbild so mancher ordinärer Typen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Schließlich besaß man jenen doch, wenn man von Anderen unterschätzt wurde und tatsächlich stärker oder flinker war, als sie. Das Element der Überraschung war dann stets auf der Seite der Belächelten. “Was soll das hier?”, tönte Hjaldrist’s Stimme rau, als sie bei den selbsternannten Drachenjägern ankamen “Wozu der Radau, hm?” Die Fremden sahen auf. Die Hände der beiden muffelnden Schränke wanderten abrupt an deren Schwerthefte. Anna beobachtete dies im Augenwinkel und es stimmte sie innerlich alarmiert. Sie senkte sie Linke ein Stück, so, dass sich ihre Handfläche nah vor dem Griff ihres Langdolchs befand. Sollte es dazu kommen, dass sie angegriffen werden würden, so hätte sie ihre Waffe damit sehr schnell in der Hand. “Was? Wer seid ihr?”, der Frosch, der sicherlich der Anführer der Gruppe hier war, trat vor und sprach so aufgebracht, dass er dabei spuckte. Anna verzog das Gesicht kaum merklich. “Die Frage ist wohl, wer IHR seid.”, brummte Rist eisern und verschränkte die Arme vor der Brust. Etwas versetzt hinter ihm stehend erkannte Anna sofort, wie die Finger ihres Freundes nervös am Axtblatt seines Familienerbstückes herumtippelten. Die Kerle vor dem Schönling sahen das, ob der verschränkten Arme, aber nicht. “Ihr kommt hierher und stiftet Unfrieden.”, stellte der Undviker genervt schnaubend fest “Wozu? Es gibt hier nichts zu holen… außer ihr sucht Kräuter und Pilze. In dem Fall bedient euch.” Man hörte Adlet leise, doch nicht boshaft, lachen. Der Druide nickte zustimmend und knetete sich die Hände, was davon zeugte, dass er trotz seines extrem ruhigen Lächelns innere Unruhe verspürte. Anna kannte ihn nun schon lang genug, um seine Gewohnheiten zu kennen. Und Händekneten war keine gute, denn sie bedeutete, dass der Onkel gerade alles andere, als ausgeglichen und sorgenfrei war. So, wie sein Enkel und seine ehemalige Schülerin, befürchtete auch er, dass die skelliger Schatzjäger angreifen würden. Und das völlig stupide. Genauso dumm, wie auch ihre Aktion gewesen war, gammelndes Köderfleisch auszulegen, in der Hoffnung damit einen Drachen anzulocken: Myrgtabrakke, der nur in einem Märchen existierte, wohlgemerkt. “Veräppelt uns nicht!”, blaffte der widerliche Frosch mit dem hochroten Kopf nun “Niemand verarscht den starken Tyrsson und seine Nachtfeuer-Truppe! Ihr wollt den Schatz für euch, Fremdlinge, nicht wahr? Ja, es leben nur Mistelschneider hier. Keine Leute, wie ihr! Ihr seid genauso hinter dem Drachen her, gebt es zu! Wo ist sein Hort?” Anna zog die schmalen Brauen weit zusammen und biss sich auf die spröde Unterlippe, um sich eine blöde, schnippische Meldung zu verkneifen. Ja, was zur Hölle passierte hier eigentlich? Wie desillusioniert musste man sein? “Nein, nein, das hier sind Verwandte. Sie sind nur zu Besuch. Niemand sucht nach irgendwelchen Drachen.”, berichtigte Adlet beschwichtigend, doch es half nicht. Anstatt dass der Frosch jetzt nämlich die breite Klappe hielt und sich beruhigte, zog eines seiner bärtigen Narbengesichter mit der bloßen Faust durch und verpasste dem friedfertigen Onkel einen ordentlichen Kinnhaken. Aus geweiteten, ungläubigen Augen sah die zusammenzuckende Anna nurmehr, wie der arme Adlet von der Wucht des Schlages des viel Größeren zurückgeworfen wurde und in seinen neuen Kräutergarten stürzte. Direkt auf seine frisch gepflanzten Setzlinge, die er nun allesamt mit seinem Körpergewicht plattdrückte. Er hatte seinen Hut dabei verloren. Die Hexerstochter verengte die starren Augen zu zornigen Schlitzen und spannte die Glieder an. Ein unglaublicher Ärger wallte in ihrer Magengrube auf und brachte sie dazu einen angewiderten Ton auszustoßen. “Also schön, das war’s.”, knurrte sie schnell, als spräche sie mit sich selbst, während sie sich die Ärmel hektisch hochkrempelte und vortrat. Und während Rist seine hübsche Axt zog, trat die Novigraderin dreist und wuchtig zu, mit dem Knie direkt zwischen die Beine des Bastards mit dem breiten Froschmaul. Jener gab ob dem einen Laut von sich, der klang, als habe die Kriegerin ihn durch ihre aufbrausende Aktion in ein kleines Mädchen verwandelt. Tyrsson krümmte sich, blieb jedoch stehen. Aber nicht lang, denn Anna donnerte ihm die geballte Faust auf den Scheitel und ließ ihn dadurch niedergehen, wie einen plumpsenden Sandsack. Es war ein heikler Moment, der darin resultierte, dass wenige, sprachlose Sekunden später ein fürchterlicher Lärm ausbrach. Hjaldrist musste sich sogleich gegen die beiden Leibwächter der Kröte schlagen. Er packte seine Familienaxt mit beiden Händen und riss sie schützend hoch, wehrte damit einen Hieb auf seinen ungeschützten Schädel ab. Er trat zu, gegen das Schienbein des ersten, bärtigen Muskelprotzes mit den Pockennarben, der verärgert aufschrie. Dann wich er kurz ab, holte aus, die Schneide der undviker Axt sauste durch die Luft und verfehlte Schrank Nummer Zwei nur knapp. Noch einmal trat Rist fest zu und traf eine Kniescheibe so hart, dass es knackte. Deren groß gewachsener Besitzer wankte und knickte unter der Pein des Knochenbruchs ein, während von hinten schon die anderen vier Banditen heranliefen, um ihren konfrontierten Kameraden zu helfen. Anna, indes, eilte zu Adlet hin, der etwas wirr in der feuchten Kräutererde saß und fasste ihm unter den Arm, um ihm hoch zu helfen. “Schnell, lauf weg.”, sagte die gescheuchte Novigraderin hastig, als der Onkel etwas taumelig stand und sich seinen Hut wieder eher schlecht, als recht aufsetzte. Der arme, wehrlose Mann schien gar nicht so recht zu realisieren, was soeben passierte oder geschehen war, denn der Schlag, den er kassiert hatte, war ganz schön hart gewesen. Schwer zu glauben, dass er es zuvor jemals erfahren hatte solch einen argen Kinnhaken zu bekommen. “Adlet, na los!”, forderte Anna erneut drängend und gab ihm einen sachten Schubs in die sichere Richtung “Versteck dich im Wald.” Anstelle loszurennen, um sein Leben zu schützen, stand der Trankmischer aber bloß da und sah entsetzt dabei zu, wie der widerwärtige Hüne mit den unversehrten Knien Hjaldrist niederrang. Keuchend landete der Enkel des Kräutersammlers im Gras und im Gegenzug zu dem stupiden, breiten Drachenjäger war er so zierlich, dass es anmutete, als begrabe der Fremde den Jarlssohn regelrecht unter sich. So, wie eine fürchterlich stinkende Schlammlawine ein armes Reh. Einer der herannahenden Banditen steckte sich Daumen und Zeigefinger in den Mund, pfiff laut und kurz, dreimal hintereinander. Und auf dieses unverkennbare Signal hin stoben noch mehr ruppige, bewaffnete Männer aus dem unweiten, krachenden Unterholz. Anna fluchte laut und fuhr herum, erkannte auf die Schnelle fünf weitere Skelliger in ledernen Rüstungen und mit runden Schilden, die sie all die Minuten zuvor nicht einmal annähernd bemerkt hatte. Es waren viele, viel zu viele. Die aufgerüttelte Kriegerin zog dennoch geistesgegenwärtig ihren silbernen Dolch und warf noch einen letzten mahnenden Blick gen Adlet, der sich an das Handgelenk fasste, als sei es verstaucht. Ja, die aufgebrachte Frau glaubte tatsächlich, der Druide hätte sich den Knochen angeknackst oder die Sehne bei dem vorangegangenen Sturz in das Pflanzenbeet gezerrt. Was sie aber nicht sah war, dass er sich fest an sein rotes, geknüpftes ‘Freundes-Bändchen’ fasste und dabei etwas murmelte, als sei dieses Kleinod ein rettendes Tau in einer reißenden Brandung. Wenige tiefe Atemzüge später war Anna bei Rist. Oder eher: Bei dem Kerl, der den besagten Schönling soeben förmlich an die Erde nagelte, wie ein zentnerschweres Gewicht. Der Schrank schlug rasend zu, schimpfte Hjaldrist einen Hurensohn und ein Mädchen. Sekunden später hatte er dann einen verzierten Silberdolch im Kreuz stecken, denn er war nicht klug genug gewesen auf die durchaus gewitzte burschikose Frau in dem zu großen Hemd zu achten. Mit einem wütenden Schrei auf den trockenen Lippen drehte jene ihre aufblitzende Klinge einmal herum und zog sie ruckartig wieder aus dem Krieger mit den breiten Schultern heraus. Wie im Schock ließ das Muskelpaket es dann auch zu, dass es schwungvoll von Rist heruntergeworfen wurde. Keuchend und sich fahrig an den Rücken fassen wollend blieb der Frosch-Leibwächter im knöchelhohen Gras liegen, rollte sich auf den Bauch, fuchtelte. Sein nasses Husten verriet, dass Anna seine Lunge getroffen haben musste; ihr Dolch war dafür lang genug. Ohne zu zögern reichte sie Hjaldrist, der rot ausspuckte, eine Hand und zog ihn hoch. Zeit zum Verschnaufen blieb jedoch nicht, denn die etwas planlosen, doch aggressiven Drachenjäger drängten auf sie ein, während auch der wüst fluchende Frosch, der sicherlich keine Kinder mehr zeugen könnte, wieder aufstand und nach seinem alten Rabenschnabel fasste. “Ich töte dich, Hure!”, schnarrte er bitterböse “Komm her!” Doch die besagte ‘Hure’ hatte besseres zu tun, als der Kröte noch einmal in die Kronjuwelen zu treten. Rücken an Rücken mit ihrem Kumpel sah sie fünf verdreckten, nach Schweiß miefenden Kriegern entgegen, die die Äxte bedrohlich schwangen und sich die aufgesprungenen Lippen in perverser Vorfreude leckten. Einer von ihnen stürzte auf sie zu, ein zweiter folgte. Und den Geräuschen klirrender Metallwaffen nach, die hinter Anna ertönten, wusste sie, dass Rist auch nicht wenig zu tun hatte. Der Mann aus Undvik hatte eine kleine Wunde an der Augenbraue. Der Schrank hatte sie ihm vorhin geschlagen und sie blutete ganz schön. Nichts desto trotz hob der Jarlssohn auf seine zotteligen Gegner ein, als sei nichts. Als sähe er auf dem Auge, in das ihm das warme Blut lief, genauso gut, wie auf dem anderen. Wie Anna, wahrte er einen äußerst festen Stand und ließ sich nicht abdrängen. Die besagte Frau duckte sich soeben unter einem schweren Axthieb fort und wandte sich erneut, damit Rist hinter ihr mit seiner teuren Waffe ausholen konnte. Lange hatte sie nicht gekämpft, doch noch immer fiel es ihr so leicht, als hätte sie nie eine Pause gemacht. Und sie und ihr guter Freund waren absolut aufeinander eingespielt, nach wie vor. “Achtung!”, keuchte Rist und Anna wich einen weiten Schritt ab. Eine Sekunde später wuchtete der Undviker auch schon einen der stark stinkenden Bastarde über sich. Der zahnlose Räuber mit dem roten Bart landete genau da, wo die Novigraderin gerade noch zuvor gestanden hatte, und sah aus, als würde er tausende kleine Sternchen sehen. Trotz allem waren die Gegner zu vielzählig. Obwohl sie nicht die hellsten zu sein schienen, waren sie kräftig und groß. Anna hatte keine Zeit dafür gehabt sie abzuzählen, doch ihre Anzahl belief sich in etwa auf ein Dutzend. Mit schnell gehendem Atem sah sie hektisch um sich und stieß mit dem Kreuz voran an ihren Freund in der grünen Tunika. Jemand brüllte, sie sah auf. Es war ein nachsichtiger Moment und nur kurz passte die abgelenkte Kurzhaarige nicht auf. Da donnerte ihr auch schon irgendetwas gegen den Schädel. Sie wusste nicht was es war oder woher es gekommen war. War es ein Knauf gewesen oder eine Schneide? Es tat weh. Sie strauchelte zwei, drei Schritte zur Seite, mit der Hand nach Halt suchend doch keinen findend, und trat in ein Schlagloch, knickte mit dem Fuß um und kam mit einem Knie am Boden auf. Etwas Dickflüssiges, Warmes lief ihr vom Kopf und unkoordiniert fasste sie sich an die Schläfe. Sie hörte dumpf, wie Rist nach ihr rief, dann spürte sie, wie sie jemand an den Schultern erwischte und auf die Beine zog. “Geht schon…”, keuchte sie und blinzelte überfordert, bevor sie bemerkte, dass ihr vermeintlicher Helfer nicht Rist, sondern einer der gierigen Räuber war. Sie steckte diesem boshaft lachenden Fremden den Dolch in die Seite, bevor sie vom Schwindel völlig konfus stehen blieb und sich mit beiden Händen an den pochenden Kopf fasste. Blut tropfte auf Hjaldrist’s Leinenhemd, das sie trug. Adlet war auf einmal bei ihr. Rist skalpierte einen Kerl mit einem Schlag seines scharf schneidenden Axtblattes. Der wütende Frosch stieß ihn dafür um. Und auf einmal jagte ein tönendes Grollen über den Himmel, so laut wie Donner und drohend, wie das Fauchen einer wilden, gefährlichen Raubkatze. Flügelschlagen ertönte und Anna erhob den glasigen Blick entsetzt. Sie sah nach wie vor alles doppelt, ihr war schummrig und vieles um sie herum verschwamm zu wirren Formen und Farben. Adlet drückte ihr einen abgerissenen Ärmel an den schmerzenden Kopf und hielt sie fest. Und dennoch. Sie ahnte, ERKANNTE, was da kam: Das Schlagen der häutigen Flügel gehörte nicht zu einer Sirene oder dergleichen. Es war viel lauter, die Schwingen größer. Was da über den unbewölkten Sommerhimmel flog, war kein großer Vogel, sondern ein Wesen mit einer Spannweite von bestimmt über sieben Metern. Und es fauchte erneut, faltete die Schwingen seitlich an dem Körper zusammen und setzte damit zum Sturzflug an. Bevor Anna es dann überhaupt denken konnte, brüllte der Kröterich, der abrupt von Rist abließ: “Der Drache!” Tatsächlich. Inmitten des wilden Kampfgetümmels, zwischen Banditen und den Verteidigern der Hütte mit dem moosbewachsenen Strohdach, landete ein Drache. Kein Wyvern, keine Riesenschlange, kein Gabelschwanz. Nein. Ein Drache. Es war ein verhältnismäßig kleiner, doch das tat seiner Schrecklichkeit nichts ab. Sein grün geschuppter Körper, der wuchtig auf der Erde landete, ließ jene nahezu erbeben. Er streckte die Flügel, die etwas vernarbt aussahen, machte sich groß und schlug mit dem dornenbesetzten Schwanz, wie mit einer Peitsche. Sein gellender Schrei aus dem zahnbewehrten Maul dröhnte und bescherte der verwundeten Anna noch größere Kopfschmerzen. Sie wollte ein Auge zukneifend instinktiv zurückweichen, doch Adlet hielt sie nach wie vor fest. Der tickende Druide wirkte nicht, als wolle er weglaufen. Nicht so, wie Rist, der am Boden sitzend zurück rutschte und aussah, als sähe er gerade den Spiegelmeister selbst. “Der Drache!”, bellte der dickliche Frosch abermals mit Spucke vor den Lippen “Tötet ihn!” Und anstatt weiter auf den blutenden Hjaldrist einzuschlagen oder daran zu denken die anwesende Nordländerin mitsamt ihrem Trankmischer-Freund umzuschneiden, wechselten die verdreckten Banditen ihren Kurs. Sie alle gingen nun auf das schnarrende Schuppentier los, das so hoch war, wie vier von ihnen zusammen. Sie brüllten, fuchtelten, schwangen die Waffen kampflustig und hackten zu. Der Panzer des Drachen war aber so hart, dass die Äxte, Schwerter und Rabenschnäbel nur daran abprallten. Die billigen Exemplare darunter zerbrachen sogar und Splitter stoben in alle Richtungen. “Anna!”, schrie Hjaldrist, der sich unbeholfen hochrappelte “Onkel!” Es war klar, dass der Axtkämpfer sehr schnell von hier verschwinden wollte. Denn nicht nur als versierter Hexer wusste man, dass man sich auf KEINEN FALL mit einem echten Drachen anlegen sollte. Diese seltenen Wesen waren verdammt mächtig und obwohl das grüne Tier hier, auf der Wiese, nur halb so groß war, wie ein ausgewachsener hoher Drache, so gehörte es nach wie vor zu dieser magischen, seltenen Ungeheuergattung. Der besagte Grüne schlug erneut mit dem langen Schwanz, in einem weiten Halbkreis, und ruckartig wehte er sechs Banditen damit fort, als seien sie nicht mehr, als kleine Strohpuppen. Wie durch ein unglaubliches Wunder verfehlte er Rist dabei. Der Skelliger hatte die Arme schützend über dem Kopf zusammengeschlagen und wollte zu seiner Freundin und dem abwartenden Onkel laufen. Einer der Drachenjäger kam ihm dabei in die Quere, doch das große Schuppentier fuhr herum, knurrte böse und schnappte sich den besagten Banditen mit den scharfen Zähnen, von denen jeder so lang war, wie ein Unterarm. Blut spritzte und sprühte regelrecht auf den Jarlssohn, der erschrocken schrie. Und Anna, die johlte mit. Sie wollte sich von Adlet losreißen und auf weichen Knien zu ihrem Weggefährten laufen, aber der viel ältere Druide ließ sie nicht. So, als glaube er, dass nichts Schlimmes mehr geschehen würde, stand er völlig ruhig da und hielt die Novigraderin mit einer Kraft im Zaum, die sie ihm niemals zugetraut hatte. Währenddessen stampfte der grün schimmernde Drache mit den vier gedrehten Hörnern am Schädel; einmal, zweimal. Unter seinen riesigen Pfoten begrub er einen weiteren der muffigen Schatzjäger, als sei der nichts weiter, als ein lästiger Käfer. Zwei mehr wehte er mit seinem schweren Flügelschlag fort, schnappte nach einem dritten und verschlang ihn mit Haut und Haaren. Und wie durch ein Wunder, ein riesengroßes Wunder, blieben Hütte und Kräutergärten unversehrt. Eine gefühlte Ewigkeit später war Rist endlich bei seinem schniefenden Onkel und Anna angelangt. An diesem Punkt angekommen ließ Adlet die Alchemistin, deren Kopfwunde nicht mehr allzu arg blutete, endlich los. Mit wissender Angst und einem mords Respekt im Blick, klammerte sie sich stattdessen an den Gehrock ihres Freundes und zerrte daran. “Weg!”, stöhnte sie “Aber schnell! Rist!” “Nein, nein!”, rief Adlet dazwischen “Es ist gut!” Hjaldrist, der offenbar vollkommen auf der panischen Seite Annas stand, wand den Blick ungläubig zu seinem Onkel hin und maulte ein “Was?? Hast du keine Augen im Kopf, Adlet?” “Doch!”, antwortete der Druide sofort selbstsicher. “Ja, dann weg hier!”, befahl Hjaldrist und bugsierte seine beste Freundin schon herrisch vor sich her. Die Frau, die sich den abgerissenen Hemdärmel des Trankmischers Drakensunds an den brummenden Schädel hielt, taumelte ihm aber zu viel. Daher hielt er sie kurz auf und nahm sie auf den Rücken, um sie Huckepack zu tragen. Adlet seufzte einmal auf, doch fügte sich dann. Er marschierte hinter den zwei Jüngeren her, wirkte dabei aber nicht sonderlich verängstigt. Ein Gemüt eines verrückten Mannes, bei dem man nicht wusste, ob man es beneiden oder bemitleiden sollte. Man hörte den Drachen noch einmal kreischen, dann schrie der letzte der Banditen hoch auf. Dieses markerschütternde Schreien wurde aber jäh unterbrochen, es folgte ein Knacken und ein Stampfen, ein Flattern und ein Knurren. Der Grüne, nun offenbar ziellos, da er alle Schatzjäger gefressen oder zerrissen hatte, wandte den Kopf herum. Sein gehörntes Haupt steckte auf einem langen Hals, aus dessen Nackenwirbeln lange, stachelartige Knochen wuchsen und nach außen ragten. Die katzenhaft geschlitzten, grünlichen Augen des Tieres fielen auf die drei fliehenden Inselbewohner. Auf Rist, Anna und Adlet. Das magische Wesen hielt inne, reckte das Kinn und züngelte wie eine Schlange. Es schien zu überlegen. Dann jagte es den Dreien plötzlich nach und war in vier größeren Sätzen spielerisch schnell vor ihnen, versperrte den Weg und spannte die Flügel. Hjaldrist stolperte vor Schreck fast zurück. Anna, auf dessen Rücken, gab einen überwältigten Laut von sich und grub das Gesicht an den Hinterkopf ihres Kollegen, um ihr Ende nicht kommen sehen zu müssen. Und Adlet… Adlet, der freute sich. Er sah noch einmal heiter zu seinem erstarrten Enkel hin, dann zu dem Drachen, und breitete die Arme lächelnd aus. “Danke!”, entkam es ihm “Ich wusste, auf dich ist Verlass!” Der Drache wiederum senkte den Kopf, bis er auf Augenhöhe mit dem kleinen Menschen war. Und als Anna den Blick zwischen Rist’s dunklen Haaren langsam, äußerst zögerlich, wieder hob, um über dessen Kopf vorsichtig zu dem übernatürlichen Tier zu lugen, sah sie, wie der tickende Adlet die schnaubenden Nüstern des Geschuppten tätschelte. Worte wollten aus der wirren Novigraderin hervor platzen, doch stattdessen verschluckte sie sich an der eigenen Spucke und begann zu husten. Das Reden übernahm also der Jarlssohn, der wenig begeistert dreinsah, weil ihm seine Freundin in den Nacken hustete. Er erschauderte, doch konzentrierte sich lieber auf seinen Onkel. “Waas?”, war das einzige, das ihm erstmal völlig entsetzt einfiel. Hätte er die Hände frei gehabt, hätte er anschuldigend auf seinen Verwandten und dessen Drachenkumpel gezeigt, eine GUTE Antwort erwartend. “WAS ist das?”, überschlugen sich die Worte des perplexen Skelligers sinnfrei. Doch Adlet verstand schon und lachte herzlich. “Ich sagte doch, es sei gut!”, erinnerte der Druide und wendete dem grün schimmernden Drachen den ungeschützten Rücken unbeschwert zu. Das Wesen beobachtete Rist mit nach wie vor gesenktem Kopf abwartend. Das Schnauben aus den bebenden Nüstern fühlte sich an, wie Wind, der einem mit dem Geruch nach Schwefel geschwängert entgegenschlug. Ganz ruhig saß das Schuppentier da, züngelte mit der gespaltenen, schlangenhaften Zunge und gurrte leise. Blut klebte ihm vorm Maul und seine Pupillen wanderten wachsam. “Das hier ist die liebe Märthe, ihr habt nichts zu befürchten!”, lachte Adlet und Rist, wie auch Anna, klappten die Kinnladen gefühlt bis zum grasbewachsenen Boden hinunter. Sie beide stutzten heftig, sagten kein Wort und hatten gar aufs Atmen vergessen. “Nehmt es ihr aber bitte nicht übel, dass sie sich nicht zurückverwandelt. Denn täte sie das, wäre sie nackt. So wie du letztens, Anna.”, sinnierte der freundliche Kräuterkundige sanft, sah seinem Enkel mit der Platzwunde an der Braue und dessen Freundin mit dem Schnitt am Kopf entschuldigend entgegen. Die Novigraderin, ob der Anmerkung über das Nacktsein, fühlte, wie es ihr das Blut in die errötenden Wangen trieb und sie senkte den Blick wieder Rist’s Haaren entgegen, um niemanden ansehen zu müssen. Der Undviker aber, fasste sich allmählich wieder und ihn schien eine Erkenntnis zu beschleichen. “Das Märchen… ist gar kein Märchen…”, stellte er flüsternd fest. Nur genauso langsam ließ er Anna wieder los, damit sie von seinem Rücken herunterrutschen konnte. Etwas wackelig auf den Beinen und mit dem Stofffetzen am pochenden Schädel stützte sich die Kriegerin an der Schulter des Mannes ab und schaffte es nicht die Augen von Adlet und Drachen-Märthe fortzureißen. Oder sollte man eher sagen: Myrgtabrakke? Ja, nun, da sie darüber nachdachte, machte alles Sinn: Das rote Bändchen Adlets und die seltsame Ausstrahlung der netten Kollegin des Druiden; Dass Märthe immer so viel gewusst hatte und so rätselhaft weise erschienen war. Anna machte große Augen, holte Luft zum Sprechen, doch stockte in ihrem Tun. Aberplötzlich holte der Schwindel sie nämlich wieder ein, denn durch den Schlag gegen ihren Kopf war ihr Hirn nicht ganz unerschüttert geblieben und das stichelnde Adrenalin in ihrem Körper ließ nach. Ein leises Stöhnen entkam ihr, dann ein Würgen. Später, da würde sie flache Witze darüber machen, dass man ihr die Haare nicht zurückhalten müsste, wenn sie kotzte. Weil jene eben gerade so kurz waren, dass sie ihr nicht bis über die Wangen fielen. Und dass dies für alle Beteiligten ja so fürchterlich praktisch sei. Später. Denn gerade, da war nichts so wirklich lustig und die orientierungslos werdende Frau musste sich, auf Rist gestützt, fürchterlich übergeben. Direkt auf ihre Stiefel. Anna lag wenig später stöhnend auf der schiefen Holzbank in Adlet’s Hütte, hinter dem Esstisch, und hielt sich ein sauberes Tuch an den Kopf, das der Druide zuvor in kaltes Wasser getaucht und ausgewrungen hatte. Sie hatte die Augen geschlossen, war noch etwas blass und hatte ein unangenehmes Summen in den Ohren. Konzentriert versuchte sie dem leisen Klimpern der Fischbein-Mobiles im Raum zu lauschen, um sich abzulenken. Abgesehen davon ging es ihr aber gut. Rist’s Onkel hatte den Schnitt an ihrem Kopf fachmännisch versorgt und gemeint, dass die Verletzung nicht schlimm sei, obwohl sie ordentlich geblutet hatte. So war es eben mit Platzwunden. Man hatte Anna’s Schädel nicht einmal nähen müssen. Hjaldrist saß derweil unweit auf einem der Hocker und zischte schmerzverzerrt, als ihm Adlet den schmalen Schnitt an der Braue mit Alkohest abtupfte. “Ihr wart sehr tapfer, ja, ja.”, bemerkte der besonnene Trankmischer währenddessen und klaubte nach einem kleinen Döschen, das am Tisch stand. Er legte den wollenen Tupfer weg, öffnete die kleine Dose und schmierte seinem Enkel reichlich Salbe daraus auf die Gesichtswunde. “Ihr habt mich beschützen wollen. Vielen Dank, Kinder.”, sagte der Druide lieb und nickte Rist anerkennend zu, schniefte. Jener betrachtete seinen Onkel aber nur äußerst skeptisch. “Ich glaub‘s ja noch immer nicht.”, gab der Krieger zu und Adlet sah ihn fragend an. “Dass das Märchen wahr ist. Du bist das Männchen mit dem roten Band und Märthe ist Myrgtabrakke.”, murmelte Hjaldrist, schüttelte den Kopf dann leicht und ließ den Blick sinken, ehe er die braunen Augen niederschlug und sich mit einer Hand durch den Nacken fuhr. “Ach”, machte Adlet und lachte geduldig “Märchen sind immer sehr, sehr ausgeschmückte Geschichten. Tja, ja. Ich habe nie eine Stadt verwüstet und im Meer versinken lassen. Ich bin nicht solch ein mächtiger Mann. Ich bin nur ein einfacher Druide.” “Du kannst einen Drachen rufen.”, merkte Rist mit vielsagendem Unterton an. “Ja, ja, aber das ist es auch schon.”, lächelte der zuvorkommende Onkel und legte seine Salbendose fort, tätschelte seinem Enkel die Schulter aufmunternd und machte sich dann daran Tee zu kochen. Das Wasser dafür blubberte bereits laut in dem kleinen Kessel auf der Kochstelle und der Dampf ließ das nächste Fenster beschlagen. “Und wie kam es dazu?” “Wozu?” “Dass du den Drachen-... Märthe… ach, wie auch immer, rufen kannst.” “Oh, das.”, entkam es dem geständigen Adlet, der gerade süß duftende Lindenblüten und Kamille in sein Teewasser warf. Er rührte mit einem abgegriffenen Holzlöffel in dem Kessel herum und fügte dem heißen Getränk noch etwas Nieswurz hinzu, die bekanntlich gut gegen Übelkeit half. “Es geschah vor Jahren, dass der Drache hier auf der Insel strandete. Ja, er wurde vom Meer angespült und ich habe ihn gefunden. Ich dachte zuerst, dass es nur eine Seeschlange ist. Oder vielleicht eine Kälpi, die mir einen hinterhältigen Streich spielen will. Aber als ich näherkam, sah ich, dass das Wesen, das noch lebte, schwer verwundet war. Man hatte ihm die Flügel eingerissen, Pfeile steckten in seinem ungeschützten Bauch und an seiner rechten Flanke fehlten die Schuppen, als hätte sie jemand brutal abgehackt. Armes Ding. Also bekam ich Mitleid. Ich bin eben jemand, der sehr gerne hilft, müsst ihr wissen.”, seufzte der gutmütige Eremit mit dem Hähnchenfuß am Hut “Also bin ich hin und habe mir das Tier angesehen. Dann, als es zu sich kam und mich bemerkte, sprach es auf einmal. Ja. Schau nicht so blöd, Enkelchen, es ist die Wahrheit!” Auch Anna hatte sich nun ächzend hinter dem Tisch aufgerichtet und sah gespannt abwartend zu dem erzählenden Druiden hin, der sich wieder mit an den Tisch gesellte, um seinen Tee im Hintergrund noch etwas ziehen zu lassen. “Der Drache bat mich um Hilfe. Ohne das Maul zu bewegen hat er geredet und in diesem Moment wusste ich, was er war. Keine Seeschlange oder Kälpi, sondern ein wahrhaftiger grüner Drache! Also habe ich geholfen und der armen Myrgtabrakke - oder Märthe - das Leben gerettet. Märthe wiederum versprach mir dafür im Gegenzug ebenso zu helfen. Immer dann, wenn ich es eben nötig hätte, denn sie schulde mir ihr Leben. Ihr gefiel es auf Drakensund und sie blieb, wurde eine gute Freundin. Natürlich nahm sie eine menschliche Form an, um das gemeinsame Teetrinken und Kuchenbacken zu erleichtern. Ja, ja, ja. Meine Hütte ist etwas zu klein für einen großen Drachen.”, der schniefende Kräuterkundige lachte den letzten Satz amüsiert hervor und Anna’s Blick wanderte ungläubig zu Rist hin. Der, wiederum, sah seinen Onkel etwas entrückt an, sagte aber nichts. “Und… was ist mit dem Hort aus dem Märchen?”, fragte der jüngere, zu neugierige Skelliger dann, nach einer Denkpause, auf einmal. Adlet, der da saß, betrachtete ihn mit einem vielsagenden Lächeln auf den schmalen Lippen. Anna wusste, was dies bedeutete. Und zwar, dass es tatsächlich einen Schatzhort gab. Oder nicht? “Märthe mag besondere Dinge und sammelt sie, falls du das meinst, ja.”, gab der Druide ganz locker von sich “Frage sie doch danach. Vielleicht gibt sie etwas davon her. Sie mag dich sehr, musst du wissen. Und bestimmt rechnet sie es dir hoch an, dass du dich gegen die Drachenjäger geschlagen hast. Du hättest es dir also verdient.” Dem alten Sprichwort ‘Wenn man vom Teufel spricht...’ zufolge, klopfte es Sekunden später schon an die Tür der kleinen, bunten Hütte und Adlet sah auf. Er musste den Gast gar nicht erst hereinbeten, damit jener auf der Schwelle erschien. Märthe war dem Mann schließlich so vertraut, dass sie es sich erlauben durfte einfach so einzutreten. Mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen tat sie das. Sauber, in ein schlichtes, graues Kleid und einen dünnen Mantel gehüllt. “Ich habe mich umgezogen”, meinte sie überflüssigerweise und diese Aussage wirkte so verdammt schräg “Wie geht es euch allen? Ich hoffe, jeder ist wohlauf.” Anna zuckte zusammen, als sie die vermeintliche, nach Thymian riechende Druidin mit den unwirklich grünen Augen erkannte. Auch Hjaldrist hob kritisch den Kopf. Adlet aber, der bot seiner Freundin bloß Tee an. “Alles in Ordnung, ja, ja.”, schniefte der Onkel “Komm her und setz dich, es gibt Lindenblütentee! Wie geht es dir denn, hm?” “Mir geht es gut. Der Dicke mit dem Froschmaul liegt mir nur etwas schwer im Magen…” “Oh! Dann wird dir mein Tee guttun. Komm, hier, der Platz ist noch frei. Will irgendjemand etwas Brotkuchen?” Anders, als der gesprächige Druide blieben Hjaldrist und dessen Freundin stumm, als der Drache zu ihnen kam, um sich auf den freien Hocker am Tisch zu setzen. Munter und so nett, wie eh und je lächelte die Frau in die Runde und griff das Thema des Drachenjägerangriffes sofort wieder auf. “Ich wollte euch vorhin nicht erschrecken, es tut mir leid.”, sagte sie aufrichtig und Anna blinzelte baff. Das kalte Tuch rutschte ihr vom versehrten Kopf. “Ähm.”, war das einzige, das Hjaldrist zustande brachte “Schon gut…” “Oh, Märthe? Der Junge hat nach deiner Sammlung gefragt, als ich ihm erklärt habe, dass nicht alle Märchen vollends wahr sind.”, warf Adlet plötzlich ein, als er mit seiner Teekanne und einem Honigtöpfchen nahte, und sein betroffener Enkel fuhr kaum merkbar zusammen. Wie ertappt linste der jüngere Krieger zu der Frau mit den kastanienbraunen Haaren hin und erwartete sich ein böses, besitzergreifendes Fauchen. Stattdessen lächelte Märthe ihm warm entgegen. “So, so.”, sagte sie “Und?” “Nichts.”, entkam es Rist überschnell, weil er dem heiklen Thema ausweichen wollte. Anna schwieg, denn es war wohl besser so. “Glaubst du denn, du könntest ihm deine Dinge zeigen? Ach, Söhnchen, diese Sammlung würde dir gefallen. Sie ist sehr eindrucksvoll und bestimmt könntest du auch etwas lernen.”, schwärmte Adlet und die anwesende, stumme Novigraderin glaubte, sie träumte einen verqueren Traum. Als geschähe das, was hier ablief, gerade nicht wirklich. Als hätte sie einfach nur einen zu heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. “Oh!”, machte Märthe entgegen aller Erwartungen völlig ruhig und gönnerhaft “Natürlich. Kommt mich morgen doch in meiner Höhle besuchen. Alle drei.” Kapitel 14: Wenn Sterne Höhlen erleuchten ----------------------------------------- Märthe war immer als überaus nett und freundlich erschienen. Sie hatte stets gerne geholfen - auch in ihrer Drachenform - und ihre Freunde gegen die Banditen verteidigt, die in Überzahl auf die Insel gekommen waren. Und dennoch fühlte es sich ein wenig seltsam an vor die Höhle zu treten, in der sie wohnte; befremdlich, ungut, vielleicht sogar respekteinflößend. Adlet hatte die beiden Abenteurer hierher geführt, etwa ein, zwei Meilen weit ins Inselinnere und direkt in den dichten Nadelwald von Drakensund. Und hier, zwischen dem Duft der Tannenwipfel, dem Plätschern eines schmalen Baches und dem morgendlichen Tau, der sich einem kalt an die Stiefel heftete, standen der Druide, Rist und Anna also vor der Höhle des besagten grünen Drachen. Der Eingang des Hortes, der in einen großen, felsigen Hügel inmitten des dichten Forsts führte, war breit. Für ein Schuppentier von großem Ausmaß war es also kein Problem in das dunkle Loch zu kriechen, wenn es den Kopf nur ein wenig einzog. Hm. Ob Märthe nun wohl als Drache in ihrem Zuhause saß? Oder als kleiner Mensch? Hockte sie lauernd auf einem großen Goldhaufen und leuchteten ihre Augen im Dunkeln? Anna sah der Höhle etwas skeptisch entgegen, während Adlet guter Dinge voran ging, um eben jene zu betreten. Ringsum zwitscherten die Vögel nicht mehr und es war völlig still. Auch hatte die stets aufmerksame Hexerstochter im Umkreis keine anderen Wildtiere gesehen; nicht einmal einen der Hasen, die es hier gab, wie blaue Flecke am Körper eines ungehorsamen, redanischen Eheweibs. Folglich mussten sich die Tiere also vor der Echse fürchten, die hier hauste, und Anna wusste ja nicht, wie gut ihr dies nun behagen sollte. Die gähnende Höhle führte tief in den Stein. Der Weg, der in jenen hineinführte, sank nach wenigen Metern bereits ab und an gewissen Stellen war er gar so steil und die moosbewachsenen Steine so glitschig, dass man gut aufpassen musste, um nicht zu stürzen. Hjaldrist hätte es einmal beinah auf den vermeintlichen Halb-, Viertel- oder Achtel-Elfenarsch gelegt, doch Anna hatte ihn gerade noch so am Oberarm erwischen und davor bewahren können im Dreck zu landen und sich das Steißbein anzuschlagen. Adlet schien hingegen aber keinerlei Probleme mit dem Abstieg in den tief gelegenen Drachenhort zu haben. Er ging sehr leichtfüßig und sicher, mit einem knorrigen Gehstock in der Hand und so, als ob er diesen Weg schon hunderte Male zuvor genommen hätte. Und womöglich hatte er das auch, wenn man bedachte, wie er zu Märthe stand. Bestimmt besuchte er sie oft. “Wir sind gleich da!”, versicherte der kauzige Trankmischer mit dem seltsamen Hütchen aus braunem Filz und Vogelfuß und führte die zwei Jüngeren in eine Kehre in dem breiten Gang. Seine rostige Öllampe quietschte beim Tragen leise schaukelnd vor sich hin, warf einen orangen Schein auf die feuchten Höhlenwände und ließ die Schatten wild umhertanzen. Anna hielt sich nah bei dem Eremiten, um ihn nicht noch zu verlieren, und Hjaldrist bildete mit der Hand an der Axt das Schlusslicht. Sie beide trugen ihre vollen Monturen, Rüstungen und Waffen. Zwar hatte es sich herausgestellt, dass der große Drache der Insel ihnen wohlgesonnen war, doch sie fühlten sich mit Schild und Schwert einfach sicherer. Und auch, wenn es sich um ein mächtiges Tier handelte, gegen das man im Ernstfall nur schwer bestehen könnte, war es ein angenehmeres Gefühl seine Ausrüstung bei sich zu wissen, anstatt förmlich nackt in den Hort einer Echse zu stolpern, deren Zähne so lang waren, dass sie einen im Nu in der Luft zerreißen konnten. Entgegen aller Erwartungen einen grünen, schwanzpeitschenden Drachen auf einem Haufen voller glitzernder Schätze vorzufinden, kam Märthe der kleinen Gruppe in menschlicher Gestalt entgegen. Wie immer in einem schlichten Kleid, zu einem Dutt gedrehten Haaren und mit dem üblichen Lächeln auf den Lippen. Im Gegenzug zu dieser vertrauten Erscheinung, die menschlicher und sympathischer nicht sein konnte, war im sich auftuenden Gewölbe der finsteren Drachenhöhle nichts so wirklich einladend. Es war eben nur eine modrige Höhle mit moosbewachsenen Wänden, Pilzen in den Ecken und kleinen Rinnsalen, die hier und da hörbar durch den Stein herunter plätscherten und in kleinen, unterirdischen Teichen endeten. Leise tropfende Stalagtiten hingen meterlang von der Decke. Manche von ihnen waren so groß und breit, dass sie sich mit den Stalagmiten am Boden zu Stalagnaten geformt hatten und aussahen, wie massive, marmorne Säulen einer riesigen Burghalle. Selbst, wenn sich alle vier Anwesenden an den Händen genommen hätten, hätten sie Mühe damit gehabt einen dieser verwachsenen Tropfsteine zu umarmen. Das leise Pfeifen von Zugwind war zu vernehmen und ein Geruch nach Salzwasser und feuchter Luft. Es war kühl. Vor dem Vorsprung, an dem Märthe ihre drei Gäste empfing, stand das Wasser metertief. Ob es durch irgendwelche weiter unten, im kühlen Nass gelegene Tunnel, bis nach draußen schwappte? Ins Meer vor Drakensund etwa? Oder war der kleine See in sich abgeschlossen? Irgendetwas platschte leise in dem dunklen Wasser, schlug eine sachte Welle und ließ eine gefächerte, sehr lange Rückenflosse blitzen. Anna sah dies im Augenwinkel und versuchte gefasst zu bleiben, sich keine weiteren Sorgen darüber zu machen. Denn wer wusste schon, was da in dem schwarzen Seechen herumschwamm? Darin baden würde die kluge Hexerstochter ganz klar nicht wollen, denn sie hatte nicht vergessen, dass es vor der Drachenhöhle keinerlei Anzeichen für irgendwelche gewöhnlichen Lebewesen gegeben hatte. Was hier unten herum kreuchte, war also womöglich gar nicht tierisch. Nein, ganz sicher nicht. Und wäre Märthe nicht hier, wäre die Nordländerin sicherlich alarmiert gewesen. Sie hätte zur Sicherheit das Schwert mit dem Wolfsknauf gezogen und argwöhnisch abgewartet. Doch der Drache, der beschützte sie, Adlet und Hjaldrist. Alles war also in Ordnung, nicht wahr? “Hallo!”, Märthe, sich eine lose kastanienbraune Strähne aus der Stirn wischend, begrüßte die Gruppe nett und nickte ihnen mit einem weichen Ausdruck im Gesicht zu. Ihre smaragdgrünen Augen reflektierten den Schein der Öllampe des skelliger Druiden, wie die einer Katze es täten. Es verlieh der Dame ein sehr seltsames, fremdes Äußeres. “Ich habe schon auf euch gewartet. Kommt doch mit.”, bat die Frau wohlwollend und Adlet schloss sofort zu ihr auf, um damit anzufangen mit ihr über Belangloses zu plaudern. Über sommerliche Kräuterbeete, verrückte Mäuse und das Wetter, das sich in den letzten Tagen immer mehr gebessert hatte. Sie beide gingen vor und Rist und Anna sahen zu, dass sie ihnen mit weniger als zwei Metern Entfernung nachkamen. So behaglich war die hiesige Höhle nämlich nicht; es war dunkel und überall schien irgendetwas zu lauern, neugierig zu starren und mit leisen Klauen an den Felswänden zu scharren. Oder wurde Anna einfach nur schon paranoid? Oh, bei Melitele! Sie gingen weiter, während Adlet Märthe schniefend erklärte, wie man angebrannte Milch am besten von Topfböden schrubbte. An den massiven, feuchten Stalagnaten gingen sie vorbei, durch einen, für einen Drachen relativ schmalen Gang hindurch, und endeten schlussendlich in einem zweiten, großen Höhlenraum voller Tropfhöhlengestein. Märthe hob die Rechte plötzlich in einer ausladenden Bewegung, murmelte irgendetwas in einer fremden Sprache und schnippte mit jenen kryptischen Worten Lichter in die Luft. Anna hielt inne und beobachtete aus großen Augen, wie unzählige magische Lichtkügelchen aufstiegen, um sich an die Höhlendecke zu heften, wie flackernde Sterne. Augenblicklich war das Gewölbe nicht mehr allzu finster. Ein fahler, bläulicher Schein legte sich auf die nahen Steingebilde, Gewächse und Zweibeiner, wie helles Vollmondlicht. Jenes gab den Blick mitunter auf einen Platz frei, der auffällig mit Moos und kniehohem Gras überwuchert war, das hier unten und ohne das Sonnenlicht eigentlich gar nicht gedeihen sollte. Da waren gar Blumen mit dicken Blütenblättern zwischen denen kleine Lichter umherschwirrten, als seien sie Glühwürmchen. Doch es waren keine. Anna’s Amulett mit dem aufgerissenen Wolfsmaul vibrierte merklich an ihrem Gürtel und schnell legte sie die behandschuhte Hand darauf, als wolle sie es mit dieser Berührung beschwichtigen. Hjaldrist sah von der Seite aus prüfend zu ihr hin. “Na kommt!”, Adlet’s auffordernde Stimme riss die beiden staunenden Abenteurer aus ihren Gedanken und dem sprachlosen Gestarre. Er hob die Öllampe etwas an und wedelte in einer Geste damit, die den Jüngeren andeuten sollte aufzuschließen. Und dies taten sie dann auch. “Es tut mir leid, es ist für euch wohl nicht allzu bequem hier.”, entschuldigte sich Märthe währenddessen. “Dafür, äh, ist es aber recht... spannend.”, entgegnete Anna mit verheißungsvollem Unterton, die aufmerksamen Augen noch immer an die vielen weißblauen Lichter an der Decke geheftet. Es war wunderschön, wie sie sich dort an den Felsen drängten und mühelos die ganze, große Höhle ausleuchteten. Die sonst so abgebrühte Monsterjägerin glaubte schon, sie werde sentimental und bekam genau dafür einen neckenden Ellbogen Rist’s in die Seite; Ein Knuffen, das mit einem kritischen Blick quittiert wurde. Märthe musste leise lachen, als sie dies sah. Für sie war das hier - die glitzernden Lichter, die Blumen und die beeindruckende Magie - unbedeutender Kinderkram, ganz bestimmt. Doch für jemanden, der solch eine ‘Sternenhöhle’ nicht jeden Tag sah, war es ein besonderes Erlebnis. Und während Anna sich also noch die Augen aus dem Kopf stierte und ihre klammernde Paranoia längst vergessen hatte, zog Adlet seinen Enkel geschäftig in die Richtung des so unnatürlich gewachsenen Grases. Dorthin, wo die unwirklichen Glühwürmchen umher schwebten und weiße Blumen in völliger Dunkelheit gediehen. “Gefallen dir die Lichter?”, Anna senkte den Blick von der hohen Decke und ließ ihn sofort auf die geduldige Frau neben sich fallen. Die grünen Augen derselben taxierten sie im weiß-bläulichen Licht. Die Novigraderin nickte zögerlich und brachte Märthe damit dazu überaus angetan zu lächeln. “Deswegen mag ich euch Menschen. Ihr schätzt die Kleinigkeiten im Leben.”, gab die vermeintliche Druidin mit dem Dutt zu “Nun, nicht alle von euch haben diesen kindlichen Sinn, doch die, die ihn besitzen, sind wirklich angenehm. Auch Adlet gehört zu ihnen.” Ein wenig irritiert blinzelte die Kurzhaarige der offenherzigen Märthe entgegen. Doch dann zog auch an ihren trockenen Lippen ein freundlicher Ausdruck und ihre Miene erschien abrupt weniger hart. Es dauerte nicht lange, da stand das Vierertrüppchen inmitten eines tatsächlichen Haufens an Schätzen. Er befand sich nicht weit von dem Fleck mit den Glühwürmchen entfernt in einer weitläufigen Felsnische und der Boden war auch hier von grünem Gras und weißen Blüten gesäumt, die sich wie durch Geisterhand sanft wiegten. Und die gesammelten Gegenstände des Drachens waren keineswegs chaotisch oder unordentlich zusammengeworfen worden. Die Schätze waren sortiert. Die, die Riemen hatten, waren gar auf kleine Felsen oder gestohlene Ständer gehängt worden. An einem Stalagnat stand ein mannshoher, schwarzer Spiegel, der auf die Entfernung keinerlei Spiegelbild zeigte. Daneben befand sich eine kleine, grün flackernde Laterne am Boden. Rechts davon türmten sich Juwelen und Goldstücke neben einer massiven Holztruhe, deren Deckel verschlossen war, und unweit befanden sich hölzerne Ständer mit Rüstungen und Waffen darauf, die teils elfisch oder riesengroß wirkten. Letztere waren so konstruiert, als hätten sie raue Hünen von mindestens zwei Metern getragen. Es war wahrhaftig imposant, was Märthe hier so angesammelt hatte. Mit halb offen stehendem Mund trat Anna auf den teuren Hort zu und sah um sich. Ihr Blick fiel auf einen schiefen, modrigen Baumstamm, an dem auffallend hell lumineszierende Pilze wucherten, auf eine silberne Schale, die randvoll mit seltsam schimmernden Wasser befüllt war, und auf eine Eiserne Jungfrau, die von oben bis unten aus Gold bestand. Viele dieser Dinge waren sicherlich verdammt wertvoll, während andere vielleicht nur unsinniger Kram von emotionalem Wert waren. Langsam näherte sich die Novigraderin einem dieser ‘Schätze’: Dem Spiegel, der aussah, als besäße er anstelle von reflektierendem Glas eine dunkle, matte Steinplatte. Doch dem war nicht so. Als Anna vor den hübschen Rahmen trat, der etwas höher war, als sie selbst, rührte sich etwas in dem dunklen Material. Es schien sich zu verzerren, zu verschwimmen, und vor den ungläubigen Augen der Kriegerin materialisierte sich schleppend ein immer schärfer werdendes Bild. Das Bild einer Frau mit halblangen, unordentlich im Nacken zusammengebundenen, braunen Haaren. Die Frisur, wenn man es denn so nennen konnte, mutete an, wie hastig mit einer stumpfen Schere geschnitten. Die Haut der Frau im Spiegel war blass, beinahe weiß, und in ihrem etwas verdreckten Gesicht prangte eine dicke Narbe, die sich hässlich über den linken Wangenknochen zog. Dies etwas schräg vom Ohr bis unter die Augenmitte. Anna stutzte, gab dabei einen hörbaren Laut der Verwirrung von sich. Sie sah ihre kurze, rot-schwarze Jacke in dem Spiegelbild, die alten, verdreckten und undichten Stiefel, die sie seit Kaer Morhen trug. Da war ihr vertrautes Langschwert der Wolfsschule an das sich in einer zweiten, ledernen Scheide eine weitere Waffe von etwa derselben Länge schmiegte. Sie sah teurer aus, als die Stahlwaffe. Der Silberdolch, der steckte im Gürtel, als habe man ihn dort nur beiläufig hingesteckt. Da waren Anna’s Gürteltaschen, das Tranktäschchen, in dem sie statt Tränken Öl, Salz, Zucker und Pfeffer aufbewahrte. Dazu gesellten sich ihre Handschuhe und ihre Hose. Die Ausrüstung wirkte etwas ramponiert und so, als sei die Frau, die sie trug, durch einen Wald voller Schrate und Bären gegangen. Als Anna den Blick wieder nach oben wandern ließ, sah sie in ihr eigenes Gesicht, in das wirre Strähnen der unordentlichen, selbst geschnittenen Frisur hingen. In ihr ungesund bleiches und narbiges Gesicht, aus dem ihr zwei goldene Augen entgegen starrten, die aussahen wie die einer Viper. Und das Bild im Spiegel grinste grimmig zufrieden, fast schon bösartig und angriffslustig. Anna fasste sich an die linke Wange, doch spürte dort keine Narbe. Das Spiegelbild tat es ihr gleich. Es gab einem das Gefühl, als verschlucke man einen Kübel voller Eiswasser. Es stellte einem die Nackenhaare auf, brachte das Herz dazu einen Schlag lang auszusetzen. Und es schnürte einem die Brust eng zusammen. Anna wich augenblicklich zurück und spürte kaum ein überfordertes Stöhnen später eine Hand an der Schulter. Es waren die Finger von Märthe, die sanft und beruhigend zudrückten und die Jüngere zurück in das Hier und Jetzt holten. “Der Spiegel zeigt uns unsere größten Wünsche, aber auch damit verschränkte Ängste, Kind.”, erklärte der weise Drache von der Seite aus. Ziemlich entrückt warf Anna der Frau einen Blick zu, der mehr sprach, als tausend Bände. “Wirklich?”, Hjaldrist’s ungläubige Stimme mischte sich dazwischen und sogleich drängte er sich an Anna vorbei, um ebenso einen Blick in den magischen Spiegel zu werfen. Während er die Spiegelfläche skeptisch beäugte, erstarrte er dann immer mehr. Die anwesende Novigraderin bemerkte, wie sich der Jarlssohn vorbeugte, als traue er seinen Augen nicht. Wie er den Blick taxierend verengte und sich an die rauen Lippen fasste. Sie hörte, wie der Skelliger tief durchatmete. Doch als sie über seine Schulter lugte, um einen Blick auf das Spiegelbild ihres Freundes zu erhaschen, war da bloß wieder diese schwarze, glanzlose Oberfläche; keine Reflektion von Rist’s tiefsten Wünschen oder schlimmsten Ängsten. Offenbar zeigte der Spiegel also nur demjenigen etwas, der direkt vor ihm stand. Anderen, neugierigen Gaffern gegenüber blieb er verschlossen. Fragend sah Anna also zu ihrem stummen Kumpel hin, berührte ihn auffordernd am Arm. Hjaldrist war etwas blass um die Nase geworden und starrte nach wie vor auf das Artefakt vor sich, als sei er geistig ganz weit fort. “Was siehst du?”, murmelte die Hexerstochter neugierig und zog nach Aufmerksamkeit klaubend am Ärmel des Mannes. Sie riss ihn durch diese Geste und das Nachfragen wohl aus den Gedanken, denn zerstreut hob der Skelliger den Blick und blinzelte sprachlos vor sich hin. “Hmm?”, machte Anna. Als der konfrontierte Hjaldrist zu ihr sah, mutete er besorgt an. Besorgt und mit einem Funken Ärger in der steinharten Miene. “Nichts.”, gab er endlich als Antwort zurück und die Kriegerin runzelte die Stirn tief. Sie fragte aber nicht weiter nach. Und so, wie der Schönling wagte es auch sie nicht mehr in den Magierspiegel zu sehen. Besser, sie widmeten sich also anderen Dingen. “Ihr könnt euch etwas aussuchen.”, Märthe’s liebes Angebot kam sehr, sehr unerwartet. Und als Anna und Rist - die gerade überaus interessiert flüsternd eine der elfischen Rüstungen beäugten - aufblickten, sahen sie, wie die Drachenfrau in dem simplen Kleid lächelte. So, wie sie es immer tat. Adlet stand bei ihr und nickte ermutigend. Sein rostiges Öllicht quietschte etwas, als er die Hand damit etwas sinken ließ. “Die Rüstung gefällt euch wohl, ihr könnt Teile davon haben, wenn ihr wollt.”, bot die großzügige Trankmischerin an “Adlet erzählte, dass ihr demnächst auf einem der Boote der Banditen abreisen werdet. Ich glaube also, Dinge aus meinem Hort könnten auf einer langen Reise nützlich für euch sein. Nützlicher, als sie es hier sind, jedenfalls.” Anna machte zum gefühlten zwanzigsten Mal am heutigen Tage große Augen und auch Rist wusste auf einmal nicht so recht, was er sagen sollte. Sonst war er eigentlich nicht auf die Klappe gefallen, doch jetzt fielen ihm die passenden Worte. Ein wenig verloren wirkend standen sie also vor der fein geschmiedeten Elfenrüstung und hatten keine Ahnung, ob sie das Angebot Märthes einfach so annehmen könnten. Der Drache machte es ihnen jedoch gleich leicht. “Na los.”, lachte sie und verschränkte Hände dann abwartend hinter dem Rücken “Nehmt euch etwas. Jeder ein Teil. Es soll mir gleich sein, was.” Eine direkte Aufforderung, nach der noch einige betretene Momente vergingen, bis die zwei Abenteurer langsam nickten und damit anfingen sich suchend umzublicken. Keiner von ihnen interessierte sich aber für die golden und kunstvoll beschlagene Rüstung der Aen Seidhe. Während Hjaldrist grüblerisch dastand und sich am unrasierten Kinn kratzte, wanderte seine Kollegin etwas umher und blieb dann nahe dem magischen Spiegel stehen. Dort, wo die kleine Öllaterne auf dem grasbewachsenen Boden stand und ein gespenstisch grünliches Licht verstrahlte, das sich fahl auf das Gesicht der Novigraderin und die nahe Umgebung legte. Eine Lampe war praktisch. Rist hatte seine damals, als er den zornigen Waldschrat davon abgehalten hatte die arme Anna zu zerfetzen, zerstört. Er hatte sie laut scheppernd an dem fauchenden Monstrum zerschlagen und seitdem waren sie beide ohne eine gute Lampe gereist. Und die Hexerstochter, die war ja recht praktisch veranlagt. Die Laterne vor ihren Stiefelspitzen erschien ihr also als ein ziemlich gutes Teil. Ja, denn was sollte sie schon mit einem Magiespiegel, einer elfischen Vollrüstung, die einen stark in der Bewegung einschränkte, oder mit einem Baumstamm voller leuchtender Pilze? Eine kleine Laterne war toll. Fragte sich nur, was jene noch konnte, außer zu leuchten. Denn bestimmt war das Ding zu noch viel mehr gut. Anna fasste nach dem Henkel des besagten Stückes, um es aufzuheben und sie sah auf. Ihre braunen Augen suchten Märthe. Dann hob sie die grün leuchtende Laterne in ihrer Hand an, um sie der viel Älteren zu zeigen. “Märthe? Was kann die?”, fragte sie erwartungsvoll. Die Kräutersammlerin kam näher und schenkte der gespannten Monsterkundigen ein Lächeln. “Diese Laterne stammt aus Serrikanien. Man sagt, dass man in ihrem Schein nicht lügen kann. Also abgesehen davon, dass sie einfach nur schönes Licht spendet, wenn man sie mit Lampenöl befüllt und anzündet.”, meinte Märthe rätselhaft und schmunzelte. Anna’s Miene verrutschte ein Stück weit. “Was? Wie?”, fragte sie “Ernsthaft?” Noch nie hatte sie von derlei Artefakten gehört. Die geschmiedete Laterne mit den verzierten Glasfensterchen brachte Leute also dazu die Wahrheit zu sprechen? Die Druidin nickte. “Es funktioniert aber nur, wenn der Mond im Zenit steht. Um Mitternacht und in der Dunkelheit.”, erklärte die Skelligerin “Jeder, auf den das grüne Licht zu dieser Zeit fällt, spricht die Wahrheit und schafft es nicht zu lügen.” Ganz, ganz zögerlich, doch sicher, legte sich auf das Gesicht der gewitzten Novigraderin ein breites Lächeln. Langsam kippte jenes dann, wurde schief und sie sah von Märthe fort, um die Lampe in ihrer Hand genauer anzusehen. Sie hob sie sich vor die Nase, musterte sie interessiert. Aus dem Augenwinkel linste sie keine Sekunde später schon zu Hjaldrist, der gerade ein Kriegshorn in den Händen wiegte. Dem Mann fiel dieser verschlagene Blick natürlich sofort auf und er maulte ein ernstes ‘Denk nicht einmal dran, Arianna!’. Die Angesprochene musste lachen, verkniff sich eine halbernste Drohung über den Einsatz von Lügenlampen und winkte dann ab. Ihre Aufmerksamkeit glitt zu dem Horn in Rist’s Händen. “Gefällt dir das?”, wollte sie wissen “Es sieht ziemlich schlicht aus.” “Das tut es wohl, aber es ist eine sehr wirksame Waffe.”, warf Märthe wissend dazwischen. “Ich habe das Horn in einem verlassenen Labor auf Spikeroog gefunden. Ich denke, es gehörte einmal einem Druiden oder einem Zauberer. Oder aber ein mächtiger Mann Skelliges hat es für viel Geld von einem Magier verzaubern lassen.”, sinnierte die nette Kräuterkundige “Ich habe es nie ausprobiert, doch ich fand damals, in dem Labor, in dem ich das Artefakt entdeckte, Aufzeichnungen darüber. In diesen alten Notizen stand, dass das Horn nicht nur als einfaches Kriegshorn benutzt werden kann, sondern geflügelte Ungeheuer vom Himmel hole.” Hjaldrist entkam nach dieser Erläuterung ein positiv überraschter Laut der Erkenntnis, als er zurück auf das wertvolle Horn in seinen Händen sah. “Das könnte praktisch sein. Was meinst du, Anna?”, wollte er wissen und die kurzhaarige Hexerstochter nickte ohne allzu lange nachzudenken. Schließlich waren geflügelte Wesen immer richtig, richtig nervtötend und die Kämpfe gegen sie gefährlich und lang. Eine Sirene, die wie ein scharfer Pfeil vom Himmel schoss, war bei Weitem verheerender, als ein Ertrunkener, der sich stets auf Augenhöhe befand. Und ein rasender Gabelschwanz war weniger gefährlich, wenn er am Boden, anstatt in der Luft, war. Das Horn, das Fliegende vom Himmel holte, war also wirklich eine sehr nützliche Waffe. Nach dem Treffen in der großen Sternenhöhle hatte Märthe ihre drei Freunde zurück zu Adlet’s Hütte begleitet, um gemeinsam zu essen und noch den ganzen Nachmittag lang bei Milchtee und skelliger Honigkuchen beisammen zu sitzen. Irgendwann, gegen Abend, hatten Anna und Rist dann damit angefangen ihre Sieben Sachen zu packen. Und so sehr sich die jungenhafte Novigraderin im Bunde dabei gefreut hatte wieder auf die Straße zu gehen, zu arbeiten und etwas zu erleben, so hatte ihr der Gedanke Drakensund bald zu verlassen, Kummer bereitet. Die lauschige, einsame Insel war für sie schlussendlich zu einem kleinen Zuhause auf Zeit geworden. Die Giftmischerin hatte sich hier stets wohl und willkommen gefühlt, viel gelernt und sich einige Dinge von der Seele geredet. Ihr Herz war beim Packen also richtig schwer geworden, denn Abschiede waren niemals schön. Nun, am nächsten Morgen luden die zwei Vagabunden ihre gut gefüllten Rucksäcke früh in eines der vier kleinen Boote, die die ruppigen Drachenjäger zurückgelassen hatten. Der Morgen graute erst, da überprüfte Hjaldrist schon die dicken Segeltaue des Schiffchens, das am Strand lag, und zurrte fachmännisch irgendwelche Seile zurecht. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis die Flut käme. Und dann würde das alte Boot, das man an einem schiefen Holzpfahl festgebunden hatte, vollends im schäumenden Meerwasser schwimmen. Man müsste es also nicht mühsam den Wellen entgegenschieben. Und so seltsam es auch klang, so hatte Anna keinen allzu großen Bammel vor der anstehenden Reise über das unruhige Meer Skelliges. Denn sie hatte gut vorgesorgt und sich einen einfachen, bräunlichen Trank mit Baldrian und Hopfen zusammengebraut, der ihren Magen taub und sie selbst sehr müde machen sollte. Sie würde dank dieses Absuds nicht wieder wie eine Blöde reihern oder sich ob des Wellenganges vor Angst halb einpissen müssen. Mit etwas Glück würde die Hexerstochter sogar schlafen. “Danke für alles.”, lächelte die besagte Kurzhaarige, die sich ihren bitteren Trank bereits in den Rachen gekippt hatte. Das leere Fläschchen hatte sie sich beiläufig in die tiefe Manteltasche gesteckt und nun stand sie ihren zwei neuen Freunden der Dracheninsel gegenüber. “Ach, nichts zu danken! Du warst eine gute Schülerin, ja, ja.”, schniefte Adlet und breitete die Arme weit aus, um Anna darauffolgend eigenartig, doch eng zu umarmen und die Jüngere väterlich zu drücken. “Kommt mich doch wieder einmal besuchen, ja?”, bat er. Märthe stand still neben ihm und ihr schlichtes Kleid aus erdfarbenem Leinen bauschte sich in der Meeresbrise. Sie lächelte sanft, wartete mit einem Bündel aus Wollstoff und Bast in den Händen geduldig ab. “Klar.”, antwortete Anna dem schrägen Druiden, als sei sie sich absolut sicher, dass man sich bald wiedersehen würde. Doch dies war Blödsinn, das wusste sie. Womöglich würden sie einander nie mehr wieder treffen. Ja, vielleicht sprachen sie just, in diesem Moment, das allerletzte Mal miteinander. Und diese Annahme machte der Nordländerin die Kehle ganz trocken und eng. Sie hatte den wirren Adlet, der sie behandelt hatte, wie ein sehr netter Onkel es getan hätte, schließlich fest ins Herz geschlossen. Die gerührte Frau atmete einmal tief durch und ermahnte sich im Geiste zur Fassung, dann wandte sie sich Märthe zu. “Danke für die Lampe.”, meinte die Kriegerin in der gestreiften Jacke dabei und blinzelte sich kaum merklich eine kleine Krokodilsträne aus dem Augenwinkel, wischte sich flüchtig über die Wange und zwang sich zu einem frohen Ausdruck. Die Drachenfrau vor ihr lachte leise. “Bitte, bitte.”, meinte jene “Und hier. Wir haben euch noch etwas Proviant eingepackt. Brot, Trockenobst, Wurst und Heringsmarmelade”. Mit diesen Worten überreichte die Kräutersammlerin mit den tiefgrünen Augen Anna das geschnürte Bündel. Bestimmt befand sich darin viel zu viel Essen für zwei Leute, denn besonders Adlet war jemand, der es stets viel zu gut meinte. Eher platzte man, als unter seinem schiefen Strohdach zu verhungern. Dankend nahm Anna das ‘Fresspaket’ entgegen und wartete darauf, dass sich auch Rist bei seinem Onkel und Märthe verabschiedete. Dieser Abschied fiel aber weniger schwermütig aus, sondern gleichmütig-freundlich. Hjaldrist ließ sich von Adlet auf dessen unbeholfene Art umarmen, reichte Märthe herzlich die Hand und bedankte sich, wie Anna es zuvor getan hatte. “Passt auf euch auf.”, meinte der tickende Adlet noch lieb und die zwei Abenteurer nickten. Dann machten sie sich daran in ihr kleines Boot zu steigen. Die wasserscheue Anna tat dies zuerst und wirkte dabei so unsicher, wie eh und je. Sie setzte sich sofort hin, bevor Rist wieder auf die Idee kommen könnte witzelnd am Wassergefährt zu ruckeln. Der Besagte folgte dann gleich und entrollte das flatternde Segel, als die Flut nahte. Schon in wenigen Stunden wären sie zurück in Kaer Trolde. * Anna erwachte, als jemand an ihr rüttelte und ihren Namen drängend murmelte. Sie zuckte zusammen, blinzelte schlaftrunken und gab ein benommenes Seufzen von sich, als sie müde aufsah. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, wo sie war, als sich Rist mit prüfender Miene über sie beugte. “Guten Morgen, Sonnenschein. Wir sind da.”, verkündete er dabei trocken und Anna hob die Brauen perplex an. Oh. Ach, richtig. Sie waren heute von Drakensund abgereist, um zurück auf die Hauptinsel von Skellige zu gelangen. Die Novigraderin hatte davor einen Baldrian-Trank getrunken, der sie beruhigen hätte sollen. Und ob dem hatte sie die schaukelnde Seefahrt über geschlafen, wie ein Stein. Oh, welch ein Glück, dass sie erst jetzt geweckt wurde! Sie hatte nichts von dem dummen, tiefen Salzwasser und den blöden Wellen mitbekommen! “Bist du endlich wach?”, wollte Hjaldrist wissen und starrte noch immer taxierend. Anna nickte. “Gut… dann komm. Wenn wir den Weg gen Westen nehmen, sind wir am späten Nachmittag schon in Rogne.”, meinte er nachgiebig und deutete auf die unbequemen Rucksäcke, die seine Freundin als Kopfkissen und harte Armstütze benutzt hatte. Ein schmerzliches Ächzen entkam Anna, als sie sich aufsetzte und sich dabei den Schlaf aus den Augen rieb. Sie fasste sich in den starren Nacken und verfluchte dabei ihre vorangegangene, schlechte Schlafposition auf dem ungemütlichen Holzgrund. Urgh. Ihr armes Kreuz! Währenddessen schulterte Rist schon seinen Rucksack und klemmte sich das Proviantbündel von Adlet unter den Arm. Der Schönling warf einen abwartenden Blick zu seiner Kollegin. Auch Anna klaubte nach ihrem Gepäck und bereits Momente später setzte sie die abgetretenen Stiefel in den hellen Sand der Küste vor… äh, wo waren sie eigentlich genau? Der Ort hier sah nicht aus, wie der Walfriedhof von dem aus sie vor mehr als einem halben Jahr nach Drakensund übergesetzt waren. Anna’s Kopf hob sich gen Sonne, die wärmend vom Himmel schien und deren Strahlen hier und da von kreischenden Möwen und rufenden Sturmvögeln durchbrochen wurden. Sie stand noch nicht am höchsten Punkt. Es war also noch nicht einmal Mittag. “Wo sind wir?”, wollte die orientierungslose Hexerstochter wissen, als sie zu ihrem Freund aufschloss, der sich nach der Bootsfahrt im schmalen Schiffchen etwas die Beine vertrat. Er hatte sich vom Wasser entfernt und beugte eins seiner Knie prüfend, streckte es wieder und schnaufte dabei unzufrieden. Dann blickte der Jarlssohn auf und deutete auf eine unweite Felsformation, die aussah, als habe ein Steinmetz sie mit Hammer und Meißel bearbeitet. Die meterhohen Steine sahen aus, wie ein verzerrter, großer Fuß. Ja, Anna hatte Fantasie. “Die ‘Zehen des Riesen’. Wir befinden uns nördlich von Redgill. Ich hatte keine große Lust darauf nochmal dort durch den Wald mit dem Scheißschrat zu wandern.”, sagte Rist und verwundert musterte die Novigraderin ihn daraufhin “Die Steinformation da vorn nennt man so, weil sie aussieht wie ein, naja, Fuß. Eigentlich wurde sie nur von Wind und Wetter geformt... doch die hiesigen Leute behaupten, die Weltenschlange Jörmungandr hätte alle Riesen, die ihm nicht gehorchten, zu Stein verwandelt. Auch den, zu dem der Fuß da gehöre.” “Jörmungandr?”, fragte Anna unwissend nach, als sie neben Rist her ging. Noch immer sah sie ihn an, interessiert und wacher, als noch zuvor. Die Wirkung ihres starken Schlafmittels steckte ihr zwar noch tief in den müden Knochen, ließ aber allmählich nach. Sich zu unterhalten half dabei und auch die frische Meeresbrise, die an ihrem Überwurf riss und ihr durch das Haar streifte, tat gut. “Die Urschlange. Sie beißt sich selbst in den Schwanz und treibt kreisrund durch den Raum, wirft keinen Schatten. Du hast noch nie davon gehört?”, wollte der redselige Skelliger im grünen Mantel wissen. Und erst jetzt wurde es Anna so richtig gewahr, dass die Leute der Inseln einen anderen Glauben hatten, als die Menschen in den Nördlichen Königreichen. Sie hatte hier sehr oft gewisse Götterdarstellungen gesehen, die ihr fremd gewesen waren. Und auch Adlet hatte einmal von Freya, der Großen Mutter, erzählt, die in ihren Aufgaben und Bestimmungen Melitele sehr nah kam. Und jetzt erwähnte Rist eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss? Seltsam. Die Monsterjägerin sollte sich wohl endlich mehr für diese Art von Thema interessieren. “Ich… nein, ich habe nie davon gehört.”, gab die Novigraderin zu, setzte dem dann aber noch eine Frage nach “Ist das auf deiner Rüstung Jurmungandor?” “Jörmungandr.”, korrigierte der Mann “Und nein. Ist er nicht.” “Hmm.”, Anna’s braune Augen fielen auf die eingekerbten Verzierungen auf Hjaldrist’s Lederausrüstung. Auf die geschwungene, detailreiche Schlangendarstellung auf seinem Brustpanzer, die man wohl mit einem heißen Eisen eingebrannt oder kunstvoll mit einem scharfen Messer eingeschnitten hatte. Punziert war das schöne Bild jedenfalls nicht worden, so viel erkannte sogar Anna. “In den Nördlichen Königreichen bedeuten Schlangen nichts Gutes.”, meinte die Braunhaarige und suchte wieder Blickkontakt, nachdem sie die Aufmerksamkeit von der Ausrüstung ihres Freundes losgerissen hatte. Sie begleitete ihn gemächlich spazierend durch die meeresnahe Wiese, die von der Gischt etwas feucht war. Ihr ‘gestohlenes’ Boot, das ließen sich einfach lieblos zurück. Vor ihnen tat sich eine bewaldete Anhöhe auf, die in einem Tal zwischen imposanten Bergmassiven ruhte. Ein schmaler Weg führte schnurstracks dorthin. Sie würden ihn nehmen. “Ja, dort stehen Schlangen häufig für Lügen, Verrat oder zwielichtige Dinge. Viele Leute der Nördlichen Reiche haben sogar Angst vor den Tieren, obwohl die sehr scheu sind.”, erzählte Anna weiter und verzog den Mundwinkel dabei etwas. Sie selbst fürchtete sich nicht vor den besagten Reptilien. In Kaer Morhen hatte es viele davon gegeben. Im Sommer hatte man davon dutzende in den kleinen Nischen und Klüften der maroden, von der Sonne erwärmten, Festungsmauer entdecken können. “Das ist hier mancherorts nicht viel anders.”, versicherte Rist der Frau unerwarteterweise, als er sich an die Riemen des schweren Rucksackes fasste, um sie mit einem Mal und ächzend etwas kürzer zu ziehen. “Aber du magst sie trotzdem?”, wollte die neugierige Novigraderin wissen. “Hm, ja, schon.”, gab der Skelliger zu und schenkte seiner Freundin einen Seitenblick “Manchmal, da ist es auch eine stumme Aussage das Symbol der Schlange zu tragen.” “Oha, das klingt ja richtig philosophisch, Rist. Oder geht es um Heraldik? Nun bin ich neugierig.”, grinste die Kriegerin hintergründig und ihr Blick durchdrang den armen Undviker. Jener schwieg. Ob er sich gerade ertappt fühlte oder dachte, er habe sich verraten? Anna verkniff sich ein wissendes Grinsen. “Ist das so eine Sache deiner Familie? Das mit den Schlangen? Ich meine… nicht jeder lässt sich einfach mal so solch eine Lederrüstung anfertigen, wie du sie hast, hm? Sie passt übrigens gut zu dem Ring, den du trägst.”, entkam es Anna wölfisch und sie sah, wie ihr Kumpan mit dem goldenen Schlangenring an der Linken die dunklen Augen verengte. Prüfend sah er sie an, mit einer vagen, düsteren Vorahnung im Blick. Und er sagte nichts. Doch Anna lachte am Ende nur unbeschwert und haute ihm kumpelhaft gegen den Oberarm. “Schau nicht so. Du kannst ruhig darüber sprechen. Ich weiß Bescheid, denn Adlet hat aus dem Nähkästchen geplaudert.”, gab sie zu “Er hat mir von Undvik und deiner Familie erzählt.” “Ähm. Was?”, entkam es Rist ganz überrumpelt und er blieb abrupt stehen. Anna’s belustigter Ausdruck wurde heller und ihr Grinsen noch viel breiter. Auch sie hielt an und wendete sich dem sprachlosen Schönling zu. Und obwohl sie so stichelnd und verstohlen nachgehakt hatte, als sei dies hier ein Verhör, blieb ihr gewieftes Lächeln freundlich. “Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass dein Onkel nichts sagt? Ich denke, er wusste noch nicht einmal, dass du von Zuhause abgehauen bist. Das bist du doch, oder?”, fragte Anna “Ansonsten würdest du ja auch kein Geheimnis aus deiner Abstammung machen und selbst Freunden wie MIR vorlügen, dass du der Sohn eines ollen Tuchhändlers seist.” Stille. Hjaldrist sagte auf die Konfrontation seitens seiner Kumpanin erst einmal gar nichts, sondern stand da, wie ein begossener Köter. Anna hatte nämlich den Nagel auf den Kopf getroffen, nicht wahr? Es war schwer zu sagen, ob das, was sich da in den Augen des Mannes von Undvik widerspiegelte, Überraschung oder Entsetzen war. Vielleicht ja auch beides. Es schwand aber glücklicherweise bald. Der Kleinmütige entspannte sich wieder, räusperte sich und dann, ganz unerwartet, erwiderte er Anna’s abwartendes Starren mit einem vertraut schiefen Lächeln. “Ich hab’s dir damals doch gesagt.”, meinte er schlicht “In Blandare.” “Was?” “Dass ich ein Jarlssohn bin. Du meintest zu dem Zeitpunkt übrigens, du seist eine Prinzessin. Hast du mich etwa belogen?” Anna blinzelte verdattert. Dann entkam ihr ein entnervtes Stöhnen, doch sie konnte sich dabei eines Grinsens nicht erwehren. Ja, das war Rist wie er leibte und lebte. Sie schüttelte den Kopf ungläubig. “Ach ja...”, entgegnete sie langgezogen und mit einem Funken Zynismus im Ton “Wie konnte ich DAS bloß vergessen?” “Pff.” Und damit setzten sich die beiden Vagabunden langsam wieder in Bewegung. Die grünliche Laterne Märthes, die an Anna’s Rucksack baumelte, schepperte leise bei jedem Schritt und Steinchen knirschten unter ihren schweren Sohlen. Das Thema um Rist’s Herkunft war für die Frau noch lang nicht gegessen oder abgetan. Doch war es der Axtkämpfer selbst, der es nach einigen Schritten wieder ansprach und zwar auf ernstere Art und Weise, als noch zuvor. Neben Anna hermarschierend, sah er prüfend zu ihr und musterte ihr Profil eindringlich. “Es macht dir also nichts aus.”, stellte er fest. “Was denn?”, wollte die gutmütige Kurzhaarige wissen. Ihr Blick hing, nach vorn gerichtet, an den steilen Bergen, in deren Richtung der Weg zeigte. Die Gipfel der Massive waren mit Schnee bepudert. “Na, die Sache mit meiner Familie. Ich… bin adelig und das ist dir wohl egal.”, klärte der Skelliger überflüssigerweise auf und Anna zuckte gleichgültig mit den Schultern. “Klar. Warum sollte es mich stören? Du bist kein abgehobener Schnösel und du machst dir die Hände gern dreckig. Das spricht für dich. Und von mir aus könntest du genauso ein Bettler sein. Würde nichts ändern. Du wärst immer noch du.”, versicherte die Frau selbstsicher und musste ob des Gedankens an einen verdreckten, zahnlosen Rist in Lumpen und mit scheppernder Almosen-Dose in den Händen leise in sich hineinlachen. Sie bemerkte die Erleichterung im Gesicht ihres eigenartig dreinblickenden Freundes daher nicht. “Naja, nicht jeder sieht das so locker, wie du.”, sagte der Krieger, als hätte er diesbezüglich schon schlechte Erfahrungen gemacht. Ein tiefes, genervtes Seufzen entkam ihm und er rollte mit den Augen. Die Hände in die Taschen steckend spazierte er neben Anna her. “Es gibt Leute, die damit anfangen fürchterlich zu schleimen oder die, die sich nicht mit Menschen höheren Standes abgeben wollen. Dann gibt es da noch die Frauen, die einem sabbernd nachgeiern, weil sie nach Geld und Ruhm haschen. Und dann sind da die Typen, die dem Sohn eines Jarls bei Straßenkämpfen nicht auf die Fresse hauen wollen, weil sie harte Sanktionen fürchten.”, erzählte der Undviker weiter. Er und Anna hatten schon längst den Pfad eingeschlagen, der auf die grasbewachsene Anhöhe führte, die mit dichten Nadelbäumen bewachsen war. Sehr bald befänden sie sich schon zwischen jenen. “Mh. Kann ich mir denken.”, bestätigte die Giftmischerin “Und deswegen hast du so getan, als seist du irgendein normaler Reisender. Wegen der Vorurteile.” Rist nickte knapp. Anna konnte ihn verstehen. Trotzdem würde sie es in Zukunft nicht mehr dulden von ihm angeschwindelt zu werden, sollte er denn daran denken es noch einmal tun zu wollen. Denn er hatte nun keinen Grund mehr dazu, oder? Anna war keine aufdringliche Heiratswillige und sie würde auch nicht davor zurückscheuen Hjaldrist eine ordentliche Rechte zu verpassen, wäre es angebracht. Sie waren Freunde. “Spielen wir jetzt mit offenen Karten, Rist?”, fragte sie noch zur Sicherheit nach. Es war ihr ein wichtiges Anliegen, denn sie wollte noch lang mit ihrem Aard auf zwei Beinen umherreisen. Wieder nickte der schwarzhaarige Skelliger zögerlich. “Ja, tun wir.”, versicherte er “Aber posaune nicht herum, wer ich bin, ja? Ich habe keine Lust auf irgendwelche Unannehmlichkeiten.” “Verstanden.” “Und ich will auch nicht, dass mich mein Vater zurückholt. Darum darf er nicht wissen, wo ich bin.” “Klar. In dem Sinn geht es uns beiden doch ähnlich.”, grinste Anna und warf ihrem Freund einen vielsagenden Blick zu. Und zum ersten Mal, während sie über das heikle Thema ‘Familie’ redeten, lachte auch er verhalten, anstatt herumzudrucksen oder auszuweichen. “Stimmt wohl.”, gab er nickend zu. Denn er wusste schließlich, dass die abenteuerlustige Novigraderin ihre ‘Verwandten’ genauso sang- und klanglos verlassen hatte, wie er. Zwar kannte er noch nicht die ganze Geschichte Annas, doch im Groben wusste er Bescheid. Manchmal, da schien es wahrhaftig so, als seien sie beide sich ähnlicher, als sie zuerst angenommen hatten. Und vermutlich verstanden sie sich auch deswegen so gut. Zudem mochten sie es unkompliziert und das erleichterte ihnen das gemeinsame Reisen in jeglicher Hinsicht enorm. Eine Sache gab es da aber noch: Ein Detail, das die Kräuterkundige noch nicht angesprochen hatte, obwohl es sie schon lange brennend interessierte: “Und die Sache mit den Elfen stimmt auch?”, warf Anna plötzlich ein und lenkte das Thema damit in eine ganz neue Richtung. “Adlet kann die Klappe aber auch wirklich nicht halten…”, brummte Rist und stieß ein nachgiebiges Seufzen aus. Er fasste sich ungläubig stöhnend an das Gesicht. “Aha. Also ist es wahr.”, erkannte die Frau aus Kaer Morhen begeistert und schlug die Handflächen einmal zufrieden aufeinander “Du hast Elfen in der Familie!” Ihre Lampe schepperte und Hjaldrist rückte das verschnürte Essensbündel unter seinem Arm zurecht, das gerade so nicht in die Rucksäcke passen hatte wollen. “Ich habe dir doch auch schon mal von meiner Großmutter erzählt…”, fiel dem hüstelnden Skelliger nurmehr ein, als sei dies eine lasche Ausrede. Er bestätigte seiner Kollegin damit indirekt zumindest zu einem Viertel elfisch zu sein. Ja, elfisch. Wirklich komisch. Denn eigentlich waren es gerade die Skelliger, die von der Mentalität und dem Äußeren her nicht so recht zu den Spitzohren passten. Sie waren nämlich rau, groß, laut und haarig. Mit Bären-Berserkern, ruppigen Seemännern und Weibern, die eben jenen in nichts nach standen. Elfen aber, die waren feingliedrig und elegant, mochten den Klischees zufolge Kunst und Geschichte. Tja. Möchte man jedenfalls so glauben. Denn wenn man sich den guten Hjaldrist ansah, schien das mit den Elfen und Skelligern doch ganz gut zu klappen. “Die mit den seidenen Unterhosen!”, brach es aus Anna hervor und sie gluckste amüsiert. “Genau die.”, schmunzelte ihr Begleiter zustimmend nickend. “Warte.”, entkam es Anna nach einem Fußmarsch von weniger als einer halben Stunde. Sie hatten den dichten Tannenwald zwischen den Bergen längst betreten und versuchten sich, so gut es ging, am holprigen Weg zu halten, der in das verschlafene Bergdörfchen Rogne führen sollte. Hjaldrist hatte vorhin kurz erwähnt, dass er dieses Dorf schon einmal besucht hätte und genau wüsste, wo es lag. Es sei recht ruhig dort, die Leute nett und das Essen deftig. Außerdem setzten die Bewohner Rognes wohl einen ganz besonderen Gewürzwein an - mit irgendwelchen Algen darin - und Anna solle den unbedingt probieren. Ob sie das wollte interessierte den begeisterten Hjaldrist an diesem Punkt nicht. ‘Sie müsste’ und es führte vermutlich kein Weg daran vorbei. “Was denn?”, fragte der besagte Skelliger sofort und hielt so, wie seine stockende Freundin inne. Er sah fragend zu ihr hin, ehe er die Augen suchend in die nach Tannennadeln und Moos duftende Umgebung richtete. Die Luft war zwischen all den Bäumen feucht und frisch. Irgendwo zwitscherten ein paar Vögel. “Was ist, Anna?”, wollte Rist erneut wissen, da die Besagte nicht antwortete. Dieses Mal tat er dies drängender und mit gesenkter Stimme. So, als befürchte er von einem lauernden Monster gehört zu werden. “Da vorne. Im Unterholz. Hast du das gesehen?”, wollte die Alchemistin wissen und nickte ernsten Blickes einer Ansammlung von dichten Brombeersträuchern und dicken Baumstämmen entgegen. Balthar hatte sie früher stets ermahnt aufmerksam zu sein und die Umgebung immer im Augenwinkel zu haben. Eine Angewohnheit, die die Frau niemals mehr loswerden würde und das war auch gut so. Denn wie gerade eben, schien es sich auszuzahlen. Tatsächlich nahte da nämlich etwas raschelnd und ästeknackend. Die braunen Augen der Novigraderin verschmälerten sich einen Deut weit und Hjaldrist hatte schon die Axt in der Hand. Hufe traten aus dem Gebüsch weiter vorn, vier Beine, dann acht. Da waren glattes Fell und schnaubende Nüstern, eine zottelige Mähne und etwas, das klang, wie erfreutes Kinderlachen. Anna erstarrte wie zur Eissäule und beinah entgleiste ihr die Miene in ihrer enormen Überraschung. Hjaldrist sah noch dämlicher drein, als seine Kollegin, ließ die Axt sofort sinken und holte Luft, um etwas zu sagen. “Lin?”, entkam es ihm, als glaube er, das hier passiere gerade nicht wirklich. Der angesprochene Götting mit dem Blumenkranz im Haar, der leger auf dem Rücken Apfelstrudels saß, winkte fröhlich. “Hallo!”, flötete der Kleine. Auch Kurt, Anna’s Pferd, war hier und sah Lin lethargisch dabei zu, wie jener vom Rücken Apfelstrudels rutschte. Leichtfüßig kam der Göttling mit den schwarzen Haaren daraufhin zu Rist und Anna, erwischte letztere froh an der Hand und zog froh daran. “Lin!”, erkannte die Frau fassungslos “Du bist da!” “Ich habe doch gesagt, dass ich warte.”, lächelte der großäugige Waldbewohner, der Anna’s behandschuhte Hand herzlich drückte “Und ich habe sogar auf die Pferdchen aufgepasst!” Dann wendete sich das liebe Wesen Hjaldrist zu, begrüßte auch ihn und dies erschien so verdammt unwirklich. Doch das war es nicht. Lin war tatsächlich hier. Mitsamt den Pferden, von denen Anna geglaubt hatte, sie würden zurück nach Blandare laufen, sobald man sie zu lang allein herumstehen ließ. Die sonst so kluge Hexerstochter hatte sich gewaltig geirrt. “Wie… wie hast du wissen können, dass wir hier ankommen? Und dass wir überhaupt zurück sind?”, fragte der perplexe Rist, als er eng von dem nach frisch geschnittenem Gras riechenden Göttling umarmt wurde, der ihm gerade einmal bis knapp unter die Brust reichte. “Die Möwen haben es mir gesagt.”, entgegnete Lin. Anna und Hjaldrist tauschten irritierte Blicke aus. “Und die Pferde...?”, warf die ungläubige Novigraderin ein “Du hattest früher Angst vor ihnen und nun tauchst du hier zusammen mit ihnen auf.” Der Göttling mit der fahlblauen Haut lachte heiter, ließ Rist wieder los und wandte sich der Frau zu, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und beugte sich verspielt ein Stück weit vor. “Das stimmt. Aber wir sind nun Freunde.”, lächelte der Kleine in der viel zu großen Weste aus dem verlassenen Sägewerk. Er wirkte so unbeschwert, wie ein wahrhaftiges Kind. Und gleichzeitig waren seine Erscheinung und seine Aussagen so verquer und rätselhaft. Man würde wohl nie ganz schlau aus ihm werden. Dennoch war Anna sehr froh darüber ihn zu sehen. Auch sie lächelte nun allmählich und ehrlich. “Also, wo gehen wir hin?”, wollte Lin erwartungsvoll und mit vorfreudig glänzenden Augen wissen. Kapitel 15: Besser Korn im Blut als Stroh im Kopf ------------------------------------------------- Rogne war ein verschlafenes Dorf inmitten der Berge. Wenn man hier auf dem Hügelchen inmitten des kleinen Ortes stand, konnte man, wenn man gen Westen sah, sogar den Hafen von Kaer Trolde sehen. Das war weit. Dafür, dass es Frühsommer war, war es hier oben zudem relativ kühl und während die Menschen unten, am Pier, bestimmt schon kurzärmlige Hemden trugen, hüllten sich die Rogner noch immer in ihre zotteligen Fellwesten und in dicke Mäntel aus gekämmter Wolle. Von den Berggipfeln blies ein frischer Wind herab und man konnte den frischen Schnee buchstäblich riechen. Ansonsten war das Wetter aber sehr schön, der Himmel kaum wolkenverhangen und klar. Irgendwo plapperten zwei betagte Waschweiber, die dreckige Hosen über schäumende Waschbretter zogen, die in breiten Wassertrögen lehnten. Woanders schlugen zwei Jungspunde mit dicken Stöcken aufeinander ein, als seien diese Schwerter und sie selbst grölende Vildkaarle. Und aus der Taverne konnte man jemanden fröhlich hüpfende Flötenmelodien spielen hören. Ja, Rogne war in der Tat lauschig. Doch vermutlich trog der Schein auch nur, denn die Anschlagtafel des Dörfchens war voll. So voll, dass man das verwitterte Holz darunter kaum noch sehen konnte. “Meine Fresse.”, fiel Hjaldrist dazu nur sehr erstaunt ein und er beugte sich vor, um die schiefe Tafel zu betrachten. Er hielt Apfelstrudel am Zügel und trug den schweren Rucksack nach wie vor am Rücken. Sie waren gerade erst angekommen. Es war kurz nach Mittag und der Geruch nach fettem Braten und süßlichem Sauerkraut lag in der Luft. “Das sind viele Zettel für so ein kleines Dorf.”, bemerkte Anna, die voll bepackt neben ihrem Kumpel stand. Kurt haschte mit der samtigen Pferdeschnauze nach ihrem Kragen und schnaubte ihr dabei warm in den Nacken, doch die Frau störte sich nicht daran. “Das letzte Mal, als ich hier war, sah das Brett wesentlich leerer aus…”, murmelte Rist nachdenklich weiter und machte sich daran einen der verwaschenen Anschlagzettel vorzulesen “‘Halvurth Thjorn ist ein Ziegendieb. Man sollte seinen Stall anzünden!’” Wie passend für ein Kaff, wie diesem hier. Anna musste leise lachen. “‘Den besten Mjodr gibt es bei Frau Antonia. Nur solange der Vorrat reicht!’”, las Hjaldrist weiter “‘Sef lädt jeden zehnten Tag im Monat zum Gwent-Turnier im ‘Hochblick’. Tolle Preise zu gewinnen! Darunter: Ein Metkrug aus purem Silber, zwei Flaschen von Antonia’s Mjodr und zehn Gläser gepfefferter Heringsmarmelade.’” Die kurzhaarige Alchemistin aus dem Norden horchte auf und kam näher, warf nun ebenso einen genaueren Blick auf den Aushang bezüglich des Kartenspielturniers. “Da muss ich mitmachen!”, entkam es ihr begeistert und der Jarlssohn in der grünen Tunika schmunzelte wissend. Natürlich hatte er sich schon gedacht, dass sich seine Freundin für solch ein Turnier begeistern lassen würde. Schließlich liebte sie Gwent. “Hm, ‘Hochblick’? Ist das wohl die Taverne?”, sprach Anna mehr zu sich selbst, als zu ihrem Begleiter. Dennoch antwortete Rist mit einem zustimmenden Brummen. “Welchen Tag haben wir heute?”, hakte sie nach und sah auf. “Keine Ahnung. Als ich das letzte Mal nach Drakensund aufgebrochen bin, war Mittwoch.” “Aha...”, machte Anna daraufhin langgezogen und wenig überzeugt. Hjaldrist war ja wirklich eine große Hilfe. Sie musste verhalten grinsen. “Hier, schau. Da will jemand Endriagen loswerden.”, Rist lenkte das Thema wieder auf das morsche Schwarze Brett und riss sich einen der angenagelten Zettel davon herunter, zeigte ihn seiner Gefährtin. “Das ist dann ja wohl ganz dein Ding, Käferschubser.”, kommentierte die und nahm das Papier mit der Unterschrift der ‘Bürgervertretung Rognes’ an sich. Hjaldrist las ohne weiteren Kommentar weiter. “‘Danket Freya, denn sie hat unserer Bäckersfrau gesunde Drillinge beschert! Das Frisch-Eltern-Fest findet am Achtzehnten statt.’”, murmelte der Undviker und kniff die Augen etwas zusammen, um die kleine Schrift eines weiteren Zettelchens lesen zu können “‘Die Hexe hat nun auch Ullan Artjesson verzaubert. Wer wird der nächste Stein sein?’” Geduldig lauschend wartete Anna ab. “Und hier beschwert sich einer der Imker über einen Bären, der seine Bienenstöcke nicht in Ruhe lässt…”, sinnierte der Krieger weiter und steckte Anna einen weiteren, halb zerknitterten Zettel zu. “Perfekt.”, meinte die Frau nur noch. Es schien, als würden sie beide in nächster Zeit wieder gut Geld verdienen. Und das hatten sie auch nötig, denn sie waren momentan so arm, dass sie heute sicherlich nicht in der hiesigen Taverne übernachten könnten. Sie müssten also das Zelt aufschlagen, das Anna schon seit Monaten mit sich herumschleppte. Die gewitzte Kurzhaarige hatte es damals in Temerien geklaut. Und zwar während dessen volltrunken schnarchender Besitzer darin geschlafen hatte. Eine sehr amüsante Geschichte, die den Betrug beim Würfelspielen, das gnadenlose Abziehen einer Hexerstochter, die man im Suff als ‘Schlampe’ bezeichnete, und sehr viel Zechprellerei beinhielt. Anna erinnerte sich ganz gern mit unverhohlener Schadenfreude daran zurück. Aber wie auch immer. Immerhin hatte sie jetzt ein eigenes Zelt in Blau und Weiß. Und es war groß genug, dass auch Rist mit darin übernachten konnte. Schließlich hatten sie beide ja keine Platzangst. Wahrscheinlich würde sogar noch Lin mit in das Zelt passen, sollte er dies denn wollen. Aus dem Augenwinkel linste die Novigraderin zu dem leise summenden Göttling hin, der auf Apfelstrudel saß. Während der kurzen Reise nach Rogne hatte er zumeist hinter Rist am Pferd gesessen. Ab und an war er dann gelaufen, war zwischen dichten Büschen und Bäumen verschwunden, nur, um wenige Minuten später weit vor den zwei Abenteuern aufzutauchen, zu lachen und ihnen zuzuwinken. Lin war, was dies anging, ein unkomplizierter Begleiter und obwohl er an und für sich ein seltenes Waldwesen übernatürlicher Natur war, fiel es einem unglaublich einfach ihn schnell als normalen Wegbegleiter zu betrachten. Wenn man denn von seinem auffälligen Äußeren absah, verstand sich. Gerade eben, da saß er gut gelaunt in Rist’s hartem Sattel und flechtete weiße Margeriten zu einem Kranz zusammen. Der Göttling ging vollends darin auf. “Lin.”, Anna sprach den Besagten direkt an und der Kleinere blickte fragend auf, hielt mit dem Blumenflechten inne “Willst du uns mit in das Dorf begleiten?” Der Göttling legte die Stirn daraufhin in Falten und schien zu überlegen. “Ist es lustig dort?”, wollte er wissen und die Hexerstochter schnaubte amüsiert. “Keine Ahnung. Mit genug Alkohol bestimmt.”, meinte die Schwertkämpferin mit einem vielsagenden Unterton in der Stimme und mit berechnenden Augen, die gen Hjaldrist wanderten. Dieser Kerl hatte ihr doch diesen Algenwein, Mjodr, aufdrängen wollen. Der Skelliger verstand den rätselhaften Blick von Anna und grinste wissend. “Alkohol mag ich nicht!”, sagte Lin “Ich mache solange andere Sachen!” “Gut, gut…”, Anna nickte. Es war ihr so und so lieber, wenn sich der Göttling vor Fremden versteckte. So, wie es Wesen, wie er, normalerweise auch taten. Denn bestimmt war die Bevölkerung Rognes eigen und der Lage des Ortes nach eher konservativ. Man musste sich ja nur einmal das Schwarze Brett ansehen, auf dem ein Ziegenhirte dazu aufrief den Stall eines anderen anzuzünden! Solche Mistgabel-schwingende Hinterwäldler scheuten sicherlich nicht davor zurück ein ihnen unbekanntes Waldungeheuer in Brand zu stecken, dabei zu schreien es sei irgendein fürchterliches Monster und mit heiliggesprochenen Amuletten um sich zu werfen. Ja, besser, Lin hielt Abstand. Anna sah, wie der kleine Göttling vom schnaubenden Apfelstrudel glitt und federleicht auf den beschuhten Füßen landete. Er lächelte breit und setzte sich seinen fertigen Margeritenkranz auf das langhaarige Haupt. “Ich suche mir etwas Lustiges zum Spielen.”, verkündete der Waldbewohner noch, als sei er ein Kind, das vorhatte sich mit seinen Freunden zu treffen, um zusammen in tiefe Regenpfützen zu hüpfen oder Verstecke im Dickicht zu bauen. Genauso locker, wie der Kleine zuvor von Apfelstrudel gekommen war, verschwand er dann. Er würde in der Nähe bleiben und wieder auftauchen, sobald Hjaldrist und die Novigraderin das Dorf verlassen würden, das war sicher. Nachdem der Göttling die letzten Monate über abgewartet hatte, dass seine Freunde von Drakensund zurückkämen, bestand dahingehend kein Zweifel. Die Taverne von Rogne war weder sonderlich voll, noch war sie groß. Der Schankraum, in dem die Luft unangenehm dick stand, war halb so breit, wie der in Blandare es damals gewesen war und sicherlich gab es hier, wenn überhaupt, nur wenige Mietzimmer. Dennoch wirkte der Wirt hinter dem Tresen sympathisch. Sef hieß er dem Schwarzen Brett zufolge. Er war ein rauer Skelliger mit blanker Glatze, schwarzem Bart und einer sauberen Kochschürze. Vermutlich schenkte er also nicht nur aus, sondern kümmerte sich auch um das Essen. Bedienstete schien er jedenfalls nicht zu haben und von einer Frau, die dabei half den muffigen Laden zu schmeißen, fehlte weit und breit auch jede Spur. Mit irgendeinem Gruß im skelliger Dialekt hatte der Mann Rist begrüßt und nickte jetzt auch Anna freundlich zu. Er schien für dieses Kaff hier erstaunlich offen und nett zu Besuchern zu sein. “Kann ich euch etwas anbieten? Es gibt Hackbraten und Sauerkraut.”, kündigte der gepflegte Wirt an und Anna spürte sich ob dieser Frage ein wenig betreten. Sie müsste erst in ihrer kargen Geldkatze kramen, um nachzusehen, ob sie sich denn solch ein gutes Essen leisten könnte. Wahrscheinlich nicht. Und am Ende würden sie und Hjaldrist wohl oder übel am mitgegebenen Proviant von Adlet herumkauen müssen: An zäh gewordenem Brot mit gesalzenem Heringsaufstrich oder irgendwelchen getrockneten Pilzen zum Beispiel. Urgh. “Ähm, also-”, fing die peinlich berührte Hexerstochter an, doch der Wirt, der für einen Mann seiner Profession eines der schlankeren Exemplare war, lachte nur. “Es geht aufs Haus.”, meinte er als sei dies verständlich. Anna blinzelte positiv überrascht und verstand zunächst nicht. Dann warf sie einen irritierten Blick gen Rist, der im Gegensatz zu ihr nicht ganz so perplex wirkte. Denn er lächelte zufrieden. “Sehr freundlich, danke.”, gab der Krieger mit der Familienaxt dem Wirt zurück. “Ach, es ist das Mindeste. Sucht euch einen Platz aus. Ich bringe euch das Essen sofort…”, und mit diesen Worten verschwand der Ältere vorerst, um in seine spartanische Küche zu gehen aus der es verführerisch duftete. Drei Kerle betraten im Hintergrund die kleine Taverne, taxierten die zwei Neuankömmlinge misstrauischen Blickes, doch wendeten sich dann ab, um sich nieder zu lassen. Der Flötenspieler in dem roten Wams gab noch immer seine Lieder zum Besten. Schade, dass niemand sang. “Ähm.”, fiel es Anna zum Verhalten des Wirtes nurmehr ein und sie wollte Antworten “Rist...?” Der Angesprochene grinste nahezu überlegen, doch nicht arrogant. Eher wissend und in einem stummen Triumph. Noch immer lehnte er sich an die schmale Tresenkante, was lässig wirkte. “Als ich das letzte Mal hier war, habe ich den Tavernenboden aufgewischt.”, erzählte er stolz. “Oh.”, machte Anna und ihre Miene klärte sich allmählich wieder “Und lass mich raten: Mit irgendwelchen zwielichtigen Typen” Hjaldrist nickte schnell. Natürlich. “Es war ein ruhiger Abend. Dann tauchten vier besoffene Arschlöcher auf, die auf Stunk aus waren. Sie haben ein paar Leute angepöbelt und wollten einem Mädel aus der Nachbarschaft die Finger brechen, da wurde es mir zu viel und ich habe dafür gesorgt, dass sie das Weite suchen.”, sagte der gutmütige Jarlssohn weiter und Anna zweifelte nicht an der Richtigkeit seiner Worte. Sie wusste nämlich, wozu ihr Kumpel in der Lage war. Sie hatte ihn schon oft genug in Aktion gesehen. Neben seiner, naja, beachtlichen Durchschlagskraft war der Mann außerordentlich und auffallend kühn. Manchmal schon fast zu mutig. Er dachte nicht lange nach und war stets davon überzeugt alles zu schaffen. Jemand wie er stürzte sich NATÜRLICH in einen Kampf gegen vier andere, vermutlich viel größere, Typen und gewann dabei. Denn wer es schaffte gepanzerte Endriagen umzuschubsen, der warf auch irgendwelche trunkenen Raufbolde durch einen stickigen Schankraum. Anna musste schmunzeln, ihre Miene erhellte sich vollends. “Suchen wir uns einen Platz.”, schlug sie vor und erinnerte damit an die Worte des gastfreundlichen Wirtes des ‘Hochblicks’ “Ich würde gerne meinen Rucksack loswerden.” Und das taten die Vagabunden dann auch. Sie fanden einen kleinen Tisch in einer der Schänkenecken und ließen sich dort nieder, nachdem sie ihr Gepäck abgelegt hatten. Der Wirt nahte ebenso bald und tischte das Essen auf, auf das sich Hjaldrist und Anna sogleich hungrig stürzten. Der dampfende Braten schmeckte und die Portion war unglaublich groß. Die ausgezehrte Nordländerin im Bunde, die sich nicht die Mühe gemacht hatte sich abzurüsten, schaufelte sich das Sauerkraut, das mit wenigen Wacholderbeeren gespickt war, in den Mund und murmelte irgendwelche unverständlichen Worte, die zum Ausdruck bringen sollten, dass es ihr sehr schmeckte. Klar. Sie hatte die letzten Monate über auf einer einsamen Druideninsel gelebt und sich dabei von Körnerkram, Blätterzeug und Scheißgemüse ernährt. Kartoffeleintopf mit etwas Wurst darin war zu dieser Zeit schon das Höchste der Gefühle gewesen. Ein Hackbraten mit deftiger Soße, Kraut und Salzkartoffeln war also ein Traum. “Vergiss nicht zu atmen, Anna.”, warf Rist kritisch ein. Er hatte kaum damit angefangen zu essen, da hatte seine eigentlich relativ schlank gebaute Gefährtin schon ihren halben Teller leer. Ja, wenn ihr Magen knurrte und es dazu auch noch sehr schmeckte, lief sie zu Höchstformen in der Kunst des Viel-auf-eine-Gabel-bekommens auf. Arbeiter mit Spaten und Schaufeln waren ein Dreck dagegen. Tischmanieren? Die konnte man weit und breit suchen, man fand sie nicht. “Ich atme.”, murrte die konfrontierte Novigraderin ohne vorher hinunter zu schlucken und verlor dabei beinah einen Happen Hack mit Zwiebeln. Rist verkniff sich ein ungläubiges Auflachen und zermatschte ein paar Kartoffeln in seiner fettigen Bratensoße. Der Flötenspieler spielte ein Lied, das Anna schon einmal irgendwo gehört hatte, aber nicht einordnen konnte, und der Wirt näherte sich mit zwei schäumenden Humpen voller Bier. Er stellte sie den zwei Abenteurern auf den massiven Holztisch und fragte ob es denn schmecke. Und während Hjaldrist bloß ehrlich nickte und dankend nach seinem dunklen Bier fasste, um seinen Durst zu stillen, entkam dem Fressschlund Anna ein “Au ja. Wie der Himmel!” Der Wirt, der das Kompliment durchaus verstand, lächelte breit und zufrieden. Bis zum Abend war es, wie nicht anders zu erwarten, ruhig. Rist und Anna hatten ein paar Informationen über die Aufträge bezüglich der Endriagen und dem honigsüchtigen Bären des Ortes eingeholt. Und während sich Ersterer um die Pferde und seine Ausrüstung gekümmert hatte, hatte sich Zweitere die Beine vertreten und den örtlichen Markt besucht. Wenn man es denn als Markt bezeichnen konnte, denn er bestand aus lediglich vier kleinen Ständen. Dennoch hatte die Novigraderin ein paar Sachen für sich gefunden: Neue, kleine Fläschchen für Tränke, drei neue Hemden, damit sie nicht mehr die ihres Freundes tragen müsste, und drei Wollknäuel in Rot, Blau und Grün. Diesmal hoffentlich auch echte, die nachts nicht zu Asche und Staub zerfallen würden. Denn ja, sie häkelte noch immer gern und ihr war beizeiten schon mal langweilig. Besonders abends im Bett, auf langen Ritten oder wenn es einfach einmal gar nichts zu tun gab. Oh ja, dieses Mal, da würde Anna es wirklich wieder angehen irgendetwas aus Wolle zu zaubern. Und wenn es auch nur irgendein Blödsinn war. Immerhin half die Handarbeit ihr dabei etwas abzuschalten. Und vielleicht bräuchte Hjaldrist, so wie auch sie, ein paar neue, gute Socken? Oder einen Schal vielleicht? Nach Sonnenuntergang saßen die zwei Umherziehenden dann wieder im kleinen, alten Schankraum Rognes und unterhielten sich über ihren Tag. Zwar war der sehr ereignislos verlaufen, doch das machte nichts. Morgen, da würden sie nämlich sehr früh die Endriagen-Sache erledigen und wenn dann noch etwas Zeit bliebe, dann würden sie auch noch den Braunbären suchen, der dem hiesigen Imker das Leben schwer machte. Es stand also einiges an Arbeit an. Besser, sie ruhten sich heute noch aus und genossen den Abend. Ihre Reise war, obwohl sie nicht länger als bis zum frühen Nachmittag gedauert hatte, anstrengend gewesen. Und Anna steckte noch immer das starke Schlafmittel im Blut, das sie sich auf der Dracheninsel gebraut und in einem Zug ausgetrunken hatte. Die Novigraderin gähnte hinter einer vorgehaltenen Hand und betrachtete die Karten in der anderen. Sie zögerte etwas, legte Gaunter O’Dim ab, spielte daraufhin drei Finsternis-Karten aus und lehnte sich zufrieden schmunzelnd zurück. “Ich habe gewonnen.”, kommentierte sie ihren Zug überflüssigerweise mit einem frohlockenden Unterton in der Stimme. Ihr Gwent-Gegenspieler, der feiste Schuster des Dorfes, schnaufte pikiert und sah grimmig drein. “Also schön.”, gab er sich geschlagen “Du hattest Glück.” Anna lachte kurz auf. “Glück? Nein, das ist Können.”, grinste sie. Sie freute sich nicht nur des Gewinnens wegen über ihren Sieg, sondern auch wegen der Tatsache, dass der anwesende Schuhmacher ihre ramponierten Stiefel morgen reparieren würde. Das war sein Einsatz gewesen. Hätte die Novigraderin verloren, hätte sie ihr Schwert hergeben müssen. Dies war ein Preis, den sie nur deswegen vorgeschlagen hatte, um den Schuster zu ködern. Und weil sie gewusst hatte, dass sie nicht verlieren würde. Ja, nie im Leben würde sie ihr Stahlschwert aus der Hand geben! Balthar hatte es ihr geschenkt, nachdem sie Onkel Jaromir mit siebzehn Jahren in einem kleinen Duell besiegt hatte. Jaromir war dabei zwar stockbesoffen gewesen, nicht so ganz bei der Sache und unbewaffnet, aber der Sieg galt trotzdem. Anna’s Bastardschwert war ihr also heilig, denn es war nicht nur eine Waffe, sondern auch ein Memento an gute, alte Zeiten. “Ja, ja, ja, komm morgen einfach vorbei.”, grummelte der Stiefelmacher vor sich hin und die Novigraderin nickte schnell. Dann ging der Mann und sie sah ihm erheitert nach. Ihre Augen wichen bald fort von dem schlechten Verlierer, durch den Tavernenraum. Er war im Vergleich zu heute Mittag gut gefüllt und viele Leute waren jetzt schon betrunken. Dabei war die Nacht noch jung. Der Flötenspieler von früher war fort und an dessen Stelle waren drei herzliche Kerle getreten, die irgendwelche Volkslieder Skelliges tönten. Mit erhobenen Krügen und viel Geschunkel besangen sie irgendeinen Typen namens Hemdall und johlten etwas über dessen goldenen Hahn, der Kambi - oder so ähnlich - hieß. Bescheuert. Anna verstand die Worte der rauen Männer mit den Fellmänteln nur schwer. Der Akzent Skelliges schien umso härter und markanter zu werden, desto höher man auf die Berge der Inseln stieg. Das hieß, dass Anna die Rogner kaum noch verstand, wenn sie sehr schnell redeten. Gut, dass sie den guten Hjaldrist dabeihatte, denn der hatte da natürlich kaum Probleme. Der Besagte lehnte gerade am Schanktresen und unterhielt sich mit irgendeinem anderen Gast des ‘Hochblicks’. Er gestikulierte dabei, trank immer wieder etwas aus seinem Becher und haute auf die abgegriffene Thekenablage. Dann machte er ein hartes Gesicht, lächelte ernst und etwas schief, nickte in die Richtung seiner Freundin. Der Gesprächspartner des Undvikers sah sofort her und wirkte verblüfft. Oh je. Anna sah gescheucht fort und machte sich daran ihre Gwent-Karten vom Tisch zusammen zu klauben. Was hatte Rist schon wieder vor? Sie würde es herausfinden, denn der Fremde kam Momente später schon auf die Frau zu und stützte sich vor ihr auf der Tischablage ab. Anna sah auf. Mit ihrem Monster-Kartendeck in den Händen musterte sie Hjaldrist‘s neuen… Freund. Oder wer auch immer der Typ mit den rotblonden Haaren war, der sie so interessiert anstarrte. Rist trat sogleich neben den Kerl mit dem Vollbart und schenkte Anna einen unsagbar bedeutsamen Blick, den sie nicht so recht zu deuten wusste. “Du bist also eine Hexerin.”, sagte der Rotblonde mit den Sommersprossen auf der Nase atemlos, als sei diese Aussage eine Feststellung und keine Frage. Hjaldrist schwieg vorerst, setzte sich gemächlich seiner Kollegin gegenüber hin und stellte sein Trinkgefäß ab. Er schmunzelte in sich hinein, als Anna die Stirn krauszog. Sie sah dem fremden Skelliger weiterhin skeptisch entgegen und öffnete schon die Lippen, um etwas zu sagen, da kam ihr jener zuvor. Und, bei Melitele, klang er vielleicht geschäftig! “Dein Freund hat es mir gesagt und gemeint, dass ihr uns helfen könntet.”, entkam es dem Rotschopf und seine graugrünen Augen durchbohrten Anna auffordernd, hilfesuchend. Der noch nicht so recht begeisterten, unschlüssigen Novigraderin standen die Lippen einen kleinen Spalt weit offen und sie wusste zunächst nicht so recht, was sagen. Normalerweise, da war sie recht schlagfertig. Doch dass Rist hier scheinbar herumerzählte, dass sie eine Hexerin sei und die Leute dann auch noch hilfesuchend auf sie zu kamen, anstatt angewidert auszuspucken, brachte sie dezent durcheinander. Es verblüffte sie. So kannte sie das aus den Nördlichen Königreichen nicht. Und außerdem- Anna spürte einen leichten Tritt gegen ihren Unterschenkel und verkniff sich ob dem ein Ächzen. Hjaldrist schubste ihr Bein unter dem Tisch mit der Stiefelspitze an und das auffordernd. Hätte sie nun zu dem aufgeregten Undviker hingesehen, hätte der wohl auffällig drängend zu dem Rotblonden hin genickt, um seiner Freundin anzudeuten schnell etwas zu sagen. “Ähm. Und Ihr seid…?”, fragte Anna ohne ihren besten Freund weiter zu beachten. Ihre Aufmerksamkeit blieb an dem nach wie vor stehenden Skelliger kleben. “Oh!”, machte jener und seine Worte überschlugen sich vor Aufregung fast “Ich bin Furian Artjesson. Ich, uhm, bin nur ein gewöhnlicher Mann aus Rogne. Und ich… ich habe einen Vorschlag. Nein, eine Bitte. Es geht um, naja, eine unangenehme Angelegenheit. Ihr seid eine Hexerin. Und solche Leute beseitigen Unannehmlichkeiten.” Die Novigraderin, ihrerseits Vagabundin, Trankmischerin und Anhängerin des gepflegten Monster-Verprügelns, räusperte sich und ließ die Erklärungen über ihre Identität oder Profession aus. Sie setzte sich etwas gerader hin. “Und ich bin Anna.”, meinte sie “Wir können uns auch duzen.” Während Hjaldrist den Wirt heran winkte, um etwas zu bestellen, das sehr nach Wein mit Algen klang, bat die Novigraderin Furian darum sich ebenso zu setzen. Sie wartete ab, bis jener das tatsächlich getan hatte, denn sie konnte es nicht sehr leiden von oben herab angestarrt zu werden. Etwas nervös ruckelte der sommersprossige Skelliger nun neben Hjaldrist herum und sah aus, als fände er keine bequeme Sitzposition. Das war Anna egal. “Ich nehme an, mit ‘Unannehmlichkeiten’ meinst du irgendwelche Mistviecher, Furian.”, mutmaßte sie. Der Angesprochene nickte zögerlich. “Ja… ja… aber es ist nicht so einfach.” “Geht es um die Endriagen oder den Bären? Die knüpfen wir uns morgen nämlich schon vor.” “Nein… viel schlimmer. Oh, Weltenschlange, hilf…”, seufzte der Mann und sah unruhig um sich. Der bärtige Wirt brachte einen bauchigen Krug und drei Becher aus gebranntem Ton. Seelenruhig schenkte der großzügige Rist dann eine dunkelrote Flüssigkeit in letztere ein. Bis zum Rand machte er sie voll. “Ich höre.”, sagte Anna und sah ihrem Lieblings-Jarlssohn im Augenwinkel weiterhin dabei zu, wie er mit spitzen Fingern irgendetwas Längliches, Schlabbriges aus dem Weinkrug fischte und es in einen der Becher gab. Das wiederholte er auch gönnerhaft für die beiden anderen Tongefäße. Leicht rümpfte die Novigraderin die Nase, als sie das bemerkte, doch ermahnte sich im Innern dazu Furian aufmerksam zuzuhören. Sie räusperte sich leise und schenkte die ungeteilte Aufmerksamkeit erneut dem Besagten. “In der Nähe… da gibt es einen See. Einen Bergsee. Es ist der mit unseren Badehütten. Es ist ein recht großer See und die Schwitzhäuschen, die sind recht bis vor einiger Zeit noch gut besucht gewesen.”, murmelte Furian verstohlen und kaute sich dabei nervös an der Nagelhaut herum. “Gewesen?”, hakte Anna nach. “J-ja. Denn in dem See, da haust nun eine Hexe. Oh, und diese Widerliche verzaubert alle, die zu dem See kommen.”, murmelte Furian und seine Stimme wurde immer brüchiger. Anna verengte die Augen prüfend. “Sie verzaubert alle? In was?”, fragte sie, obwohl sich die Geschichte in ihren Ohren eher wie irgendeine Spinnerei von Bauern anhörte. “In Steine.” “In Steine?” “In kleine Steine, ja. Und dann schnippt sie sie in den See und sie sinken bis auf den Grund, kommen nie mehr wieder. M-meinem Cousin Ullan ist das passiert. Er- oh…”, seufzte der Rotblonde und senkte den Kopf weit und traurig. Rist schob ihm schweigend einen der Algenwein-Becher zu. Furian bedankte sich kleinlaut. “Und woher weiß man, dass ‘Leute in Steine verwandelt werden und auf den Grund des Sees sinken’?”, wollte die kluge Monsterkundige weiter wissen. Sie blieb kritisch und achtete nicht auf irgendwelche Schicksale irgendwelcher Ullans. Tja. Hatte sie zuvor noch geglaubt, der Rogner hier erzähle Gewäsch, so hielt sie ihn nun auch noch für ganz schön abergläubisch. Eine Hexe, die in einem See saß und Leute zu Kieseln machte, um sie zu versenken, machte keinen Sinn. Eher hauste bei dem besagten Bergsee eine Kälpi, die Streiche spielte, eine boshafte Najade, die Unwissende in den Tod lockte, oder dort waren sonst irgendwelche Wesen, die die Menschen Rognes einfach so angriffen. Hier auf Skellige gab es schließlich genug Ungeheuer, die ihr Unwesen trieben, nicht? Es musste keine sagenumwobene Hexe sein. Es war sicherlich viel, viel simpler. “Ich weiß das, weil die Leute verschwunden sind. Und der Bürgerrat hat auch gesagt, dass es eine Hexe ist.”, schniefte Furian und nahm einen Schluck des spendierten Weines “Ach, Ullan…” “Mhm. Es gibt also keine Leichen.”, stellte Anna fest. Der Mann mit dem Vollbart, der keinen Hehl aus seiner Gefühlswelt machte, nickte kraftlos und trank mehr. “Und auch sonst fand man keine Hinweise? Es gibt keinerlei Anhaltspunkte?”, fragte Anna und Furian schüttelte den Kopf, woraufhin die burschikose Monsterjägerin einen Blick zu Rist hinwarf, der ihr ebenfalls einen Becher reichte. Sie nahm ihn entgegen, doch trank nicht und stellte ihn erst einmal fort. “Wir können uns die Sache mit dieser… Hexe gerne mal ansehen.”, meinte Anna nach einer kurzen Kunstpause. Aufmerksam sah sie das Häufchen Elend am Tisch an. Jenes hob den schweren Kopf nun und horchte auf. Ein hoffnungsvolles Funkeln mischte sich in die glasigen Augen Furians. “Wirklich?”, entkam es ihm hoffnungsvoll. “Wir machen es aber nicht umsonst. Wenn eure Hexe wirklich so gefährlich ist, dann gibt es für uns ein enormes Risiko, weißt du. Und der Aufwand, um sie zu verscheuchen, ist genauso groß. Ja, was, wenn sie auch uns in Steine verwandelt und auf den Seegrund schickt?”, Anna’s letzter Satz klang nahezu spöttelnd; als spräche sie mit einem dummen Kind. Furian schien dies entweder nicht aufzufallen oder er überhörte es, weil er sich zu sehr darüber freute, dass sich jemand seiner Probleme annahm. “Ja… ja, ich verstehe! Ich bin mir sicher, dass euch der Bürgerrat Rognes eine Belohnung gibt! Oh, bitte bringt Ullan zurück und entzaubert auch die Anderen!”, bat der Kerl. “Ich kann nichts versprechen. Wie viel würde der Bürgerrat denn bezahlen, Furian?” “Ich weiß nicht. Oh, aber i-ich kann mit dem Vorsitzenden sprechen und wir sammeln Geld. Schließlich… geht es um Menschenleben. Und um unsere guten Badehäuser. Ja, ich werde mit Waltjorn sprechen! G-gleich jetzt! Oder morgen Früh! Bitte reist nicht ab!”, urplötzlich voller Elan erhob sich der Rotblonde, obwohl er seinen Wein noch nicht einmal zur Hälfte ausgetrunken hatte. Er stieß sich dabei rumsend das Knie an, verschwand daher leicht hinkend und dennoch flott. Anna sah ihm eigenartig nach. “...Was hast du uns da nur angelacht?”, fragte die braunhaarige Frau trocken und an Hjaldrist gerichtet. Ihre Mundwinkel verzogen sich schleppend zu einem belustigten Ausdruck und gern hätte sie sich die Hand an das Gesicht geschlagen. Die singenden Männer nebenan waren bei skelliger Lobgesängen über wackelnde Ärsche von Milchmägden angekommen. “Es bringt Geld, oder nicht?”, verteidigte sich Rist glucksend. “Wetten, bei diesem See kreuchen nur ein paar Ertrunkene herum, die die Leute fressen?”, fragte die untertreibende Kriegerin weiter und sah jetzt von der Tür, durch die Furian verschwunden war, fort, um zu ihrem abwartenden Begleiter zu blicken. “Wahrscheinlich. Oder sonst irgendwelches Getier. Das Ganze ist also eine einfache Aufgabe, wenn du mich fragst.”, brummte der Schönling und hob seinen Becher an “Prost!” “Mahlzeit.”, gab Anna auf den Toast hin trocken zurück und stieß ihren Tonbecher geräuschvoll an den ihres Kumpans. Dann trank sie. Der dunkle Wein mit den eingeweichten Algen darin schmeckte unerwartet gut. Oh ja, er war mit Honig und Gewürzen verfeinert und richtig lecker. Und nicht nur das. Er war auch noch ganz schön stark, denn es schien so, als mischten die Skelliger in den Mjodr nicht nur allerhand Gewürze und Meeresgewächse, sondern auch Hochprozentigen. Rist hatte gemeint, es sei Korn. Der, in Kombination mit dem Zucker des Honigs, stieg einem schnell zu Kopf. Auch dann, wenn man davor einen dicken Hackbraten mit Soße, Kraut und Kartoffeln verspeist hatte. Also dauerte es keine zwei Stunden, bis Anna nurmehr nuschelnd sprechen konnte. “Wir warn alle schon längst fertig. Ja, und wir wolltn los. Balthar hatte aber verschlafn…”, Anna gestikulierte mit ihrem halbvollen Tonbecher, dass der Wein nur so schwappte, und ihre Zunge war locker “Also hamm wir uns nen Spaß erlaubt.” “Was fürn Spaß?”, Hjaldrist lehnte sich über den breiten Tavernentisch etwas vor und sah seiner in lustigen Erinnerungen schwelgenden Freundin gespannt entgegen. Sein dezent dämmriger Blick zeugte, so wie die schlampige Aussprache der Novigraderin, dafür, dass er auch nicht mehr ganz so nüchtern war. “Also, ich bin hoch, in sein Zimmer, wo er am Schnarchn war.”, lallte die Kurzhaarige weiter und lachte leise “Und dann hab ich herum gebrüllt, gefuchtelt und gemeint, dass die Wilde Jagd im Hof stehn würd. Du glaubst ja gar nich, wie schnell Balthar da wach war.” Rist haute lachend auf den Tisch. “Er lief nur in Bruche gekleidet runter und hatte dabei sein Schwert in der Hand. Die Andern hamm sich bei dem Anblick schlapp gelacht, das sag ich dir.”, grinste Anna breit und trank den Rest ihres Mjodrs in einem Zug aus, knallte den Becher dann auf den Tisch und gab einen zufriedenen Laut von sich. Sie blinzelte etwas benommen, doch es ging ihr gut. Richtig gut. Morgen, da würde sie das kleine Saufgelage mit ihrem Kumpel der Inseln bereuen, doch gerade eben dachte sie nicht im Entferntesten daran, dass sie zeitnah mit einem mords Kater aufwachen würde. “Er wollt in Unterhosn gegen die Wilde Jagd kämpfn?”, gluckste der genauso betüdelte Jarlssohn und schenkte ihnen beiden ordentlich was nach. Es war schon die fünfte Runde und mittlerweile schmeckten Anna auch die salzigen Algen, die in dem skelliger Weingesöff herumschwammen, wie kleine Aale in trübem Gewässer. “Jupp.”, schmunzelte die Frau und bedankte sich nickend für den frisch gefüllten Becher. “Hier in Skellige sagt man ja, dass die Wilde Jagd aus Mörhogg kommt. Auf nem Schiff namens Naglfar.”, erzählte der wissende Mann und nahm einen Schluck seines gewürzten Getränks “Und dann beginnt Ragh nar Roog, das Weltenende.” “Ha, ihr habt hier ganz schön komische Namen für alles Mögliche, weißt du das?”, stellte Anna unverhohlen fest, grinste dabei amüsiert und sah Hjaldrist über ihren Becherrand hinweg an “Bring mir mal was dadrin bei. Irgendwas Lustiges und keinen Kram über Tod und Verderben und Rag-... Ragnrogg. Oder, nein, warte!” “Hä?” “Du kannst doch sicher so… elfische Sachen sagen. Weil du ja ne Oma mit spitzn Ohrn hast.” “Aye.” “Ich will darin was sagen können!” “Hm.”, Rist kratzte sich auf die Forderung hin kurz nachdenklich am unrasierten Kinn. Dann gab er locker ein ‘Hael’ von sich. Anna runzelte die Stirn und legte den Kopf einen Deut weit schief. Hä? “Das bedeutet so viel, wie ‘Prost’.”, übersetzte der Undviker das Wort in Alter Sprache sogleich und die Miene seiner Kumpanin klärte sich. Dämlich lächelnd hob sie den Becher an, um mit Rist anzustoßen. “Hel.”, wiederholte sie halbrichtig und der Skelliger gab sich belustigt. “Und wie flucht man bei dir zuhaus, hm?”, wollte Anna, sich fast verhaspelnd, wissen. Natürlich wollte sie das. Wer wäre sie denn, wenn nicht? Sie fluchte gerne. “Äh.”, Rist’s Haare wirkten schon die ganze Zeit über etwas wirr, was ihm den Anschein verlieh gerade erst aus dem Bett gekrochen zu sein. Es störte ihn nicht, denn er hatte Wein. Viel Wein. Und die Stimmung im Schankraum war zudem ausgelassen. “Anna caen me a'baeth aep arse.”, sagte er dann und erklärte gleich breit grinsend: “Anna kann mir den Arsch küssen.” Nun brach die viel zu leicht zu unterhaltende Novigraderin erst recht in schallendes Gelächter aus und verschüttete dabei beinah ihren süß-salzig riechenden Mjodr. Schimpfen auf Elfisch! Glorios! Der feuchtfröhliche Abend wurde nicht trockener, im Gegenteil. Und nachdem Rist und Anna alle möglichen Schimpfworte oder Trinksprüche im skelliger Dialekt oder in der Alten Sprache durch hatten, kam dem anwesenden Jarlssohn eine Idee, die in seinem schwammigen Kopf als ganz glorreicher Einfall erschien. “Badehäuser, Fuchs!”, atmete er begeistert. Er hatte über den dreckigen Tisch zu seiner Kollegin gefasst, zog und zuppelte auffordernd an ihrem Ärmel. “Äh, ja.”, bestätigte die Frau, die nun schon ihren siebten Becher Wein intus hatte, planlos. Wären die Trinkgefäße für das besagte rogner Algengetränk größer gewesen, hätte sie gerade kaum noch sprechen, geschweige denn sitzen, können. Eher wäre sie unter dem alten Tisch, am schmierigen Boden, gelegen und hätte geschlafen wie ein Stein. Nun aber, sah sie dem Skelliger mit den zerzausten Haaren ziemlich unbeholfen entgegen und fragte sich, ob sie wohl noch einen achten Becher schaffen könnte ohne sich übergeben zu müssen. Ach, es schmeckte einfach viel zu gut! “Der Typ von früher hat gesagt... es gibt Badehäuser!”, erinnerte Rist erneut, brabbelte dabei ganz schön. Der Alkohol hatte sogar ihm die Röte bis in die Wangen getrieben. Oder war das nur der stickigen Hitze hier drin zu verdanken? Die winzige Taverne war zum Bersten voll und viele Leute soffen, spielten, sangen laut oder tanzten. Der leckere Geruch nach Bratenresten hatte sich längst mit dem von feuchter Kleidung, Bier und altem Schweiß vermischt. “Ich hab keine Ahnung wo... worauf du aus bist.”, Anna blinzelte und ihr orientierungsloser Ausdruck ließ sie ganz schön dumm aussehen. “Sag mir nicht, dass du noch nie in so nem Badedings warst.”, drohte der trunkene Hjaldrist, der hier seine Kultur verteidigen wollte, wenig bedrohlich. Er starrte Anna durchdringend an oder jedenfalls versuchte er es, denn er schaffte es kaum. “Äh, war ich nicht.” “Was? Dann müssn wir da hin!” “Was?” “Das is super. Grad, wenn’s draußen so scheißkalt is. Ja, Mann, überall gibt’s die hier, die Badehäuser.” “Mmmh, da wo ich herkomm, da gibt’s die nich. Glaub ich.” “Pff. Na, dann komm mal... mit. Wir schaun uns einfach mal danach um, ja? Komm schon, das wird lustich.” Anna überlegte kurz. Doch dann nickte sie mit dem sich so schwer anfühlenden Kopf. Im nüchternen Zustand hätte sie ihren Begleiter schnippisch gefragt, ob er den spinne. Denn erstens dachte man beim Wort ‘Badehaus’ doch sofort an Baden. Und das tat man nackt. Ja. Die Hexerstochter in der gestreiften Jacke verspürte nicht den Drang dazu mit Hjaldrist zu baden, echt nicht. Sie war dahingehend eben etwas scheu. Ja, sich vor anderen Frauen auszuziehen war kein Ding, doch Rist war, soweit sich die Novigraderin nicht mächtig irrte, kein Weib. Zweitens, so hätte sich die Kurzhaarige im nüchternen Zustand daran erinnert, hatte dieser Furian ihnen erst vor wenigen Stunden erklärt, dass bei den Schwitzhäusern eine vermeintliche Hexe lauerte, die Menschen verschwinden ließ. Beides in Kombination machte die Idee ‘Badehaus besuchen’ also zu keiner Option, sondern zu einem halsbrecherischen Blödsinn. So, wie der schummrige Hjaldrist, war aber auch Anna absolut nicht nüchtern. Daher erledigten sich die kritischen Denkweisen und all die anderen Bedenken oder Sorgen, wie von selbst. Voller Tatendrang und mit dem halbvollen Weinkrug in der Hand taumelte die Monsterjägerin ihrem motivierten Begleiter folglich nach. Leise schepperte ihr das Schwertheft beim Dahinwanken gegen die Gürtelnieten. Und kaum eine Stunde später hatten die abenteuerlustigen Betrunkenen, die ihren Weinkrug sowie ihre Ausrüstung mit auf ihre wahnwitzige, nächtliche Reise genommen hatten, die Badehäuser gefunden. Sie lagen unweit der Taverne an einem kleinen See, oberhalb von Rogne, und ein nüchterner Mensch hätte vielleicht zehn, fünfzehn Minuten dorthin gebraucht. Zwischen einigen Tannen und Fichten ruhte er ruhig im Dunkel da und seine Ränder waren mit dünnem Eis bedeckt. Der halbvolle Mond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche wider. Nur wenige, kleine Wellen, verursacht von Fischen oder dergleichen, kräuselten jene ab und an leicht. Doch das klirrend kalte Wasser, das interessierte gerade keinen der beiden Gabelschwanztöter. In keinster Weise. Denn sie belagerten bereits eines der zwei Badehäuser am See. Dies waren kleine, gestrichene Holzhütten, in denen mittig jeweils ein großer, schmiedeeiserner Korb stand. Rund um jenen waren Bänke aus Pinienholz angeordnet, die Platz für höchstens acht Mann boten. Daneben fand man noch Kübel mit dicken Schöpfkellen und Stapel von dicken Tüchern. “Wie, Badehaus?”, fragte Anna irritiert, als sie nach Rist in die besagte, kalte Hütte trat. Die Frau fröstelte wenig begeistert. In den Bergen war es, trotz des nahenden Sommers, arschkalt. Besonders nachts. Sie hob ihre grün leuchtende Lampe an, die sie mitgebracht hatte, um das Gebäude besser ausleuchten zu können. Der fahle Schein legte sich auf Hjaldrist, der schon geschäftig dabei war den seltsamen, großen Feuerkorb in der Mitte des Raumes zu inspizieren. “Das schaut hier eher wie… wie ne überdachte Kochstelle von nem Lager aus...”, grinste die Kurzhaarige, die in ihrer zweiten Hand den Mjodr-Krug hielt, unterbelichtet. Sie hob ihn sich an die Lippen und trank so viel auf einmal, dass sie sich schüttelte und nach dem Runterschlucken Husten musste. “Wart mal ab!”, maulte der Viertelelf “Und hol Wasser!” “Hä?”, Anna ließ ihre Laterne wieder einen Deut weit sinken und trat interessiert gaffend näher. “Na, mittm Eimer da hintn.” “Was willstn du mit Wasser?” “Ihr Leute von hinterm Meer habt aber auch echt keine Ahnung…”, lachte der Skelliger und lallte dabei merklich. Er versuchte es nicht zu tun, war dabei jedoch wenig erfolgreich. “Ja, dann klär mich ma auf.”, forderte die Giftmischerin, hielt vor einer der schmalen Bänke an und stellte den Weinkrug darauf ab. Ihre Lampe folgte dem Gefäß und fiel dabei fast zu Boden. Wie durch ein unglaubliches Wunder schaffte die betüdelte Anna es das Öllicht davor zu bewahren scheppernd auf den Grund zu poltern. “Ups.”, sie schob das wertvolle Artefakt wieder gerade hin und fand im Gegenzug zu der Lampe aber selbst keinen sehr festen Stand. “Man macht die Dings... Steine da heiß. Die im Korb.”, Rist zeigte auf den besagten Eisenkorb vor sich “Und dann macht man Wasser drauf, damit es verdampft.” “Und dann?” “Ja... dann sitzt man hier.” “Und schwitzt?” “Jau.” “Äh…” “Is gut für und gegen alles!” “Ah!” Eine unsinnige Erklärung, die der Braunhaarigen mit dem gläsernen Blick in ihrem Zustand mehr als nur genügte. Etwas, das ‘gut für und gegen alles’ war, konnte schließlich nicht schlecht sein. Beinah frontal in den Türrahmen laufend verschwand sie also, sich fahrig einen der Kübel schnappend, nach draußen, um Wasser aus dem See zu holen. “Hael!”, Anna hob den bauchigen Krug aus Ton schwungvoll in die Höhe und gönnte sich daraus einen tiefen Schluck Algenwein, ehe sie das Gefäß, das locker einen Liter fasste, an ihren herzlich lachenden Kollegen weitergab. Ihre Ausrüstung und Kleidung lagen irgendwo am Eingang der Hütte verstreut. Ihre GANZE Kleidung. Sie hatte nicht einmal ihre Unterkleider angelassen, sondern saß splitterfasernackt auf einem Tuch, das sie sich auf eine der unbequemen Holzbänke des Badehauses gelegt hatte. “Lieber… äh, Korn im Blut als Stroh im Kopf!”, erwiderte Rist, der nicht mehr anhatte als seine Freundin aus Kaer Morhen, begeistert und trank ebenso. Die dunklen Haare klebten ihm von der Luftfeuchte nass an der Stirn. Es war im Innern des Häuschens so neblig, dass es an einen redanischen Herbstmorgen mit extrem schlechtem Hundswetter erinnerte. Man konnte, von dem Platz, auf dem Anna saß, aus, kaum noch die schlichte Eingangstüre sehen. Sie kicherte auf den Trinkspruch ihres undviker Kollegen hin, der neben ihr saß und haute ihm dabei brüderlich auf die Schulter. Und sie empfand die Situation keineswegs als eigenartig oder befremdlich. Mit dem vielen Alkohol im Körper und der damit verbundenen, sehr niedrigen Hemmschwelle, scherte sie sich einen Scheißdreck darum, wie sie hier herumlungerte: Nackt. In männlicher Begleitung. Und im Schneidersitz. Balthar hätte die Hände schreiend über dem Kopf zusammengeschlagen, hätte er das gesehen. Dies ungeachtet dessen, dass ‘seine kleine Anna’ schon längst eine Frau von 20 Jahren war. Und auch ohne zu beachten, dass Hjaldrist trotz allem keinerlei Ambitionen zeigte die ihm relativ nah stehende Kriegerin heute Nacht flachlegen zu wollen. Ja, der Skelliger mit dem ganz offensichtlichen Sinn für platonische Beziehungen - oder vielleicht mochte er ja Männer - saß leger da und fing schon wieder damit an über seine Vorliebe für Badehäuser zu sinnieren. “Und später, dann… da muss man sich mit Zweign abklopfen. Mit Tannenzweign.”, schwatzte er betrunken. Seine Freundin schenkte ihm dafür einen eigenartig musternden Blick. “Hä? Wieso?”, tönte sie. “Das regt die Durchblutung an, sagn die Mistel… Mistlschneider.”, meinte der Mann neunmalklug und bekam Schluckauf. “Ahja.” “Und danach… danach springt man ins kalte Wasser.” “Uh? Oh. Oh nein!”, beschwerte sich die Kurzhaarige dieses Brauches wegen “In den See kriegn mich keine zehn Pferde rein! Nichmal zwanzig Gäule schaffn das.” “Ah, was. Doch, doch. Du lernst heut noch schwimmen, das versprech ich dir, Flohbeutl.” “Untersteh dich, esea a-... esse-”, stammelte die völlig blaue Frau im vergeblichen Versuch ein elfisches Schimpfen loszuwerden, das ihr Kumpan ihr vorhin beigebracht hatte. “Esseath arse.”, endete Rist für sie. “Ja, wie auch immer! Gib mir den Krug wieder.” Die beiden Abenteurer schwiegen wenig später schon ganz erschöpft und versuchten nicht in dem heißen Wasserdampf des Badehauses zu zergehen, wie Butter, da drang aberplötzlich Gesang an ihre Ohren heran. Ihr Krug aus dem ‘Hochblick’ war mittlerweile leer und sie selber randvoll. Dennoch horchte die Hexerstochter verwirrt auf, als sie die fremde, sanfte Frauenstimme hörte. Sie klang schön, als sie eine Melodie summte und einen schwermütigen Liedtext von sich gab. Aus trunkenen Augen sah Anna in die Richtung, in der sie hinter dem Badehaus-Nebel die Hüttentür vermutete. Das Wasser tropfte ihr von den Brauen, lief ihr an Wangen und Hals hinab, tropfte auf ihre Schenkel. “Hmm?”, machte sie und lauschte. Auch ihr Freund hatte das Haupt fragend erhoben und spitzte die Ohren so gut es in seinem Zustand eben hing. “Hast du das gehört?”, nuschelte Hjaldrist und die Frau neben ihm nickte “Da singt ja jemand.” “Komisch…”, brabbelte Anna und wollte schon mit den schmalen Schultern zucken, da sah sie von der Seite aus zu Rist hin und erkannte, wie sich dessen Ausdruck auf einmal stark veränderte. Seine dämlich-besoffene Miene verhärtete sich und wurde abwesender. Sein von der heißen Luft nasses Gesicht wurde im fahlen, grünlichen Lampenschein steinern. Und in diesem Moment kratzte da eine gewisse, dunkle Vorahnung an der Novigraderin. Sie war betrunken, ja. Doch sie litt deswegen nicht unter Amnesie. Das Singen wurde drängender. “He, Rist.”, murrte die schwitzende Kurzhaarige alarmiert, doch ihr Freund reagierte nicht. Stattdessen erhob er sich langsam und etwas steif. Anna blinzelte perplex und versuchte sich krampfhaft zu fassen. Adrenalin wollte sich zu dem Wein in ihrem Blut mischen, doch vermochte dies nur schleppend. Die aufgerüttelte Frau versuchte sich zu konzentrieren, ermahnte sich im wankenden Geiste immer wieder selbst und versuchte sich an das zu erinnern, das sie Zuhause gelernt hatte: Wissen, auch wenn man vom Trinken beeinträchtigt war; Kämpfen, obwohl man nicht mehr ganz so gerade stehen konnte; Auf die Freunde achten, wenn jene es selbst nicht mehr schafften dies zu tun. Ja, gerade letzteres wäre JETZT wichtig. Anna packte nach vorn und erwischte Rist’s Handgelenk bestimmend und so barsch. Der unbekleidete Mann hielt inne, doch blieb stumm und sah sich nicht zu Anna um. “Nicht zuhören.”, flüsterte die Berauschte, die sich ob der heiklen Situation langsam aber sicher wieder etwas nüchterner zu fühlen begann. Abrupt verstand sie, was lief. Ja, sie ahnte, WUSSTE, was mit dem nahen See nicht stimmte. Der wohlklingende Gesang bohrte sich besonders Männern in das erweichende Hirn, wie eine splitternde, nilfgaarder Pfeilspitze. Das melodische Summen betörte jene. Anna hatte einst davon gelesen. “Das is keine Hexe…”, murmelte die vom Wein beduselte Kurzhaarige, als sie an Furian’s Warnung dachte, und stand ebenso auf. Das, ohne ihren so unheimlich wirkenden Kumpel loszulassen. Noch immer reagierte er nicht, sondern horchte bloß aufmerksam und blinzelte benommen. “Das is ne Najade.”, mutmaßte die Hexerstochter, die ihre Enzyklopädien über Wesen, Ungeheuer und Monster in- und auswendig kannte. Und daher wusste sie auch, was gerade im armen Kopf von dem anwesenden Skelliger vorging. Nämlich gar nichts mehr. Denn er war ein Mann. Manche hinterhältige Nymphen lockten gerade jene immer wieder in den sicheren Tod. Die verheerende Magie ihrer Stimmen richtete in den Schädeln von Frauen nichts aus. “Lass los.”, die ernst gewordene Stimme Hjaldrists klang in diesem Moment, als sie die Hexerstochter aus den Gedanken riss, so fremd. Sie machte die braunen Augen schmal und anstatt das Handgelenk ihres Kollegen frei zu geben, packte sie noch fester zu. Der Griff musste längst schmerzen. Und wenn Rist sich nicht gleich zusammenreißen würde, würde ihm bald noch viel mehr wehtun, als das. “Bei Melitele, komm verdammt nochmal zu dir.”, bat die drängende Anna mit einem Gemisch aus Säuerlichkeit und arger Nervosität in der Stimme. Sie lallte kaum noch. Denn die prekäre Situation brachte das Adrenalin in ihr in Fahrt, verspannte ihre Glieder und machte ihr die Sinne wieder schärfer. Die Trankmischerin wusste: Würde sie es jetzt nicht schaffen ihren entrückten Kumpel dazu zu kriegen das Hirn wieder einzuschalten, könnte das hier ziemlich übel enden. Nämlich damit, dass die Nymphe vor der Tür zuerst Rist um einen Kopf kürzer machen würde, dann Anna. Oh, und letztere hatte noch nicht einmal ihr Schwert bei sich, denn es lag irgendwo nahe dem Eingang der Hütte, in der der Wasserdampf noch immer zäh stand. Verdammt! Anna war normalerweise ja richtig froh darüber, dass Hjaldrist nicht zu diesen überheblichen, schnöseligen Adeligen zählte. Er hatte Wumms, das war großartig. Gerade, wenn man gelegentlich auf Monsterjagd ging. Nun aber, da freute dies die Hexerstochter kein Stück darüber. Ja, in dieser Sekunde, da wäre es ihr lieber gewesen, ihr Freund sei ein weinerlicher, lascher und verwöhnter Typ, den man so in der Gegend herum bugsieren konnte, wie man es wollte. Denn der hypnotisierte Rist riss sich gerade ohne sehr große Mühe los, sah sich nach seiner Begleiterin um und verpasste ihr einen unerwartet harten Schubs. Sie taumelte rückwärts, doch stürzte nicht, fing sich gerade noch so und gab einen überforderten Laut von sich. Noch immer sang das Wesen des Sees schwermütige Lieder und als Anna aufblickte, erkannte sie nunmehr, wie Hjaldrist durch den Nebel nach draußen trat. Sie verkniff sich ein lautes Fluchen und wollte ihm sofort hinterher, da hielt sie auf halbem Wege inne. Denn ihr Verstand hatte sich gerade noch rechtzeitig eingeschaltet, um ihr zu sagen, dass es keine sonderlich gute Idee wäre einer Najade, die ihre heiß begehrte Beute vor der Nase hatte, direkt in die Quere zu kommen. Denn Nymphen waren nicht nur sehr gefährlich, sondern auch äußerst besitzergreifend und launisch. Man kam ihnen genauso wenig gerne in den Kram, wie einem hungrigen Wyvern oder einem liebestollen Sukkubus. Hektisch suchend sah die planlose Novigraderin also um sich und begab sich dabei auf bedacht vorsichtigen, nackten Füßen zur offenstehenden Tür des Badehauses, aus der es nur so hinaus dampfte. Die Kriegerin machte sich klein und ihre Augen suchten am Boden unruhig nach ihren Waffen. Ihr im Mondlicht blitzender Silberdolch lag da auf der Schwelle und Anna ging in die Hocke, um nach dem langen Messer zu klauben, wie nach einem rettenden Od. Dann sah sie verstohlen nach draußen, den heißen Nebel im blanken Rücken und mit strähnig nassen Haaren. Da war Hjaldrist. Wie ein Schlafwandler ging er schnurstracks auf den leicht gefrorenen See zu. Langsam, doch zielstrebig. Wie eine Motte, die unaufhaltsam vom sengenden Kerzenschein angelockt wurde. “Scheiße.”, wisperte Anna leise zu sich selber und tastete ohne fort zu sehen am Grund vor sich herum. Ihre Finger erwischten etwas Stoff. Das war eines der Hemden. Und ihre Augen klebten wie gebannt an dem, was sich da vor ihrem besten Freund auftat: Eine spitzohrige Frau mit langen, unnatürlich hellblonden Haaren saß auf einem der großen Felsen im Bergsee. Ihre Haut trug einen grünlichen Schimmer, ihr nackter Körper glänzte nass im Mondschein und goldene Reifen und klimpernde Kettchen hingen ihr von Handgelenken und Oberkörper. Sie schmiegten sich an Schlüsselbein, Arme, Brüste und Taille. Das Ungeheuer lächelte zufrieden und sein wohlklingender Gesang drang nach wie vor durch das Tal. Eilig zog sich Anna das Hemd, das sie vorhin erhascht hatte, über. Es war einmal wieder das ihres Kollegen; Das größere, weitere - was gut war, denn es reichte ihr, wie ein zu kurzes Kleidchen, bis knapp unter den Hintern. Zeit, um sich die Hose anzuziehen oder sich mehr der guten Ausrüstung anzulegen, blieb nicht. Rist stand schon bis zu den Waden im Wasser. Und daher zog sich Anna sogleich in das Badehaus zurück, eilte spontan zu einer der Fensterluken, öffnete jene und packte dann an deren Rand, um über den Sims gelenkig nach draußen zu klettern. Dies an der Rückseite der kleinen Holzhütte, wohlgemerkt. Dort, wo sie von der schönen Bergseenymphe unbemerkt bleiben konnte. Jedenfalls hoffte sie das, als sie nach ihrem fast lautlosen Sprung geschmeidig, doch blöderweise mit den bloßen Füßen inmitten von dichten Brennnesseln landete und sich die Hand vor die Lippen drückte, um nicht laut drauf los zu schimpfen. Schwer atmete die Kurzhaarige durch die Nase aus und schalt sich im Geiste eine Närrin. Sie duckte sich, sah sich hektisch prüfend um und hastete in ein nahes Gebüsch. Mit ihrem Langdolch in der Rechten eilte sie dann, so schnell es ihre gebückte Haltung zuließ, durch die Sträucher und war so, so froh über die Dunkelheit der Nacht. Denn Sonnenlicht hätte sie sofort verraten. Kein Strauch konnte so dicht sein, um jemanden, der sich so nah am Platz des üblen Geschehens entlang schlich, vollkommen zu verbergen. Anna schickte stumme Stoßgebete gen Himmel, damit dies auch so blieb. Das, obwohl sie im Grunde nicht sehr gläubig war. Und als sie kurz hielt, um vorsichtig hinter einem schmalen, moosbewachsenen Baumstamm vorbei, gen See, zu linsen, stand Hjaldrist das eiskalte Wasser schon bis zur Hüfte und die summende Najade, die sich auf ihrem feuchten Stein räkelte, deutete ihm mit unmissverständlichen Gebärden an noch näher zu kommen. So nah, bis er untergehen würde, wie ein Stein. In dieser Hinsicht hatte der plappernde Furian im Gasthaus also Recht gehabt. Die sogenannte ‘Hexe vom See’ machte Menschen im überlieferten Sinn tatsächlich zu Steinen. Anna kniff die dunklen Augen böse zusammen und biss die Kiefer fest aufeinander. Ihre Finger umschlossen den gewickelten Dolchgriff krampfhaft und sie spürte den kalten Wind ihrer Anspannung wegen kaum. Dies, obwohl sie nur ein leichtes Leinenhemd trug. Sie müsste handeln und zwar schnell. Nur wie? Ihr Blick wanderte eilig und aufgebracht. Ihre Augen wichen über Rist, die Najade, das viele Wasser und die satte Wiese. Über Gebüsche, Tannenbäume, kleine Felsen und die gesamte Umgebung, die sie in der klaren Nacht gerade so ausmachen konnte. Ihre Gedanken rasten. Sie schluckte trocken. Hjaldrist watete weiter, mit leerem Blick und starren Augen, die durch die Nymphe hindurch zu sehen schienen. Der eisige See umschlang ihn bereits auf Brusthöhe und dem geistig abwesenden Mann schien dies absolut nichts auszumachen. Jede normale Person hätte längst geschlottert und gejammert und wäre aus dem schneidend kühlen Nass heraus gestoben. Doch der Jarlssohn erschien gefühllos. Und Anna eilte auf leisen Füßen weiter. Die Tannennadeln und kleinen Steinchen stachen ihr dabei in die empfindliche Haut, doch sie versuchte dies mit mahlenden Zähnen zu ignorieren. Oh, in gewissem Maß war es gar gut, dass sie keine Stiefel trug. Denn mit diesen ramponierten Tretern an den Beinen wäre sie bestimmt viel lauter gewesen. Mit ein klein wenig Pech hätte sie die bösartige Nymphe damit schnell auf sich aufmerksam gemacht. Doch nicht jetzt. Nicht, wo sie nur mit einem zu großen Oberteil bekleidet durch den Waldrand am See schlich. Ja, sie war lautlos, wie eine Katze, die sich an ihr Opfer heranpirschte. Nicht an eine Maus, sondern an einen Adler, der sie mit wenig Mühe tothacken könnte. Aber dennoch. Sie müsste Rist mit allen Mitteln helfen, sonst wäre er verloren. Oh ja, die starrköpfige Anna dachte nämlich nicht im Geringsten daran morgen allein zu frühstücken! Eher würde sie sich von dieser singenden Scheißnymphe dort vorn ersäufen lassen, anstatt wegzulaufen und hinzunehmen, dass ihr guter Kumpel, ihr bester Freund, aus Undvik in den sicheren Tod stolperte! Es dauerte nur noch wenige Augenblicke, da schälte sich die kampfbereite Anna hinter der Nymphe, die auf ihrem flachen Felsen nahe dem Ufer lag, aus dem Röhricht. Sie hatte den sehr nahen Waldrand längst laufend verlassen und das mit hartem Blick in der Miene. Sie taumelte kaum mehr und es wirkte, als habe sie heute Abend nicht bis zum Umfallen gesoffen. Und während die Frau es verfluchte keine Gelegenheit dazu gehabt haben sich auf das, was käme, vorzubereiten, brach sie plötzlich aus dem raschelnden Schilf hervor und stürzte sich mit ärgerlichem Gebrüll auf die Nymphe. Ja, Augen zu und durch! In das kalte Wasser tretend, dass es nur so spritzte, hob sie mit dem Langdolch zu. Und erst jetzt schien die schlanke Najade sie zu bemerken. War die Bestie zuvor vollends gierig und mordlüstern auf ihre besungene Beute, Rist, fixiert gewesen, so warf sie sich nun erschrocken herum und fauchte wild. Das feine, hübsche Frauengesicht mit den großen, mandelförmigen Augen in Grün verzog sich zu einer widerwärtigen Fratze, als der Silberdolch knapp daneben ging; Zu einer Maske aus Raserei. Anna landete auf dem Wesen mit dem klimpernden Goldschmuck am schlanken Leib, packte an dessen bloße Kehle und stach erneut zu. Die scharfe Schneide schnitt der Nymphe, die den Kopf ruckartig fort drehte, über die Wange und hinterließ dort eine grässliche Wunde. Dunkles Blut lief sofort an der grünen Haut hinab und über Anna’s Finger, die den Hals der Übernatürlichen noch immer umklammerten. Doch nicht lange. Die langhaarige Najade, deren Gesang stockend aufgehört hatte, trat mit den Füßen, die Schwimmhäute zwischen den Zehen aufwiesen, zu. Sie fuchtelte, krächzte, rammte der offensiven Novigraderin eines der Knie tief in die Magengrube. Der zuckende Schmerz brachte die Hexerstochter, der helle Funken durch das Sichtfeld sprühten, dazu zu erstarren. Sie wollte widerstreben, doch schaffte es nicht und krümmte sich, stöhnte überfordert und schmeckte Galle. Doch noch immer hielt sie ihren teuren Dolch fest. Schwer keuchte sie aus, kniff ein Auge wehleidig zusammen. Und dann tat sie etwas, womit das Wesen am harten Felsen unter ihr nicht gerechnet hatte: Sie stach erneut zu, wie von Sinnen. Die Silberklinge senkte sich tief in die linke Schulter der Nymphe, durchtrennte feste Muskeln und schnalzende Sehnen. Es knackte und Anna, getrieben von der Pein in ihrer protestierenden Bauchgegend, lehnte sich mit all ihrem Gewicht auf ihre Waffe. Sie unterdrückte ein trockenes Würgen. Und sie wusste: Gegen einen normalen Menschen wäre das hier zwar ein schlimmer Angriff gewesen, doch aushalt- und überlebbar. Der Körper einer Najade aber, der reagierte extrem auf das Silber in der Klinge der Trankmischerin. Sofort schlugen rund um den blutenden Stich dunkle Adern aus; wie viele kleine Rinnsale, die sich zu einem Netz verbanden und unaufhaltbar nach immer mehr Platz haschten. Das Wasserwesen mit den aufgerissenen Mandelaugen kreischte auf. Und dieser hohe Schrei klang durchaus menschlich, feminin, mit einem verqueren, lasziv-klagenden Unterton darin. Das Dunkel, ausgelöst durch das geschmiedete Silber, kroch unter der Haut der vollbusigen Hellhaarigen weiter und erreichte von deren Schulter ausgehend bereits den Nacken und den Brustkorb. Anna starrte der gequälten Nymphe mit morbider Faszination im gehetzten Blick entgegen. Wenige, stille Herzschläge vergingen. Doch dann setzte das leicht schimmernde Wesen unter der Novigraderin zum barschen Gegenschlag an. Sie brüllte auf einmal so schrill, wie eine Banshee und drängte die Kurzhaarige durch die bloße Gewalt der tönenden Stimme von sich. Wie benommen wich Anna zurück, stolperte beinahe rücklings und ihr Dolch fiel ihr aus der Hand, platschte ins dunkle, kniehohe Wasser. Die zu speicheln beginnende Nymphe kreischte lauter, bäumte sich wild auf. Wie durch einen Wind aufgebauscht wehten ihr die weißblonden Haare und stellten sich bedrohlich auf. Mit geweitetem Blick und gebleckten, spitzen Fischzähnen fauchte die Grüne, machte sich groß, und selbst das Röhricht ringsum bog sich unter der Magie, die von ihr ausging. Hysterisch fing sie damit an zu lachen, dass es nur so in den Ohren klingelte. Anna kam nicht umhin sich jene mühsam zuzuhalten, wankte rückwärts und landete mit dem Hinterteil voran im knöchelhohen Wasser, irgendwo zwischen Schilf und matschigem Grund. Schwarze, schlammige Wasserpflanzen stoben aberplötzlich aus dem Seewasser hervor, wie die Tentakel eines übergroßen Tintenfisches und schlugen ringsum hernieder. Es platschte und rauschte, Anna schrie erschrocken auf und warf sich zur Seite, um nicht von einer der peitschenden Wasserlianen getroffen zu werden. Im seichten Wasser wühlte sie eiligst nach ihrem Silberdolch, doch fasste nur in ekelhaft schleimigen Sand. Ihre kalten Fingerspitzen streiften fahrig etwas, das sich wie Metall anfühlte, doch zu spät. Denn kaum einen tiefen Atemzug später umschlang sie etwas fest von der Seite und riss sie hoch, dass es ihr nur so schwindlig wurde. Es passierte so schnell, dass die gebeutelte Frau im großen Hemd nicht realisierte, was geschah. Und als sie es tat, blieb ihr nicht einmal Luft, um irgendetwas zu brüllen oder Raum, um etwas zu tun. Anna landete nämlich laut klatschend im Wasser. Wie eine kleine Puppe von einem der mächtigen Pflanzenstränge geworfen, schlug sie bretthart und mit dem Kreuz voran auf der Oberfläche des Sees auf. Das Wasser war so tierisch kalt, dass es wie mit tausend kleinen, spitzen Nadeln stach und brennend an ihrer Haut leckte. Orientierungslos fuchtelte die Monsterjägerin mit den Händen, bevor sie die klirrend kalte Schwärze umfing. In ihrer sie übermannenden Angst verschluckte sie das trübe Wasser und wusste nicht, wo sich der Grund des Sees befand und wo dessen Oberfläche war. Sie strampelte unbeholfen, streckte die Hände aus und hätte sie gekonnt, dann hätte sie spätestens jetzt aus vollster Kehle um Hilfe geschrien. Doch sie konnte nicht. Wasser erfüllte nämlich Mund und Kehle, wollte ihr in die rebellierenden Lungen dringen. Anna konnte nicht mehr denken und selbst ihre Instinkte halfen in der lebensbedrohlichen Situation wenig. Denn sie konnte nicht schwimmen. Ja, Scheiße, verdammte! Sie konnte nicht schwimmen! Ganz weit entfernt und dumpf hörte sie die schwer verwundete Nymphe noch immer gellend kreischen. Die Füße der verzweifelt strampelnden Kurzhaarigen streiften irgendetwas Weiches, Kaltes. Etwas, das ihr an den Unterschenkeln kleben wollte, wie nasse Haare. Sie riss die braunen Augen auf, doch konnte außer trübes Dunkel nichts sehen. Sie spürte, wie ihr die Finger erst taub, dann schlaff wurden. Ihr ging die Luft aus und reflexartig wollte sie einatmen, doch verschluckte nur noch mehr Wasser. Es war vorbei. Und dann war da auf einmal eine Hand, die Anna am Kragen erwischte, wie einen räudigen Köter. Jemand zog sie hoch, hielt sie fest, und erst verwirrt, dann panisch klammerte sie sich an alles, was sie zwischen die Hände bekam. Mit letzter Kraft krallte sie sich an warme Haut und nur das gurgelnde Fluchen Hjaldrists, der ihretwegen halb unterging, verriet ihr, wer sie gerade vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Die Frau japste, hustete, röchelte, spuckte. Und vor allem ließ sie nicht los. Auch dann nicht, als Rist sie schon dazu aufforderte, denn die Gefahr sei vorüber. Der fertige Unbekleidete schleppte sich und Anna bis zum Ufer und zwängte den hartnäckigen, zitternden Klammeraffen von sich. Er schaffte es nur mit viel Mühe und ließ sich dann abgekämpft neben der keuchenden, Wasser hustenden Novigraderin im nassen Gras nieder. Anna’s Lippen waren mittlerweile so fahl, wie ihr Gesicht und ihre Lippen wiesen eine markante Blaufärbung auf. Sie schlang die Arme um sich, nachdem sie sich hingesetzt hatte, rieb sich die Oberarme mit den tauben Händen und gab unartikulierte Laute von sich. Rist’s Hemd klebte ihr triefend am Körper. Da es weiß war, hätte sie es auch genauso gut nicht tragen können; durch den luftigen, nassen Leinenstoff konnte man nämlich so gut wie alles sehen. Es war etwas, das sie vor ihrer waghalsigen Aktion nicht bedacht hatte. Sie hatte es auf die Schnelle aber auch nicht in Betracht gezogen in eine fürchterliche Lage zu kommen, in der sie fast ertrank. Eine Hand, die ihr den Rücken beschwichtigend klopfte, riss die tropfende Frau dann irgendwann wieder in das Hier und Jetzt zurück. Und anstelle eines erwarteten, ziemlich unangebrachten Witzes über das Schwimmen, bedankte sich Rist. Anna sah ziemlich verloren dreinblickend zu ihm hin und ihre Zähne klapperten leicht. “Du hast mir den Arsch gerettet, glaube ich. Was zur Hölle ist passiert?”, wollte der ahnungslose Jarlssohn wissen. Gut, dass Anna zurzeit noch viel zu sehr zu durch den Wind war, als an Anstand oder Scham zu denken. Denn sie beide saßen hier beieinander in der Wiese, die Eine praktisch nackt, der Andere völlig. In anderen, wärmeren und freundlicheren Situationen hätte die mehr oder minder verbohrte Kurzhaarige wohl erstmal nicht gewusst was sagen und sich auffallend zwanghaft davon abhalten müssen an ihrem Kumpel runter zu sehen. Wahrscheinlich hätte sie ein wenig belämmert gestarrt, vielleicht auch auf seltsame Weise interessiert gegafft. Und dies hatte noch nicht einmal mit dem Skelliger selber was zu tun, sondern lediglich damit, dass er ein Kerl war. Anna, die sich bisher stets nur dem willigen Weibsvolk hingegeben hatte, hatte so gut wie nie mit entblößten Exemplaren der Männerwelt zu tun gehabt. Ach, klarerweise hatte sie ihre ‘Familienmitglieder’ in Kaer Morhen ab und an dabei gesehen, wie sie einander im Suff die blanken Ärsche in die Gesichter gehalten und dabei gelacht hatten, aber das war ja nicht dasselbe. Gut also, dass der Kriegerin noch der klammernde Schock in den Knochen steckte. So ersparte sie sich einen peinlich berührten Moment. “Du erinnerst dich nicht?”, wollte sie wissen und hatte von all dem Husten und Röcheln ganz glasige, gerötete Augen. Sie wischte sich über eines davon, schniefte, zog die Beine an und versuchte ihre klappernden Zähne unter Kontrolle zu bekommen. Dann aber, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Anna drehte den Kopf hastig in die Richtung, in der sie die üble Najade von früher vermutete. Jene war noch da. Doch sie war reglos. Sie hing über ihrem kleinen Felsen, schlapp und blutend. Das dunkle Rot tropfte und rann in zähen Fäden in das eisige Bergseewasser. Die gesamte, grünliche Haut des Wesens war durchzogen von schwarzen, hervortretenden Adern. Das Silber hatte ihr Herz und das Hirn erreicht. Und wenn sie nicht schon längst tot war, tat sie just in diesem Moment ihre letzten, erbärmlichen Atemzüge. “Nein.”, antwortete Hjaldrist. Er nuschelte noch etwas von dem Wein, doch wirkte im Vergleich zu vorhin wesentlich nüchterner. Lag wohl daran, dass er in den verdammt kalten See getaucht war, um seine verzweifelt zappelnde, wild rudernde Freundin daraus hervor zu fischen. “Ich hab da ein Loch in meinen Erinnerungen.”, stellte der Mann pikiert räuspernd fest. Doch anders, als er annahm, rührte seine Gedächtnislücke nicht von dem ganzen Algenwein her. Sondern von dem magisch betörenden Gesang der gerade sterbenden, röchelnden Nymphe. Anna atmete erleichtert auf und saß ganz schön steif da, weil sie fror. Sie kam schließlich nicht von den Inseln; so, wie ihr Kollege, der fröstelte, sich aber nicht sofort in einen zähneklappernden Eiszapfen verwandelte. Dahingehend hielt er viel aus. “Sie hat gesungen und du wolltest ihr geradewegs in die Arme laufen.”, erklärte Anna jetzt. Doch sie führte dies erstmal nicht weiter aus, sondern hauchte sich wehleidig in die Hände und gab ein mitleiderregendes Stöhnen von sich. “Ich… ich will mir was anziehen.”, jammerte sie und schauderte. Doch ehe sie sich erheben konnte, um dies zu tun, brach eine ihr durchaus bekannte, hohe Stimme durch die Nacht. “Anna! Rist!”, das war Lin. Ziemlich eilig lief er in seinen kleinen, nass schmatzenden Schuhen daher, hatte irgendetwas in den Händen und sah ganz schön besorgt aus. Der Göttling fiel fast auf die Nase, doch fing sich und kam daraufhin schwer atmend bei den beiden Abenteurern an, die ihn positiv überrascht musterten. “Ich habe die böse Frau schreien hören. Ich habe geschlafen und sie hat mich geweckt.”, erzählte Lin und sprach schnell. Seine großen Augen wanderten suchend über seine Freunde, als wolle er sich dessen vergewissern, dass sie unbeschadet waren. Das, was er mitgebracht hatte, war Anna’s Langdolch. Scheinbar war Lin also in das Wasser am Seeufer gegangen, um dort nach der Waffe zu suchen. Ja, offenbar hatte er den Kampf gegen die fauchende Nymphe beobachtet. Anna senkte die braunen Augen auf ihren Silberdolch und ihre Glieder lockerten sich ein wenig. Sie wirkte zutiefst erleichtert. Zurecht, denn das gute Stück hatte 100 Novigrader Kronen gekostet. Sie hatte dafür wochenlang gearbeitet, wie eine Wahnsinnige. “Danke…”, entkam es Anna etwas wirr, doch angetan. Sie nahm die Waffe mit der scharfen Schneide anerkennend nickend entgegen. “Es geht euch zweien gut!”, stellte Lin dabei fest und seufzte laut “Ich hatte eine fürchterliche Angst!” “Gut? Naja, so gut es eben gehen kann.”, brummte Rist, der scheinbar erst verstehen musste, was hier und heute passiert war. Er zog die Brauen weit zusammen und sah nachdenklich vor sich hin. Der Göttling nickte, lächelte merklicher und ehrlicher. Dann fiel er erst der halb erfrorenen Anna, dann dem nackten Undviker um den Hals. Kapitel 16: Von Hähnen, Kröten und eifersüchtigen Bären ------------------------------------------------------- “Der Bürgerrat Rognes hat sich heute frühmorgens besprochen! Und wir sind dazu bereit euch den Kopf der Hexe in Silberstücken aufzuwiegen!”, Furian stand mit hoffnungsvollem Blick vor den beiden Vagabunden, die am Tavernentisch saßen und ihm müde entgegen starrten. Es war fraglich, wessen Augenringe dunkler und tiefer waren und wer von ihnen beiden die schlimmeren Kopfschmerzen hatte. Ja, Rist und Anna sahen mehr als nur erschöpft aus. Sie wirkten völlig abgekämpft und hatten selbst Mühe damit nach ihren Schwarzteebechern zu fassen. Sie hatten die restliche Nacht kaum geschlafen und waren gar zu fertig gewesen ihr Zelt aufzubauen. Sie hatten sich einfach in ihren vollen Monturen in eines der Badehäuser am See begeben, sich dort auf den harten, unbequemen Boden fallen lassen und vielleicht zwei, drei Stunden gedöst. Es war zugig gewesen, wie in einem Vogelhaus, doch das hatte sie an dem Punkt angekommen nicht mehr gestört. Dann, nach dem dritten Krähen des verdammt lästigen Hahns Rognes, über den die Novigraderin lauthals geschimpft hatte, waren sie beide stumm und gähnend in das Gasthaus getrottet. “Den Kopf der Hexe in Silber…”, wiederholte Anna monoton und sah matt zu ihrem Kollegen hin “Mh. Ja. Klingt gut, was?” Wären sie beide wacher gewesen, hätten sie sich gerade ganz schön ins Fäustchen gelacht oder bedeutungsvoll gegrinst. “Ja…”, gähnte Hjaldrist und streckte sich schulterknackend “Die Sache ist bis zum Nachmittag erledigt” Furian, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat, machte große Augen, als er dies hörte. “Was? Es ist beinahe schon Mittag!”, staunte er und glaubte die größten, begabtesten Monsterjäger der Welt vor sich zu haben. Ja, die zwei Reisenden hatten hier wahrhaftig einen Bewunderer gefunden. Oh, wenn jener nur wüsste, dass die vermeintliche ‘Hexe’ schon längst hinüber war… “Wir sind ja auch die Besten unseres Handwerks, Furian…”, sagte Anna und wäre sie nicht so scheißmüde gewesen, hätte ihre Stimme gespielt prahlerisch gewirkt. Ganz schön veräppelt hätte sie den Typen noch und geschauspielert hätte sie. Nun aber, da saßen sie und Rist bloß schlapp herum und nippten ruhig an ihren stark gezuckerten Tees. “Bis zum Nachmittag ist die Sache erledigt.”, wiederholte sich der Jarlssohn mit dem brummenden Schädel selbstsicher “Versprochen.” “Oh danke!”, atmete Furian und verbeugte sich beinah “Danke! Kommt zu meinem Haus, wenn ihr fertig seid. Es ist… uhm… es ist das mit den blau gestrichenen Walfischknochenbalken. Gleich hier, um die Ecke!” Anna nickte. Rist enthielt sich und pustete in seinen dampfenden Becher. Als Furian dann von Dannen zog und dabei vor Freude beinah hüpfte, wie ein freudiges Kind, warf die Novigraderin einen Seitenblick zu ihrem undviker Freund. Ein schiefes, müdes Schmunzeln rang sich durch ihre Maske aus Schlaftrunkenheit. Die Abenteurer würden sich den Kopf der toten Najade holen und dann würden sie sich ein ordentliches, gemütliches Zimmer leisten können, um erst einmal schön auszuschlafen. Gut ausgeruht saß Anna am folgenden Nachmittag in einem dichten Busch. Rist war neben ihr und kniff die dunklen Augen zusammen, um besser in die Ferne sehen zu können. Er lehnte sich etwas vor und verzog die Lippen nachdenklich. Anna steckte sich eine letzte Trockenfrucht in den Mund, wischte sich die Hände an der Hose ab und folgte dem prüfend-kritischen Blick ihres Freundes dann. “Die machen nichts.”, kommentierte sie im Flüsterton und wirkte dabei gelassener als ihr Gefährte, der die drei Endriagen weiter vorn nicht aus den Augen lassen wollte. Die Arachniden waren kleiner als das Exemplar, das sie damals in Blandare erlegt hatten. Sie waren keine Soldaten, sondern Arbeiter. Und sie wirkten ein wenig planlos, wie sie da nahe Rogne über das offene Feld krabbelten und mit den Vorderpfoten im Erdboden herumwühlten. Ab und an hörte man sie mit den Kieferzangen klacken oder surren, glucksen und zischen. Sie kommunizierten so miteinander. “Das sehe ich. Aber sie sind trotzdem da.”, murrte der Skelliger auf die unbeeindruckte Meldung seiner viel zu gelassenen Freundin hin. “Die Frage ist nur wieso.”, ergänze sie und bemerkte, wie Hjaldrist sie irritiert ansah. Sie nahm die braunen Augen nicht von den Riesenkäfern, deren Panzer grün und lila im Sonnenlicht schimmerten, und runzelte die Stirn grüblerisch. “Endriagen nisten nicht auf offenem Feld. Meistens findet man sie in Wäldern, in hohem Gras oder auch in Sumpfgebieten.”, erklärte die wissende Frau leise. Ihr Kumpel gab einen Laut von sich, der andeutete, dass er allmählich verstand. “Die Endriagen-Königinnen legen ihre Eier an und auf Bäumen ab. Und um diese Nester spielt sich alles ab. Hast du schon mal eins davon gesehen?”, wollte Anna wissen und warf ihrem aufmerksamen Freund einen abwartenden Seitenblick zu. “Mh. Ja, habe ich…”, sagte der langsam und fuhr sich mit einer Hand über das Kinn “Aber nicht hier in der Nähe.” “Siehst du.”, lächelte Anna zufrieden “Es macht keinen Sinn, dass sie Endriagen hier, nahe einer Menschensiedlung, herumlaufen. Schon gar nicht, weil sie keine Soldaten dabeihaben, die auf sie aufpassen.” “Es klingt blöd, aber es wirkt fast so, als hätten sie sich verlaufen. Du hast Recht.”, nickte Rist und wisperte dabei. “Mhm. Wobei ‘Verlaufen’ wohl der falsche Ausdruck ist. Ich vermute, dass irgendetwas diese Endriagen aus ihrem Revier verscheucht hat. Vielleicht wurde ihre Königin getötet. Und die Soldaten ebenso? Hmmm…”, sinnierte die Kurzhaarige und wiegte den Kopf abschätzend. Sie sah die Arachniden am Feld nicht als Bedrohung an. Zwar war das Exemplar damals, bei den Faustkampf-Wettkämpfen, sehr aggressiv gewesen, doch man musste bedenken, dass man es davor aufgewiegelt und verwundet hatte. Von seiner Sippe getrennt hatte das arme Ding ums Überleben kämpfen müssen. Die Endriagen hier, vor Rogne, waren aber nicht wütend, höchstens verwirrt. Und würde man sie nicht bedrohen oder Steine nach ihnen werfen, würden sie eher weglaufen, als anzugreifen. Denn wie gesagt, waren sie Arbeiter, keine Soldaten. Und selbst jene drohten eher, bevor sie blindlings zuschlugen. “Die Leute Rognes scheißen sich wegen dieser drei planlosen Tiere in die Hosen und hängen einen Hexerauftrag aus, damit jemand die Käfer für sie zertritt. Sie zahlen Geld dafür, dabei müsste man die Endriagen nur verjagen. So desorientiert wie sie sind...”, seufzte Anna leise aus. “Was machen wir also?”, wollte Hjaldrist wissen. “Ach, ich kann halbe Sachen nicht leiden. Wir sollten nach der Ursache hierfür suchen.”, schlug die unzufriedene Novigraderin vor und zog sich den Kragen zurecht “Wenn wir die Endriagen nur verscheuchen, dann kommen sie eventuell wieder und es gibt einen neuen Aushang. Wenn wir aber nachsehen warum sie nicht zurück in ihr Revier gehen, könnten wir das Problem lösen und sie ziehen sich friedlich zurück. Was wiederum heißen würde, dass sie den Wald sicherlich nicht wieder verlassen würden. Warum auch?” Hjaldrist gab ein grüblerisches Brummen von sich und sagte eine grüblerische Weile lange nichts. Dann aber, stimmte er seiner Kollegin zögerlich nickend zu. “Ist wohl das Beste. Und die friedlichen Käfer abzustechen würde uns mit den Feiglingen des Dorfes gleichstellen. Darauf habe ich keine Lust.”, gab der im Grunde gutmütige Skelliger zu und Anna musste ob dieser Äußerung leicht lächeln. Sie war über die Ansicht ihres Gefährten froh. Sehr. Denn sie war niemand, der Ungeheuer tötete, wenn diese friedvoll waren und keine Probleme machten. Lieber sorgte sie dafür, dass Endriagen zurück zu ihren Nestern gingen, anstatt blindlings deren relativ harmlose, in der Erde nach Wurzeln und Knollen grabende, Arbeiter abzuschlachten. “Gut, gut. Dann haben wir ja schon mal einen Plan.”, sagte die Novigraderin erfreut. Weiter vorn schaufelte eine der Chitin-überzogenen Arachniden eine knorrige Wurzel zutage, schnarrte vor sich hin und trug die Knolle ein paar Meter weit. Dann schien ihr jedoch einzufallen, dass sie die gefundene Nahrung nirgendwo hinbringen könnte und wirr blieb sie stehen, rieb die Hinterbeine nervös aneinander. Anna nickte Hjaldrist auffordernd zu und ohne, dass sie sich erklären musste, verstand er. Die beiden zogen sich zurück, um in dem nahen Wald zu gehen. Wäre ja gelacht, wenn sie die Ursache der vermeintlichen ‘Endriagenflucht’ nicht finden könnten! Schließlich hatten sie ja noch ein Ass im Ärmel: Einen Waldgeist. Und jener hüpfte kaum eine Stunde später neben den zwei Abenteurern her; so motiviert und verspielt, dass er dabei fast den Margeritenkranz auf seinem Kopf verlor. Aus unerklärlichen Gründen schienen diese weißen Blumen in seiner Anwesenheit nicht zu welken. Lin summte leise und freute sich merklich darüber im Forst ‘spazieren’ zu gehen. Er war, ohne es selbst zu realisieren, eine unheimlich große Hilfe für Hjaldrist und Anna. Denn als Wesen, das mit den Wäldern im Einklang stand, reagierte er instinktiv auf Gefahren, die in jenen lauerten. Er wusste, wo man aufpassen musste und wo nicht. Und vor allem fühlte er auch, wo Magie ausschlug. Dies noch bevor das Wolfsamulett der Hexerstochter damit anfing zu vibrieren, denn angeblich sprachen die Tiere und Bäume zu Lin. Ob das wirklich stimmte? Leichtfüßig ging der Göttling über Stock und Stein, drehte sich tänzelnd und summte sein fröhliches Lied. Seine Schuhe hatte er heute nicht an. Vermutlich waren sie ihm gestern Nacht zu nass geworden und er hatte sie irgendwo achtlos in der Sonne stehen lassen, um zu trocknen. Er lief unter einem Gestrüpp hindurch, an dem sich seine Freunde mühsam vorbei schieben mussten, wartete auf sie und kletterte dann über einen dicken, umgeknickten Baumstamm. Anna und Rist folgten und gingen dabei relativ gemütlich durch den ruhigen Wald. Die Vögel zwitscherten und es roch nach Moos und Fichtennadeln. Irgendwo, weiter weg, rauschte ein kleiner Fluss oder ein schmaler Wasserfall vor sich hin. “Weißt du”, fing Anna dann an zu sprechen und richtete sich damit an ihren Freund, der neben ihr her ging “Ich habe nachgedacht.” “Oh je.”, gab Rist in gespielter, dunkler Vorahnung von sich “Worüber?” Die Novigraderin musste der verstellten Stimme des Skelligers wegen schmunzeln, doch ging nicht weiter auf das Feixen ein. Sie holte Luft zum Reden und meinte die folgenden Worte ernst: “Ich sollte wirklich Schwimmen lernen.”, entschloss sie räuspernd. Es war ein Vorhaben, das sie sich nach der gestrigen Misere ganz fest in den Kopf gesetzt hatte. Zwar hasste ihr Starrkopf es ihrem Kollegen, der sie deswegen immer geneckt hatte, Recht zu geben, doch sie wollte auch nicht wieder in eine Lage geraten, in der sie beinah ersoff. Ja, nie im Leben hatte sie sich wehrloser und verlorener gefühlt als gestern Nacht. Und sie hasste es sich wehrlos zu fühlen. Sie war eine Frau, die stets alles im Griff haben wollte. “Also… bringst du es mir bei?”, fragte Anna und wagte es kaum aus den Augenwinkeln zu Hjaldrist hin zu sehen. Wurde sie etwa ein wenig rot? Mann, kam sie sich vielleicht bescheuert vor. Wie ein unbeholfener Bittsteller, der vor einem Fürsten buckelte. Lin sprang knapp vor der Giftmischerin über ein Farnblatt hinweg, klatschte in die Hände und pfiff. Er beachtete das Gespräch seiner Freunde nicht. “Im Ernst?”, entkam es Rist. Er wirkte mehr erstaunt, als amüsiert. Eigentlich hatte Anna erwartet, dass er sie auslachen oder einen dämlichen Scherz machen würde, um sie zu ärgern. Sie hatte sich im Geiste schon darauf vorbereitet und sich schnippische, halbernste Antworten überlegt. Aber stattdessen hatte ihr Begleiter die Brauen in positiver Überraschung hochgezogen und sah die Wasserscheue an, als habe sie gerade gesagt, dass sie es aufgeben würde der Kräuterprobe für Frauen nachzujagen. “Ja. Im Ernst.”, die leicht peinlich berührte Kurzhaarige hüstelte und fixierte Lin, der einen glatten Stein aufsammelte, der aussah wie ein Ei. Er betrachtete jenen kurz, strich bewundernd mit den Fingern darüber und steckte ihn sich in die Tasche der übergroßen Weste. “Klar bringe ich es dir bei!”, stimmte der anwesende Skelliger zu und hätte Anna zu ihm hingesehen, hätte sie bemerkt, dass er beachtlich erfreut grinste “Wir erledigen unsere beiden Aufträge und dann gehen wir das an!” Anna, die froh darüber war, wie locker das Thema nun über den Tisch gegangen war, musste zufrieden lächeln. Sie atmete erleichtert durch, entspannte sich wieder. Und sie war ebenso dankbar dafür, dass über das nackte Besäufnis im Badehaus kein Satz mehr fiel. Oh, sie wurde ja schon ganz betreten, wenn sie nur daran dachte! Das entfernte Schlagen von Flügeln ließ die Abenteurer, wie auch Lin, Sekunden später innehalten. Anna und Rist warfen sich verheißungsvolle Blicke zu und auch der Göttling sah fragend auf. Letzterer setzte sich gleich wieder in Bewegung und seine Kinderstimme formte ein “Ich sehe mal nach was da ist!”. Lin war so schnell verschwunden, dass seine verdatterten Freunde nicht einmal mehr dazu kamen zum Sprechen anzusetzen. Etwas irritiert starrte Anna dem Waldwesen nach, doch kam im Endeffekt zu dem Schluss, dass es vermutlich gut war, wenn er vorging. “Er kommt zurecht.”, meinte sie mit gesenkter Stimme und sah Rist nickten. “Es hat sich angehört, wie Geflatterte.”, warf der Undviker ein und hatte dabei schon die Hand an der Axt. Die Novigraderin nickte und spitzte die Ohren. Und da war es wieder. Kaum merklich, und dennoch, konnte man gelegentliches Flügelschlagen vernehmen. Es klang nicht wie das von Gabelschwänzen oder Wyvern. Es mutete eher an, wie von gefiederten Schwingen. Oder täuschte sie sich? Nur zögerlich ging sie weiter, hielt sich dabei aber nah an Bäumen und sonstiger Deckung, kampfbereit. Ihre Finger lagen angespannt auf ihrem Schwertgriff. Hjaldrist schloss zu ihr auf, mit aufmerksamem Blick und in den tiefen Wald hinein lauschend. Sie beide schlichen beinah. “Da ist ein Vogel!”, als Lin unerwartet und wie aus dem Nichts wieder neben den Abenteurern auftauchte, erschrak die alarmierte Anna so sehr, dass sie beinah einen heftigen Satz machte. Gerade noch so verkniff sie sich einen schockierten Laut, wich zurück und stieß damit seitlich an Rist. Auch der Mann sah mit harter Miene auf. “Lin.”, keuchte die Novigraderin überfordert und bemühte sich darum leise zu sprechen, denn sie wollte vermeintliche Feinde nicht auf sich aufmerksam machen “Mach sowas nie wieder.” “Hmm? Was denn?”, wollte der Göttling wissen, der sich keiner Schuld bewusst zu sein schien. “Du hast mich ganz schön erschreckt.” “Oh. Tut mir leid.”, Lin kratzte sich verlegen am Hinterkopf und lächelte verunsichert. “Du hast einen Vogel gesehen?”, kam ihnen Rist drängend dazwischen “Was für einen Vogel?” “Einen großen. Mit einem komischen Kopf.”, erzählte das Waldwesen und war damit mit seinen Ausführungen am Ende. Anna zog die Stirn kraus. Ein großer Vogel mit einem eigenartigen Schädel? Da machte das Flügelschlagen, das sie gehört hatten, schon einmal Sinn. Der Kopf der Kämpferin arbeitete und ihre braunen Augen wanderten derweil unstet. Grüblerisch starrte sie vor sich hin, doch dann manifestierte sich in ihrem Hirn eine Vorahnung. Denn Anna hatte schon einmal mit angesehen, wie Balthar solch einen ‘Vogel’ erlegt hatte. Einen Skoffin. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie der Gallilisk nach den Nieren gepickt hatte und penibel darauf aus gewesen war die Aorta des Hexers zu treffen. Doch Anna’s Ziehvater hatte das Mistvieh schnell gekonnt ausgeschaltet und dafür eine gute Belohnung kassiert. “Ein Skoffin.”, flüsterte die Trankmischerin, als würde sie sich diese Worte selbst zumurmeln. Hjaldrist sah sofort interessiert zu ihr. “Lin? Sieht der Kopf des Vogels so aus, wie der eines Hahns?”, wollte sie wissen “Und sein Körper wie der einer, äh, Eidechse?” Der Göttling sah die Kurzhaarige nicht lange nachdenklich an, sondern nickte schnell und selbstsicher und verschränkte die Arme abwartend hinter dem Kopf. “Ja.”, sagte er. Anna musste zufrieden lächeln. “Was ist denn ein Skoffin?”, wollte Rist wissen. “Ein Gorgo. So etwas, wie ein Basilisk. Er ist zur Hälfte ein Hahn, ein Ornithosaurier.”, erklärte die Novigraderin wissend und war froh darüber, dass sie schon einmal beobachtet hatte, wie man solch ein Ungeheuer am besten erledigte. Sie bemerkte nicht, wie übertrieben schlau sie sich anhörte, wie klugscheißerisch. So, wie eine überhebliche Professorin der Akademie in Oxenfurt. “Also… ey. Mal ganz langsam. Ein Basilisk? Ich dachte, die existieren nur in Märchen.”, gab der Undviker zu und machte eine ernste Miene. Anna musste leise lachen. “Nicht nur.”, meinte sie “Und ein Gorgo ist auch nur so etwas in der Art. Man nennt sie auch Gallilisken. Wegen ihrem Anteil an Vogelgenen.” “Es ist also eine Echse mit einem Vogelkopf?” “Ja, so ungefähr.” “Wie passiert denn sowas?” “Man sagt, dass Gallilisken entstehen, wenn ein Hahn mit einem zweiten Gockel verkehrt und ein Ei legt.” “Äh...” “Und dieses Ei muss vierzig Tage lang von einer Kröte ausgebrütet werden. Erst dann schlüpft ein Skoffin. Ob das so stimmt, ist aber bis heute nicht belegt… ich finde ja, es klingt unsinnig.”, schnaufte Anna. “Aha.”, machte Hjaldrist trocken und die Frau aus Kaer Morhen wusste ja nicht, ob er so ganz verstanden hatte. Aber er nahm hin, was sie sagte. Das war gut und genügte. “Glaubst du, das Vieh hat die Endriagen verscheucht?”, wollte der Skelliger, dem es sicherlich schon kampfeslustig in den Fingern kribbelte, weiter wissen. “Kann sein, ja. So ein Skoffin ist größer, als eine Endriaga. Denkbar, dass er die ‘Käfer’ frisst. Aber sicher bin ich mir jetzt auch nicht.” “Und wie bringen wir das Vieh um? Mit einem Spiegel?” “Mit einem Spie-? Oh.”, Anna hielt inne, als ihr die vielen Sagen um übertrieben große Basilisken einfielen, die Leute durch Blicke versteinerten und selbst nur dann starben, wenn man ihnen ihr eigenes Spiegelbild vorhielt. Sie gluckste erheitert und schüttelte den Kopf sogleich. “Nein. Wir brauchen keinen Spiegel. Außer, er ist so groß, dass wir den Skoffin damit erschlagen können.”, gab die Novigraderin einen alten Witz von sich, den man in Kaer Morhen schon bis zum Abwinken zerkaut hatte. Jeder der Wölfe kannte ihn. Und jeder von ihnen fand ihn mittlerweile schon gar nicht mehr lustig. “Ähm.”, machte Rist und stand etwas dumm da. Anna nahm es ihm aber nicht übel. “Die Sache mit den Spiegeln ist Unsinn. Genauso wie die Behauptung, dass Basilisken - oder ähnliche Geschöpfe - durch ihre Blicke töten können.”, erklärte die wissende Kriegerin und ihr Freund nickte langsam, verstand “Ein Skoffin ist aber trotzdem gefährlich. Er wird versuchen uns zum Verbluten zu bringen. Normalerweise muss solch ein Gallilisk nur einmal treffen. Und diese Treffer sind verheerend. Also pass auf deine Nierengegenden, den Hals, deine Mitte oder die Oberschenkel auf. Dort läuft die Hauptschlagader entlang.” Anna sah, wie ihr Freund einmal kurz trocken schluckte. Doch dann nahm sein Blick etwas sehr Entschlossenes an. So, wie immer. “Wie geht man gegen einen Skoffin vor?”, wollte der Mann äußerst zielstrebig wissen, als Anna aus einem der Riemen ihres nicht ganz gefüllten Rucksackes schlüpfte und ihn seitlich zu sich heranzog, um das Gepäckstück zu öffnen. Der Mann sah ihr abwartend dabei zu. “Hast du noch Obst, Anna?”, fragte Lin dazwischen. “Diese Biester sind ganz schön schnell. Und nachdem ihre Schnäbel verheerend zupicken können, sollte man sie flankieren. So ein Drecks-Skoffin hat keine Rundumsicht und das sollte man ausnutzen.”, sagte Anna und wühlte aus ihrem Rucksack ein halbvolles Fläschchen hervor, um es ihrem Kollegen zu geben “Drakonidenöl. Die Reste von der Sache mit den Gabelschwänzen damals. Wir werden es brauchen.” Dann wühlte die Kurzhaarige noch etwas weiter und förderte ein kleines, helles Leinensäckchen zutage das sie dem Göttling gab. Jener jauchzte begeistert, öffnete das Beutelchen und nahm sich daraus eine kleine Handvoll getrockneter Beeren, die er sich in den Mund steckte. Das Dreiergespann, angeführt von Lin, ging folgend noch einige Minuten durch den Forst, ehe es das gesuchte Monster endlich entdeckte: Der Skoffin war auf einer kleinen Lichtung, deren Blätterdach so dicht war, dass das Sonnenlicht kaum bis zum Grund kam. Vor einer Höhle saß das Ungeheuer mit dem Hahnenschädel und hackte mit dem Schnabel in einem matschigen, bitter stinkenden Haufen aus Chitinpanzer, verdrehten Endriagenbeinen und schleimigem Käferblut herum. Unweit lag noch eine zweite, wesentlich leerere Arachnidenhülle. Offenbar hatte der Gallilisk die Endriagen, so wie vermutet, angegriffen und zu seiner Beute gemacht. Bis auf die harten Panzerschalen der Tiere hatte er kaum etwas von ihnen übriggelassen. Auch die markanten Kokons, in die die Endriagen-Königinnen ihre Eier legten, hingen teils schief von den umliegenden Bäumen oder auch zermatscht am Boden herum. Sie waren für einen vermeintlichen ‘Riesenvogel’ ein Festmahl gewesen. Der besagte Geflügelte riss just eines der Arachnidenbeine aus und warf den Kopf zurück, um es sich mit Schwung in den Rachen zu werfen und im Ganzen zu schlucken. Anna nickte in die Richtung des Biestes und Rist’s Augen folgten der auffordernden Geste. Sie beide verbargen sich noch im Dickicht und das Drakonidenöl schimmerte dunkel an ihren gezogenen Waffen. Lin war nicht bei ihnen; er saß weit entfernt auf einem Baum und aß Trockenfrüchte. Hjaldrist hatte ihn darum gebeten sich nicht weiter zu nähern, ehe der Gorgo tot sei. “Er ist kleiner, als ich dachte.”, flüsterte der dunkelhaarige Skelliger seiner Freundin zu und sie lächelte schmal. Der Skoffin war mit zusammengefalteten Flügeln maximal so hoch, wie Apfelstrudel. Im Vergleich zu einem Gabelschwanz oder einem Waldschrat wirkte er also tatsächlich klein. Doch die Hexerstochter wusste, dass es Gallilisken dennoch ganz schön in sich hatten. “Unterschätze ihn nur nicht.”, riet sie dem Undviker daher und er nickte langsam. “Du rechts, ich links?”, wisperte er und Anna gab einen zustimmenden, leisen Laut von sich. Dann brachen sie auch schon aus dem Unterholz. Mit erhobenen Waffen stürzten sie auf den Skoffin zu, der den Kopf mit dem blutverschmierten Schnabel abrupt anhob und alarmiert zu ihnen sah. Sofort krächzte das Ungeheuer, das modrig nach abgestandenem Teichwasser miefte, gereizt und spreizte die Flügel in einer bösen Drohgebärde. Wie abgesprochen, hielt sich Anna an der rechten Flanke des unansehnlichen Wesens und achtete darauf nicht in die Reichweite des gefährlichen Schnabels zu kommen. Der Gorgo fuhr herum und zeigte sich irritiert davon auf jeder Körperseite einen Angreifer zu haben. Wild schlug er mit dem geschuppten Schwanz zu und verfehlte den gekonnt ausweichenden Rist nur knapp. Die Novigraderin spürte den hackenden Schnabel des Gefiederten um eine Haaresbreite an ihrem Hals vorbei schnellen. Sie stieß den Atem in einem plötzlichen Adrenalinschub aus und in dieser einen Sekunde wollte ihr kalter Schweiß ausbrechen. Ihr Magen zog sich zusammen, doch sie realisierte, dass der Gorgo sie verfehlt hatte. In einem schwungvollen Halbkreis drehte sie sich und ihr Schwert folgte. Der aufgebrachte Skoffin krähte grollend und große, dunkle, ramponierte Federstücke stoben nach allen Seiten davon. Noch einmal schnitt die Stahlklinge der Novigraderin durch die Luft und Anna duckte sich unter einem heftigen Schlag des Flügels fort, den sie soeben verkrüppelt hatte. Unzählige Federn waren zertrennt worden, Blut tropfte, warzige Gorgohaut hing in Fetzen. Und das war nicht das Einzige, denn auf der linken Flanke des Ungeheuers hielt sich Hjaldrist. Ein Tritt der Hinterläufe des Biestes streifte ihn und er wankte zurück, blieb jedoch stehen. Brüllend schlug er dann mit einem Hieb von oben herab auf das Untier ein. Und seine Axt traf gut. Ihr scharfes Blatt senkte sich tief in das krallenbewehrte Bein, das zuvor noch getreten hatte. Der schnarrende Skoffin knickte augenblicklich ein. Desorientiert und vor Wut schäumend flatternd, mit einem lahmen Hinterlauf und einem zerfetzten Flügel, war er dann auch schon keine große Herausforderung mehr. Zwar warf er sich wuchtig herum und wollte furios nach seinen beiden Angreifern picken. Doch vergebens. Es dauerte keine Minute mehr, da trennte ihm ein gezielter Schwerthieb der Hexerklinge den Schädel ab. Blut sprühte und dumpf fiel das verzerrte Hahnenhaupt zu Boden. Die Glieder des Ungeheuers zuckten unkontrolliert, bevor sie erschlafften. Und dann war es auf einmal ganz still auf der Lichtung unter den undurchdringbaren Baumkronen. Über den toten Gorgo sah Anna, die etwas außer Atem zu sein schien, zu ihrem Kumpel hin und senkte das blutverschmierte Schwert. Ihr Gesicht und ihre Kleidung hatten auch ein paar vereinzelte, rote Spritzer abbekommen, doch sie störte sich nicht daran. Als sie sah, dass der unversehrte Hjaldrist stand und allmählich damit begann triumphierend zu grinsen, schlich sich auch auf die Züge der Monsterjägerin ein zufriedenes Lächeln. Und wäre der Undviker nun in Reichweite gewesen, hätte Anna ihm die Siegesfaust gegeben, die sich zwischen ihnen schon längst eingebürgert hatte. “Das ging ja unerwartet schnell!”, freute sich der Freund der Giftmischerin. “Stimmt!”, lächelte Anna breit, denn Rist hatte Recht. Der vorangegangene Kampf war wahrlich einfacher abgelaufen, als gedacht. Das Biest auf der grünen Lichtung war aber auch klein gewesen, vielleicht sogar noch ein Jungtier. “Glaubst du, die geben und mehr Geld, wenn wir ihnen DEN Schädel vor die Füße werfen?”, wollte Hjaldrist schmunzelnd wissen, als er Minuten später neben Anna durch den Wald ging. Er hatte sich den widerlichen, mittlerweile ausgebluteten, stinkenden Kopf des Skoffins über die Schulter gelegt und war wohl guter Dinge. In seiner Tasche steckte ein Dutzend der Federn aus dem Bürzel des Ungeheuers. Jene waren schön, groß und ließen sich gut an Schreiberlinge oder Sammler verkaufen. Neben Hjaldrist ging Lin. Der kleine Göttling sah immer wieder mit großen, ungläubigen Augen zu dem Gorgoschädel hoch, dem die Zunge aus dem Schnabel hing. “Keine Ahnung”, meinte Anna “Aber vermutlich werden sie es erstmal versuchen sich irgendwie aus dem Thema heraus zu winden. Ich glaube ja, dass sie uns nicht mehr bezahlen werden, als die Ursprungsbelohnung. Und die Ausrede dafür wird sein, dass wir ja nur eine Bestie getötet hätten, anstatt drei.” “Pff. Ein Skoffin ist eine ganz andere Nummer als drei Endriagen…”, murrte der Skelliger, doch er schien seiner erfahrenen Kollegin zu glauben. Er redete nicht gegen ihre Argumente, denn sie hatte schon zu oft mit Idioten zu tun gehabt, die partout nicht mit sich handeln hatten lassen. Sie kannte alle Ausreden und die kleingeistigen Ansichten von Außenstehenden. Man durfte sich nicht zu viele Hoffnungen machen, wenn man eine Arbeit besser erledigte, als verlangt. Die meisten Auftraggeber interessierten zusätzliche Bemühungen nämlich nicht, denn man sei ja ‘selber Schuld sie überhaupt getätigt zu haben’. “Tja. Naja, immerhin haben wir die Federn. Die bekommen wir sicherlich schnell und teuer los.”, grinste Anna noch “Und sollten uns die Leute in Rogne zu blöd kommen, dann können sie zusehen, wie sie selbst mit dem Braunbären, der den ganzen Honig klaut, zurechtkommen.” “Was ist DAS?”, dem dicklichen Vorsteher des mickrigen Bürgerrats Rognes entglitt die Miene vollends, als er den blutverschmierten Kopf des Skoffins vor die Füße geworfen bekam. Rist, der dies erledigt hatte, wischte sich etwas geronnenes Monsterblut von der Schulter und räusperte sich. Anna, die neben ihm stand und sich die Hände abwartend in die Seiten stemmte, sah dem besagten Vorstand mit dem auffallenden, gezwirbelten Schnurrbart auffordernd entgegen. Sie hatte den Namen von diesem Typen mit der grau melierten Gesichtsbehaarung schon wieder vergessen. Darum hieß er in ihrem Kopf nun einfach Horst. Sie hatte es ohnehin nicht so mit skelliger Namen. “Das ist ein Gorgoschädel.”, erklärte die Frau knapp. Hjaldrist grinste stolz. “Ein WAS?”, wollte Horst wissen und war längst etwas zurückgewichen. So, als habe er Angst, dass ihm der abgetrennte Schädel, der größer war als der einer Kuh, in die Waden zwicken könnte. Zudem wirkte er dezent pikiert, denn die beiden Monsterjäger hatten ihm das ausgeblutete, markant stinkende Ding einfach so auf den Boden seiner Hütte geworfen. Angeklopft hatten sie bei ihm und darauf gewartet, dass er seine knarrende Haustür öffnete. Und, naja. Dann war der Schädel eben zum Gruß gefolgt, denn Rist hatte das stark nach Tod und Verfall miefende Teil nicht länger tragen wollen. Also lag es nun im Eingangsbereich des lauschigen Heims herum und ließ die Zunge heraushängen. Ein widerlicher Anblick. “Der Schädel eines Gorgos, Skoffins oder Gallilisken. Er war dafür verantwortlich, dass die Endriagen den Wald verlassen haben und hierhergekommen sind.”, erklärte die Novigraderin weiter “Jetzt sind sie aber fort. Weil der Skoffin tot ist. Und sie werden nicht wieder auftauchen.” Horst schwieg und ließ den ungläubigen Blick auf den monströsen Kopf am Grund sinken. Er verzog das Gesicht etwas, rümpfte die Nase angewidert und hielt sich schließlich sein Halstuch vor sie. Er stöhnte eine unverständliche Beschwerde. Von der Seite aus sah Hjaldrist abwartend zu Anna hin. “Wir haben den Auftrag erledigt. Und das auch noch gründlicher, als erwartet. Ich denke, wir haben uns eine kleine Zuzahlung verdient.”, lächelte die Giftmischerin schmal und hielt Horst aufmerksam mit den braunen Augen fixiert. Der Konfrontierte sah sofort wieder auf, kritisch und genervt. Man hörte ihn verzwickt seufzen. “Der Auftrag lautete die Endriagen zu töten.”, korrigierte er die dreiste Frau hinter vorgehaltenem Batisthalstuch. Ein nettes Stück. Vielleicht sollte sich Anna auch so eines zulegen? Schals waren immer so unpraktisch und durch ihre Länge behinderten sie beizeiten im Kampf. Ja, ein Halstuch hätte schon was. “Ja, das stimmt wohl.”, konterte die Kurzhaarige “Aber hätten wir nur die Endriagen getötet, hättet ihr noch immer einen Skoffin zwischen den nahen Bäumen sitzen gehabt. Und glaubt mir, er war keine Stunde weit von Rogne entfernt.” “Aber der Auftrag-”, fing Horst an. Anna unterbrach ihn sogleich. “Er besagte, dass man sich der ‘Endriagen vor den Toren des Dorfes’ entledigen sollte. Und das haben wir getan. Werft doch mal einen Blick aus dem besagten Tor hinaus. Dort krabbelt nichts mehr herum. Die Endriagen haben sich wieder in den Wald verkrochen und werden dort auch nicht mehr herauskommen.”, setzte die wissende Kriegerin fort und straffte die Schultern. Hjaldrist verkniff sich ein Schmunzeln und verschränkte die Arme vor der Brust. “Sagt wer?”, wollte der misstrauische Bürgerratsvorstand Rognes wissen und langsam aber sicher verlor Anna die Geduld. “Ich sage das.”, meinte sie bestimmend und man sah ihr an, wie sie sich fühlte: Genervt. “Was, wenn Ihr Euch irrt?” “Sie ist eine Hexerin!”, fuhr Hjaldrist jetzt scharf dazwischen und Anna dankte ihm im Geiste dafür “Stellt Ihr sie in solchen Angelegenheiten wirklich infrage?” Horst zuckte zusammen, denn Rist schien auf ihn einen größeren Eindruck zu machen, als Anna. Warum auch immer. Lag wohl an seinem Geschlecht. An seiner Abstammung als Landsmann konnte es ja nicht liegen, denn wie ein gebürtiger, stämmiger Skelliger sah der Viertelelf ja bekanntlich nicht aus. Der Vorstand atmete tief aus und gab sich geschlagen. Mehr oder weniger jedenfalls, wie man es gleich feststellen würde. Entnervt nickte er, zögerlich und langsam. “Also schön.”, meinte er “Ihr bekommt die ursprüngliche Belohnung, doch keine Münze mehr. Die Endriagen sind fort, doch der Rest interessiert mich nicht.” Anna sah aus dem Augenwinkel vielsagend zu ihrem Kumpel hin, dessen Gesicht steinern wurde. Es war ein stummes ‘Ich hab’s dir ja gesagt’. Der Mundwinkel des Schönlings zuckte unzufrieden. Doch er verkniff sich jegliche weiteren Kommentare, denn es brächte ja auch nichts mit dem sturen Horst herumzustreiten. Und jenem drohen, das würden die Ungeheuerjäger nicht. Dafür waren sie einfach zu nett. “Sehr gnädig. Wirklich.”, brummte Anna wenig begeistert. Sie und der mit dem gezwirbelten Bart würden sicherlich keine Freunde mehr werden, so viel stand fest. * Hjaldrist warf seinen schweren Rucksack auf den hölzernen Boden des Tavernenzimmers, das sie sich angemietet hatten. Vorgestern hatten sie die singende Nymphe des Bergsees erledigt und dafür an die fünfzig Goldstücke bekommen. Das war ganz schön viel Geld und es war verwunderlich, dass die wenigen Leute Rognes überhaupt so viel besessen hatten. Angeblich lebte hier eine wohlhabende Familie und ein altes, reiches Ehepaar. Die einen handelten mit Holz, die anderen hatten in Kaer Trolde eine Art Pfandhaus besessen und sich nach einem lohnenden Leben in diesem Metier nach Rogne abgesetzt, um ihren Lebensabend in dem ruhigen Örtchen mit der schönen Aussicht zu genießen. Vermutlich kam ein Großteil der Belohnung für die vermeintliche ‘Hexerin und ihren Schüler’ von ihnen. Die besagten Reisenden hatten sich also das beste Zimmer im Gasthaus geleistet. Es war wunderbar einmal wieder in echten Betten schlafen zu können und sich nachts nicht in voller Montur und zwei Decken einwickeln zu müssen, um am Lagerfeuer oder im Zelt nicht zu erfrieren. Der Endriagenauftrag, der in einer Begegnung mit einem Gorgo geendet hatte, hatte den beiden Abenteurern dann noch einmal fünf Goldmünzen eingebracht. Dazu kamen die dreizehn wertvollen Skoffinfedern. Es hatte sich also mehr als nur gelohnt nach Rogne zu kommen, in dieses Kaff, das so fürchterlich langweilig wirkte. Anna und Rist hatten nun ein gutes Polster, wenn es um das liebe Geld ging, und Erstere hätte sich sogar neue Stiefel leisten können, hätte der Schuster ihre alten heute nicht wieder fachmännisch zurechtgemacht und sogar geputzt. Dafür, dass er im Gwent verloren hatte, hatte er das getan. Ja, so, wie es gerade war, ließ es sich leben. Und andere Leute hätten sich wohl erst einmal auf die faule Haut gelegt. Doch wer wären Anna und Rist denn gewesen, hätten sie gefaulenzt? “Also…”, fing der Jarlssohn im Bunde an und er strich sich die Kleidung vorn etwas glatt, als seine dunklen Augen Anna suchten “Wissen wir denn, wo die Bienenstöcke sind?” “Ja. Ich habe vorhin, am Metstand, noch kurz mit dem Imker gesprochen.”, die burschikose Novigraderin steckte sich gerade drei kleine Fläschchen in die Gürteltasche. Sie und Hjaldrist waren aufgerüstet und bewaffnet, dazu bereit aufzubrechen. Es war ihr dritter Tag in Rogne und sie hatten das Mittagessen gerade hinter sich. Es hatte frisch gegrillten Fisch mit Petersilienkartoffeln gegeben; ein gewöhnliches Gericht Skelliges. In Rogne wurde heute ein Fest gefeiert, durch das man dem Frühling Lebewohl sagte und den Sommer lautstark begrüßte. Dazu waren im Dorfzentrum viele bunte Bänder und Tücher aufgehängt worden, die sich in der warmen Brise bauschten. Es gab Musik, Tanz, Mjodr und Feuerstellen, über die auf Holzstöcke gespießte Fische gegrillt wurden. Es war eine schöne Feierlichkeit und da die ‘Hexe vom See Rognes’ zudem auch noch Geschichte war, waren die Bewohner des lauschigen Örtchens noch besserer Laune. Anna und Rist hatten sich die laute Feier des Dorfes die letzten Stunden über angesehen und neben dem Mittagessen auch einen Becher Bier getrunken. Gerade der Hexerstochter hatten der ganze Gesang und die Grillerei gefallen. Es hatte ihr regelrecht imponiert, denn sie hatte die skelliger Tradition den Frühling zu verabschieden nicht gekannt. Generell war sie bisher eher selten auf irgendwelchen Feiern gewesen, denn wie hätte sie auch dazu kommen können? In den Nördlichen Königreichen hatte man sie im Grunde oft belächelt oder schief angesehen. Sie hatte sich ob dem nicht besonders gerne in den Städten aufgehalten. Daneben war sie alleine gereist. Und Feste alleine zu besuchen machte keinen Spaß. Nun aber, hatte sie einen Begleiter. Dazu auch noch einen, der die hiesigen Gebräuche kannte und sich mit ihr vorhin, am Fest des Sommeranfangs, durch einen Marktstand voller Süßkram und Obst probiert hatte. Es war ziemlich unterhaltsam gewesen. Nun, da wollten die zwei Monsterjäger aber wieder an die Arbeit gehen. So schön es heute in Rogne auch war, so wollten sie nicht mehr allzu lange bleiben. Es zog sie hinaus in die Welt und deswegen hatten sie vor ihren letzten Auftrag dieser Ortschaft heute noch zu erledigen. Anna und Rist lagen später lange auf der Lauer. Sie hatten sich ein Stück von dem kleinen Dorf entfernt, in dem die gut gelaunten Leute noch immer sangen und tanzten. Bestimmt würden sie das noch bis spät in die Nacht tun, denn das Wetter war schön und der Wein lecker. Die beiden Abenteurer saßen also unweit des Grundstückes, das der Imker für seine Bienen nutzte. Vier Bienenstöcke waren dort aufgebaut, zwischen ein paar Büschen und Bäumen und nah am Waldrand des Forstes, der satt bis zum Gebirge hoch wucherte. Angeblich waren es vor den lästigen Bärenangriffen einmal mehr Stöcke gewesen. “Ich bezweifle ja, dass wir den Bären heute noch zu Gesicht bekommen.”, seufzte die Novigraderin, die mit ihrem Freund hinter einem Busch saß “Im Dorf ist es zu laut. Kein Wildtier traut sich da zu nah heran.” “Hm.”, machte Rist skeptisch “Der Bär kommt doch auch sonst nah an den Ort heran. Sieh nur, wie nah das Dorfinnere ist… das ist doch per se seltsam.” “Stimmt schon.”, brummte die Kurzhaarige, die gelangweilt im Gras saß “Ich habe einfach keine Lust mehr darauf noch länger hier zu bleiben. Den Auftrag will ich mir aber auch nicht entgehen lassen…” “Ein Dilemma.”, kommentierte Hjaldrist schmunzelnd und Anna quittierte dies mit einem verhaltenen, entnervten Stöhnen, das mehr der langweiligen Situation galt, als ihrem witzelnden Freund. Sie fuhr sich mit der behandschuhten Hand durch den Nacken, sah sich um und fing dann damit an in ihrem Rucksack herum zu wühlen, der neben ihr auf der Wiese stand. “Willst du zum Fest zurück? Wir können auch morgen nochmal kommen.”, schlug der anwesende Skelliger vor. Ein verlockendes Angebot, wenn man an Speis, Musik und Trank in Rogne dachte. Anna schüttelte dennoch den Kopf und zog ihr Gwent-Deck aus dem Rucksack hervor. Auffordernd legte sie es vor sich hin und ihr Blick traf fragend auf ihren Kumpel. “Spielen wir ne Runde.”, meinte sie. Schließlich war Kartenspielen doch ein besserer Zeitvertreib, als Löcher in die Luft zu starren und sich den Hintern tatenlos platt zu sitzen. Hjaldrist lächelte schief, dann nickte er. Und die beiden Freunde, die sich in der Wiese gegenübersaßen, spielten lange miteinander, während die Leute im entfernten Dorfzentrum klatschten, jubelten und sangen. Das Fest zur Sommerbegrüßung war nach ein, zwei Stunden des Wartens auch noch am frühen Abend im vollen Gange. Man konnte die Leute bis hierher, in die Nähe der Bienenstöcke, lachen, klatschen und singen hören. Ein gesunder, normaler Bär hätte sich eher im Wald versteckt, als hier herum zu laufen. Und dennoch: Gerade, als Anna eine Nekker-Karte ausspielte, nahm sie im Augenwinkel eine vage Bewegung wahr und hielt sofort inne. Sie sah auf, horchte und drehte den Kopf alarmiert in die Richtung des niedrig eingezäunten Imkergrundstückes. Ihre Augenbrauen wanderten hoch und augenblicklich duckte sie sich ein wenig und rutschte etwas weiter hinter das Gebüsch, das zwischen der Imkerei und dem Platz, auf dem sie saß, wuchs. Rist tat es ihr gleich und hatte das große, zottelige Tier weiter vorn ebenso längst erkannt. Zum Glück dämmerte es erst und somit war die Umgebung in die letzten, rötlichen Sonnenstrahlen getaucht. Wäre es finstere Nacht gewesen, hätten die Abenteurer den Bären kaum gesehen, nur gehört. Nun aber, konnten sie ihn von der Entfernung aus gut erkennen. Mühelos kletterte er über den Zaun des Imkers hinweg, denn schließlich reichte der einem Mensch lediglich bis zur Hüfte. Und dann steuerte das große Tier zielstrebig auf die Bienenstöcke zu. “Ich glaub’s nicht.”, atmete Anna und fasste an ihren gewickelten Schwertgriff. “Ja, wer hätte sich das gedacht…”, sagte Hjaldrist beipflichtend “Was machen wir?” “Wir schleichen uns an, soweit es geht und greifen ihn dann an?”, schlug die kampfbereite Frau aus Ermangelung anderer Optionen vor. Denn Verscheuchen brächte nichts. Der Bär würde wiederkommen, um auch noch die übrig gebliebenen, heilen Bienenstöcke zu zerstören. “Mhm. Ich könnte mir aus dem Pelz nen schönen Mantel machen lassen.”, flüsterte Rist amüsiert. Seine burschikose Kollegin schmunzelte. Und dann setzten sie sich auch schon in Bewegung. Sie kamen gleich erstaunlich weit an den hungrigen Bären heran, ohne, dass jener sie beide bemerkte. Seltsam für ein Wildtier, das eigentlich weglief, sobald es nur im Entferntesten Gefahr witterte. Doch der Vierbeiner war offensichtlich so auf die Bienenstöcke fixiert, dass er unvorsichtig war und kaum noch auf seine direkte Umgebung achtete. Er hörte die zwei Monsterjäger erst, als jene über den hölzernen Zaun der Imkerei sprangen. Hjaldrist’s Kniekacheln schepperten, Anna’s Füße kamen schwer am Boden auf und der Bär fuhr brummend herum, die eine Tatze voller Honig und mit unzähligen, verärgert schwirrenden Bienen im Rücken. Die hastende Kräuterkundige war sogleich bei dem Unfriedenstifter und schlug mit einem Kampfschrei auf den trockenen Lippen zu: Mit dem Schwert holte sie weit aus und sirrend ging jenes hernieder. Der Bär, völlig durcheinander gebracht von dem plötzlichen Angriff, warf sich herum und entkam nur dadurch der tödlich aufblitzenden Klinge der Frau. Schon war Rist neben dem großen, pelzigen Vierbeiner. Wuchtig und mit Schwung warf er sich einfach so gegen jenen und brachte ihn damit stark ins Wanken. Der Braunbär wich ab, grollte verärgert und stellte sich drohend auf die Hinterbeine. Mit den vorderen stampfte er ungeschickt und traf keinen der beiden wendigen Abenteurer. Der Geifer tropfte dem zornigen Tier vom Maul, als es ein lautes, tiefes Grölen ausstieß. Es schüttelte sich, schlug erneut mit der krallenbewehrten Pranke zu und schnappte mit den spitzen Zähnen nach Anna. Vergebens. Und als sei das Tier so intelligent eine drohende Niederlage zu bemerken, riss es sich aus dem bloßen Instinkt sich wehren zu müssen und wendete sich ab, lief los. Ja, tatsächlich, der riesige Bär floh einfach. “Ihm nach!”, Anna riss das Schwert in die Höhe und Rist eilte bereits an ihr vorbei, um dem massigen Honigdieb zu folgen. Er machte einen Satz über den niedrigen Imkerszaun und rannte so schnell, wie er nur konnte. Und die Novigraderin folgte, obwohl sie sich dabei etwas dämlich vorkam. Ja, denn eigentlich jagte sie doch Ungeheuer und Monster. Keine einfachen Bären. Im Grunde waren sie und ihr Kumpel auch viel zu versiert für ein einziges Exemplar dieser pelzigen Waldbewohner. Der Braunbär sollte ihr also leidtun. Sie seufzte tief aus, doch hetzte dem Vierbeiner mit dem braunen Zottelfell weiterhin nach. So weit, bis er an einen schmalen Felsvorsprung kam unter dem es meterweit senkrecht nach unten ging. Der Bär stoppte gerade noch so, warf den Kopf herum, brummte laut und atmete hektisch. Er schien keinerlei Ambition mehr dahingehend zu haben seine hartnäckigen Verfolger zu attackieren. Für ein Tier wie ihn, das hier so sehr in der Klemme saß, war das äußerst ungewöhnlich. Jedes wilde Geschöpf wehrte sich schließlich, wenn es bedrängt und angegriffen wurde. Erst recht, wenn es eigentlich zu den Raubtieren zählte, die nicht viele Feinde hatten. Und genau aus diesem Grund hielt Anna schlussendlich an, anstatt auf den Bären loszustürmen, der da am Rande der Klippe stand und unruhig herumtänzelte. Sie streckte den Arm in einer stummen Geste an Rist aus, damit auch jener innehielt, und anstatt das Tier blindlings zu attackieren oder vom Fels zu stoßen, näherten sie sich jenem jetzt langsam, prüfend. Der Braunbär hatte entweder enorme Angst oder er wollte den anwesenden Menschen nichts antun. Warum? Es passte nicht und stank bis zum Himmel. Und Hjaldrist, der forderte all dies mit einem Mal heraus. Er machte unerwarteter Weise einen heftigen Schritt auf den Vierbeiner zu, blaffte jenen dabei an und erhob die Axt gefährlich. Anna wusste, dass der kluge Undviker hier gerade nur Grenzen austestete und den Bären reizen wollte, weil auch er nicht glauben wollte, dass das Wildtier sich verhielt, wie ein panisches Kätzchen. Und diese Masche funktionierte. Dies mit solch einem unwirklich anmutenden Ausgang, dass es Anna die Kinnlade beinah bis zu den Knien klappen ließ: Vor ihren Augen brüllte der Bär auf und seine großen Kiefer mit den spitzen Zähnen schrumpften. Die braunen Zottelhaare verschwanden von seinen Pranken, dem Gesicht dem Rücken, und er streckte das Kreuz durch. Es war auf eine morbide Art faszinierend. Und ehe sich die perplexe Giftmischerin am Platz versehen konnte, stand da ein Kerl vor Hjaldrist und ihr. Ein völlig gewöhnlicher Typ mit kurzen, braunen Haaren und Vollbart. Nach seiner vorangegangenen Verwandlung war er nackt, bedeckte sich, Melitele sei Dank, aber sofort mit den Händen. Anna’s Augen hatten sich im Unglauben geweitet. Und auch ihr Kumpel stand nunmehr regungslos da und gab irgendetwas von sich, das klang wie ein irritierter, leiser Fluch. “Wartet!”, der ehemalige Bär, der nun ein Mann von etwa vierzig Jahren war, bat Hjaldrist, der sich zuvor noch groß gemacht und herum geblafft hatte, darum aufzuhören. “Ich will niemandem etwas zuleide tun!”, wehrte sich der Fremde mit schnellen Worten. Und Anna fing an zu verstehen. Ja, klar! Dieser seltsame Kerl hier war nicht weggelaufen, weil er Schiss gehabt hatte. Er war davongestoben, weil er nicht hatte kämpfen wollen. Weil er kein Mörder war. Er war zwar einer der Vildkaarle, der sogenannten ‘Bärenberserker’, doch das hieß nicht, dass er unzivilisiert war und sich alles erlaubte. Das einzige, das er heimlich tat, war es den örtlichen Imker zu ruinieren. “Was zum Geier?”, konnte man Rist maulen hören, als sei es völlig gewöhnlich einen Vildkaarl anzutreffen “Was soll das?” “Ich kann es erklären!”, der Bärenmann, der sicher um einen halben Kopf größer war, als seine Jäger, hob die Hände abwehrend vor sich, was dazu führte, dass er sich die Scham nicht mehr bedeckte und Anna den Blick betreten abwendete. Rist aber, den störte das in keinster Weise. “Ja, dann mach das mal!”, forderte der Undviker rüde “Was soll die Scheiße mit den Bienenstöcken?” “Ich… äh-”, stammelte der konfrontierte Braunhaarige und Hjaldrist hielt seine Waffe noch immer demonstrativ in beiden Händen. Die vorherrschende Stimmung war äußerst angespannt. “Raus mit der Sprache!”, tönte Rist herrisch. “Ja, ja… schon gut!”, keuchte der Nackte überwältigt “Ich… ich wollte Holm eins auswischen!” “Was?” “Ihm… gehören die Bienen. Und naja-” “Und dafür verwandelst du dich in einen Bären und zerstört seine Bienenstöcke?”, maulte der Schönling fassungslos. Der blasse Fremde senkte den Blick stumm und blieb peinlich berührt stehen. Auch hielt er sich die Hände wieder vor den Schritt, wofür Anna mehr als nur dankbar war. Es vergingen einige Augenblicke des Schweigens. Niemand sagte etwas. Der ertappte Vildkaarl betrachtete seine Zehen, Rist starrte den Typen an, als wüsste er nicht, was er von jenem halten sollte, und Anna stand da, wie bestellt und nicht abgeholt. Sie kramte in ihrem Kopf nach passenden Worten, nach Fragen. Und sie fand auch eine. Na, immerhin. “Und… warum wolltet Ihr diesem Holm eins auswischen? Was hat er getan?”, wollte die Frau neugierig wissen und sah dem Bärtigen abwartend entgegen. Ungeduldig wechselte sie das Standbein und verschränkte die Arme locker vor der Brust. “Er ist ein Bastard.”, kam es relativ schnell und abfällig als Antwort “Er hat mir meine Hilda ausgespannt.” Rist warf Anna über die Schulter einen Blick zu. “Das rechtfertigt aber nicht, dass Ihr sein Hab und Gut zerstört. Wie viele Bienenstöcke sind kaputt? Acht, neun?”, konterte die unzufriedene Novigraderin, die sich eigentlich eine bessere Erklärung erhofft hatte. “Oh, ihr zwei habt ja gar keine Ahnung!”, brummte der Fremde. Noch immer sah er nicht auf und verengte die Augen böse, während er seine Füße betrachtete. “Das stimmt. Und das will ich auch nicht. Echt nicht. Hört einfach auf mit dem Scheiß und zahlt uns eine Entschädigung. Dann sagen wir unserem Auftraggeber, dass wir Euch, den dreisten Honigdieb, von der Klippe gestoßen haben und die Sirenen längst an euch nagen.”, schlug die versierte Hexerstochter vor. Gewitzt verlangte sie natürlich nach Geld, denn sie wusste, dass jetzt nichts mehr daraus werden würde dem Imker einen Bärenschädel vorbei zu bringen. Der Vildkaarl hob den Kopf, um Anna verbissen anzustarren. “Oder macht weiter und wir verpetzen Euch. Mir ist es einerlei.”, sie zuckte mit den schmalen Schultern und tat gleichgültig. Doch ganz tief im Innern hoffte sie inständig darauf, dass der nackte Mann anbeißen würde. “Nein! Ihr könnt es den anderen nicht sagen!”, schnappte jener sofort und man sah ihn trocken schlucken “Niemand würde mich mehr in Rogne haben wollen! Das ist Erpressung!”. Anna schnaubte grimmig amüsiert und lächelte überlegen. “Na also. Dann lasst das sinnlose Zerstören sein und bezahlt uns. Euer Imkerfreund hätte uns fünfzig Kupferstücke für einen toten Bären gegeben. Bestimmt könnt Ihr das überbieten.”, meinte sie fordernd und Rist nickte zustimmend. Man hörte den Bärenmann lange seufzen. Doch er gab nach. Er musste. Denn einen anderen Weg weiterhin in Rogne leben zu können und dabei keinen fragwürdigen Ruf und sehr böse Blicke der Nachbarn zu kassieren, gab es nicht. “Also gut.”, grummelte der Kerl daher nurmehr und beendete damit die letzte, örtliche Aufgabe der beiden ambitionierten Monsterjäger, die voraussichtlich schon morgen abreisen könnten “Ich gebe euch fünfundfünfzig Kupfer. Aber bitte erzählt niemandem von meinen Taten.” Kapitel 17: Wenn das Licht ausgeht, dann sterben Menschen --------------------------------------------------------- Es hatte keine zwei Tage gedauert, bis Anna und Hjaldrist wieder im großen Hafen Kaer Troldes angekommen waren. Der Abstieg hinter Rogne war nicht sonderlich schwer gewesen, noch hatten sie sich am Ende eines nahenden Unwetters wegen sehr beeilen müssen. Lin hatte sie auf diesem Weg begleitet. Sobald die beiden Abenteurer das Kaff in den Bergen verlassen hatten, war der Göttling wieder aufgetaucht. Wie immer war er dann neben dem schnaubenden Kurt her gehüpft und hatte pfeifend Blumen gepflückt. Später, da hatte er jene einmal wieder zu hübschen Kränzen geflochten. Jeder hatte einen davon bekommen: Anna einen kleineren für die Haare und Rist einen größeren zum Umhängen. Der Skelliger hatte nämlich äußerst skeptisch ausgesehen, nachdem er den ihm angebotenen Kopfschmuck aus Margeriten, Geranien und Bleiwurz betrachtet hatte. Daraufhin hatte ihm der fröhliche Göttling einfach eine Kette gebastelt und das, ohne es dem Undviker übel zu nehmen. Diese Blumenkränze waren dann, im Laufe der Reise, auf die beiden braunen Pferde übergegangen und noch immer baumelten sie an deren langen Hälsen und legten sich hübsch um die felligen Ohren. Apfelstrudel und Kurt störten sich bis jetzt kaum daran. Sie standen angebunden vor der vollen, lauten Hafenschenke Kaer Troldes, während Hjaldrist und Anna unweit mit einem Mann sprachen, der ganz und gar nicht so aussah, wie ein Skelliger. Er war hager, glattrasiert und hatte eine Hakennase, die ihm das Aussehen eines alten Adlers verlieh. Er trug eine Nietbrille aus weißem Horn, die er sich auf die große Nase geklemmt hatte, und Kleidung, die eindeutig aus den Nördlichen Königreichen stammte. Er faltete die knochigen Finger locker ineinander, als er Anna nachdenklich ansah und den Blick dann zu deren Begleiter wandern ließ. Das vermeintliche ‘Kind’ in der zu großen Kleidung und mit der weiten Kapuze am Kopf, das neben der Kriegerin stand, übersah er geflissentlich. Seine Miene war taxierend, ein wenig abfällig und arrogant. Er nickte. Irgendwo ertönte eine Schiffsglocke und Menschen lachten. “Ich kann euch einen Platz auf meinem Schiff anbieten.”, sagte er und zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit hörte die Giftmischerin jemanden in einem nördlichen Akzent sprechen. “Sechs Kronen und ihr könnt auch eure Pferde mitnehmen.”, schlug die Hakennase vor und Rist runzelte die Stirn tief. Das Meer rauschte unter moderatem Wellengang schäumend im Hintergrund. Kleine Boote schwappten an der langen Anlegestelle hin und her und es roch nach Salzwasser und Algen. Sturmvögel kreisten weit oben, am klaren Mittagshimmel. “Das ist viel für eine Bootsfahrt nach Cintra.”, stellte der kritische Undviker unzufrieden fest, für den die Schifffahrt für gewöhnlich zum Alltag gehörte. Bestimmt hätte er selbst das Ruder in die Hand genommen, um sich und seine Begleiter gen Osten zu bringen, hätte er denn ein eigenes Boot besessen. Er hatte nur leider keines. “Die Nachfrage ist hoch. Und wenn ihr das Angebot nicht annehmt, dann tut das ein anderer.”, der Kapitän zuckte gleichgültig die Achseln. Anna sah zwischen ihm und Rist hin und her, verzog die Mundwinkel leicht. Lin blieb nach wie vor brav neben ihr und rührte sich kaum. Vielleicht hatte er gar etwas Angst. Man hatte ihm geraten das unmenschliche Gesicht unter der lockeren Kopfbedeckung zu verbergen und nicht allzu auffällig zu sein. Hier, am Hafen, würde man ihn so für ein gewöhnliches Kind halten. Er würde niemandem in die Augen stechen und das war wichtig, denn tatsächlich wollte Lin mit nach Cintra. Anna holte gerade Luft, um etwas bezüglich des hohen Preises der Schifffahrt einzuwerfen, da fiel ihr eine Frau auf, die direkt in ihre Richtung sah. Ja, jene gaffte nahezu. Vom oberen Steg des Hafens aus linste sie neugierig herunter und die roten Haare, die ihr unter der braunen Kapuze herausfielen, wehten leicht im Wind. Sie wirkte erstaunt, doch wendete den Kopf sofort ertappt ab, als ihr stechender Blick auf den Annas traf. Sie zog sich die weite Kapuze tiefer ins schmale Gesicht und ging rasch weiter. Doch die Novigraderin, die Hjaldrist und Kapitän Nase kurz vergessen hatte, starrte noch immer. Und ihr wirrer Kopf arbeitete auf Hochtouren. Diese rothaarige Frau von gerade eben. Die, die so interessiert hierher gesehen hatte… Anna kannte sie von irgendwoher. Nur von wo genau? Oder bildete sie sich all das nur ein? Vor ihrem geistigen Auge materialisierte sich schleppend ein Bild. Das Bild einer arrogant auf sie herab lugenden Soldatin mit markanten Sommersprossen. Deren roten Haare hatten damals, in Redgill, schon im Wind geweht. Oh! Anna weitete in ihrer stummen Erkenntnis die braunen Augen und wollte sich herum wenden, um der Frau im braunen Umhang nach zu sehen, da berührte Rist sie aufmerksam am Arm. Lin sah vorsichtig und fragend auf. “Du drei, ich drei?”, fragte der dunkelhaarige Mann und die Hexerstochter wusste zunächst gar nicht, was er meinte. Doch dann erinnerte sie sich sogleich an das Angebot des unsympathischen Kapitäns, der sie im Moment ungeduldig abwartend musterte. “Ja. Ja…”, entkam es der Kurzhaarigen, als sei sie nicht mehr so ganz anwesend. Hakennase nickte zufrieden, während die Meeresbrise angenehm frisch durch die Bucht wehte. “Wir setzen heute noch ab. Esst von mir aus noch etwas im Gasthaus. Dann bringt eure Pferde an Bord. Und kommt nicht zu spät, ich werde nicht warten.”, verkündete der Kapitän. “Alles klar.”, Rist, der nicht sonderlich erfreut darüber war so viel Geld für das Übersetzen nach Cintra zahlen zu müssen, hob die Hand dennoch in einem stillen Gruß an den dünnen Kapitän, der sich nicht namentlich vorgestellt hatte. “Hast du das gesehen?”, fragte die Monsterjägerin dann und sah ihren verwirrten Freund aufgebracht an “Da war diese Frau.” “Was für eine Frau?”, der Skelliger legte die Stirn erneut in Falten und auch der halb vermummte Göttling blinzelte irritiert, während sich Adlernase längst entfernt hatte, um seiner geschäftigen Arbeit nachzugehen. “Da war diese Frau aus Redgill. Glaube ich.”, murmelte die Novigraderin verheißungsvoll und Rist sah auf diese Aussage hin hastig an ihr vorbei, um die dunklen Augen prüfend über den Steg und die Hafenmauer wandern zu lassen. “Wo?”, wollte er mit härterer Miene als noch zuvor wissen. Lin’s große Augen, die im Schatten seiner Kapuze lagen, folgten dem Blick des Skelligers. Der Kleine wirkte aufgeregt, obwohl er nicht wusste um wen es ging. “Sie war dort oben, am Steg.”, sagte Anna verschlagen und deutete in die Richtung, in der sie die Schnepfe im Kapuzenmantel erblickt hatte. Jene war nicht mehr da und auch ringsum nirgends zu sehen. Als hätte sie sich einfach so in Luft aufgelöst. Trotzdem glaubte Hjaldrist seiner Kollegin offenkundig, denn sein Ausdruck wurde richtig streng. So, als beunruhige ihn die Tatsache, dass sich seine alte Bekannte aus Undvik hier, irgendwo in der Nähe, aufhielt, sehr. “Sehen wir zu, dass wir zu Mittag essen und dann verschwinden...”, brummte der Mann mit einer Stimme, die zu seinem todernsten Gesicht passte. Er berührte seine Freundin auffordernd am Kreuz und wollte sie damit zum Gehen animieren. “Du wirkst so, als ob es dir ganz und gar nicht gefällt, dass diese Frau hier ist.”, stellte Anna sofort fest und die Möwen am Pier krähten laut. Ein ganzer Schwarm von ihnen flatterte unweit, denn eines der Fischerboote legte an und die Vögel erhofften sich natürlich etwas vom Fang abzubekommen. “Tut es auch nicht.”, gab der Jarlssohn ehrlich zu. “Es war eigenartig, dass sie in Redgill war. Aber soweit ich das richtig deute, wart ihr doch mal Freunde?”, wollte die Kurzhaarige wissen. Rist sah auf diese Worte hin ziemlich verzwickt drein. Ja, er mutete gar etwas betreten an und das hätte nun vielerlei bedeuten können. Jedoch kam Anna sofort eine einzige Annahme in den Sinn. “Oh.”, machte sie “Ihr hattet mal was miteinander?” “Das-… naja. So einfach ist das nicht.”, meinte Rist daraufhin und musste sich leise räuspern “Es wäre mir jedenfalls lieber, sie wäre nicht hier. Bist du dir sicher, dass es sie war, die du gesehen hast?” Nachdenklich wiegte Anna den Kopf und trat von einem Bein auf das andere. Dann nickte sie langsam. “Ich habe zwar ein schlechtes Namensgedächtnis, aber Gesichter merke ich mir.”, schmunzelte sie und versuchte es zu verbergen, wie unwohl sie sich just fühlte. “Mh.”, Hjaldrist fuhr sich grüblerisch über das Kinn und seine Miene war nach wie vor hart “Ich fühle mich beobachtet. Gehen wir in die Taverne. Dort können wir weiterreden.” “Ihr Name ist Svenja, falls du dich erinnern kannst. Ich kenne sie von klein auf, wir sind beide in Undvik aufgewachsen und haben als Kinder oft zusammen gespielt.”, Hjaldrist stocherte in seinen verführerisch duftenden Bratkartoffeln mit Speck herum, als er Anna etwas später im Gasthaus gegenüber saß. Die hungrige Frau hatte eine Schale dampfender Fischsuppe mit Brot vor sich stehen und wunderte sich darüber, dass Rist so offen sprach. Ja, sie hatten zwar ausgemacht mit offenen Karten zu spielen, doch sie hätte sich niemals gedacht, dass ihr früher so verschlossener Kumpel nun so viel von sich erzählen würde. Lin saß neben dem besagten Mann und fummelte ein Stück Zwiebel von einem Gemüsespieß. Ein Wunder, wie unauffällig sich dieses sonst so aufgedrehte Wesen verhalten konnte, wenn es wollte. Der schmierige Wirt hatte es erst vor wenigen Augenblicken unwissend als Kind der beiden Abenteurer tituliert. “Aber du warst-... äh, bist der Sohn eines Jarls.”, murmelte Anna leise, damit die paar Leute am Nebentisch nicht mithören konnten. “Ja. Und?” “Nun ja, in den Nördlichen Königreichen spielen die Kinder der Regenten für gewöhnlich nicht mit denen der normalen Leute.”, glaubte die Kurzhaarige und lächelte unbeholfen. “Das kann man nicht vergleichen.”, seufzte der Axtkämpfer “Auf Skellige sehen wir das nicht so streng. Jarlskinder springen hier auch schon mal im Matsch herum. Zwar mit Leibwächtern im Hintergrund, die aufpassen, aber dennoch.” “Ach so…”, Anna kratzte sich am Hinterkopf. “Jedenfalls waren wir lange miteinander befreundet. Irgendwann, da fing Svenja aber damit an von mir zu schwärmen. Ich war jung und dumm und den Rest kannst du dir ja denken.”, murrte der gesprächige Skelliger und steckte sich einen großen Happen fettiger Bratkartoffeln in den Mund. Er rollte leicht mit den Augen, entnervt von den trüben Gedanken an die Vergangenheit in seinem Heimatort. “Es lief nicht gut?”, schätzte Anna. “Nein. Ich verließ sie und sie wurde sehr wütend.”, nuschelte Rist mit vollem Mund. Mehr sprach er aber nicht, denn sonst hätte er vermutlich sein halb zerkautes Essen verloren. “Hmm…”, die nachdenkliche Kurzhaarige taxierte ihren Freund kurz und schöpfte sich Suppe auf den Löffel. In jener schwamm irgendetwas Undefinierbares, Fischiges. Doch es roch und schmeckte gut, daher beschwerte sich die Novigraderin nicht. Gleichzeitig, als sie an Svenja dachte, die in jüngeren Jahren von Rist abgewimmelt worden war, musste sie an den Abend denken, an dem der besagte Undviker aufgetaucht war, um Anna zu wecken, weil sie im Badezuber Adlets vor Erschöpfung eingeschlafen war. Ihr Ausdruck nahm etwas leicht Verstohlenes, Wölfisches an. Sie musste schmal lächeln. “Sie sah wohl auch aus wie ein Kerl, was?”, konnte die Hexerstochter es sich nicht verkneifen und Hjaldrist stockte, hielt inne. Sein Blick verriet, dass er erst einmal nicht so recht wusste, worauf seine schnaubende Freundin anspielte. Dann aber lockerte sich seine fragende Miene und er konnte es sich denken. “Du bist ja ganz schön nachtragend...”, stellte er fest und klang unheimlich belustigt dabei. Anna sagte dazu nichts, sondern lenkte das Thema wieder auf dessen Ursprung zurück. “Du hast sie also abserviert. Und dann? Ist es dir nur deswegen unangenehm, dass sie dir ganz offensichtlich bis heute nachläuft?”, fragte die Trankmischerin halbernst. Im Grunde war sie aber auch besorgt, denn es war ein hartes Stück, dass Svenja Hjaldrist noch immer hinterherzurennen schien. Diese Frau wirkte dadurch und gelinde ausgedrückt, wie besessen. “Svenja ging zum Heer.”, erklärte Hjaldrist endlich weiter “Sie wollte ihrem Ärger wohl Luft machen oder sich und anderen etwas beweisen. Vielleicht wollte sie ja auch zeigen, wie stark sie ohne mich ist. Oder später eine Leibwache werden, um mir nah zu sein. Keine Ahnung.” “Hm. Kann sein.”, kommentierte die Suppe löffelnde Hexerstochter, die ja nicht so recht wusste, was sie an Svenja’s Stelle getan hätte. Sie, naja, hatte sich im Leben aber auch nie über Hals und Ohren in jemanden verliebt. Ihre bisherigen Bekanntschaften waren nur Bettgefährtinnen gewesen, deren Namen sie teils gar nicht gekannt hatte. Sie waren allesamt gewöhnlich gewesen, nicht besonders und ab und an sogar ganz schön… blank. Ja, das traf es wohl. Diese hübschen Mädchen waren so klischeehaft normal und langweilig gewesen, dass man sie hätte austauschen können. Mägde, Schankweiber, Töchter irgendwelcher Dörfler. Frauen, die nicht hatten lesen und schreiben können und die hinter vorgehaltenen Händen gekichert oder protestlos gequietscht hatten, als ihnen die Männer in den Tavernen in die Ärsche gezwickt hatten. Sie hatten gekuscht, ihre öde Arbeit verrichtet und kein Ego besessen. Es hatte nichts gegeben, das sie ausgezeichnet hatte. Wie sollte man sich also in solche Menschen verlieben können? Und mit den Männern hatte Anna zu wenig zu tun gehabt. In den Orten, die sie bereist hatte, hatte es zudem mehrheitlich Rüpel gegeben. Proleten, die sich ihren widerlichen Kumpanen gegenüber beweisen hatten wollen, meterweit gegen den Wind gestunken, stolz gerülpst und laut gefurzt hatten. All das war nicht sonderlich attraktiv. Und es machte Kerle, die per se eigentlich nicht schlecht aussahen, so interessant, wie Komposthaufen. Also gab es niemanden, der der eigensinnigen Anna je den Kopf verdreht hatte. Vielleicht hatte sie ja auch nicht die Veranlagung für sowas. Für das Sich-Verlieben und Romantik. Aber war ja auch egal. Sie hatte ohnehin keine Zeit für solche Späße, denn sie musste arbeiten und wollte die Formel für ihre Kräuterprobe finden. “Jedenfalls war sie dann eine Schildmaid Undviks und stellte sich dabei nicht blöd an.”, setzte Hjaldrist fort und auch Lin hörte aufmerksam zu. Unter dem Tisch ließ der Göttling die Füße fröhlich von der Holzbank baumeln. “Irgendwann wurde ihr das aber zu eintönig und nachdem sie bereits einige Kontakte hatte und gut reden konnte, ging sie zu den Spionen. Zu den ‘Skrugga’, wie man sie nennt, den ‘Jarlsschatten’ meines Vaters Halbjørn. Ich habe von einem Bekannten aus der Armee, einem damaligen Verflossenen von ihr, gehört, dass sie ganz schön manipulativ sein kann. Also passte die neue Arbeit ja zu ihr…”, sagte Rist vielsagend und Anna sah ihn mittlerweile ganz groß an. “Svenja kam viel herum und hat mit ihrem Mentor einige Aufgaben für meinen Vater erledigt. Spione der Jarls, musst du wissen, werden in Beziehungen zu anderen Clans eingesetzt. Als Diplomaten, Boten und vor allem, naja, als Spione eben.”, erklärte der Undviker weiter. Seine Freundin aus Kaer Morhen begann langsam zu verstehen, worauf er hinauswollte und ihr Ausdruck wurde angespannter. “Du glaubst also, sie arbeitet noch immer für deinen Vater?”, kam sie dem Schönling verschwörerisch zuvor. Jener biss die Zähne zusammen und atmete flach durch die Nase aus. Dann nickte er zögerlich. “Warum sollte sie sonst zuerst in Redgill auftauchen und dann hier? Nenn es von mir aus Verfolgungswahn, aber ich bezweifle, dass das ein Zufall ist. Umso schneller wir von hier wegkommen, desto besser.”, sagte Rist und sah die mitfiebernde Anna dabei todernst an. “Die Frau ist böse?”, flüsterte Lin und der Undviker zuckte mit den Schultern. “In gewisser Weise…”, murrte Hjaldrist dabei. Seine beste Freundin sah ihn durchdringend an und fuhr sich grüblerisch über den Nasenrücken. Sie atmete einmal tief durch, dann setzte sie erneut zum Sprechen an. “Würde dir dein Vater wirklich eine Spionin nachschicken?”, wollte Anna wissen. Dabei dachte sie an Balthar und fragte sich, ob auch jener nach ihr suchte. Ob er sich sorgte? Oder hielt er sein Mündel schon für tot? Sie zog die Brauen etwas zusammen. Und was war mit Vadim und Jaromir? “Ich traue es ihm zu.”, sagte Hjaldrist ehrlich “Wer, der die Möglichkeit dazu hat, würde das nicht tun?” “Klingt logisch.” “Aber ich gehe nicht zurück. Und sollte Svenja es darauf ansetzen ihm Bericht zu erstatten, haue ich hier gerne so schnell ab, wie möglich. Niemand wird mich finden und zurück nach Caer Gvalch’ca schleifen.”, sagte der Skelliger mit den Bratkartoffeln mürrisch und sein Ausdruck war dunkel. Er war nervös, das merkte man ihm an. Hatte er etwa Angst vor seinem Vater? Respekt? Oder schätzte die Hexerstochter ihn einfach nur falsch ein? “...Warum bist du eigentlich fortgelaufen? Und… Caer Gvalch’ca? Ist das die Stadt, wo du lebtest? Erzähl.”, hakte die hartnäckige Frau dann plötzlich nach und ihr Kumpel, der etwas gebratenen Speck auf seine Gabel geschaufelt hatte, ließ sein Essbesteck einen Deut weit sinken. Genauso, wie seine Schultern. Zunächst sagte er nichts, doch nach dem abwartenden Starren der Kurzhaarigen, die keine Lügen mehr duldete, rang er sich dazu durch die Wahrheit zu sagen. “Ja, ich bin in Caer Gvalch’ca aufgewachsen. Man nennt es auch Falkenburg und es liegt im Norden Undviks.” berichtete Rist und zog die Brauen zusammen, als er unzufrieden auf sein Essen starrte “Und … mein Vater wollte mir dort einen Posten andrehen, den ich nicht haben wollte.” “Wie? Du wolltest kein Jarl werden?”, fragte die ungläubige Anna verblüfft und mit gesenkter Stimme. Denn noch immer waren da andere Tavernengäste, die mithören könnten. “Nein. Also… doch. Aber darum geht es nicht.”, gab Rist zurück und die Kriegerin sah ihn geduldig abwartend an. Sie war neugierig. “Mein Vater will meinen jüngeren Bruder zum Jarl machen, weil der kriegerischer ist, als ich. Haldorn ist schon immer barscher, größer und lauter gewesen. Ich habe im Gegenzug lieber meinen Kopf eingesetzt, als meine Fäuste. Und, verdammte Axt, auf Skellige werden nunmal die zu Anführern, die Anderen am heftigsten die Fressen polieren können.”, entkam es dem Dunkelhaarigen und man merkte ihm durchaus an, dass ihm das ganze Thema nah ging. Er wurde zwar nicht sonderlich emotional, doch da schwang tiefe Kränkung und Enttäuschung in seinem Unterton mit. Anna konnte das durchaus verstehen. Sie versuchte nicht allzu mitleidig auszusehen, sondern ernst und aufrichtig. Denn ihr guter Kumpel hier vertraute sich ihr schließlich gerade an. “Welchen Posten hättest du denn bekommen?”, wollte sie wissen. “Den als Berater und sogenannte Rechte Hand. Tse. Ich hatte keine Lust darauf als Schatten meines kleinen Bruders zu leben, ganz ehrlich.”, schnaufte der Kerl. Ein gutes Argument, denn wer, der große Ambitionen und eigene Vorstellungen besaß, wollte so etwas schon? Anna nickte. Die ‘Serena’, das große Handelsschiff von Kapitän Nase, legte erst am frühen Abend ab. Mit dem optimistischen Versprechen des Mannes aus Cintra die besagte Stadt in etwa zwei Tagen zu erreichen, waren die zwei Abenteurer mitsamt Lin an Deck gegangen. Ihre beiden Pferde hatten sie im Frachtraum angebunden, nachdem sie ihnen zur Beruhigung ein paar Äpfel und Möhren aus der Taverne angeboten hatten. Und während sich die Vierbeiner nach wenigen Stunden auf hoher See beruhigt hatten, war die arme Anna im Gegenzug ganz schön blass um die Nase geworden. Der Grund dafür war klar, denn sie hatte keinen Tropfen ihres Schlafmittels von Drakensund mehr übrig. Verdammte Kacke! Hjaldrist würde die nächsten zwei Tage über also viel damit zu tun haben seine nervöse Freundin zu beschwichtigen und ihr Kotzkübel zu bringen. * Die geschaffte Anna war in der zweiten Nacht auf der Serena besonders ruhelos und vermochte es einfach nicht einzuschlafen. Draußen heulte der Sturm und brachte das Schiff ganz schön zum Wanken und Schaukeln. Es knarrte und platschte, rauschte und toste. Wellen schlugen hart an den Schiffskörper und ein jedes Mal, wenn das geschah, zuckte die burschikose Frau zusammen. Die Novigraderin mit dem flauen Magen hatte Mühe damit sich zu beherrschen. Und während Hjaldrist und Lin seelenruhig im Frachtraum, nahe der Pferde, auf Decken und Fellen schliefen, wanderte die Hexerstochter nun schon seit gefühlten Stunden ziellos umher. Dies teils sogar taumelnd, weil der unstete Wellengang die Serena nur so umher riss. Anna ging leise in sich hinein schimpfend an Lagerkisten mit Getreide und an Fässern voller Salz vorbei, stöhnte immer wieder leise und atmete gezwungen ruhig aus. Oh, bei der Unterbuchse der Melitele, warum hörte das dumme Geschwanke denn nicht auf? Warum, zum Geier, musste es immer dann Unwetter geben, wenn SIE auf See war, hm? Warum? Womit hatte sie das verdient? Die Frau, die gerade nicht mehr trug als Hose, Stiefel, locker sitzendes Hemd und den obligatorischen Langdolch aus Silber, bahnte sich also einen holprigen Weg durch den Bauch des Schiffes, das der Wind völlig in der Mangel hatte. Ihr Ziel war die breite, gezimmerte Treppe, die nach oben führte. Sie würde den Teufel tun beim vorherrschenden Scheißwetter an Deck zu gehen, doch sie müsste dringend frische Luft schnappen. Also würde sie zur Pforte des Frachtraumes gehen und sich dort zwischen Tür und Angel aufhalten, um ein paar tiefe Atemzüge zu tun. Sie müsste dafür nicht ganz nach oben und das war gut so. Generell war sie nicht erpicht darauf ihre Füße an Deck eines segelnden Wassergefährts zu setzen. Anna’s aufgewühlter Blick schweifte beiläufig umher. An den Schiffswänden waren hier und da rostige Öllampen montiert, die nur wenig Licht verströmten und quietschend mit dem unsteten Wellengang schaukelten. Rhythmisch taten sie das und malten dabei einen fahlen, gespenstischen Schein auf Kisten und Truhen ringsumher. Daneben schliefen hier unten an die zehn Menschen. Sie waren Reisende, wie Anna, Rist und Lin. Darunter befanden sich ein eigenbrötlerischer Professor der Akademie in Oxenfurt, ein Freund des Kapitäns, ein Paar mit Hund und andere, recht gewöhnliche Menschen. Einer von ihnen schnarchte just so laut, dass es wie ein fernes Donnergrollen klang. Anna linste aus dem Augenwinkel böse in die Richtung, aus der das fürchterliche Geschnarche kam, und schüttelte den Kopf leicht. Denn wenn sie neben Proleten und Hunger etwas nicht ausstehen konnte, dann Schnarcher. Anna schnaufte entnervt. Und als sie dann wieder nach vorn blickte, um auf ihren Weg im unordentlichen, weitläufigen Frachtraum zu achten, blickte sie einem Mann entgegen, der plötzlich vor ihr stand. Die Kräuterkundige hatte ihn gar nicht kommen sehen und erschrak beinah, ehe sie den Fremden taxierte. Er war schlank und so groß, wie die Novigraderin selbst. Seine Haare waren halblang und etwas wirr. Im Halbdunkel unter Deck konnte die unschlüssige Anna ihn kaum erkennen und auch seine vermeintlich enge Kleidung war nicht mehr, als ein dunkler Schemen. Fragend blinzelte die Frau und wollte etwas sagen. Da öffnete der Mann auf einmal den unnatürlich breiten Mund und atmete tief ein. Während er dies tat, begannen all die Lichter im Frachtraum damit unruhig zu flackern. Ja, als der Kerl die Luft einsog, schien er gleichauf an den Feuern zu zehren. Jene entschwebten den kleinen Laternen aus Metall und Glas, flirrten durch die Luft und zogen an Anna vorbei, um zu dem Fremden zu fliegen. Jener öffnete den Froschmund weiter und streckte seine Zunge heraus, wie ein Kind, das im Winter Schneeflocken fangen wollte. Anna weitete die Augen sprachlos und rührte sich kein Stück weit. Sie fasste den Moment nicht und war vollkommen überwältigt von dem, was sie sah: Die tanzenden Feuerchen der Laternen legten sich auf die Zunge des Wesens vor ihr und wurden von jenem verschluckt. Stockfinster wurde es. Und als das Monster dann wieder ruhig und flach ausatmete, rann ihm das Licht in zähen Schlieren aus dem Mund und erfüllte ihm die Augen mit Gold. Die Hexerstochter, die im völligen Dunkel stand und nurmehr hell gefärbte Zähne, Lippen und Augen sah, stockte heftig. Sie war dermaßen perplex und auf entrückte Art fasziniert, dass sie es nicht einmal zusammenbrachte den kleinsten Ton von sich zu geben oder sich aus ihrer Starre zu lösen. Drängende Wärme quoll ihr entgegen, als stünde sie im Winter vor einem lodernden Lagerfeuer. Sie gaffte irritiert, hatte so etwas wie DAS HIER noch nie im Leben gesehen. Ihre geweiteten Augen wanderten gen Ungeheuer-Mund, aus dem das flüssige Licht tropfte und sie erkannte viele, ebene und gerade Zähne. Sie sahen zu gleichmäßig und viel zu schön aus, als dass sie menschlich sein konnten. Ja, das hier war definitiv kein Mensch. Auch kein Elf. Das hier war… ja, was war es denn? Die burschikose Hexerstochter gab endlich einen überforderten Laut von sich, als sie sich dies fragte. Und in dieser Sekunde, als sie japste, reagierte der Lichtschlucker vor ihr abrupt. Seine dunklen Pupillen weiteten sich und wurden so groß, dass sie das Gold in den mandelförmigen Augen beinah völlig verdeckten. Wie bei einer Katze, die darauf aus war auf ihre Beute los zu springen. Anna traf diese Erkenntnis, wie ein harscher Schubs und sie wich erschrocken zurück. Das Wesen setzte auch tatsächlich vor, doch es kam dabei nicht auf Anna zu. Es sprang zur Decke und seine Finger und Füße hefteten sich sofort an jene, wie die einer Spinne. Von dort oben zu Anna herab starrend, fauchte das Ungeheuer dann, dass das flüssige Licht, der unnatürliche Speichel, nur so sprühte. Dort, wo der Geifer hinfiel, fraß sich die Glut in das gebeizte Holz und aufgebracht strauchelnd wich Anna einem dicken Tropfen davon aus. Das Schnarren des Unbekannten indes, klang wie die Drohgebärde eines wilden Tieres und riss Anna mit einem Mal aus ihrer verdatterten Unbeholfenheit. Sie zuckte heftig zusammen und zog einen Atemzug später das lange Silbermesser. Sie holte Luft, um laut nach ihrem skelliger Begleiter zu rufen, und Hjaldrist’s Name hallte folglich laut durch den Schiffsbauch und würde nicht nur ihn, sondern auch die restliche Belegschaft wecken. Anna hatte ihren besten Freund schon oft ziemlich ernst und ebenso drängend bei seinem vollen Namen gerufen. Doch noch nie zuvor hatte Skelliger so prompt reagiert, wie jetzt. Die gehetzte Novigraderin hatte sich kaum versehen, da war der Mann bei ihr. Vom Schlafen etwas zerwühlt aussehend, mit schief sitzendem Hemd und seiner teuren Familienaxt in der Hand kam er an. Der Dunkelhaarige fluchte verwirrt und ein paar der anderen Leute schrien empört auf, denn sie hatten den bedrohlichen Lichtschlucker an der Decke entdeckt. Der räudige Köter des Paares, das mit an Deck gekommen war, kläffte zornig, und irgendwo heulte ein Kleinkind mit hoher, in den Ohren klingelnder Stimme los. Apfelstrudel und Kurt wieherten angstvoll und warfen die Köpfe unruhig zurück. “Anna!”, fing Rist an, als er neben seiner Freundin in Not zum Stehen kam. Den Weg durch die plötzliche, schwankende Dunkelheit unter Deck hatte er nur so schnell gefunden, weil er die grün leuchtende Laterne von Märthe, deren Flamme nicht zum Futter des Lichtschluckers geworden war, bei sich hatte. Er hatte sie sich an den Gürtel gehängt, was problemlos möglich war, denn aus unerfindlichen Gründen wurde das verzauberte Lampengestell niemals heiß. Der planlose Skelliger kam nicht mehr dazu seine beunruhigte Frage auszusprechen, denn ganz plötzlich hoben sich seine Füße vom ebenen Boden ab. Genauso, wie es die der Alchemistin neben ihm taten. Es ging alles so verdammt schnell. Sie beide gaben überwältigte Laute von sich, als sie kurz glaubten zu schweben. Doch das taten sie nicht. Sie fielen. Und zwar der hohen Decke entgegen. So, als befände sich der Boden plötzlich dort oben, wo das schwarze Wesen mit den gebleckten, erleuchteten Zähnen noch immer böse und angriffslustig starrte, drehte sich die Schwerkraft um 180 Grad. Aus goldenen Augen funkelte das anwesende Ungetüm den beiden Abenteurern entgegen, die just in diesem Moment harte Bekanntschaft mit der Schiffsdecke machten. Jene, wiederum, wurde zum neuen Untergrund. Und so, wie Anna und Rist zuvor, schmetterten nun auch unzählige Kisten und Fässer gegen das neue Unten. Eines der letzteren verfehlte den sich fortrollenden Hjaldrist nur knapp und eine polternde Lagerkiste folgte. Holz zerbarst und dicke Splitter stoben, gefolgt von Salz und Getreidekörnern, durch die dicke Luft. Anna rang keuchend nach Atem, denn der vorangegangene Sturz hatte ihr sämtliche Luft aus den Lungen gepresst. Den Silberdolch krampfartig festhaltend, stöhnte sie schmerzlich auf und drehte sich zur Seite. “Scheiße!”, spie die Nordländerin. Es war so finster, dass sie sich kaum orientieren konnte und auch ihr Kumpel hatte merklich Probleme damit. Er hievte sich im Schein der Lügenlampe auf alle Viere und stand auf. Dann reichte er seiner Kollegin hastig eine helfende Hand, damit sie es ihm gleichtun könnte. Irgendwo zwischen Kistentrümmern und verstreutem Salz lagen zwei erschlagene Leichen. Das lauthals schreiende Balg von vorhin war verstummt, doch der Hund kläffte noch immer, wie wild. Anna kümmerte sich in diesem heiklen Augenblick kaum um die restlichen Gäste an Bord, sondern konzentrierte sich vollends auf das Monstrum, das sich kaum drei Meter weit entfernt reckte Ja, es stand wieder aufrecht, wie ein Mensch, anstatt zu krabbeln. Und es setzte sofort zum Angriff an. Begleitet von der sengenden Hitze, das es ausstrahlte, lief es auf die Ungeheuerjäger zu und formte dabei flüsternd etwas in den Händen, das so aussah, wie eine Klinge aus Licht und Feuer. Die säbelhafte Schneide schimmerte und leuchtete genauso, wie es der orangene Speichel tat, der dem skurrilen Wesen die Zähne hell machte und so, wie das flüssige Gold in dessen Augen. Das Monster war unwahrscheinlich schnell. So flink, dass Anna es nicht schaffte rechtzeitig zu reagieren. Doch Hjaldrist tat das und kam zwischen seine beste Freundin und den innerlich brennenden Angreifer, wie ein menschlicher Schild. Irgendetwas klirrte metallen, Rist keuchte zornig und stieß den Fremden barsch von sich. Das Wesen taumelte zurück und hastete los, sprang zur Seite und heftete die Finger und Zehen an die Wand. Und auf einmal war es schon wieder so, als nähme jemand das große Boot in die Hand und drehte es herum, wie ein kleines Spielzeug. Als folge die Schwerkraft dem ungeheuer mächtigen Wesen im Schiffsrumpf. Dieses Mal wurde die wankende Anna mit der Schulter voran an die rechte Bordwand, geworfen. Der bellende Hund jaulte einmal kläglich auf und war kurz darauf nicht mehr zu hören. Menschen schrien nach Hilfe und Rist hatte es aus unerfindlichen Gründen geschafft nicht rücklings oder mit der Visage voran an die hölzerne Wand zu knallen. Er machte Anstalten aufzustehen. Mit einem Knie am Grund stützte er sich auf seiner Axt ab und erhob sich schwerfällig. Der Lichtschlucker kam vor ihn und grollte böse. Anna, die das sah, wollte sofort gehetzt voranstürmen, um ihrem Freund zu helfen, da spuckte das dunkle Unwesen dem Skelliger schon fauchende Glut entgegen. Es schien dafür von dem Licht in sich zu zehren, atmete jenes zischend aus und seine Augen glühten sofort weniger stark. Das gleißende Feuer erhellte die gesamte Umgebung, schlüpfte zurück in die nahen Lampen, und wollte tödlich rings um Rist einschlagen. Der undviker Krieger war jedoch schneller - oder er hatte einfach nur enormes Glück - und wich gelenk zur Seite aus. Hjaldrist duckte sich und wendete sich fort, sprang. Die Hitze streifte ihn lediglich, leckte an einem seiner Beine und sengte ihm die Hose an. Doch dies reichte bereits, um ihn niederzuwerfen. Die entsetzte Novigraderin, die nach ihrem getroffenen Freund rief, sah, wie jener schreiend stolperte und niederging. Es roch nach verbrannter Haut und qualmendem Leinen. Es war schrecklich und Anna glaubte, ihr bliebe das Herz stehen. Sie rief aufgebracht nach ihrem Gefährten, doch ehe sie irgendetwas unternehmen konnte, war das groteske Wesen mit den Glutaugen bei ihr. Und dies so nah, dass sie dessen kantiges Gesicht im fahlen Schein erkennen konnte. Das Ding sah aus, wie ein Mensch mit beachtlich dunkler Haut. Doch sein Mund war so breit, wie der einer Kröte, und die Augen, aus denen das Gold nach der Attacke auf Rist herauswich, wie Qualm, fremdartig. Der dürre Lichtschlucker schien schmal zu lächeln, boshaft und hinterhältig. Sein Atem ging rasselnd und er stank erbärmlich nach Ruß und Schwefel. Anna weitete den Blick überwältigt und aus einem abrupten Reflex heraus stach sie einfach zu. Sie ruckte den Dolch nach vorn, doch verfehlte das Monster, das einen Ausfallschritt machte und sofort von der Seite aus auf sie einschlug. Mit einer schnellen Drehung entkam die alarmierte Novigraderin ums Geratewohl einem Hau des züngelnden Flammenschwertes. Gierige Funken jagten ihr nach und bissen ihr scharf in den Nacken. Sie atmete schwer durch, bewegte sich in einer raschen Finte und hob, getrieben von blankem Adrenalin, erneut mit dem blitzenden Langdolch zu. Der Lichtschlucker brüllte gequält auf, denn diesmal hatte Anna ihn an der Hüfte getroffen. Er spuckte der Frau flüssiges Licht entgegen und verbrauchte damit all die Reserven, die seinen dünnen Körper zuvor so heiß und lodernd erfüllt hatten. Die Lampen und Laternen an den Schiffswänden brannten wieder. Das Schiff wurde von einer Welle zur Seite geworfen. Anna, taumelte rücklings über eine der scheppernden Öllampen hinweg, denn noch immer war die Schwerkraft völlig durcheinander und die rechte Bordwand das Unten. Sie fand die Balance wieder, verengte die Augen wütend und sah in deren Winkel, wie der ächzende Hjaldrist wieder aufstand. Noch einmal riss sich die schwitzende Frau am Riemen, spannte sich an und ging zum Angriff über. Ihr Feind war unglaublich behände, daher musste sie auch schnell sein. Zum Kampfe schrie sie und stürzte ohne Rüstung und bloß mit ihrer Silberwaffe in der Hand auf das fremde Wesen zu. Das Gold war vollends aus dessen qualmenden Augen und dem großen Mund gewichen. Das gefährliche Feuerschwert war ebenso fort. Und ganz offensichtlich war der Lichtschlucker in diesem Zustand viel, viel schwächer und langsamer, als sonst. Zudem blutete er vom vorigen Angriff der versierten Novigraderin. Ja, Anna bewies Können, doch es reichte nicht. Nicht jetzt, in dieser prekären Sekunde. Denn mit der Macht, die das Feuerwesen vor wenigen Momenten noch besessen hatte und die mit dem verbrauchten Licht aus ihm gewichen war, schwand auch dessen Kontrolle über die verzerrte Erdanziehungskraft. Im Gegenzug zu Anna sprang es elegant, nahezu katzenhaft, und landete dumpf am ursprünglichen Boden des Schiffes. Das Wassergefährt drehte sich laut knarrend mit ihm und draußen gähnte der wilde Sturm noch immer. Die Hexerstochter schaffte es gerade so mit beiden Füßen aufzukommen und versuchte das Gleichgewicht zu behalten, als sie von der Wand, auf der sie gerade noch gestanden hatte, auf den dreckigen Holzboden strauchelte. Sie hielt die Arme dafür seitlich ausgestreckt und stieg ungeschickt über ein halbes, zerschlagenes Fass hinweg, doch stolperte nicht. Kistenreste polterten ihr rumsend nach, Salz rieselte und Getreidekörner mischten sich unter die vielen Trümmer. Eine Frau schrie entsetzt, heulte johlend auf. Und das schnarrend kichernde Wesen im Schiffsbauch wich vor Anna zurück, doch nicht ängstlich. Es tat dies nur, um etwas Abstand und damit Zeit zu gewinnen. Vielleicht nahm es auch Anlauf. Kaum einen Herzschlag später sah die abgekämpfte Novigraderin dann schon, wie es den breiten Mund erneut öffnete und dazu ansetzte tief einzuatmen. Die Öllichter ringsum begannen bedrohlich zu flackern. Sie würden gleich wieder erlöschen. “Nein!”, stieß die aufgerüttelte Kriegerin aus und lief los, so schnell sie nur konnte. Von der Seite aus kam auch Hjaldrist, der stark hinkte und die Zähne knirschend zusammenbeißen musste. Doch sie beide waren zu langsam. Ein geräuschvolles Einatmen seitens des Fremden folgte. Lichter flogen durch die Luft, wie Nebelschwaden, und das Wesen im Raum nahm wieder allen die Sicht. Es tauchte den Schiffsbauch in Schwärze und seine Augen flammten Sekunden später schon hell und bedrohlich auf. Golden legte sich die bekannte Kampfeslust in die Pupillen des Breitmundigen und eine schnelle Bewegung später stieß seine zischende Lichtklinge aus der Finsternis hervor. Anna hörte, wie Lin verzweifelt nach ihr und Rist rief. Ein Pferd wieherte panisch und Hufe trommelten auf den Holzboden. Sie sah, wie der Lichtschlucker gelenkig zurück an die Wand sprang und spürte, wie sich das Schiff unter ihren Füßen zu drehen begann. Schon wieder. Besser darauf vorbereitet, als früher lief die Kriegerin dieser Bewegung entgegen, anstatt zu fallen. Sie sprang über einen Toten hinweg, trat auf den Kadaver des Hundes, der nicht mehr bellte, und spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken jagte. Hjaldrist war auf einmal direkt neben ihr und stieß eines plötzlichen Ruckes des Untergrunds wegen schwerfällig an sie. Anna gab ihm einen leichten Schubs, damit er wieder gerade stand, atmete schwer durch und ihre braunen Augen suchten in der Dunkelheit die markant lodernde Feuerklinge. Jene kam schon wieder fauchend und funkensprühend auf sie beide zu, als sich das Schiff auf den Kopf stellte; Als es die Segel in das Meer tauchte und den Kiel gen Himmel streckte. Alles ringsum fiel erneut. Und nun hielten die zwei gezimmerten Tore, die an Deck führten, dem Meer nicht mehr stand. Dieses Mal sprangen sie mit einem lauten Poltern auf, gefolgt von einem bedrohlichen, grollenden Rauschen. Anna hob den Kopf sogleich, fuhr herum und ihr Blick weitete sich im schieren Entsetzen. Sie gab einen erstickten Laut von sich, als das salzige, eiskalte Meerwasser auf sie hereinbrach. Den Lichtschlucker völlig vergessend, steckte sie sich den Silberdolch hastig in den Gürtel, erwischte Rist herrisch am Ärmel und lief los. In völliger Panik stolperte sie davon, doch natürlich vergebens. All dies passierte binnen weniger Atemzüge. Anna hörte noch, wie Hjaldrist ihren Namen heiser schrie und spürte, wie ihr sein Ärmelstoff entglitt. Sie hörte, wie ihre Pferde angstvoll wieherten und wie deren Hufe donnernd am Holz tänzelten. Die Welle tosenden Wassers erwischte Anna eine Sekunde darauf ungnädig und warf sie vor, als sei das Meer, das in das Schiffsinnere eindrang, eine harte Wand. Sofort verlor die Frau jegliche Orientierung, ruderte und fuchtelte unbeholfen und war umgeben von schäumendem Wasser. Ihr Körper wurde an das hintere Ende des Schiffsraums gespült und dabei geworfen, als sei sie eine kleine Stoffpuppe. Der harte, dumpfe Aufschlag presste ihr die Luft aus den Lungen und unweigerlich verschluckte sie das reißende Meerwasser. Knapp neben ihr wurde ein zerbrochenes Brett gegen die gestrichene Wand geschleudert. Unzählige Splitterreste von Kisten und Fässern folgten. Ein paar davon trafen sie und zerschnitten ihr die Haut. Anna spürte eine Wucht, die ihren Arm traf, dann ein brennendes Stechen in der linken Hand, das ihr bis in die Schulter nach oben zuckte. Es blubberte und rauschte, toste und platschte. Gewaltvoll schwappte das Wasser und warf eines der gepackten Pferde herum, wie nichts. Anna wurde es schwarz vor den aufgerissenen Augen, in denen das Salzwasser unangenehm brannte. Doch nicht lange. Es mussten nur wenige Sekunden vergangen sein, da kam die Kurzhaarige wieder zu sich. Das Meerwasser im großen Bauch des Schiffes sackte ab und wich zurück, als schütte und rüttle es jemand aus ihm heraus. Das Schiff richtete sich wieder auf, um den Mast gen Nachthimmel zu strecken. Und als das kalte Nass des Meeres Anna endlich losließ, landete sie rücklings und laut ächzend neben einer Kiste, die wie durch ein Wunder heile geblieben war. Fahrig fasste sie an deren Rand, zog sich sofort hoch und hustete, spuckte Wasser und keuchte. Ihr war ganz schwindelig. Die Giftmischerin spürte einen ziehenden Schmerz in ihrer rechten Hand und lenkte den schummrigen Blick fragend zu jener. Ein spitzer Holzsplitter, so dick wie ein Daumen, steckte in der Handfläche der hustenden Monsterjägerin. Sie verzog das Gesicht schmerzlich, kam auf die Beine und lehnte sich an die Kiste neben sich. Anna zog sich den Splitter mit einem Ruck aus der Hand, blutete und stöhnte dabei wehleidig. Beinah übergab sie sich des ganzen Salzwassers in ihrem Magen wegen, würgte. Doch ein plötzlicher Gedanke kam ihr zuvor. Einer, der sie schockiert innehalten ließ: Der an ihre zwei Begleiter. Anna’s Eingeweide verknoteten sich augenblicklich und es fühlte sich an, als rutsche ihr die Zunge in den trockenen Rachen. Bei Melitele, wo waren die anderen? Wo waren sie bloß? Rist war gerade noch bei ihr gewesen. Jetzt war er fort. Hatte die See ihn mit nach draußen gerissen? Oh, bitte nicht! Die tropfende Hexerstochter mit den wackeligen Knien sah aufgebracht um sich und stotterte etwas, das annähernd wie der Name ihres besten Freundes klang. Und dann schnitt auf einmal eine bestimmende Stimme durch den Raum. “Tötet ihn!”, brüllte ein Mann ganz nervös. Anna horchte auf, wandte den Kopf und erkannte den Professor aus Oxenfurt, der unweit zwischen Trümmern stand und pitschnass in die Richtung des erloschenen Lichtschluckers gestikulierte. Das Medaillon der Novigraderin vibrierte so stark, dass es gegen die blanke Schneide des Silberdolches sirrte, den sich die Frau zuvor behelfsmäßig in den Gürtel gesteckt hatte. Sie atmete tief ein, wirkte entrückt und aufgelöst. Viel verstand sie in diesem Augenblick nicht, denn ihr Hirn war wie leergeblasen. Doch sie verstand zwei Dinge: Dass das bösartige, jetzt dampfende Wesen auf der Serena noch lebte und dass der alte Professor soeben blaffte, dass man es töten müsse. Ja, man müsse es umbringen! Wieder fiel der Blick der Hexerstochter auf den knurrenden Lichtschlucker, der sich just wieder aufrappelte und versuchte das gehasste Wasser von sich zu schütteln. Noch wirkte er völlig benommen davon; es fragte sich nur, wie lange noch. Die einzige Lichtquelle war nun der grüne Schein von Anna’s Lampe. Rist, der irgendwo triefend nass am Boden saß und nicht mehr auf die Beine kam, hielt sie krampfhaft fest. Dies reichte, damit man mit Augen, die mittlerweile an das Dunkel gewöhnt waren, genug sehen konnte. Anna ging schleppend los. Sie wurde immer schneller, biss die Kiefer zusammen und zog ihren Langdolch. Am Ende lief sie. Und sie wusste nicht so recht, was sie tat. Sie funktionierte bloß und hatte nurmehr eins im Kopf: Ihren Gegner zu töten. Die keuchende Kriegerin sah, wie der Professor aus Oxenfurt die Handfläche ruckartig auf den Lichtschlucker richtete und das Wesen daraufhin wie von einer unsichtbaren Druckwelle umgeworfen wurde. Sie störte sich nicht daran und wunderte sich auch nicht; nicht jetzt. Die Frau hastete vor, auf den Feind zu, und gab ein lautes, grantiges Kampfgebrüll von sich. Und dann stach Anna mit aller Kraft zu. Ihre Schneide senkte sich in weiches Fleisch, als sich die Novigraderin mit der Waffe voran dem Breitmaul entgegenwarf. Das mächtige, doch auch zerbrechliche Wesen starb daraufhin schnell und ohne einen einzigen Mucks von sich zu geben. Vor der Frau zerfiel es zu feuchter Asche, die zwischen die nassen Planken rieselte. Anna verlor dadurch den Halt und stolperte nach vorn, schlug sich die Knie auf. Sie keuchte abgekämpft. Dann herrschte Stille. “Bei den Schöpfern!”, der aufgescheuchte Professor war der Erste, der etwas sagte. Sofort kam er mit nasser Robe näher und kniff die Augen zum Sehen zusammen, weil er seine Brille verloren hatte. Seine wenigen Haare, die sich unter einer Glatze im Bogen um seinen Hinterkopf wandten, klebten ihm feucht an der Haut. So wie auch die simple Kleidung in Grün und Beige. Der Mann, der recht betagt aussah, streckte Anna die Hand helfend hin und jene ergriff sie auch, um sich hoch helfen zu lassen. Die unwohle Anspannung war aber längst nicht aus ihren Gliedern gewichen und noch immer kämpfte sie gegen das Entsetzen, das ihr in den kalten Knochen steckte. Ihre kalten Hände zitterten stark. “Geht es Euch gut, Töchterchen?”, wollte der Kerl aus Oxenfurt wissen, der ganz offensichtlich mehr war, als ein gewöhnlicher Gelehrter und Lehrer. Er… er war ein Magier, nicht wahr? Und er hatte vor wenigen Minuten viel geholfen. Es war etwas, über das sich Anna später Gedanken machen würde. Denn nun wandte sie sich, ohne eine Antwort auf die Frage des besorgten Professors zu geben, ab und ihre vom Salzwasser geröteten Augen wanderten eilig zu dem Ort, an dem sie Rist zum letzten Mal gesehen hatte. Und er saß dort auch noch immer am Grund, im grünen Lampenschein, und wirkte dabei ein wenig verloren. Selten hatte die Novigraderin ihn so gesehen und es war klar, dass der erbleichte Mann wesentlich schlimmer getroffen worden war, als Anna. Sie würde mit Prellungen, Abschürfungen und einer dick verbundenen Hand davonkommen. Rist aber, der konnte gerade nicht einmal mehr aufstehen, so schien es. Und als die Kurzhaarige zu ihm kam, um sich zu ihm zu hocken, sah sie auch warum: Der übernatürliche Lichtschlucker hatte ihn mit dem sengenden Feuer getroffen; seitlich und schwer, vom linken Bein bis hoch zur Taille. Die teuren Stoffe von Hose und besticktem Hemd klebten dort unschön und versengt an der blutigen Haut, die unschöne Blasen warf. Die Verbrennung war so schlimm, dass der ganze Körper des mitgenommenen Skelligers heftig bibberte. Sein Atem ging stoßweise und ungleichmäßig. Und obwohl Rist schon einige harte Kämpfe und Verletzungen überstanden hatte, war es klar, dass er solch eine Pein, wie gerade eben, noch nie zuvor gespürt haben musste. Er hatte das Zittern, das von der Verbrennung seiner gereizten Nerven herrührte, kaum unter Kontrolle. Sein schockierter Blick aus geweiteten Augen machte Anna nahezu Angst. “Leg dich hin.”, sagte sie eilig und kam auf die schmerzenden Knie. Rist gehorchte nicht, denn er war völlig abwesend, und daher musste man ihn zum Liegen zwingen. Anna erwischte Hjaldrist an den Schultern und drückte ihn dem feuchten Boden entgegen. Ein schmerzverzerrter, heiserer Laut entkam ihm dabei und er fasste sich mit einer Hand an die versehrte Seite. Erst an diesem Punkt angelangt, ließ er die Lügenlampe Märthes los und scheppernd fiel das Artefakt auf die nassen Holzplanken. “Kann ich helfen?”, der oxenfurter Professor war bei den Jüngeren aufgetaucht und sah über Anna hinweg zu deren Freund hin, der sich verkrampfte und immer mehr so anmutete, als stünde er knapp davor das Bewusstsein zu verlieren. Er atmete schnell und starrte entsetzt vor sich hin. Der Schmerz hatte ihm Tränen in die Augen getrieben. “Ach, herrje.”, atmete der Zauberer mit der Halbglatze und bekam eine harte, vielsagende Miene. Und die Frau aus Kaer Morhen wusste in diesem Moment nicht, was tun. Der Anblick ihres sonst so standhaften Gefährten brachte sie so sehr durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. “Rist…”, wisperte sie vollkommen zerfahren. “Wir müssen ihm kalte Umschläge machen und zusehen, dass wir die versengten Stoffe aus den Wunden herausbekommen.”, meinte der wissende Oxenfurter. Anna konnte die starren Augen solange nicht vom keuchenden Hjaldrist nehmen. “Na los, Mädchen, hole etwas Wasser! Das von den Trinkwasserfässern, sollten diese noch heile sein und hier irgendwo liegen.”, der Ältere berührte die Kurzhaarige an der Schulter und sie zuckte heftig zusammen, bevor sie aufsah. Doch dann schnappte sie sich ihre grüne Lampe und eilte los, um inmitten des ganzen Chaos an Bord nach dem Trinkwasservorrat zu suchen. Hoffentlich gäbe es noch etwas davon. Als die entkräftete Anna sehr bald zurück zum Professor und Rist kam, kniete der Mann aus Oxenfurt vor dem Verwundeten und redete ihm gut zu, während er ihm mit spitzen Fingern den Kleidungsstoff aus den Brandwunden pickte. Der arme Skelliger war an diesem Punkt schon so benommen, dass er nicht einmal schrie. Ab und an stöhnte oder jammerte er zwar leise, doch mehr nicht. Lin war auch da und unweit ging der Kapitän mit der Hakennase umher, um die erloschenen Öllampen des Schiffes wieder zu entzünden. Fünf Männer der Crew liefen aufgebracht umher, um den Schaden am Schiff zu sichten. Doch abgesehen von ihnen hatte kaum jemand den schweren Angriff des Lichtschluckers überlebt. Auch Kurt war tot. Anna hatte den leblosen Körper ihres Pferdes beim Wasserholen gesehen und schwer schlucken müssen. Sie hatte sich dazu gezwungen nicht lange in die Richtung zu starren, in der das dunkelbraune Tier lag; mit unnatürlich verdrehtem Hals, leblosen Augen und offenstehendem Maul. Es war fürchterlich. Und die an und für sich kurze, gewöhnliche Schiffsreise hatte sich als Tragödie herausgestellt. Doch warum? Warum war der Lichtschlucker überhaupt hier gewesen? Hatte man ihn zuvor nicht bemerkt, weil er annähernd ausgesehen hatte wie ein Mensch? Was hatte er hier gesucht? WAS war er gewesen und warum hatte er überhaupt angegriffen? Anna, noch immer recht blass um die Nase, kam zu dem Zauberer und Hjaldrist. Letzterer schlotterte und starrte der Ohnmacht nahe vor sich hin. Lin saß völlig aufgelöst neben ihm und hielt ihm die Hand. Der Göttling war durchnässt und hatte seine Kapuze längst verloren. Dennoch wirkte der Mann aus Oxenfurt sehr gelassen. Jemand wie er wusste sicherlich was Lin war und dass der Kleine zu keiner bösartigen Ungeheuergattung gehörte. Ja, tatsächlich sprach der Zauberer mit dem Waldwesen, als sei jenes ein normales Kind. “Wir müssen ihm gleich kühle Umschläge machen. Hilfst du mir dabei?”, fragte der kurzsichtige Alte nett und Lin nickte hastig. Anna blieb bei ihnen stehen und reichte dem Professor ihren frisch aufgefüllten Trinkschlauch. Es war ruhig geworden. Selbst der grollende Sturm, der draußen so laut gepfiffen und die Serena umhergeworfen hatte, hatte nachgelassen. Als der Morgen graute, hatten die Seemänner die Toten im hinteren Bereich des Laderaumes nebeneinandergelegt und mit alten Decken verdeckt. Sie hatten für jene ein paar Worte und Gebete gesprochen und sich dann, nach ein paar Minuten voller betroffenen Schweigens, wieder an die Arbeit gemacht. Den toten Hund und das verendete Pferd hatten sie über Bord geworfen und noch immer waren sie allesamt aufgelöst. Dennoch mussten sie hart arbeiten. Es ging nicht anders, denn die Serena fuhr nicht von selbst gen Cintra, das angeblich keine Tagesreise weit mehr entfernt lag. Anna hatte sich seit der letzten, verhängnisvollen Nacht nicht an Deck gewagt und war im zerschlagenen Frachtraum geblieben, in dem es nach wie vor äußerst chaotisch aussah. Doch immerhin waren die Leichen fortgeschafft worden. Und nun saß sie da und sah unbeholfen dabei zu, wie der bibbernde Hjaldrist mit dem Wundfieber rang. Sie hatte ihm schon einen ihrer Tränke, der gegen erhöhte Temperatur half, eingeflößt. Auch hatte der Professor aus Oxenfurt eine graue Paste dabeigehabt, die man dem Undviker großzügig auf die frischen Wunden hatte streichen können. Und nun lag der Arme da, am Boden, und der Schüttelfrost beutelte ihn so sehr, dass er mit den Zähnen klapperte. Anna konnte ihn nicht zudecken, denn nach der vergangenen Misere war hier alles nass und kalt; Kleider, Decken, Mäntel. Daher kauerte sich der Jarlssohn ohne jegliches Bettzeug oder Fell neben Anna zusammen, den Kopf auf ihrem Schoß und geistig absolut abwesend. Lin hatte damit angefangen ihm beruhigende Lieder vorzusingen oder zu -summen. “Er tut mir sehr leid.”, sagte der Zauberer mit dem kahlen Scheitel, der in der Nähe der drei Besagten auf einer unversehrten Holzkiste saß. Das Salz in ihr könnte man vergessen. “Ich hoffe, er ist bald wieder wohlauf.”, meinte der Kurzsichtige mitleidig seufzend und Anna hob den Kopf “Wenn er das Fieber übersteht, dann wird er schon bald wieder aufstehen können. Bestimmt hat er sich auch ordentlich den Kopf gestoßen, so wirr, wie er früher ausgesehen hat.” Wie optimistisch. Die betroffene Anna schwieg. Und in ihrem Kopf sprang eine einzige Frage im Kreis: ‘Was, wenn nicht?’. Ja, was, wenn Rist das Wundfieber nicht überleben würde? Was sollte sie dann machen? Die Frau biss die Kiefer so fest aufeinander, dass es schmerzte, zog die Nase hoch und blinzelte sich stur eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Und das, obwohl sie stolz und gefasst sein wollte. Der geduldige Oxenfurter bemerkte das natürlich und wechselte das Thema. Er wollte die erschütterte Anna, die die Hände auf dem Kopf ihres kranken Freundes liegen hatte, wohl ablenken. “Wir haben uns einander noch gar nicht genauer vorgestellt. Mein Name ist Hans Lund.”, sagte der Ältere und lächelte dabei freundlich. “Anna.”, gab die Novigraderin mit etwas brüchiger Stimme zurück und sah verzweifelt vor sich hin. “Und Ihr seid eine Hexerin? Ich habe Euer Medaillon gesehen.”, meinte der Mann nett, doch in seinem Unterton schwang etwas mit, das wissend klang. Es war klar, dass er Anna eigentlich nicht ausfragen müsste. Er war klüger, als er tat. “Nein.” “Hmmm. Und dennoch habt Ihr Euch dem fremdartigen Ifrit sofort mit einer Silberwaffe in der Hand gestellt.”, stellte der Zauberer fest. Wieder sagte die anwesende Frau nichts. Lin summte leise für Rist. “Wobei… nein, es war kein Ifrit. Jedenfalls nicht in dem Sinne. Es war, als stecke solch ein Elementargeist in einem menschlichen Körper. Und als sei dieser Körper von der Übernatürlichkeit des Geistes verzerrt worden. Wahrlich, noch nie habe ich so etwas gesehen. Und ich habe schon viel miterlebt. Sehr viel.”, gab der stirnrunzelnde Magier zu und seine Miene wurde immer grüblerischer. Dann aber fixierte er Anna wieder und erinnerte sich daran, dass er sie von dem fiebrigen Mann am Boden hatte ablenken wollen. “Sagt mir, was wisst Ihr über Feuergeister, Nicht-Hexerin?”, wollte der Oxenfurter mit lieber Herausforderung im Ton wissen. Und damit schien er die Kurzhaarige auch endlich zu packen. Sie richtete die Aufmerksamkeit nämlich von Hjaldrist fort, um den Gelehrten anzusehen. Anna schob die Worte in ihrem Mund hin und her, ehe sie sich dazu entschloss auf das Gespräch mit dem Alten einzugehen. “...Man nennt Feuerelementare auch ‘Feueromen’. Oder ‘Genien’. Aber sie erfüllen keine Wünsche, sondern suchen Vergeltung. Man sagt… man sagt, dass sie die Rachegeister von Ermordeten sind und zurückkommen, um ihre Mörder zu töten.”, murmelte Anna. Hans nickte. “Richtig. Mächtige Magier können solche Omen bannen oder unter Kontrolle bekommen. Wenn man das Element des Feuers lange genug studiert hat, dann weiß man damit umzugehen.”, erzählte der Mann mit der Halbglatze “Leider kann ich so etwas nicht, denn ich habe mich ganz und gar der Telekommunikation über verschiedenste Edelsteine und der Astrologie verschrieben. Darum, und dafür entschuldige ich mich, musste ich das Wasser mit Gewalt hereinlassen, um den Ifrit zu löschen. Buchstäblich.” Anna musterte den Älteren eigenartig. Jener war also dafür verantwortlich, dass die Tore des Frachtraumes nachgegeben hatten. Dafür, dass das zerrende Meerwasser hier hereingeschwappt war und nicht nur Schaden angerichtet, sondern auch den Lichtschlucker entwaffnet und dessen Schwerkraftszauber gebannt hatte. Hans, so schien es, hatte all die Überlebenden gerettet. Er müsste sich für nichts entschuldigen. “Ihr seid ein Zauberer.”, stellte Anna überflüssigerweise fest und der Besagte musste leise lachen. Er nickte, doch ging nicht weiter darauf ein. Kapitel 18: Manche Abschiede sind für immer ------------------------------------------- Hans Lund, der vermeintliche Professor aus Oxenfurt, hatte Freunde und Bekannte in Cintra. Im Stadtzentrum befand sich eine mittelgroße Universität, die der Zauberer auf seiner Reise besuchen wollte. Denn ehemalige Schüler seiner Lektionen in Oxenfurt lehrten hier nun und auch der Zauberer selbst hatte vor einen Vortrag über irgendwelche Edelstein-Projektionen zu halten. Anna hatte ihn nicht so recht verstanden, als er davon erzählt hatte, obwohl ihr einige wissenschaftliche Begriffe aus den Büchern in Kaer Morhen geläufig waren. Aber es war ja auch einerlei. Wichtig war, dass der freundliche Hans sie dazu eingeladen - nein, aufgefordert - hatte ihn zu begleiten. Man könne Hjaldrist in der Universität helfen, denn es gäbe dort auch Heiler, und das war Grund genug, dass Anna mit dem Professor ging. Rist war noch immer völlig benommen und hätte die geschaffte Novigraderin ihn nicht vor wenigen Minuten wachgerüttelt, läge er immer noch zitternd unter Deck der ramponierten Serena. Nach wie vor plagte ihn das hohe Fieber und er war beängstigend bleich um die Nase, schwitzte und fröstelte stark. Anna hatte sich einen schlaffen Arm des Mannes um die Schultern gelegt, um ihn zu stützen. Eine Hand hatte sie dabei um seine Taille geschoben, um ihn zu halten, damit er nicht noch gen Grund sackte. Hans Lund ging mit raschelnder Robe neben ihr her und plapperte irgendetwas von faszinierenden Lehren irgendwelcher astronomischer Erkenntnisse oder so ähnlich. Die besorgte Kurzhaarige hörte ihm nur mit einem Ohr zu. So dankbar sie ihm auch für seine Hilfe war, so entnervt war sie nämlich auch. Rist’s erbärmlicher Zustand nahm sie mit und das beachtlich. Der Skelliger hing schwer an ihren Schultern und seine Schritte waren mehr als nur wackelig. Ab und an wäre er gar gestolpert, hätte die Frau ihn nicht gehalten. “Wir sind bald da.”, murmelte sie ihm gutmütig zu, obwohl sie keine Ahnung davon hatte, wo sich die Universität von Cintra genau befand. Es war, als wolle sie mit dieser geflüsterten Aussage nicht nur ihren kranken Freund beschwichtigen, sondern auch sich selbst. Aus dem Augenwinkel sah Anna zu Hans hin, der Apfelstrudel am ledernen Zügel hinter sich herführte. Lin saß vermummt auf dem braunen Pferd und warf immer wieder besorgte Blicke unter seiner Kapuze hervor. Sie hatten versucht Hjaldrist ebenso auf das Reittier zu verfrachten, weil es ihnen den Weg durch Cintra vereinfacht hätte, hätte er darauf gesessen. Doch abgesehen davon, dass es der arme Kerl nicht einmal auf den guten Apfelstrudel hinaufgeschafft hatte, hätte er sich darauf wohl kaum halten können und wäre wie ein Sack Kartoffeln vom Rücken des Pferdes gefallen. Darum schleifte Anna ihn nun ächzend neben sich her und hoffte auf eine baldige Ankunft in der örtlichen Akademie. Immer wieder fielen ihr dabei Soldaten auf, die zu zweit und rüstungsschepernd durch die Straßen patrouillierten; in schwarzen Mänteln und mit goldenen Sonnen auf Schilden und Waffenröcken. Sie waren Nilfgaarder. Ja, richtig. Die Hexerstochter, die sich im Grunde stets aus der Politik heraushielt, hatte von dem Einfluss dieses Emhyr var Emreis, dem Kaiser der Schwarzen, in Cintra gehört. Die Lage zwischen ihm und König Radovid galt als unsäglich angespannt und viele Leute sprachen bereits von einem drohenden Krieg, der alles verschlucken würde. Eine Angelegenheit, die Anna auf den abgelegenen Skellige-Inseln, die gerade so weit entfernt erschienen, komplett vergessen hatte. Aber so war es eben, wenn man nicht direkt mit den Politikern zu tun hatte und sich nur darum kümmerte das nächste Monster zu erschlagen. Man irrte durch kleine Dörfer und neblige Wälder, vergaß dabei schon mal das Datum oder die Uhrzeit. Das war oftmals wohl auch gut so. Man konnte die Universität in Cintra nicht mit der allerorts bekannten Akademie Oxenfurts vergleichen. Sie war viel kleiner und nicht besonders imposant, nur ein Gebäude unter vielen. Und dennoch war das Hauptgebäude geräumig und die Nebenräume gut strukturiert. Etwa zehn Vortragende lehrten hier, hatte Hans gemeint, und Studenten gab es an die vierzig mehr. Die Leute studierten hauptsächlich Weltbilder, Astronomie, Philosophie und Geschichte. Nebenher gab es einen Medizinflügel mit ein paar wenigen feinfühligen Frauen und Männern, die später als Feldschere zur Armee gehen wollten. Und gerade jenen hatte Hans Anna vorgestellt. Kurz und knapp hatte er die geschäftigen Studenten dazu angewiesen zu helfen und sofort hatten sich welche dieser Leute Rists angenommen. Einer der Medizinprofessoren, ein alter Kerl mit einem gruseligen Glasauge, war ebenso dazu gestoßen und hatte das Geplapper Hans Lunds mit klugen Ausführungen über Verbrennungen verschiedener Grade ersetzt. Und während Anna auf einem ungemütlichen Stuhl im studentischen Behandlungszimmer saß, das über vier harte Krankenliegen verfügte, beugten sich zwei der zukünftigen Feldärzte über den verwundeten, keuchenden Skelliger. Es roch stark nach Formalin und Äther. Die stumme Novigraderin fühlte sich ein wenig fehl am Platz und fand, nervös wie sie war, kaum eine passende Sitzposition. Sie ruckelte etwas umher, seufzte, sah ihren dreckigen Stiefeln entgegen. Ihr und Rist’s Gepäck lagen unweit am Boden herum und waren nach dem heftigen Vorfall auf der Serena noch immer feucht. Ihren Schwertgurt mitsamt den Waffen in den ledernen Scheiden hatte Anna über die Stuhllehne gehängt. Und sie wartete ungeduldig, während die auszubildenden Heiler eilig umher huschten und man Hjaldrist ab und an wirr und schmerzlich stöhnen hörte. Etwas Anderes konnte sie ja auch kaum tun. Es vergingen zwei Tage, in denen sich am erbärmlichen Zustand Rists nur wenig änderte. Der verletzte Mann fieberte und schlief hauptsächlich. Er träumte dabei viel und schlecht, warf sich heftig schwitzend herum und schrie besonders nachts häufig auf. Zumeist sprach er dabei äußerst kryptisches Zeug. Irgendetwas über riesengroße Schwärme von Ziegenmelkern und die Wilde Jagd, über ewiges Eis und enorme Leichenberge. Manchmal auch über Undvik, vergiftete Pfeile, Anna’s erbärmlichen Tod und ein zerrendes Netz, das ihn fing und nicht wieder losließ. Es war das Gequassel eines Fantasierenden, sehr unheimlich, doch ganz offensichtlich auch völliger Blödsinn. Anna brachte derweil viel Zeit damit zu einfach nur zu warten. Immer irgendwo in der Nähe ihres Kumpels verweilend, las sie Bücher über Kräuterkunde der Unibibliothek oder häkelte recht wahllos irgendwelche Deckchen oder Schals, die sie an die hilfsbereiten Medizin-Studenten verschenkte. Lin hatte ebenso eines dieser Werke bekommen und sich tierisch darüber gefreut: Einen blauen Schal mit Fransen, der auf seine kleine Größe angepasst war. Der liebe Göttling hielt sich oft bei seinen Freunden auf, verschwand ab und an wieder stundenlang und kam des Öfteren mit Hans Lund wieder. Am dritten Tag war das hartnäckig klammernde Wundfieber Hjaldrists dann endlich zurückgegangen. Dennoch schlief er noch die meiste Zeit über, denn sein Körper musste sich von all den enormen Strapazen, die er erfahren hatte, erholen. Einmal, da war der mitgenommene Mann sogar länger wach gewesen. Er hatte irgendwelche brummigen Dinge gemurmelt und zum ersten Mal alleine Suppe getrunken. Auch hatte sich der Schönling ohne Gegenwehr von Anna umarmen und drücken lassen, die sich gefreut hatte wie sonst was. Oh, endlich schien der Undviker wieder über dem Berg zu sein! Zwar war er fernab der Möglichkeit sich sofort wieder in seine Ausrüstung zu werfen und loszulaufen, um sein Abenteuer fort zu setzen, aber dennoch. Die erleichterte Giftmischerin, die kaum von seiner Seite gewichen war und all die Tage ebenfalls im Krankenflügel übernachtet hatte, war heilfroh darüber, dass er überhaupt überlebt hatte. Denn mittlerweile war er für sie so etwas wie zur Familie geworden. Zu dem großen Bruder, den Anna nie gehabt hatte. Erst am fünften Tag sah man Rist dann durch das weitläufige Krankenzimmer humpeln, das nebenher auch dafür genutzt wurde neue Krankheiten zu erforschen und Leuten zu helfen, die sich einen echten Heiler nicht leisten konnten. Ja, bei den Göttern, erst letzte Nacht war hier drin unter lautem Geschrei und ungewöhnlichen Methoden ein Kind zur Welt gebracht worden: Mit Skalpell und Schere anstatt über den natürlichen Weg. Es hatte Stunden gedauert und danach hatten die Studenten damit angefangen mit ihrem Mentor über Nachgeburten zu fachsimpeln. Anna hatte sich währenddessen stur auf einem Hocker sitzend auf ihre Häkelnadel konzentriert und nicht hingesehen, denn die Geräusche, schmerzvollen Laute, der eiserne Geruch nach Blut und das Gerede über Plazenten hatten ihr durchaus gereicht. Hjaldrist hatte dem Geschehen ebenso den Rücken zugedreht und sich die Decke bis über beide Ohren hochgezogen. Am Morgen war die frisch zugenähte, bleiche Frau mitsamt Baby dann auch schon wieder weg gewesen, denn ihr grantiger Mann hatte sie schimpfend abgeholt. Anna war also recht müde, als sie just an einem der Tische am Zimmerende saß und eine grünliche, lauwarme Flüssigkeit betrachtete, die sie in einem Gläschen herum schwappen ließ. Sie drehte das Gefäß etwas zwischen den Fingern, zog sich eine weitere Phiole heran und ließ daraus einen kleinen Tropfen in das Glas laufen. Sofort färbte sich die stechend bitter riechende Tinktur lila. Anna runzelte die Stirn und sah aus, als hätte sie sich eine völlig andere Reaktion des Stoffes erwartet. “Hä?”, machte sie leise. “Was machst du da?”, fragte eine durchaus bekannte, etwas heisere Stimme und als sie den Kopf wendete, um hinter sich zu blicken, erkannte die Nordländerin ihren Freund aus Undvik. Er sah zwar matt aus, doch viel, viel besser als die letzten Tage über. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe und er schien sich sogar die Haare gekämmt zu haben. Das war schön, denn zum ersten Mal mutete er wieder an, als stecke ein Lebensgeist in ihm. Nicht wie jemand, der knapp am Rande des Deliriums stand und sich nicht um sich oder seine Umgebung kümmern konnte. Über seinem einbandagierten Oberkörper und den dicken Kompressen, die man ihm seitlich an Taille und Bein angebracht hatte, trug der Skelliger eine leichte Baumwollhose der Universität. Zudem eines seiner weiten Hemden in Weiß, das nicht eng auf seine Brandwunde drückte. Sein Stand war noch immer nicht besonders sicher und er stützte sich soeben auf Anna’s Stuhllehne ab, doch man konnte sich von ihm ja auch keine Riesensprünge erwarten. “Ich versuche etwas.”, antwortete die sitzende Hexerstochter. Sie war froh darüber ihren Freund hier stehen zu sehen und lächelte leicht. “Kräuterproben-Kram?”, vermutete Hjaldrist mit schwer deutbarer Miene. Anna nickte und wandte sich wieder ihrer geliebten Arbeit zu. “Die Universität hat einen großen Kräutergarten und ich habe mich dort bedienen dürfen. Die Leute hier sind wirklich sehr nett.”, erzählte sie und ehe Rist etwas sagen konnte, sprach sie weiter “Hans, falls du dich an ihn erinnerst, war vorhin hier und meinte, dass es im Gasthaus nebenan frischen Spargel gibt. Hast du schon mal welchen gegessen?”. Der Kranke, der die Stirn gerunzelt hatte, gab einen angewiderten Ton von sich. “Ich hab’s nicht so mit Gemüse.”, meinte er abfällig. “So, wie du aussiehst, könntest du aber welches vertragen.”, konterte die schmunzelnde Frau, die die Hälfte der lila, stechend bitteren Flüssigkeit bedacht aus dem einen Glas in ein weiteres kippte, vorsichtig daran roch und daraufhin laut niesen musste. Rist seufzte schwer. Dafür, dass Hjaldrist im Lazarett der Universität noch so angewidert die Nase gerümpft hatte, aß er kaum zwei Stunden später, als habe er in seinem Magen unendlich viel Platz. Zusammen mit Anna und Hans saß er in der gut besuchten Taverne ‘Am Eck’ und stopfte nun schon seine dritte Portion Spargel im Speckmantel in sich rein. Die anwesende Novigraderin verkniff sich einen blöden Kommentar und ein Grinsen; ihre amüsiert musternde Miene wurde weicher und zufrieden. Der arme Skelliger hatte die letzten Tage über ganz schön abgenommen. Besser, er aß nun ordentlich und kam wieder zu Kräften. “Natürlich verstehe ich mich als Vertreter des Heliozentrischen Weltbildes.”, erzählte Hans neunmalklug weiter, als er seinen weißen Spargel klein schnitt und aus einer kleinen Karaffe am Tisch reichlich dickflüssige, gelbliche Soße darauf kippte “Denn allein schon die Krümmung des Horizonts, die man zur See wahrnehmen kann, spricht doch dafür.” Anna lenkte den Blick wieder von ihrem Freund fort und fixierte den hageren Professor, der sich eine neue Brille mit dicken Gläsern geleistet hatte. Er kniff die graublauen Augen nun nicht mehr angestrengt zusammen, wenn er einen ansah, doch dafür wirkten jene hinter dem Brillenglas nun riesengroß. Es sah ulkig aus. “Und die Erde bewegt sich elliptisch um die Sonne, nicht kreisrund.”, fügte die Novigraderin hinzu. Hans wirkte positiv überrascht und lächelte breit, nickte. “Ihr habt studiert.”, stellte er fest, während im Hintergrund jemand mehr schlecht als recht auf einer quakenden Schalmei spielte. Menschen lachten und klapperten mit Geschirr. “Kann man so sagen.”, bestätigte die burschikose Kriegerin. Zwar war sie bei Weitem nicht so gelehrt, wie die intelligenten Studenten der Akademien, doch auch in Kaer Morhen lernte man früh etwas über die Welt und die Entstehung der Menschheit. Hexer waren nämlich keine abergläubischen Trottel, die behaupteten, dass die Erde eine flache Scheibe sei und die alle Leute darauf von einem größeren Wesen im Himmel oder sonst wem erschaffen worden wären. Sie waren Realisten. Manchmal gar so sehr, dass es schmerzte. “Gut, gut.”, freute sich der Zauberer mit dem kahlen Scheitel und vermischte seine Kartoffeln mit der dicken Soße, in der seine Portion Spargel schwamm “Es ist immer schön sich in gelehriger Gesellschaft zu befinden.” Unweigerlich - und die aufmerksame Anna wusste nicht, ob es Absicht war - sah Hans jetzt stumm zu Rist hin. Über jenen wusste er so gut wie nichts und der mampfende Skelliger musste in seinen Augen wie ein gewöhnlicher Haudrauf erscheinen. Wie ein Söldner, der einer ‘Nicht-Hexerin’, wie der Oxenfurter die Novigraderin stets vielsagend betitelte, einfältig hinterherlief. Bestimmt dache Hans, Rist hätte nicht so viel im harten Schädel. Und natürlich fiel dem essenden Undviker der etwas arrogant taxierende Blick des Älteren auf. Er hielt inne, schluckte seinen letzten Bissen Speck runter und hob den Kopf fragend an. “Hm?”, brummte der pikierte Dunkelhaarige, der ob seiner Verletzungen, die trotz der Schmerzmittel höllisch wehtun mussten, etwas mürrisch war. Und augenblicklich schien er zu verstehen. Sein Ausdruck lockerte sich ein wenig, besaß auf einmal einen Funken belustigter Schadenfreude. “Bei einer Sonnenfinsternis handelt es sich nicht um ein Omen, sondern lediglich um die Tatsache, dass sich der Mond, der die Erde umkreist, zwischen jene und die Sonne schiebt.”, gab der Krieger im luftigen Hemd zum Besten und bewies damit mehr, als gut, dass er KEIN Axtkämpfer mit der Intelligenz eines Steinbrockens war. Er, als Jarlssohn, hatte in der Kindheit natürlich teuren Privatunterricht genossen und war alles andere als dumm. Hans machte große Augen, wirkte perplex und begeistert zugleich. “Na, sieh mal einer an!”, entkam es ihm “Ich habe Euch offenbar unterschätzt, Söhnchen.” Anna schnaubte ob dem erheitert, während sie einen Happen Spargel mit Speck in Soße tunkte. Sie konnte es nahezu fühlen, wie Rist’s Brust neben ihr stolz schwoll. Zurecht. “Ihr beide wärt wirklich gute Studenten. Ja, wahrlich. Ihr solltet darüber nachdenken die Universität zu besuchen.”, entkam es dem lachenden Hans Lund. “Keine Zeit.”, antworteten die zwei Vagabunden im Chor. Ja, sie hatten keine Zeit für solche langwierigen Dinge. Und auch nicht das Geld dafür, denn Studieren war immens teuer. Abgesehen davon war die Aufforderung des anwesenden Zauberers wohl eh nur rhetorischer Natur gewesen. Eine Floskel. “So, so. Na dann.”, machte der essende Mann mit der Halbglatze schmunzelnd “Dürfte ich denn fragen, wohin ihr unterwegs seid?” Eine Frage nach der Anna’s Ausdruck nachdenklicher wurde. Sie kratzte sich auf ihren Spargel schauend am Kinn und spürte den Blick ihres besten Freundes abwartend an sich kleben. Es war klar, dass sie entscheiden müsste, wohin es als nächstes ging. “...Toussaint.”, sagte sie dann langsam und nickte, als wolle sie sich selbst zustimmen “Ja, ich habe gehört, dass dort ein Wissenschaftler und Alchemist leben soll, der sich mit Dingen auseinandersetzt, die ich erforsche. Ich muss ihn finden und mit ihm sprechen.” Hans hob die buschigen Augenbrauen über der Klemmbrille. Rist’s Brauen schnellten hoch und seine Mimik entgleiste. Irgendwo im Hintergrund fiel ein Betrunkener singend von einer der alten Tavernenbänke. Die dickliche Schankmagd mit dem weiten, wippenden Ausschnitt erschrak so sehr, dass sie in die Höhe sprang und dabei schrie. “Toussaint?”, wollte der heisere Undviker verdattert wissen und aufgrund seines Tons war unklar, ob ihm die Idee nun gefiel oder ob sie ihn völlig abstieß. “Oh, Toussaint!”, lächelte der oxenfurter Zauberer am Tisch hingegen angetan “Ein schöner Ort. Jedenfalls von außen betrachtet. Richtig märchenhaft. Dennoch kann es dort ähnlich hässlich zugehen, wie hier. Die Leute verstecken widerwärtige Charakterzüge nur unter viel Schminke und teuren Stoffen.” “Ich war noch nie dort.”, gab Anna aufrichtig zu. “Es fühlt sich ein wenig so an, als käme man in eine andere Welt.”, erzählte Hans Lund und musste leise lachen “Aber ihr werdet ja sehen.” Die braunhaarige Hexerstochter nickte und bemerkte, wie Hjaldrist neben ihr noch immer ziemlich verwundert dreinsah. Er hatte sogar damit aufgehört zu essen. “Mhm.”, machte Anna und schien kurz zu überlegen, nach Worten zu suchen. Dann wagte sie es aber und sprach die Frage aus, die ihr so zäh auf der Zunge lag: “Habt ihr dort jemals von jemandem gehört, der die Kräuterprobe erforscht? Von einem Doktor Murau… Moro… oder so?”, wollte sie wissen. Hans Lund sah daraufhin nicht so aus, als hätte er die leiseste Ahnung. Etwas, das er auch gleich bestätigen würde. “Die Proben welcher Kräuter?”, hakte der irritierte Professor nach und die Kurzhaarige winkte sogleich ab. Nicht jeder wusste über die heikle Methode Bescheid Menschen zu Mutanten zu machen. In den Köpfen vieler wurden Hexer auch als verschriene ‘Missgeburten’ zur Welt gebracht, nicht mehr. Selbst Lehrer und Zauberer waren nicht allwissend. “Ach, egal.”, sagte die Novigraderin daher betreten. Einen Versuch war es ja wert gewesen. “Hmm… also wenn ihr zwei etwas über Kräuter lernen wollt, solltet ihr mit dem Druidenzirkel im Caed Myrkvid sprechen. Er befindet sich in Toussaint, östlich von Belhaven.”, schlug Hans wissend vor. Hjaldrist kräuselte die Stirn auf diese Aussage hin. “Dunkelwald?”, übersetzte er skeptischen Untertons und der Oxenfurter mutete erneut äußerst erstaunt an. “Ihr seid der Alten Sprache kundig?”, wunderte er sich. Rist zuckte aber nur lethargisch die Schultern. Für ihn war es keine große Sache, dass er die Sprache der Elfen verstand. Tatsächlich war es aber so, dass es schwer war die Alte Rede überhaupt zu erlernen. Neben den Aen Seidhe sprachen sie nur sehr gut geschulte Menschen, Magier und Zauberinnen flüssig. “Ich nehme an, dass der Name von irgendetwas herrührt?”, fragte Anna sofort ganz kritisch. Denn war Toussaint nicht ein schillerndes Land mit kitschigen Namen, zwischen die die Bezeichnung eines dunklen Waldes nicht so gut passen mochte? Oder irrte sie sich? “Ja, wahrscheinlich.”, lächelte Hans Lund leicht. Es war ein Ausdruck, der seine kurzsichtigen Augen nicht ganz erreichte. “Doch ihr beide seid außerordentlich fähig, Kinderchen. Wäre ich mir dessen nicht sicher, dass ihr gut mit allen möglichen Schwierigkeiten umgehen könnt, dann hätte ich die Druiden nicht erwähnt.”, meinte der ältere Mann ehrlich und hatte Anna damit einen neuen, wagemutigen Plan in den Kopf gesetzt. * Zwei Wochen später befanden sich die Abenteurer wieder auf der Straße. Nach wenigen ruhigen und vielen unruhigen Nächten im Lazarett der Universität Cintras hatten sie den Weg gen Osten genommen, direkt an der Jaruga entlang. Diesem breiten Fluss, in dessen Nähe sie auf ihrem Marsch schon zwei Nächte lange im Zelt übernachtet hatten, wollten sie nun bis nach Sodden folgen und dann querfeldein in den Süden ziehen. An Belhaven vorbei, gen Caed Myrkvid. Es versprach eine lange, beschwerliche Reise zu werden, doch Anna und Rist sahen ihr recht positiv entgegen. Denn ENDLICH waren sie wieder unterwegs und konnten was erleben, arbeiten und ihren Zielen näherkommen. Nun, jedenfalls traf letzteres auf die Hexerstochter zu. Hjaldrist schien schließlich kein offensichtliches, genaueres Ziel zu verfolgen. Der Mann führte sein Pferd am Zügel hinter sich her. Anstatt darauf zu sitzen, hatte er all sein Gepäck und auch den Rucksack seiner Freundin darauf verstaut. So fungierte das sture Tier als Packesel, auf dem, zwischen den Sieben Sachen der Monsterjäger, ein Göttling mit blauem Schal saß und fröhliche Melodien pfiff. Dass Kurt verendet war, war schlecht gewesen. Natürlich war es angenehm zu reisen, wenn man keinen schweren Rucksack tragen musste, doch alles ginge weit besser und auch schneller, hätte man reiten können. So kamen die Abenteurer also nur langsam voran. Und sie verfluchten die Tatsache, dass die Pferde des Gestüts in Cintra so verdammt teuer waren. Zehn Goldstücke hatte der Besitzer desselben verlangt. Für sein ältestes Pferd! Anna hatte es an dem Punkt angekommen aufgegeben zu verhandeln und war brummig von Dannen gezogen. Irgendwo bekäme sie schon einen neuen Gaul. Einen billigeren, wohlgemerkt. Schließlich brauchte sie doch kein Pferd, mit dem sie Rennen gewinnen und Preise einheimsen könnte. Nur ein Tier für die anstrengende Reise, mehr nicht. Es war am frühen Morgen durchaus angenehm den gewundenen Weg an der Jaruga entlang zu wandern. Der Fluss rauschte vor sich hin und die Dämmerung warf orangene Strahlen über die nahen Hügel. Obwohl es für die Uhrzeit schon relativ warm war, haftete am knöchelhohen Gras noch der Tau und machte einem die Stiefel nass. Die Vögel zwitscherten ihr Morgenlied und weit und breit war kaum eine Menschenseele zu sehen. Vor wenigen Momenten war Anna und Hjaldrist ein reisender Händler mit einem prall gefüllten Rucksack begegnet. Und davor waren unweit ein paar nilfgaarder Soldaten in schwarzen Mänteln vorbeimarschiert. Doch ansonsten war es richtig ruhig. Die Reisenden hielten sich am Weg, der sich kaum zwanzig Meter von der Jaruga entfernt durch die Ebene schlängelte und hier und da von Bäumen oder dichten, grünen Sträuchern gesäumt war. Es war ein schöner Tag und selbst Hjaldrist, dem die heilende Brandwunde nicht mehr wie wahnsinnig zu ziehen und zu jucken schien, war seit wenigen Tagen wieder guter Laune. Er war wieder so, wie früher, machte ab und an blöde Scherze und trainierte mit seiner Axt, wenn sie lagerten und es ihm zu langweilig wurde. “Und nachdem er diese beiden Zutaten verwechselt hatte, wuchs der Maus, an der er den Absud ausprobierte, ein drittes Ohr.”, schmunzelte Anna breit, als sie plappernd neben ihrem Kumpel herging. Apfelstrudel’s Hufgetrappel begleitete sie dabei rhythmisch. “Ein drittes Ohr?”, Hjaldrist zog die Brauen zusammen und sah skeptisch zu der Novigraderin hin. “Ja, am Rücken. Mir war an dem Punkt klar, dass Adlet einen Fehler gemacht hatte. Aber er sah die ganze Angelegenheit wie, naja, eine Art neuen Durchbruch. So genial er auch war, so verrückt war er auch. Er fand die drei Ohren super.”, lachte die Kurzhaarige in sich rein. Sie konnte sich noch so gut an ihre erste Woche auf dem kleinen Drakensund erinnern, als sei es gestern gewesen. “‘Verrückt’ ist gut.”, schnaubte Rist halbernst “Stell dir mal vor, DIR wäre ein drittes Ohr gewachsen…” Anna verzog das Gesicht, als sie sich dies vorstellte. Lin summte ein seltsam schräges Lied über hohe Farne und kleine Käfer mit blauen Panzern. “Also, nein, ich bin ganz zufrieden mit nur zwei Ohren...”, grinste die Kräuterkundige unbeschwert, zuppelte etwas an ihrem lockeren Schwertgurt herum und stellte ihn um ein Gürtelloch enger. Als sie flüchtig aufsah, erkannte sie, wie eine kleine Gruppe den Weg entlangkam. Wie bei dem Händler und den Soldaten zuvor, ging sie etwas zur Seite. Ihre Sohlen traten in das weiche, feuchte Gras abseits des Weges, damit sie gleich gut an den Fremden vorbeigehen könnte, denn die Straße war nicht allzu breit. Hjaldrist ging dicht neben Anna und hielt den Zügel seines trottenden Pferdes fest. “Und bist du auch glücklich über die Sache mit den Flöhen, Flohbeutel?”, neckte der Skelliger in der grünen Tunika und bekam dafür einen kleinen Schubs von der Seite. Er lachte belustigt. Das Lachen verging ihm jedoch Augenblicke später, da Anna ihren sicheren Schritt zögerlich verlangsamte und auf einmal todernst geradeaus sah. Ihre braunen Augen hingen hart und mit einem Funken Unschlüssigkeit auf der Gruppe der vier Kerle, die sich näherten. Sie sahen nicht aus wie Soldaten, Händler oder Boten. Sie wirkten auch nicht wie normale Bürger oder Banditen. Denn ihre Kleidung war nicht spartanisch und ihre Körper hünenhaft. Und vor allem war Anna deren Bewaffnung aufgefallen. Natürlich. Denn die Fremden, die da kamen, trugen jeweils zwei Schwerter auf den breiten Rücken. Leicht kniff die Novigraderin die Augen zusammen, als könne sie so besser sehen. In diesem Moment hielt sie inne und blieb stehen. Hjaldrist, der einen Schritt später stoppte, warf ihr einen fragenden Schulterblick zu. Dann aber, folgten seine dunklen Augen denen seiner starrenden Freundin und hefteten sich ebenso an die Vier, die keine dreißig Meter mehr entfernt daher spazierten. Mit den Händen in den Taschen und ziemlich leger taten sie das. Sie hatten Anna und ihren Freund schon längst gesehen, das war klar. Klar war auch, dass sie entweder Hexer oder Schwindler, die sich als Mutanten ausgaben, waren. Niemand anders trug zwei Schwerter an einem Rückengurt. Die plötzlich so befangene Anna atmete einmal tief durch, denn sie hatte ihre Familie aus Kaer Morhen vor dem geistigen Auge: Jaromir, Vadim und Balthar. Wie jene nach dem Winter manchmal zusammen ausgezogen waren und sich dann bei der ersten Weggabelung getrennt hatten, um ihrer Wege zu gehen. Wie sie Anna zu sich gewinkt hatten, damit sie ein Stück weit mitkam, um am Ende mit ihrem Ziehvater zu gehen. Sie erinnerte sich an die zwei Schwerter, die jeder von ihnen bei sich getragen hatte. An die schönen, runenbesetzten Klingen mit den Lederwickelungen am Griff und den gegossenen Knäufen. Sie selber hatte damals nie zwei Waffen besessen. Nur eine: Ihr Stahlschwert, das sie nach ihrer langen Grundausbildung geschenkt bekommen und gegen ihre stumpfe Übungswaffe ausgetauscht hatte. Sie hatte immer herum gequengelt und gemault und sich manchmal das Silberschwert von schlafenden oder sturzbesoffenen Balthar stibitzt, um damit im Hof herum zu laufen. Mann, oh Mann, war der Kerl deswegen manchmal säuerlich gewesen. Tja. Und später, nachdem Anna durchgebrannt war, hatte sie hart gespart, um sich selbst eine Silberwaffe anfertigen zu lassen. Es hatte bei Weitem nicht für ein Bastardschwert gereicht, doch ihr Langdolch war ihr gut genug. “Oh.”, entkam es Anna dünn. “Wer sind die?”, murmelte Rist, der noch immer unschlüssig darauf wartete, dass sich seine still gewordene Kollegin rührte. Apfelstrudel scharrte ungeduldig mit dem Vorderhuf, streckte den Hals und schüttelte die Mähne, um ein paar Fliegen loszuwerden. Lin hatte damit aufgehört zu pfeifen. “Hexer. Glaube ich.”, gab die Kurzhaarige dem wartenden Undviker zurück. “Du ‘glaubst’?” “Vielleicht tun sie auch nur so. Ich habe schon einmal solch einen Betrüger getroffen und ihm dafür ordentlich Eine aufs Maul gegeben. Er hatte zwei billige Stahlschwerter bei sich und einen dieser Hexer-Anhänger, wie man sie auf Jahrmärkten bekommt.” Hjaldrist gab einen nachdenklichen Laut von sich. Er schien die Besorgnis im Ausdruck seiner Kumpanin nicht ganz nachvollziehen zu können. “Wir sind keine Monster, also können wir denen doch egal sein. Und wenn es Stümper sind, wischen wir mit denen locker den Boden auf.”, meinte der dunkelhaarige Mann “Oder? Komm, Anna.” Rist hatte Recht. Und dennoch kam Anna nicht umhin ein sehr schlechtes Gefühl zu verspüren, als die Fremden schon so nah waren, dass man ihre Ausrüstung bei jedem Schritt klappern hörte. Die Vier, die gelbe Schärpen oder Schals trugen, unterhielten sich und lachten rau. Und immer wieder sahen sie her. Anna senkte den Blick leicht, ging weiter und Hjaldrist blieb eng neben ihr. Er schien die seltsame Anspannung seiner Freundin zu fühlen, umfasste die ledernen Zügel seines Pferdes daher fester und beschleunigte seinen Schritt. Als die vier vermeintlichen Hexer an den zwei Reisenden vorbeigingen und Anna neugierig in ihre Richtung schielte, blieb kein Zweifel mehr daran, dass es sich um wahre Mutanten handelte. Nicht um Betrüger. Ja, die wissende Novigraderin erkannte ihre auffallend unnatürlichen Pupillen in den goldenen Augen. Sie bemerkte all die Trankgürtel und -taschen, die sich an breite Schultergurte schmiegten oder sich um die Mitten der durchtrainierten Männer legten. Jeder von ihnen trug ein Hexermedaillon in der Form eines Greifenkopfes. Leicht klapperten die Anhänger gegen Kettenhemden und beschlagenes, festes Leder. Greifen. Anna zwang sich gewaltsam dazu fort zu sehen und fixierte einen willkürlichen Punkt in der Ferne vor sich. Hjaldrist zerrte den unruhigen Apfelstrudel, der plötzlich Anstalten machte stehen bleiben zu wollen, hinter sich her und fluchte leise. Anna hatte schon einmal von den Greifen gehört. Balthar hatte ihr in der Kindheit von ihnen erzählt; kurz und knapp, aber dennoch. Er hatte von den verschiedenen Schulen geredet: Von den Giftmischern bei den Vipern, den leichtfüßigen Katzen, den standhaften Bären in ihren schweren Rüstungen, den säbelrasselnden Mantikoren aus Serrikanien und von den Greifen, die in ihren Moralvorstellungen und Aufnahmebeschränkungen nicht besser zu sein schienen, als irgendwelche dreckigen Söldner. Es mochte ja sein, dass Anna dahingehend etwas voreingenommen war, doch in ihrem Kopf waren die Greifen immer DIE Hexer gewesen, die aussahen, wie ein Haufen Taugenichtse mit katzenhaften Augen. Leute, die stümperhaft arbeiteten und dies zur Not auch unehrenhaft. Jedenfalls hatte ihr Mentor immer so von diesen Männern geredet. Doch war es wirklich so? Eigentlich hatte sie keine Lust darauf es heraus zu finden... “Tse. Störrischer Gaul, was?”, als einer der fremden Männer innehielt, um Hjaldrist amüsiert schnaufend auf Apfelstrudel anzusprechen, schluckte Anna trocken. Sie sah sich sogleich um und erkannte, wie das besagte Pferd stillstand, wie ein bockiger Esel und nicht mehr weitergehen wollte. Lin, der darauf saß, hatte sich die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. So, wie man es ihm angewiesen hatte. Erst gestern Abend hatte die Kurzhaarige ihn noch einmal ermahnt und ihm dringlich dazu geraten sich zu vermummen, wenn fremde Leute in der Nähe waren. Weil eben nicht jeder wusste was ein Göttling war und man ihn als Laie vielleicht schnell mit irgendwelchen bösartigen Ungeheuern verwechseln konnte. “Kann man so sagen.”, brummte Rist unzufrieden. Der große Hexer mit der gelben Schärpe taxierte Apfelstrudel abfälligen Blickes, dann wanderten seine ockerfarbenen Augen mit den geschlitzten Pupillen gen Anna. Seine Miene erhellte sich in einer schleichenden Erkenntnis, die die Frau nicht zu deuten vermochte. Noch nicht. Auch die drei anderen Greifen hatten angehalten, um auf ihren Freund zu warten. Sie hatten sich zu ihm und den Vagabunden umgewendet, die Arme abwartend verschränkt und damit aufgehört miteinander zu plaudern. “Na, sieh mal einer an!”, der Hüne mit der Schärpe, dem eine markante Narbe quer über das blasse Gesicht lief, musste grinsen. Er sah Anna eindringlich an, als er das tat, und augenblicklich fühlte sich die Jüngere ziemlich unbeholfen und nackt. Sie hatte keine Lust darauf sich mit einem Mutanten und seinen drei Freunden anzulegen, denn sie wusste nur zu gut, wozu diese Leute in der Lage waren. Sie war schließlich in der Gesellschaft von welchen aufgewachsen. “Was hast du denn da, Kleine?”, wollte der raue Kerl wissen und Anna verstand zunächst nicht, was er meinte. Irritiert sah sie ihn an und wollte schon nachfragen. Dann nickte er in die Richtung ihrer kleinen Gürteltasche. Ihr verwirrter Blick sank auf jene und auf das, was da neben dem Behältnis am Gürtel hing: Ihr Wolfsmedaillon. Als die 20-Jährige wieder aufsah, war der viel ältere Greif nähergekommen, um sie eindringlich zu mustern. “Woher hast du das, hm?”, fragte der Mann, während Rist im Hintergrund alarmiert aufhorchte und sich augenblicklich anspannte. Apfelstrudel schien ihm gerade ein sehr kleines Problem zu werden. Seine Hand wanderte abwartend, doch bereit, an seinen Axtgriff. “Das war ein Geschenk.”, sagte Anna sofort und versuchte nicht zu zeigen, wie nervös sie wurde. Sie ballte die Hände zu Fäusten. “Ein Geschenk?”, lachte der narbige Hexer. Seine drei Kollegen näherten sich nun ebenso; langsam und interessiert kamen sie her und nickten Rist dabei obligatorisch grüßend zu. Na großartig. Der Tag hatte doch so gut angefangen... “Ja. Von meinem Vater.”, bestand Anna. Sie sah dem Größeren stur entgegen. Die goldenen Hexeraugen wanderten von ihrem Medaillon fort und hin zu ihren zwei Waffenscheiden. Als belustige ihn an ihnen irgendetwas, schmunzelte das Narbengesicht schief. “Und woher hast du diese Waffen? Hast du sie etwa gestohlen, Kleine?”, hakte der Mann nach und die Novigraderin biss die Zähne zusammen. Sie ballte die Fäuste fester, entspannte sie aber gleich wieder und gab sich gelassen. Durch die Nase atmete sie flach aus. Ja, ganz ruhig jetzt. “Nein. Sie gehören mir.”, sagte Anna ehrlich. Leider schien ihr der Greif aber nicht zu glauben. Er wollte plötzlich einfach so an den Gürtel der kleineren Frau fassen. Der Krieger haschte nach dem Wolfsamulett, doch die Giftmischerin wich gekonnt zurück, damit der dreiste Arsch den Hexeranhänger nicht in die Finger bekäme. “Wir wollen keinen Ärger, also geht!”, sagte Anna sofort abwehrend und als sie beherzt zu einer weiteren Äußerung ansetzte, mischte sich ein zweiter Hexer ein. Ein etwas kleinerer Typ mit gelbem Leinenschal, der ihm fast bis zur spitzen Nase hoch reichte, war das. “Veit, sieh mal.”, forderte jener aus dem Hintergrund das Narbengesicht auf und deutete dabei auf Lin. Anna glaubte, ihr stocke und gefriere das Blut in den Adern und auch Rist sah nicht minder beunruhigt aus. Zwar war er gefasster, weil er offenbar noch nie so direkt mit Hexern zu tun gehabt hatte, aber dennoch sah man ihm an, dass er gerade sehr, sehr gern an einem anderen Ort gewesen wäre. Zusammen mit Anna und dem kleinen Waldgeist, der nun heftig und ertappt auf Apfelstrudel zusammenzuckte. “Was denn?”, Veit riss seine Aufmerksamkeit von Anna fort und lenkte sie auf den Göttling, der die Hand mit der blauen Haut gerade an sich zog und sie unter seiner Weste zu verstecken versuchte. Zu spät. Die anwesende Novigraderin warf Hjaldrist geistesgegenwärtig einen drängenden Blick zu und nickte hastig in die Richtung des Pferdes. Und der Skelliger verstand sofort. Er kam an die Seite von Apfelstrudel und verpasste ihm einen ordentlichen Klaps auf die Flanke. Ein Schlag, nach dem jedes normale Pferd wiehernd davongestoben wäre, wie der Teufel, mit klappernden Hufen und so schnell es nur konnte. Nur der Braune nicht. Er blieb einfach stehen, anstatt zu galoppieren und Lin damit in Sicherheit zu bringen. Scheiße. Aufgerüttelt sah Anna von Apfelstrudel fort, zu Lin, dann zu Hjaldrist und den Hexern. Der mit dem gelben Schal zog auf einmal eines seiner Schwerter und dessen Silberklinge glitt dabei hörbar sirrend aus der ledernen Rückenscheide. Es war, als ob ein Köter eines wilden Hunderudels losbellte. Denn kaum einen Herzschlag später hatten auch die Freunde des Greifens ihre Klingen kampfbereit in der Hand. “Lauf!”, brüllte Anna nur mehr aus voller Kehle und sah, wie Lin panisch vom Pferd hüpfte. Er lief wie von der Hornisse gestochen los und einer der Greifenhexer rannte ihm sofort hinterher. Hjaldrist eilte ebenso los, um dem laufenden Mutanten in die Quere zu kommen. Anna packte an den Griff ihres Langschwerts, zog es abrupt und ohne einen wirklichen Plan zu haben. Sie handelte blind und wusste nur eins: Sollte hier gleich ein wüster Kampf losbrechen, hätten sie und ihr bester Freund keine Chance. Gegen einen Hexer hätten sie vielleicht bestehen können, denn Anna kannte deren Tricks. Doch nicht gegen vier. “Hört auf!”, schrie die Kurzhaarige herrisch dazwischen. “Stopft der kleinen Schwindlerin und ihrem Freund die Mäuler!”, blaffte das Narbengesicht als Entgegnung “Und fangt den Nekker!” Anna weitete die Augen und stutzte. Nekker? Lin war kein- Oh verdammt! Im Augenwinkel sah die gehetzte Frau, wie der Hurensohn mit dem Schal gestikulierte und Rist, das Aard auf zwei Beinen, mit einem richtigen Aard zurückwarf. Der ächzende Skelliger landete rücklings am feuchten Boden und kam gleich wieder gekonnt auf die Beine. Doch der Greif war schon an ihm vorbei, um Lin hinterher zu eilen. Der Undviker schien ihn nicht zu interessieren. Ein zweiter Greif folgte dem ersten auf dem Fuße, um nach dem vermeintlichen Nekker zu suchen. Unschlüssig sah der Jarlssohn ihnen nach, umfasste seine Waffe fest und wusste augenscheinlich nicht, ob er ihnen folgen sollte, um den Göttling zu retten oder ob es besser sei zu bleiben, um Anna zu helfen. Die besagte Hexerstochter wiederum, erhob die Stahlklinge bereits gegen diesen widerlichen Veit. Der Mann formte mit der freien Linken und gerade noch rechtzeitig Quen. Als die Schneide der schreienden Novigraderin auf ihn niederging, zerbarst der magische Schild und stob wie hunderte kleine, orange schimmernde Glassplitter auseinander. Apfelstrudel wieherte ob dem panisch, bäumte sich auf und lief davon. Dann schlug der groß gewachsene Hexer zu und verfehlte Anna, die sich unter dem wuchtigen Angriff weg duckte, nur um eine Haaresbreite. Das Adrenalin ließ ihr das Blut in den Ohren rauschen. Zugleich nahm es ihr aber jegliche Angst und drängte sie dazu so zu handeln, wie sie es jahrelang gelernt hatte. So, wie der penible Balthar es ihr mühsam in den Schädel gezwängt hatte. Und als sich die burschikose Frau herumwendete und sah, wie der Greif sein Schwert schwang, sah sie ihren Ziehvater. Wie jener das stumpfe Übungs-Langschwert in der Ochshut hielt, sie breit anlächelte und dazu aufforderte gleich in einer zur Abwehr passenden Haltung zu kontern. Wie mechanisch riss die Kurzhaarige das Schwert hoch und Metall klirrte laut gegen Metall. So fest, dass es ihr bis in den Ellbogen hoch vibrierte. Sie stieß ein Keuchen aus, ruckte mit dem Schwert nach oben und drängte die fremde Klinge mithilfe der geraden Parierstange von sich. Sie verlagerte das Gewicht gleichauf auf das linke Bein, trat mit dem rechten zu und traf. Doch leider nicht, wie gezielt, zwischen die Beine, sondern bloß den Oberschenkel des Mannes. Dennoch wankte er einen Schritt weit zurück und dies war die Gelegenheit für Anna mit einem Schwerthieb von oben nach zu setzen, um dem Greif mit sehr viel Glück den Scheitel zu spalten. Anna hatte kein Glück. Denn die Gelbschärpe war zu schnell. Wie aus dem Nichts blies ihr das Narbengesicht lodernde Feuerglut entgegen. Igni. Die Frau sprang zur Seite und spürte, wie die Hitze gierig an ihr vorbei flammte. Schwer atmete sie ein, fuhr herum, wurde übermütig und kam dem Hexer beim nächsten Angriff viel zu nah. Als sie plötzlich keine Armlänge mehr von ihm entfernt stand und ihre Klinge gegen die des Greifens ächzte, drehte der Mann die Parier ein, hob den Waffengriff abrupt und schlug der Frau den Stahlknauf in einer flüssigen Bewegung ins Gesicht. Man hörte sie einen schmerzvollen Laut ausstoßen und sie taumelte gekrümmt zurück. Anna hielt sich gepeinigt die Nase, aus der das Blut nur so heraus zu strömen begann. Ein ersticktes Stöhnen entkam ihr, als sie tausende kleine Funken durch ihr Sichtfeld sprühen sah und Blut schmeckte. Sie blinzelte, ermahnte sich zur Fassung und hörte den Freund von Veit lachen. Jener hatte Hjaldrist am Kragen gepackt, denn der Undviker hatte sich vorhin dazu entschieden zu bleiben. Der Gelbschal stieß den Schönling von sich und seine Finger formten rasch Yrden. Die magische Falle schnappte um den Undviker herum zu und zerrte ihn brutal gen Grund. Überfordert keuchte Anna, als sie dies im Augenwinkel erkannte. Sie haderte mit sich und umfasste den Griff ihrer Stahlklinge so fest, dass ihr die Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihre Zähne mahlten. Sie wollte zu ihrem Freund, doch bekam von hinten solch einen harten Schubs, dass sie beinah stolperte. Doch sie fing sich, hieb mit blutverschmiertem Gesicht und rot beflecktem Kragen zu, den gewickelten Waffengriff mit beiden Händen umfassend. Ein Hau von oben, sie wich aus. Ein Gegenschlag, der den Arm des Greifens streifte. Der schrie zornig, blutete, Anna grinste grimmig. Noch ein Schwerthieb, diesmal von unten. Die Trankmischerin schritt zur Seite weg, hob dem Narbengesicht den Ort der langen Waffe entgegen und hielt ihn damit auf Abstand. Wirksam, bei jedem anderen Menschen, doch nicht bei einem Hexer. Denn er beherrschte Zeichen. Igni flammte erneut auf und versengte Anna beinah die gestreifte Jacke. Sie schlug eine Finte, täuschte, stach mit einem Ausfallschritt nach vorn, traf auch, war jedoch wieder zu nah und konnte Balthar’s dunkle Stimme in den Ohren hallen hören: ‘Wölfchen, achte darauf, dass du immer mindestens eine Schwertlänge Abstand zu deinem Gegner hast!’. Zu spät. Der schadenfrohe Greif hakte den Fuß hinter dem ihren ein und zog Anna damit quasi den Boden unter den Stiefeln fort. Ein simpler Anfängertrick. Die Schwerkraft tat den Rest und hart landete die Kurzhaarige am Kreuz. Der plötzliche Aufprall nahm ihr den Atem und dennoch rollte sie sich zur Seite, um schwer keuchend und desorientiert aufzustehen. Sie hätte dies wohl auch geschafft, doch plötzlich kam dem Feind ein weiterer Kerl zu Hilfe. Es war einer derer, die Lin zuvor hinterhergerannt waren. Er war offenbar zurückgekehrt, trat gewaltsam auf den Schwertarm der Frau und ließ sie durch den ruckartigen Tritt aufschreien. Er drehte die Sohle hin und her, als wolle er ein Insekt darunter zermalmen und quetschte der armen Novigraderin die ungeschützte Haut unter dem naturfarbenen Hemd. Der skrupellose Mann hätte ihr sicherlich auch den Knochen gebrochen, hätte sie nun nicht, getrieben von lähmendem Schmerz, das Schwert mit dem Wolfsknauf losgelassen. Ja, die Klinge fiel ihr aus den tauben Fingern und in dieser Sekunde ließ der Greif mit den schweren, schmutzigen Stiefeln von ihr ab. Veit stand über ihr und lächelte zufrieden, bückte sich zu ihr herunter und riss ihr das Wolfsmedaillon mit einem Ruck vom Gürtel. Sie gab einen Laut des Protests von sich und wollte mit beiden Händen nach der zerrissenen Kette haschen. “Na, na.”, machte der Hexer, als spräche er mit einem Kleinkind, und hob das Schmuckstück aus ihrer Reichweite. “Nein!”, entkam es Anna ungewollt bittend. “Siehst du, Kleine. So etwas passiert mit bösen Mädchen, die es wagen Hexer zu bestehlen. Du kannst uns doch nichts vormachen. Jeder weiß, dass Mädchen, wie du, keine Hexer werden können, nicht wahr?”, grinste der Kerl dreckig und sofort holte die Frau Luft für eine unbeholfene Antwort. Es war eigentlich müßig und sinnlos mit diesem Mann zu reden, der glaubte, Anna habe ihr Medaillon von einem Katzenauge geklaut oder dergleichen. Ja, wer wusste schon, was er sich dachte? Und dennoch trieb die Verzweiflung sie dazu zu erklären und zu betteln. “Es ist nicht gestohlen! Mein Vater ist ein Hexer, er hat es mir geschenkt!”, sprudelte es aus ihr hervor, doch sie bekam dafür nur ein abfälliges Lächeln als Antwort. “Du scheinst dich ja wirklich noch schlechter auszukennen, als gedacht. Weißt du denn nicht, dass Hexer unfruchtbar sind? Du bist nicht nur eine verfickte Betrügerin, sondern auch eine schlechte Lügnerin, so scheint es.”, meinte Gelbschärpe überheblich und Anna stieß den Atem überfordert aus. “Gib es mir wieder! Bitte!” “Ich sage dir gleich, was ich dir geben werde…” Im Hintergrund zerrte einer Lin aus dem Gebüsch. Am Bein zog er den armen, wimmernden Göttling hinter sich her und Rist versuchte dem kleinen Waldgeist zu Hilfe zu kommen. Zu spät. Wieder zu spät. Eine scharfe Greifenklinge ging senkrecht auf den zappelnden und schreienden Göttling nieder, wie ein Spieß. Sie drehte sich in der tiefen Wunde einmal herum, dass es nur so knackte. Lin zuckte unkontrolliert und röchelte nass. Ein Zittern schüttelte ihn, er spuckte rot, würgte. Dann wurde es still. Totenstill. Es war, als sei die Zeit stehengeblieben. Zwei der stupiden Hexer nickten sich wenige Herzschläge später zufrieden zu, als der Körper des armen Göttlings schlaff und leblos im nassen, rot gefärbten Gras lag. Einer von ihnen stocherte noch einmal an ihm herum, als wolle er den kleinen Körper mithilfe der Klinge hochheben. Und Hjaldrist standen die staubtrockenen Lippen im Schock einen Spalt weit offen. Der Skelliger, der bis auf ein blaues Auge unverwundet zu sein schien, war wie zur Eissäule erstarrt und zutiefst entsetzt sah er in die Richtung, in der eine der Gelbschärpen gerade den kleinen, aufgespießten Leib Lins auf seinem Schwert in die Höhe hielt. So, wie man es mit einem verwesten, madenzerfressenen Tierkadaver tat, den man mithilfe eines Stocks aus einem Tümpel gefischt hatte. “Er ist hin.”, verkündete der Mörder dabei überflüssigerweise. Dunkelrotes Blut tropfte von seiner Schneide, über Schwertheft und Hand, zu Boden. Ein paar Nerven im Arm des Verstorbenen zuckten noch etwas. “Gut…”, schnaubte Veit zufrieden und nickte anerkennend. Anna, die da am Boden saß, glaubte, sie träume gerade schlecht. So unwirklich und verstörend war das grausige Bild, das sich ihr bot. Sie verstand nicht, was passierte und war völlig zerstreut, hielt sich verwirrt den schmerzenden Arm. Erst, als sich das blutende, doch keineswegs lebensgefährlich verletzte, Narbengesicht von ihr entfernte und dabei Anna’s Wolfsmedaillon pfeifend an der Kette herumschwingen ließ, horchte und sah die blass gewordene Frau mit der rot beschmierten Nase wieder auf. Sofort wendete sie das Haupt diesem Bastard nach und in ihrem wirren Kopf schien es nur so zu arbeiten. Als sie dann realisierte, was der Hexer, der zielstrebig auf die Jaruga zu ging, vorhatte, kam sie stöhnend auf die Beine. Anna eilte ihm schwerfällig nach. Der mit dem Schal hielt sie aber auf, indem er sie so hart, wie ein Schraubstock am Oberarm packte und zurückzerrte. “Nein!”, rief sie Veit nach, streckte die Hand nach jenem aus und sah, wie der Kerl ihr Medaillon einmal kurz hoch schnippte, um es lässig wieder aufzufangen. Er stand mit dem Rücken zu ihr, holte locker aus. Und dann warf er den Anhänger in der Form eines Wolfskopfes mit aufgerissenem Maul in den Fluss. Anna schrie, als hätte man ihr einen Dolch in die Magengegend getrieben. Und tatsächlich fühlte es sich auch so an. Ihre Eingeweide verkrampften sich und schienen sich zu schweren Eisklötzen zu verwandeln. Während sie losgelassen wurde und daraufhin blindlings auf die Jaruga zu rannte, als könne sie ihr Memento aus Kaer Morhen, die Erinnerung an Balthar und die Anderen, noch irgendwie retten, kniete sich Hjaldrist ungläubig starrend zu Lin, der unnatürlich verdreht im hohen Gras lag. “Du solltest dir eine andere Gesellschaft suchen, Junge.”, riet ihm einer der schwer bewaffneten Greifen dabei ernst “Dieses Mädel dort ist eine ehrlose Schwindlerin und wird irgendwann noch härter auf die Schnauze fallen, als heute. Irgendwann wird sie auf Leute treffen, die sie töten werden, anstatt ihr eine Lektion zu erteilen. Und wenn du dann bei ihr bist, na, du weißt schon… ‘Mitgehangen, mitgefangen’.” Ohne die Geschlagenen noch eines weiteren Blickes zu würdigen zogen die vier Greifen dann von Dannen. Im Glauben einen schädlichen Nekker getötet und einer Diebin ein Hexermedaillon genommen zu haben, wollten sie in die nächste Taverne gehen, um auf ihre noblen Verdienste anzustoßen. Sie ließen die Jüngeren und den Toten allein nahe dem Weg neben der Jaruga zurück. Anna saß lange und starr in der Wiese vor der rauschenden Jaruga und hatte dabei den ebenen Weg, der gen Osten führte, im Rücken. Sie hatte sich das blutige Gesicht behelfsmäßig gewaschen. Ihre Nase war geschwollen und blau, doch wie durch ein Wunder nicht gebrochen. Na, jedenfalls ließ sich der gerade Nasenwurzelknochen nicht verschieben. Die schlechtgelaunte Frau sah schweigend vor sich hin, den blauen Schal, den sie für Lin gehäkelt hatte, zwischen den kalten Fingern. Ihr Blick war hart und finster und ihre Wut zu groß, als dass sie geflennt hätte. Später, da würde sie das vielleicht tun, aber nicht jetzt. Gerade, da ging es eben nicht. Ihr bester Freund stand unweit im plätschernden Wasser. Nachdem es so und so warm und die Sommersonne längst aufgegangen war, hatte er sich aus Tunika und Hemd geschält, sich die Stiefel ausgezogen und die Hose bis zu den Knien hochgekrempelt. Und nun watete er durch das wadenhohe Wasser. Der Fluss war hier nicht reißend, denn er musste um eine Kehre und wurde so auf natürlichem Weg abgebremst. Es war, für einen erfahrenen Schwimmer, wie Hjaldrist, nicht sonderlich gefährlich an diesem Punkt in die Jaruga zu gehen. Grimmig suchenden Blickes stakste er also durch das kühle Nass und seine Augen wanderten aufmerksam. Ab und an bückte er sich nach Dingen, die er für Anna’s Hexermedaillon hielt, zog aber bloß Steine oder Miesmuscheln aus dem Wasser. Das tat er nun schon seit einer geraumen Zeit und äußerst hartnäckig. Zuvor, da war er sofort zu seiner Kumpanin geeilt, die schon selbst in die kalte Jaruga hatte steigen wollen, und er hatte die aufgebrachte, blutige Kriegerin davon abgehalten. Er hatte sie zurückgedrängt, ihr herrisch ein Stofftaschentuch für die schmerzende, blutende Nase in die Hand gedrückt und gemeint er ‘mache das schon’. Und seitdem hatte er kein Wort mehr gesprochen, war am Suchen. Es war wohl vergebens eine kleine Kette in einem breiten Flusslauf zu finden, doch es war eine sehr liebe Geste des Skelligers. Bestimmt waren ihm die Füße schon halb erfroren. Und trotzdem kramte er weiterhin stur im Wasser herum, streckte den Hals suchend, watete weiter und war bald schon bis zur Hüfte im Fluss. Anna ließ ihn. Denn vermutlich wollte er ihr nicht nur einen großen Gefallen tun, sondern sich auch ablenken. Konzentriert nach irgendeinem Kleinod zu suchen ließ einen nicht so sehr an den Toten denken, den man in ein Tuch gewickelt hatte, um ihn später an einem passenden Ort zu begraben. Ja, die schwer getroffenen Abenteurer hatten sich dazu entschlossen Lin’s Körper dem Wald zurück zu geben, denn dort gehörte er hin. Sie würden in einen nahen Forst gehen und dort den schönsten aller Bäume finden, um den Göttling darunter zu beerdigen. Das hatte er verdient. Anna versuchte bei diesen Gedanken nicht schwer schluckend neben sich zu sehen, dorthin, wo der verschnürte Leichnam lag. Das, was passiert war, wollte ihr nach wie vor nicht in den schmerzenden Kopf. Sie verspürte noch nicht einmal tiefe Trauer, sondern nur beißenden Zorn, der ihr den Magen unsagbar verdrehte, und Ärger über die, die sie und ihre Freunde früher angegriffen hatten. Über diese Greifenhexer mit ihren gelben Schärpen und das widerliche Grinsen von Veit. Oh, Anna wusste doch, dass sie und Rist es niemals mit vier Hexern zugleich aufnehmen könnten. Sie waren einfach nicht stark genug. Und dennoch sann sie just in diesem Augenblick nach Rache. Nach blutiger, harter Vergeltung für den Tod Lins und dafür, dass man ihr ihr heiliges Medaillon genommen hatte. Ja, es war ihr einerlei, dass sie einen metallenen Schwertknauf brutal in das Gesicht bekommen hatte. Sie glaubte auch, dass Rist sein blaues Auge gut verkraftete, denn er hatte schon schlimmere Schläge erfahren. Doch der feige, überstürzte Mord an Lin war unverzeihlich. Genauso, wie die Sache mit dem geliebten Wolfsamulett, das Rist noch immer suchte. Anna stieß ein Seufzen aus und schlug die braunen Augen nieder. Sie würde noch eine Weile hier sitzen bleiben und versuchen wieder etwas runter zu kommen. Und dann, dann würde sie aufstehen und ihren Kumpel zu sich rufen, um weiter zu gehen. Die Bemühungen des Viertelelfs brachten im Endeffekt ja genau so wenig, wie das böse Starren der Schwertkämpferin, die über alle möglichen Methoden nachsann vier Hexern auf einmal den Garaus zu machen. Es verging noch eine gute Stunde, bis sich Anna endlich erhob und sich dabei leise ächzend an den Kopf fasste. Der Schlag in ihr Gesicht hatte ihr einen brummenden Schädel beschert und ihre qualvoll pochende Nase machte dies nicht besser. Nun, da sie sich wieder allmählich entspannte und das Adrenalin aus ihrem Blut geschwunden war, überkam sie der übel stechende Kopfschmerz erst so richtig. Und das Schlimme daran war, dass Apfelstrudel, dieses dämliche Vieh, mit ihrem Gepäck über alle Berge war. Sie hatte also nur bei sich, was sie auch am Körper trug. Keine Schmerzmittel. Sie würde ihren Brummschädel und ihre geschwollene Nase wohl oder übel ertragen müssen. Die entnervte Frau wollte gerade nach ihrem Freund rufen, um ihn dazu aufzufordern mit der sinnlosen Sucherei aufzuhören; um sich bei ihm zu bedanken, obwohl er umsonst im Flussbett umher gewatet und geschwommen war. Da tauchte der klitschnasse Skelliger plötzlich aus dem tieferen Wasser auf und hielt irgendetwas triumphierend in die Höhe. Anna hielt inne und kniff die Augen ungläubig zusammen. Der Undviker schwamm eilig ins seichtere Nass, stapfte mühsam voran und kam schlussendlich aus dem Fluss heraus. “Ich habe es!”, verkündete er atemlos. Und wäre er dabei bester Laune gewesen, hätte er wohl laut gelacht und stolz gegrinst. Nun aber, da lächelte er nur müde. Denn die Bilder von Lin’s Tod steckten ihm noch genauso tief in den Knochen, wie seiner Begleiterin. Anna horchte auf und wirkte augenblicklich viel wacher. Sie kam Hjaldrist sofort entgegen und das ganz aufgeregt. Und tatsächlich hielt er ihr daraufhin ihr Wolfsmedaillon entgegen. Die metallene Kette daran war zerrissen, doch das machte nichts. Die Miene der Novigraderin erhellte sich sehr und perplex suchte sie Blickkontakt. Rist, der Teufelskerl mit den etwas blau angelaufenen Lippen, hatte das silberne Amulett tatsächlich aus der breiten Jaruga hervorgetaucht! Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch offenbar nicht für ihn. “Danke!”, atmete Anna und umarmte ihren Freund eng, bevor sie ihr Medaillon an sich nahm. Sie drückte den Mann froh. Er war eiskalt. “Ich habe damals, als Kind, schon immer bei den Tauchwettkämpfen gewonnen.”, klapperte der nasse Kerl, der nichts weiter trug, als seine Hose, und wartete darauf wieder losgelassen zu werden. Dann überreichte er seiner Gefährtin den verloren geglaubten Anhänger. Anna, heilfroh darüber ihr Andenken an Kaer Morhen wieder zurück zu haben, steckte ihn sich sofort in die Gürteltasche und zog deren Riemen fest zu. “Danke, Rist. Du bist großartig.”, sagte sie dann noch einmal aufrichtig und mit einem genauso ehrlichen, erleichterten Lächeln auf den Lippen. Sie begruben Lin unter einer riesigen Eiche im nahen Wald. Etwas weiter südlich, im Forst, der die Amellberge malerisch hinter sich hatte. Ziemlich still und wortkarg waren die grün und blau gehauenen Abenteurer hierhergekommen. Rist hatte Lin getragen und Anna war ihm stumm gefolgt. Das an die zwei, drei Stunden lang. Bis sie den passenden Baum gefunden hatten eben. Und nun hoben die zwei Gabelschwanztöter mit bloßen Händen ein Loch aus. Der moosbewachsene Waldboden war hier relativ locker und weich. Es machte ihnen also nichts aus keine Schaufel dabei zu haben. Die Handschuhe der Reisenden waren schmutzig und voller Dreck, es roch nach feuchter Erde und harziger Rinde. Sonnenstrahlen fielen durch das satte Blätterdach herein und kitzelten einen im Nacken. Auf der großen, alten Eiche saß ein Rotkehlchen und zwitscherte fröhlich. Es war schön hier, nahezu idyllisch. Grün, nicht zu verwachsen und dennoch abgelegen. Die Atmosphäre des friedlichen Waldes wollte also nicht so recht zu dem passen, was Rist und Anna gerade taten. Die kniende Frau machte den Rücken wieder gerader und klopfte sich die feuchte Erde von den Handschuhen, als Hjaldrist aufstand, um den schlaffen, eingewickelten Körper Lins an sich zu nehmen. Er trug den Leichnam zu dem frisch gegrabenen Loch, legte ihn zögerlich in jenes hinein und kam dabei wieder zu Anna auf den Waldboden. Man sah ihn schwer schlucken und hörte ihn leise seufzen. Dann warf er seiner Freundin mit den glasigen Augen einen prüfenden Seitenblick zu. Sie nickte langsam, mit trauriger Miene, und kämpfte gegen das stechende Gefühl an, das ihr die Kehle zuschnüren wollte. Denn es war ja das Eine Schmerz über einen verstorbenen Freund zu empfinden. Das Andere war solch eine tiefe Trauer auch in den Augen von jemand anderem, nahestehendem, zu erblicken. Es brachte die Hexerstochter fast um die eiserne Fassung Hjaldrist so fertig zu sehen. Aber eben nur beinah. Schnell sah sie wieder fort und fummelte sich ungeschickt den blauen, blutbefleckten Schal aus der Tasche, um ihn als Mitgift auf den Toten zu legen. Dann fing sie damit an Erde in das Loch, auf Lin, zu schieben. Es tat so weh. Anna hatte noch nie jemanden beerdigen müssen. Und es fühlte sich so falsch an die weiche Walderde auf den toten Göttling nieder rieseln zu lassen. Sie schniefte leise und ihr bester Freund half ihr gleich. Zusammen bedeckten sie das frische Grab gut und legten am Ende noch ein paar Steine darauf, damit kein Wildtier den Toten wieder freilegen könnte. Und dann schwiegen sie. Rist und Anna blieben einfach nur an Ort und Stelle sitzen; mit traurigen Mienen und feuchten Augen. Der Skelliger im Bunde, der schon immer zugänglicher gewesen war, als seine verbohrte Kameradin, fasste im stillen Beistand nach der Hand Annas und sie ließ das auch zu. Zusammen sahen dem kleinen Grab vor sich dann lange entgegen, als glaubten sie, es verschwände dadurch. Als brächte dies Lin zurück. Doch das tat es nicht. Kapitel 19: Lila ---------------- Am späten Abend waren die beiden Vagabunden zurück an der Jaruga, um dem Fluss gen Sodden zu folgen. Noch immer waren sie schweigsam, doch hatten das Schlimmste nun wenigstens hinter sich. Sie müssten nach vorn blicken, nicht wahr? Tote kamen nicht zurück und das Leben ging weiter. So war es nun mal. “Was machen wir heute Nacht?”, Anna’s Stimme durchbrach die ungemütliche Stille und Rist sah fragend auf. “Es wird dunkel und Apfelstrudel ist heute mit dem Zelt und all den anderen Sachen abgehauen…”, erklärte die Frau ihre Frage sogleich. Sie könnten also kein richtiges Lager aufschlagen, hatten keinen Proviant, keine Feuersteine und kein Geld. Oh, und sie hatten nach ihren letzten Aufträgen in Rogne doch so viele Münzen in den Rucksäcken gehabt! Die Kurzhaarige wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie sich davon hätten leisten können. “Wir finden ihn schon wieder. Pferde kommen doch meist früher oder später zu einem zurück.”, hoffte Hjaldrist “Lass uns heute noch bis nach Sodden gehen. So weit kann es ja nicht mehr sein und ich bin nachts lieber in Stadtnähe, als in der Wildnis unterwegs,” Die Frau aus Kaer Morhen nickte, war jedoch nicht besonders optimistisch und seufzte entnervt. Sie sah erst wieder auf, als sich wenig später Hufgetrappel, Lampenscheppern und das Knarren von großen Wagenrädern näherten. Anna sah sich flüchtig um, als der Wagen mit der daran angebrachten Öllampe immer näher kam. Dies langsam und so, als habe es dessen Besitzer nicht sonderlich eilig. Gediegen trieb der Mann mit dem Strohhut am Kopf und dem blonden Vollbart im Gesicht den knarzenden, fast leeren Karren dann auch an den Abenteurern vorbei. Er hob den Hut im stummen Gruß und fuhr weiter. Das aber nur mehr für wenige Fuß. “Hoo!”, machte der ältere Mann am lederbezogenen Bock des alten Wagens dann und die Hexerstochter sah, wie er die Zügel seines braunen Warmbluts straffzog. Das Pferd mit dem buschigen, weißen Fell an den Füßen schnaubte, beutelte den Kopf und blieb stehen. Der Fremde wandte sich auf seinem Platz sitzend um, um abwartend zu den Zweien zu blicken, die zu Fuß gingen. “Wohin seid ihr unterwegs, junge Leute?”, fragte der Kerl nicht ohne einen skeptischen Ausdruck im Gesicht zu haben. Denn jeder, der Anna und Rist gerade gesehen hätte, hätte sich wohl seinen Teil gedacht. Sie hatten blau geschlagene Visagen und keinerlei Gepäck - außer ihren Waffen, verstand sich. Die dunklen Augen des Bauern wanderten kurz an den Reisenden runter und wieder hoch. Er zog eine Augenbraue in die Höhe und kaute auf einem Weizenhalm herum. Der Schein seiner rostigen Lampe fiel ihm auf das Gesicht. “Sodden.”, gab Anna knapp zurück und blieb, beim Wagen angekommen, stehen. Hjaldrist tat es ihr gleich. Sein blaues Auge war dick zugeschwollen und er versuchte angestrengt zu blinzeln. “Zu Fuß?”, wollte der Fremde mit dem Hut wissen “Das ist noch ein ganz schön weites Stück. Etwa sechs Meilen. Und es ist schon dunkel.” Anna schwieg auf diese offensichtliche, ausgesprochene Tatsache einfach. Widerworte fand sie eben keine und eine Zustimmung wäre überflüssig gewesen. Der Fremde musste schmunzeln. Es war ein freundlicher Ausdruck. “Ihr seht ganz schön mitgenommen aus. Wenn ihr wollt, ja, dann könnt ihr auf meinem Wagen mitfahren. Ich bin zufälligerweise nach Sodden unterwegs.”, bot der Bauer lieb an und die argwöhnische Giftmischerin taxierte ihn eingehend. Das Angebot dieses Bärtigen war sehr nett, wirklich. Es erschien wie ein glücklicher, zu guter Zufall. Dennoch musste sich die Frau wundern. Denn welcher normale Mensch fuhr im Dunkel, allein und unbewaffnet durch die Gegend? “Nun? Kommt ihr?”, fragte der Karrenbesitzer mit den Lachfalten in den Augenwinkeln nach “Keine Angst, ich verlange nichts dafür. Aber der Ehrlichkeit halber gestehe ich, dass ich beruhigter wäre, wenn ich Zwei, wie euch bei mir hätte.” “Wie?”, Anna verstand nicht so ganz und auch der matte Hjaldrist runzelte die Stirn tief. “Na, ihr habt Waffen. Und dafür, dass ihr mich im Ernstfall beschützt, nehme ich euch mit nach Sodden. Mein Angebot an euch ist also nicht so ganz uneigennützig.”, sagte der sonnengegerbte Kerl frei heraus und räusperte sich. Er wirkte dezent nervös dabei. Rist warf seiner Freundin einen bedeutsamen Blick zu und jene zuckte zögerlich mit den Schultern. Dann nickte sie und richtete die Aufmerksamkeit auf den Landwirt zurück. “Gut. Danke…”, entkam es ihr und sie trat vor, um auf den hölzernen Karren zu steigen. Die Ladefläche war so gut wie leer. Nur ein einsames Fass und etwas Weizen für das große Arbeitspferd befand sich darauf. Anna setzte sich, Rist kam neben sie und der Ältere mit dem Strohhut lächelte zufrieden. “Warum seid ihr überhaupt so spät unterwegs? Nachts ist es auf den Straßen nicht besonders sicher.”, wollte die neugierige Trankmischerin wissen und setzte sich etwas bequemer hin. Mit dem Rücken voran lehnte sie sich an das Fass, das schwer mit irgendeinem Gut befüllt zu sein schien. “Tjaja…”, schnaufte der Bauer und nuschelte dabei des Halmes in seinem Mund wegen. Er gab seinem Pferd die Zügel. Mit einem Schnalzen der Zunge trieb er es an und der ganze Karren setzte sich gemächlich ächzend in Bewegung, begleitet von dem leisen Quietschen der eingedellten Laterne. “Ich hatte bei meinem Schwager in Dillingen Geschäfte zu erledigen. Auf halbem Weg zurück gab es aber Probleme. Ein Troll hat die Straße versperrt und niemand wagte sich zu weit in seine Nähe. Es hat ewig gedauert, bis jemand kam, der ihn vertrieben hat. Daher wurde es spät.” Anna’s Miene wurde ein Stückchen weit finster. Denn als der Blonde von Leuten sprach, die sich des besagten Trolls angenommen hätten, musste sie unweigerlich an die Greifen denken. An Veit, diesen Hurensohn. Sie fragte nicht weiter. “Und Ihr lebt in Sodden?”, hakte sie stattdessen interessiert nach. “In einem kleinen Vorort der Stadt, ja. Denn IN der Stadt wäre für meine Weizenfelder kaum Platz.”, lachte der gutmütige Bärtige mit dem langen Halm aus Stroh zwischen den Zähnen “Aber ihr werdet ja sehen. Mein Name ist übrigens Benjamin Bruck. Freut mich sehr.” Die drei, Benjamin, Rist und Anna, kamen auf dem alten Wagen mit den knarrenden Rädern nicht allzu weit, bis der Bauer sein Pferd wieder zügelte. Oder eher: Zügeln MUSSTE. Die Hexerstochter, die auf der Ladefläche des Holzkarrens lehnte, sah fragend auf. Gleichzeitig stieß sie Hjaldrist, der neben ihr lehnend eingenickt war, mit dem Ellbogen an. Sofort schreckte der Skelliger hoch und die Stimme eines Fremden tönte durch die Sommernacht. “Halt!”, maulte der “Wegzoll!” Anna murrte wissend und wandte sich, um sich hoch zu hieven und im Lampenschein über Ben’s Schulter zu lugen. Der Mann mit dem Strohhut wurde äußerst unruhig und stotterte. “Wegzoll?”, fragte er naiv “Hier… hier gab es nie einen Wegzoll zu entrichten. Und ich befahre diese Straße schon seit… seit zehn Jahren!” “Heut gibt’s aber Wegzoll!”, keifte der dreiste Typ vor dem Wagen. Er saß auf einem braunen Pferd, das Anna nur zu bekannt vorkam: Apfelstrudel. Hinter ihm standen drei weitere Männer in den Rüstungen der nilfgaarder Armee. Woher sie die auch immer hatten, denn selbst ein Blinder hätte bemerkt, dass diese dreckigen Halunken keine Soldaten Emhyrs waren. Anna verzog das Gesicht wenig begeistert, als ihre Augen an den schief montierten Schulterplatten des Anführers der Bande hängen blieben. Die Panzer hingen nur deswegen so schräg, weil er seine Halsberge, an der sie mit ledernen Riemen befestigt waren, verkehrt herum trug. Oh, herrje. Auch Rist hatte mittlerweile realisiert, was lief. Er war zu Anna gekommen, stützte sich leicht auf ihre Schulter und sah ebenso nach vorn, um die Wegelagerer zu taxieren. Er stutzte heftig, als er sein Pferd erkannte, das die Schurken gefunden haben mussten. Doch er fasste sich schnell wieder. “Was für Idioten.”, hörte die Alchemistin ihren Kumpel murmeln. Dann erhob der Undviker auch schon hastig die Stimme. “He!”, blaffte er “Lasst uns vorbei oder ihr könnt was erleben! Ach, und lasst uns den Gaul da!”. Der mit der verkehrten angelegten Halsberge zuckte zusammen und sah von Benjamin fort, hin zu Rist und seiner Freundin mit der geröteten Nase. Letztere wusste nicht, ob sie böse dreinsehen oder lachen sollte. Da erhob sich Hjaldrist schon, selbstbewusst wie eh und je, und sprang vom Karren. Normalerweise, da hätte er es wohl nicht so eilig gehabt. Doch die falschen Nilfgaarder hatten sein Reittier und damit sicherlich auch all sein Gepäck. Würden sie abhauen, dann wäre beides wieder verloren. Anna hörte, wie der zitternde Landwirt, der die Zügel verkrampft festhielt, erleichtert aufatmete. “Oh, euch hat die Große Mutter geschickt…”, wisperte Benjamin dankbar in sich rein. “Was? Willst du Ärger, Bürschchen?”, maulte der falsche Nilfgaarder mit cintrischem Akzent weiter. An dem Rucksack, den einer seiner Typen trug, leuchtete eine gespenstisch grüne Lampe. Anna’s Laterne. Sie war ihr schon längst aufgefallen. “Nein, aber ihr bekommt gleich welchen!”, konterte Hjaldrist. Hinter ihm kletterte nun auch die Frau aus Kaer Morhen vom Holzwagen und zog augenblicklich das Stahlschwert. Herr Halsberge gab sich aber wenig beeindruckt und lachte schadenfroh, ließ seine gelben Zähne blitzen. Auch seine Kollegen grinsten dämlich. “Ein halbstarker Junge und ein Mädel in Männerkleidung. Wie bedrohlich!”, schmunzelte der Bandit, machte dann wieder ein ernstes Gesicht und deutete mit dem Kinn in die Richtung der zwei Abenteurer “Los, Jungs! Haut denen noch ein paar blaue Augen! Und zerschlagt die Räder des Karrens!” Hjaldrist und Anna warfen sich einen kurzen Blick zu. Und dann stürzten sie sich den Angreifern brüllend entgegen. Stahl klirrte, Schneiden ächzten gegeneinander. Irgendjemand fiel rüstungsscheppernd zu Boden, ein Anderer fluchte laut. Man sah, wie Anna das Schwert im Halbkreis herum schwang und wie Rist’s Axtblatt verheerend niedersauste. Bis zu den Wagenrädern kamen die überheblichen Wegelagerer nicht einmal mehr. Und auch ihre falsch getragenen, gestohlenen Rüstungsteile halfen ihnen nicht viel, denn die erfahrenen Abenteurer wussten genau, wo sie hinschlagen oder stechen mussten. Obwohl Anna und Rist noch immer geschafft waren und wie getreten aussahen, dauerte es keine fünf Minuten, da war der mit der Halsberge tot, einer seiner Leute verletzt, der andere bewusstlos geschlagen und der verbliebene Bandit ergab sich soeben. Er bettelte um sein kümmerliches Leben, als er sein gestohlenes Schwert wegwarf und sich auf die Knie fallen ließ. Benjamin kam aus dem Starren und Staunen nicht mehr heraus. Er betrachtete die Szenerie sprachlos. Hjaldrist ging sofort zum scheuenden Apfelstrudel und erwischte ihn am Halfter, zerrte daran und versuchte das Pferd zu beruhigen. Anna stand derweil vor dem, der panisch bettelte und sah entnervt auf ihn hinab. “Hört auf mit dem Geflenne.”, schnaubte sie “Das ist ja erbärmlich.” Sie trat das Langschwert des Gauners, das unweit am Boden lag, aus der Griffweite des Fremden mit dem gestohlenen, schwarzen Torsopanzer. “Und schafft den Dreck hier aus dem Weg, sonst fahren wir mit dem Wagen drüber.”, die Kurzhaarige zeigte auf den reglosen Toten, den stöhnenden Verletzten und den Ohnmächtigen. Sofort erhob sich der kreidebleiche Mann nickend, stolperte beinah und lief um sein Leben, anstatt seinen zwei übrigen Kollegen zu helfen. Feigling. Anna sah ihm abschätzig nach und hielt es für vergeudete Zeit diesem Narren hinterher zu hetzen. Sollte er doch rennen. Denn er hatte eh keinen der beiden Rucksäcke der Novigraderin und des Skelligers. “Oh Mann.”, fiel es Hjaldrist dazu nur noch ein. Er hatte sich, mit seinem Pferd am Zügel, genähert und kam neben seine Freundin. Sie seufzte ungläubig und schüttelte den Kopf. “Aber immerhin haben wir unsere Sachen wieder.”, grinste der Jarlssohn schmal und Anna nickte zufrieden. Sie hoffte, dass tatsächlich noch alles da sei. Besonders ihre gefüllten Trankfläschchen mit dem lilafarbenen, bitteren Absud, den sie in Oxenfurt penibel und lange angerührt hatte. Jener beinhielt seltene, teure Kräuter und es wäre nicht nur deswegen schade um ihn gewesen. Denn Anna hatte nämlich noch vor ihn zu einer passenderen Zeit und an einem gelegeneren Ort zu trinken. * Der weitere Weg gen Caed Myrkvid verlief mehr oder weniger ruhig. Eine ganze Woche hatten Anna und Rist damit zugebracht zu reisen. Dazwischen hatten sie immer wieder einmal gerastet. Dies entweder in kleinen Dörfern oder aber einfach nur in ihrem Zelt. Anfangs hatte sich dies seltsam angefühlt. Ohne Lin, der die kleine Gruppe immer begleitet hatte, hatte es so angemutet, als fehle irgendetwas. Es war so still gewesen, so leer. Doch mit der Zeit hatten sich die beiden Vagabunden daran gewöhnt wieder nur zu zweit zu sein. Zu zweit, mit ihren Pferden. Ja, tatsächlich hatte Anna in Sodden ein Schnäppchen gemacht. Sie hatte sich für einen Bruchteil der Pferdepreise in Cintra eine Schimmelstute gekauft. Grund dafür war nicht etwa das Alter des Tieres oder eine Behinderung gewesen, sondern das recht eigene Wesen des Vierbeiners, den Anna liebevoll auf den Namen ‘Salamireserve’ getauft hatte. Die sture Stute war nämlich bissig und eigensinnig. Sie trat auch gern einmal aus oder bockte, wenn man sich auf sie setzen wollte. Und daher hatte deren früherer Besitzer Schwierigkeiten damit gehabt sie zu vermitteln. Anna, der war dies nur gelegen gekommen. Leider. Denn schon nach einem Tag der Reise hatte die Frau beschlossen den Gaul eigenhändig zu Salami zu verarbeiten sobald sie ihn nicht mehr benötigte. Tja. So gerne hatte sie ihr neues Pferd, das bereits ein paar Mal gefährlich nach ihr geschnappt hatte... Abgesehen davon hatten Hjaldrist und seine Kumpanin auf ihrem Weg nach Toussaint zwei Hexeraufträge erledigt. Den einen mit Bravour, den zweiten mit mehr Glück, als Verstand. Der erste war ein Kikimoren-Auftrag in Riedbrune gewesen. Die motivierten Abenteurer hatten vier der besagten Rieseninsekten den Garaus gemacht, deren Nest grölend und lachend in die Luft gejagt und dafür kein schlechtes Geld kassiert. Die zweite Aufgabe hatte darin bestanden ein Rudel Bargeste aus einer verlassenen, nebelverhangenen Villa am Rande Belhavens zu verscheuchen. Aus einer Villa mit vielen eingestürzten Treppenhäusern und morschen Böden, wohlgemerkt. Anna hatte sich während der Bargest-Jagd - bei einem Sturz aus zwei Metern - einen Knöchel dermaßen verstaucht, dass sie nun, drei Tage später, noch immer stark hinkte und es daher nicht wagte den Caed Myrkvid zu betreten. Denn man wusste ja nie, welche Kämpfe darin auf einen warteten. Außerdem war der dunkle Forst an manchen Stellen zu Pferd sicherlich so unzugänglich, dass man zu Fuß wandern müsste. Das war ungünstig für jemanden, der nicht schmerzfrei auftreten konnte. Und daher hatten sich die Monsterjäger in der ‘Grünen Libelle’ nahe des Flusses Sans Retour eingemietet. Hier hatten sie den Caed Myrkvid nahezu vor der Nase. Es war frustrierend. Und Anna langweilte sich zu Tode. “Vielleicht sollten wir zuerst nach Beauclair reiten und dort nach dem Alchemisten fragen, mit dem du sprechen willst…”, schlug Hjaldrist vor “Zumindest müsstest du dort nicht durch einen Wald laufen und kämst zu Pferd vor jede Haustür… denke ich. Ich habe nämlich gehört, dass dort alle Straßen penibel gepflastert sind.” Die Hexerstochter sah auf, als ihr Begleiter sie ansprach. Es war später Nachmittag und Rist war erst vor wenigen Minuten vom Markt in Belhaven zurückgekommen. Der Jarlssohn hatte ein paar Kleinigkeiten besorgt: Nüsse, Süßkram und neue Hemden. Anna hatte den heutigen Tag im Gegenzug lesend und die Zeit mit Häkeln totschlagend auf dem Zimmer verbracht. Und sie hatte hin und her gedacht, eine kleine Glasphiole zwischen den Fingern rollend. Das Fläschchen, das mit einem lila Absud gefüllt war, lag noch immer auf ihrem abgegriffenen Nachttischchen. “Hmmm…”, machte die Monsterjägerin, die in leichter Hose und luftigem Hemd herumlungerte, und ihre müde Miene nahm etwas Nachdenkliches an. Sie hob den Blick etwas und sah gedankenvoll vor sich hin. Das saubere Tavernenzimmer mit den zwei Betten darin war relativ geräumig. In einer der Ecken gab es einen alten, hölzernen Tisch, der an einen Kleiderschrank grenzte, den Rist und Anna bereits in Beschlag genommen hatten. Auf einer mickrigen Kommode lag zur Zierde ein Spitzendeckchen, wie sie alte Mütterchen liebten. Und auf diesem weißen Deckchen stand eine kitschige Vase mit frischen Blumen. Die verhältnismäßig junge Wirtin des Gasthauses war sehr bemüht und bestückte ihre Mietzimmer jeden Mittag mit einem kleinen, frischen Strauß aus ihrem eigenen Garten. Ihr Mann stand ihr in dieser Motivation in Nichts nach und kümmerte sich mit Eifer um Speis und Trank. Selten hatte Anna in einer einfachen Taverne so gut gegessen, wie hier. “Ich weiß ja nicht.”, meinte die seufzende Novigraderin nun zur Antwort. Rist hängte seinen Mantel über einen der Stühle, die da vor dem Tisch im Raum standen, und setzte sich wohlig seufzend. Er war lange unterwegs gewesen. “Wir verschwenden hier nur Zeit.”, meinte der Undviker richtig “Nicht, dass wir es eilig hätten, aber immerhin würdest du nicht tatenlos herumsitzen müssen, wenn wir gen Beauclair reiten.” Anna nickte, denn sie verstand, was ihr Freund meinte. Und dennoch wollte sie zuerst lieber nach den Druiden sehen, als in die Hauptstadt zu reisen. Denn irgendetwas sagte ihr, dass sie mit den Mistelschneidern mehr Glück hätte, als mit einem Trankmischer in Beauclair, von dem sie noch nicht einmal den genauen Namen kannte. Ja, und eventuell kannten die Druiden ihn ja sogar. Oder? Ob er überhaupt noch lebte? “Ich hätte noch eine weitere Idee.”, meinte Anna nach ein paar Momenten des bedächtigen Schweigens. Ihr Kumpel, der sich die Stiefel von den Füßen zog, sah fragend auf. “Wir bleiben noch etwas. In ein, zwei Tagen ist mein Fuß sicher wieder in Ordnung.”, fing die selbstsichere Frau aus Kaer Morhen an “Und in der Zwischenzeit, naja, nehme ich das, was ich da in Cintra gebraut habe.” Rist hob die Brauen. Sein Blick fiel sofort auf das Fläschchen auf Anna’s altem Nachtkästchen. “Ich habe darüber nachgedacht. Ich trage es nun schon seit fast zwei Wochen mit mir herum und überlege, wann ich es denn am besten trinken sollte.”, gab die Kurzhaarige zu und fühlte sich ein wenig dämlich dabei. Sie wusste auch nicht so recht wieso. Vielleicht, weil sie nach wie vor befürchtete, ihr bester Freund könnte sie doch noch als hoffnungslose Spinnerin betrachten. Das wollte sie nicht. “Im Caed Myrkvid sollte ich das jedenfalls nicht tun. Ich habe keine Lust darauf, dass die Druiden mich zu neugierig betrachten oder irgendetwas passiert, womit ich ihre Wut auf mich ziehe.”, setzte Anna ihren Monolog fort. Rist fiel ihr nun feixend ins Wort. “Meinst du, du verwandelst dich diesmal in einen Drachen und fackelst ihnen ihre geliebten Bäume ab?”, grinste er. Die Kämpferin mit dem schmerzenden Fußgelenk musste leise lachen. “Nein… aber dennoch weiß man ja nie, was passiert.”, antwortete sie und das Schmunzeln war dabei noch immer nicht aus ihrem erhellten Gesicht gewichen. Sie setzte sich etwas gerader hin, stellte die Beine vor das Bett und streckte die steifen Knie ein wenig. Ihr rebellierender Fußknöchel steckte in einem dicken Verband, den sie zweimal täglich wechselte, um sich Salbe auf das leicht geschwollene Gelenk schmieren zu können. “Ach, erzähl.”, schnaufte der Jarlssohn. Anna kratzte sich betreten am Hinterkopf. “Und in Beauclair will ich auch nicht herumexperimentieren. Daneben werden wir dort so und so sehr damit beschäftigt sein unseren Alchemisten zu suchen. Außerdem sind die Tavernenzimmer dort sicherlich sehr viel teurer, als hier. Meinst du nicht?”, schätzte Anna. Sie sah vorsichtig zu ihrem Freund hin, der ihr aufmerksam zuhörte. “Also… nachdem ich gerade mehr oder weniger nichts machen kann und wir eh nur darauf warten, dass mein Knöchel wieder verheilt ist, könnte ich das hier also schlucken.”, sie deutete auf die Phiole, die mit einem Trank aus verdammt seltenen Kräutern gefüllt war. Es war keine ganze, angepasste Kräuterprobe per se. Nur wieder ein Hundertstel eines Teils davon. Anna wollte wie immer wissen, wie weit sie gehen könnte und wie viel sie von dem Gift vertrug. Und sollte es gut laufen, dann könnte sie demnächst mehr davon nehmen und immer weiter gehen. Nun, da kein Druide, der Tiertransformationen liebte, in den Brauprozess involviert gewesen war, war sie optimistisch. In einen Fuchs würde sie sich sicherlich nicht wieder verwandeln. Und auch in kein anderes Geschöpf. Dessen war sie sich sicher. Hjaldrist starrte das Trankfläschchen noch immer skeptisch an. Er gab einen nachdenklichen Laut von sich, fuhr sich über das unrasierte Kinn. Und am Ende nickte er langsam. Anna’s Mundwinkel wurden von einem erleichterten Lächeln gekitzelt. “Immerhin kannst du mit deinem Knöchel nicht so schnell weglaufen, sollte irgendetwas Ungeahntes passieren. Das macht mir die Sache leichter.”, stimmte der Mann grinsend zu. Er war zwar ein wenig nervös, das sah man, doch es lag ihm mittlerweile fern Anna in ihre wichtigen Kräuterproben-Pläne hineinreden zu wollen. Und mit dem Vorhaben, das sich mit den besagten Plänen verschränkte, warteten sie heute bis nach dem Abendessen. Nachdem der Absud, den Anna in Cintra zusammengemischt hatte, alles andere als magenfreundlich war - oder sie dies annahm -, hatte sie vor einer guten halben Stunde ein paar belegte Brote und etwas Haferbrei mit Honig verputzt. Und nun saß sie wieder auf ihrer Bettkante und hatte ihr wertvolles Fläschchen in der Hand, auf das sie die vielen letzten Tage über so gut aufgepasst hatte. Sie entkorkte es und warf ihrem Freund, der wiederum auf seinem Bett direkt gegenübersaß, einen bedeutungsvollen Blick zu. Hjaldrist nickte, hatte eine ernste Miene aufgesetzt. Dann trank die Novigraderin. Doch nur die Hälfte der zähen, lila Flüssigkeit. Äußerst bitter lief der Frau das dicke Zeug die Kehle hinab und ließ sie angewidert erschaudern. Sie murrte unzufrieden, steckte den kleinen Korken wieder in ihr Glasfläschchen und legte den Rest des Trankes fort. Ein schaler Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus und machte ihn staubtrocken, der Magen der Frau fühlte sich für einen Moment so an, als ziehe er sich zusammen. Einen Herzschlag lang glaubte Anna sogar, sie müsste sich übergeben. Sie würgte einmal trocken. Doch dann war es auch schon wieder vorbei und sie blinzelte überfordert. Ruhig flackerten zwei Lampen, die ein warmes Licht in den Raum warfen und ein sanftes Orange an die Wände malten. Es wurde allmählich dunkel draußen. “Alles gut?”, hörte man Rist kritisch fragen. Die tranige Kurzhaarige sah daraufhin auf und nickte zögerlich. Ja… es war gut. Ihr war schon gar nicht mehr übel und ihre Eingeweide schienen sich wieder zu entspannen. Sie bekam bloß einen ziemlich großen Durst und ihre Zunge klebte sich staubtrocken an ihren Gaumen. “Äh.”, entkam es ihr “Hast du Wasser da?” Hjaldrist runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und erhob sich ohne, dass Anna ihn erst darum bitten musste. “Ich hole welches.”, versicherte er “Und du bleibst schön hier sitzen, verstanden? Rühr dich bloß nicht weg.” Anna nickte geduldig und sah dem Skelliger im grünen Rock dann nach, als er unter dem Knarren des Holzbodens den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss. Sie atmete flach durch, sah zurück in das gemütliche Gästezimmer und fixierte wahllos einen Punkt auf dem abgetretenen, grünblauen Teppich. Dabei versuchte sie sich auf das zu konzentrieren was sie fühlte. Die verrückte Trankmischerin wollte nachvollziehen können, was ihr lila Absud mit ihr tat und wie er sie veränderte. Wenn er denn überhaupt etwas bewirkte, verstand sich. Denn mich Pech würde gar nichts geschehen. Leise schnaufte die Kurzhaarige, fasste sich prüfend an die trocken gewordenen Lippen und befühlte mit der Zunge den gefühllosen Gaumen. Sie schlug die braunen Augen nieder, lauschte und versuchte in sich zu hören. Sie hatte einen fürchterlichen Durst. Ihr Magen war ein wenig flau; so, wie nach einer durchgezechten, langen Nacht mit wenig Essen. Aber ihr war nicht schlecht. Sie war nicht einmal besonders aufgebracht und fühlte sich erstaunlich… normal. ZU normal für ihren Geschmack. Ungeduldig tippte Anna mit dem Finger neben sich auf der alten Matratze herum, öffnete die Augen wieder, verengte sie prüfend, sah um sich. Nichts. Sie fühlte nichts. Sollte sie ob dem frustriert werden? Hatte der Trank etwa nicht funktioniert? Oder käme noch etwas? War sie zu erwartungsvoll? Mist, verdammter… sie hasste es zu warten. Die ungeduldige Anna schnaubte pikiert und ließ sich langsam zurück, auf ihr Bett, sinken. Ihre Beine mit den nackten Füßen baumelten nach wie vor von dessen schmaler Kante. Und sie fixierte die altmodisch getäfelte Zimmerdecke, als suche sie dort oben nach irgendetwas. Hm. Erstaunlich. Dort gab es gar keine Spinnennetze. In allen anderen Gasthauszimmern, die sie je behaust hatte, hatte es die immer gegeben. Manchmal mehr von ihnen, manchmal weniger. Und- Anna zog die Brauen leicht zusammen und stockte auf einmal. Sie spürte urplötzlich, wie sie aus unerfindlichen Gründen aufgeregt wurde. Langsam aber sicher, da beschleunigte sich ihr Herzschlag. Es trieb ihr etwas Adrenalin ins Blut. Nicht so viel, dass sie gar hibbelig oder entrückt wurde, doch genau so viel, dass sie sich fühlte wie… na, als wie, wenn sie sich enorm auf irgendetwas freute. Noch immer starrte sie der spärlich beleuchteten Decke entgegen und wurde zunehmend nervöser. Ihre Stimmung kippte merklich: Von einfacher, unbegründeter Vorfreude in eine seltsam ähnliche, speziellere Richtung. Oh ja, ‘speziell’ traf es gut. Anna atmete tief und kontrolliert aus, als sie spürte, wie drängende Wärme ihre Lendengegend erfüllte und ihr den schwirrenden Kopf leichter machen wollte. Dieses Gefühl stichelte heftig, wuchs an. Und an dem Punkt, an dem die so abrupt erregte Frau begriff, was gerade mit ihr passierte, verkniff sie sich ein verhaltenes Fluchen. Sie blinzelte wie benommen, setzte sich sofort wieder hin und wurde unruhiger. Die Knie zusammenpressend stützte sie sich auf einem ihrer Oberschenkel ab und atmete noch einmal tief durch, als helfe ihr dies gegen das stichelnde Pulsieren in ihrem Unterleib. Tat es aber nicht. Und als Hjaldrist in diesem - man möchte meinen eher ungelegenen - Moment wiederkam, zuckte Anna zusammen, wie ein Einbrecher, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Sie sah vorsichtig auf und beobachtete, wie der ruhige Undviker einen metallenen Krug auf dem Zimmertisch abstellte. Leise seufzend schüttete er daraus etwas in einen mitgebrachten Tonbecher. Anna’s Blick sank derweil einen Deut weit und sie biss sich fest auf die Unterlippe. Die Lüsternheit, die immer stärker in ihr aufwallte, beutelte ihren Geist und ließ ihr das Herz bis zum Hals schlagen. Es wühlte sie auf, machte ihr die Finger fahrig. Die Frau ruckelte unwohl auf ihrem Platz herum, als ihr die Hitze im Schritt die leichte Schlafhose, unter der sie für gewöhnlich nichts trug, feucht machte. Und wieder sah sie befangen auf, als sie plötzlich einen Becher vor die Nase gehalten bekam. “Da.”, meinte Hjaldrist gutmütig und drückte ihr das Ding in die Hand, ehe er weiter kommentierte “Der Schankraum ist schon wieder rappelvoll. Die haben gerade eben einen Typen rausgeworfen, der eine Schlägerei mit einem Bänkelsänger anzetteln wollte. Das nur, weil der Schund über diesen Emhyr gesungen hat.” Anna hörte ihrem gesprächigen Freund kaum zu und trank lieber schnell ihr Wasser aus. Ziemlich steif saß sie da, die Beine mittlerweile übereinandergeschlagen und mit glasigem Blick. Sie glaubte, sie werde noch wahnsinnig und hielt an sich, um nicht noch zu keuchen und sich damit zu verraten. Ja, normalerweise, da begrüßte man es doch, wenn man wuschig wurde, wie Nachbar’s Köter. Man holte sich dann jemanden, mit dem man dem nachgehen konnte oder kümmerte sich alleine darum. Es war eine angenehme Sache, so oder so. Aber nicht jetzt. Nicht, wo diese ungewollt künstlich erzwungene Hitze im Unterleib dermaßen plötzlich und heftig kam, dass es einem beinah schwindelig wurde. Und nicht, wo einem der beste Kumpel vor der Nase herumstand und damit anfing ziemlich forschend drein zu sehen. Oje... “Hm? Was ist?”, wollte Rist wissen und die benebelte Anna öffnete die Lippen, um etwas zu sagen. Doch sie schwieg. Sie bekäme gerade wohl wenig Vernünftiges heraus. “Willst du noch etwas zu trinken?”, fragte der Mann nach, als spräche er mit einem Kind, und nahm den Tonbecher seiner Freundin wieder an sich. “Nein…”, murmelte die arme Novigraderin bloß. Sie wusste nicht, wie sie aussah, doch offenbar löste ihr Ausdruck in dem anwesenden Undviker zuerst irritierte Besorgnis und dann eine eigenartig morbide Faszination aus. Anna’s Blick wanderte an dem Krieger in der grünen Tunika runter und wieder hoch, sehr langsam. Und unweigerlich kam ihr dabei in den Sinn, dass sie noch nie mit einem Mann geschlafen hatte. Sie hätte im Normalfall auch nicht daran gedacht, denn sie hatte Besseres zu tun, doch in diesem Moment trieb sie ihre angefachte Fantasie dazu sich zu fragen, wie dies wohl sei. War es sehr viel anders als ein Mädel flachzulegen? Tat es weh? Hatten Kerle überhaupt eine Ahnung davon, wie man Frauen richtig anzufassen hatte oder achteten sie beim Sex nur auf sich selbst? Anna befeuchtete sich die trockenen Lippen flüchtig mit der Zunge, suchte schwer atmend Blickkontakt. War Rist eigentlich schon immer so hübsch gewesen? Ja… ja, war er. Sie hatte sich das schon sehr oft gedacht. Aber nicht SO wie gerade eben. Die Miene der Frau verrutschte etwas, wurde ziemlich angetan und eingenommen. Sie hob die Finger zögerlich an, fasste nach vorn und erwischte den Stehenden dann am Handgelenk. Sanft und gleichzeitig bestimmend zog sie daran und machte damit unmissverständlich klar, dass sie wollte, dass der Dunkelhaarige zu ihr kam. Jetzt. Einfach so. Und in ihrem Kopf, da waren sie schon sehr viel weiter. Man sah ihr diese Gedanken auch an, so eindeutig lüstern, wie sie gaffte. Hjaldrist stutzte ob dem heftig, wirkte etwas überfordert und gab seiner überreizten Kollegin erst einmal nicht nach. Stattdessen blieb er einfach stehen und musterte Anna eingehend, ehe sein Blick allmählich verriet, dass er längst verstanden hatte, was hier geschah. Er hätte deswegen beinah ungläubig gelacht. Doch er verkniff es sich und fing augenscheinlich damit an mit sich zu hadern, nachzudenken, abzuwägen. Angestrengt. Jedenfalls sah er Anna genau so entgegen. Doch die aufgewühlte Trankmischerin ließ ihn nicht los, dachte nicht einmal daran. Die zwingende Wollust, die sie gepackt hielt, wurde fast unerträglich, verwehrte ihr mittlerweile längst das klare Denken und die abwehrende Einstellung gegenüber Männerkörpern. Eine Einstellung, wegen der Rist sonst stets das Zimmer verlassen musste, wenn sich Anna umziehen wollte. Oder eine, wegen der sie den Skelliger für gewöhnlich behandelte, wie einen großen Bruder: Völlig platonisch, ohne jegliche Hintergedanken. Doch, oh, Hintergedanken, die hatte sie nun. Und was für welche. Sie war beinah soweit jene auch schamlos auszusprechen und den unschlüssigen Hjaldrist direkt darum zu bitten ihr den mickrigen Rest des erweichten Hirns aus dem Kopf zu bumsen. Dass er ein Mann war? Egal. Dass Anna keine Erfahrung mit den selbigen hatte? Einerlei. Alles, was gerade zählte, war diese fieberhafte, berauschende Erregtheit in ihren Lenden und das warme, feuchte Gefühl zwischen ihren Schenkeln. Daher holte sie mit gläsernen Augen Luft für eine derbe Bitte. Rist aber, der schüttelte schnell den Kopf und bedeutete ihr damit bloß die Klappe zu halten. Dann kam er neben sie auf die Bettkante. Im ersten Moment, da glaubte die enttäuschte Anna, er würde sich abwenden und sie ermahnen oder eine Idiotin zu schelten. Doch nein, stattdessen saß er der Hexerstochter nun zugewandt da und sah ihr gespannt abwartend entgegen. War das… ein Angebot? In ihrem fragwürdigen Zustand fasste die unruhige Novigraderin es einfach als eines auf; als Gelegenheit, die sie beim Schopfe packen MUSSTE. Sie beugte sich dem Undviker also entgegen ohne die braunen Augen zu schließen, legte den Kopf einen Deut schräg und kam ihm so nah, dass sie seinen warmen Atem im Gesicht spüren konnte. Dann war da auf einmal seine Hand in ihrem Nacken. Sie erschauderte schon ob dieser simplen Berührung sehr und sah, wie der Krieger deswegen ungläubig schmunzeln musste. Und dieses schiefe Lächeln in dem schönen Gesicht reichte aus, um die ohnehin schon so niedrige Hemmschwelle der ergriffenen Frau in die tiefsten Abgründe zu schubsen. Sie schlug die Lider nieder und küsste Rist ohne sich zurückzuhalten so innig, als habe sie jahrelang auf diesen Moment gewartet. Ausgehungert tat sie das und hätte der bedrängte Skelliger sie nicht etwas im Zaum gehalten, hätten Zähne bestimmt auf Zähne geschlagen. Er öffnete die Lippen und ließ es positiv überrascht seufzend zu, dass ihm die Novigraderin die Zunge in den Mund schob. Der Viertelelf spielte dieses verquere Spielchen mit; bereitwilliger, als es sich eine nüchterne Anna jemals gedacht hätte. Nur jetzt, da sann die stürmische Kurzhaarige kaum darüber nach, wie sich ihr bester Freund wohl gerade fühlen mochte. Es war ihr nämlich einerlei. Ohne von seinen verlockenden Lippen abzulassen, kam sie auf seinen Schoß und riss ungeduldig an seinem weißen Hemd, zwängte ihn zurück und beugte sich über ihn. Und der Jarlssohn ließ es geschehen. Es war für die Jüngere ungewohnt beim Küssen einen kratzigen Dreitagebart und raue Lippen anstatt eines dick geschminkten Mundes zu spüren, doch es war kein schlechtes Gefühl. Im Gegenteil, denn es machte sie nur noch neugieriger. Und, diese Nebensächlichkeiten beiseite, war das hier doch am Rande so, als würde man mit einer Frau schlafen. Ja, es war für Anna nichts Neues. Sie war oft genug mit irgendwelchen Mädchen in der Kiste gelandet und hatte dabei auch Spaß gehabt. Genauso, wie jetzt. Erstaunlich, wie leicht es ihr fiel sich nun an einen Mann zu drängen und ihn völlig herrisch für sich zu beanspruchen. Jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem sie ihm die Hand gen Schritt schob. Als fiele ihr da ein ausschlaggebendes Detail ein, das sie ihres leichten Kopfes wegen vergessen hatte, hielt sie inne, als sie mit den Fingern an den ledernen Gürtel des Dunkelhaarigen stieß, und sah unsicher auf. Doch ehe sie sich selbst fragen konnte, ob sie weitermachen und was sie am besten wie tun sollte, schien ihr einfühlsames Gegenüber - oder in diesem Fall eher: ‘Gegenunter’ - zu verstehen. Rist’s Augenbrauen wanderten hoch und ihn schien eine glasklare Erkenntnis zu überkommen. Seine stechenden Augen betrachteten Anna für wenige schwere Atemzüge lang nachdenklich forschend. Doch dann nahm er plötzlich und wie selbstverständlich die Zügel in die Hand. Er erwischte die Kurzhaarige impulsiv an der Taille, dränge die hitzige Frau neben sich und kam über sie. Als erfülle ihn indessen dieselbe Lust, wie seine Freundin, gab er sich keine Blöße mehr und fasste unter Anna’s weites Hemd, als seine weiche Zunge deren Hals suchte. Sie keuchte, als sie gleichauf sanfte Fingerspitzen an der warmen Haut spürte; Berührungen, wie sie irgendwie nicht zu dem Hjaldrist, den sie bisher gekannt hatte, passten. Sie zerging förmlich unter dessen Händen, deren Haut vom vielen Kämpfen rau war. Und überaus willig ließ sie alles zu, was Rist da tat, krallte sich an seinem Oberteil oder den dunklen Haaren fest. Der schwere Atem des Mannes an ihrem Ohr tat den Rest, ließ sie wohlig erschaudern und aufseufzen. Sie dachte nicht einmal nach, als Rist ihr schließlich die lockere Hose von der Hüfte zog. Sie half gar mit, trat sich das Kleidungsstück energisch von den Füßen und zerrte den Undviker wieder in einen verlangenden Kuss, nachdem sie die Beine für ihn breitgemacht hatte. Sie spürte seine weiche Zunge an den Lippen und wie sein Ellbogen, mit dem er sich neben ihrem Kopf abstützte, die Matratze etwas niederdrückte. Anna öffnete die Augen halb und sah, wie Rist die seinen geschlossen hielt. Sie wusste nicht so recht wieso, doch sie musste verstohlen in den innigen Kuss hinein grinsen. Vielleicht, weil sie erkannt hatte, dass der undviker Krieger hieran Gefallen zu finden schien. Womöglich aber auch, weil sie ihn so kinderleicht dazu gebracht hatte mit ihr zu schlafen. Ihr wölfisches Schmunzeln erstarb jedoch schnell und wich einem überwältigten Blinzeln, als sie Momente später schon Finger im feuchten Schritt spürte, die genau wussten, was sie taten. Erst einen, dann zwei. Sie rieben sich an ihr und entlockten Anna ein verhaltenes Stöhnen. Sie tauchten tief in sie ein und die Hexerstochter tat geräuschvoll kund, dass ihr geschickter Kumpel damit am richtigen Weg war. Es war kurios. Denn obwohl die Braunhaarige in ihrem Leben noch mit keinem Mann geschlafen hatte, ertappte sie sich dabei mehr von dem spüren zu wollen, der hier auf allen Vieren über sie gebeugt war. Ja, die Angst vor dem Unbekannten wurde zu drängender Neugier und die Furcht vor Schmerzen von der Lust weggeblasen. Anna drückte das Kreuz durch und sich damit ihrem kurzhaarigen Freund entgegen. Sie sah, wie er die Augen ob dem aufschlug, um sie prüfend anzusehen. Rist zog die Hand zwischen den Beinen der Frau zurück, doch zögerte. Ahnte er etwas? Ja, ob er vermutete, dass die Giftmischerin noch keinen Mann gehabt hatte? Wahrscheinlich. Und dass er nicht sabbernd über die willige Anna herfiel, sondern sich gerade Gedanken zu machen schien, sprach für ihn. Es war fast schon niedlich und die schwer atmende Alchemistin unter ihm glaubte den Undviker in dem Moment abgöttisch dafür zu lieben. Oh, der Trank, den sie in Cintra zusammengepanscht hatte, war wirklich gut. Die Beine um Hjaldrist’s Hüfte schlingend zwängte sie sich dessen Lenden in einer stummen, doch direkten Aufforderung entgegen. Und ihr Herz schlug ihr bis zur Kehle, als sie dabei spürte, wie dem anderen die Hose längst zu eng war. “Mach…”, bat sie selbstsicher und dem Mann mit dem betörten Blick entkam etwas, das sich anhörte, wie ein leises, amüsiertes Lachen. Anna grub die Hände fest und überwältigt in das Laken, als Rist wenig später in sie eindrang. Und zwar genauso, wie sie es verlangt hatte: Nicht mehr mit den Fingern. Sie atmete tief ein und spürte, wie ihr ein bisher unbekannter, stechender Schmerz an der Wirbelsäule entlang nach oben jagte. Sie hielt den Atem überfordert an und verspannte sich, doch ließ gleich wieder locker, als der erregt seufzende Skelliger über ihr einfach weitermachte und sich ein viel stärkeres Gefühl über die vage ziehende Pein legte. Eines, das die unglaubliche Leidenschaft in ihr weiter anfachte, ungeduldig war und ihr vollkommen zu Kopf stieg. Eines, das ihr eine Gänsehaut über den gesamten Körper jagte. Ein schwaches Rot hatte sich auf ihre Wangen gelegt und Anna sah ihrem Freund voller besinnungsloser Begierde im Blick entgegen, als sie seine ganze, harte Länge in sich spürte. Rhythmisch, immer wieder. Es war seltsam, wie nah sie sich ihm dabei fühlte und das nicht nur körperlich. Und sie wollte mehr davon, bat den Westländer atemlos darum bloß nicht aufzuhören. Anna und Rist liebten sich in dieser Nacht, als hätten sie jahrelang mit niemandem geschlafen. Und sie taten es, als müssten sie sich für all die kommenden Jahre daran sättigen. Als hätten sie nie wieder die Gelegenheit auf Sex. Hjaldrist’s achtsame Hände führten, lehrten. Und seine unerfahrene Kumpanin ging verlangend darauf ein, forderte ihn wie im Rausch und das so geräuschvoll, wie das Kopfende des Bettes, das bei jeder festen Bewegung von Rist’s Hüfte an die vertäfelte Wand stieß. Der triebgesteuerten Anna war es indes egal, dass man sie hörte. Es war ihr einerlei, dass es ihr bester Kumpel und Bruder im Geiste war, mit dem sie sich zwischen den Laken wälzte. Gerade, da war das alles nichtig. Als Anna am nächsten Morgen erwachte, war es bereits hell im lauschigen Zimmer. Die Sonne schien zwischen den Vorhängen hindurch und warf warme Strahlen auf den Zimmerboden. Schlaftrunken seufzte die Frau, blinzelte und gähnte. Sie wollte sich langsam aufrichten und sich die Augen reiben, doch konnte nicht. Denn da war ein fremder Arm, der sie festhielt. Augenblicklich erstarrte die erschrockene Novigraderin und war sofort hellwach. Perplex weitete sie die Augen und ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren. Sie musste gar nicht erst hinter sich sehen, damit sie die verstörend anregende Erinnerung an den gestrigen Abend wieder einholte. Sie rührte sich kein Stück weit, spürte einen ruhigen, warmen Atem im Nacken und einen Körper, der eng an ihren Rücken geschmiegt dalag. Bei ihr. In ihrem schmalen Bett. Ach du- Ach du Scheiße! Die Kurzhaarige hatte völlig auf das Atmen vergessen, als sie so dalag und realisierte, dass die keine Hose trug. Auch ihr Hemd saß schief und war ihr bis zum Kinn hochgerutscht. Sie war quasi nackt. Doch gerade dies störte sie in dieser heiklen Sekunde am wenigsten. Oh, bei Melitele! Sie sah vorsichtig an sich runter und erblickte die Hand, die da über der Bettdecke an ihr lag. Was… was sollte sie nun machen? Wenn sie Rist wecken würde, dann… dann wäre er wach! Und wenn er wach wäre, dann würde er sie sicherlich auf gestern ansprechen, verdammt! Anna atmete ganz tief durch, einmal, zweimal, doch es half nur wenig. Sie fühlte sich aufgelöst, doch ermahnte sich leise flüsternd selbst dazu einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht zu verhalten, wie eine frisch gevögelte Jungfrau. Also… im Grunde und in gewisser Art und Weise war sie das ja, aber- Anna zuckte zusammen, als der dösige Undviker hinter ihr irgendetwas brummte und sie losließ, um sich umzudrehen. So, dass er mit dem Rücken zu ihr lag. Sie linste zögerlich hinter sich, rückte ein Stück weit von Hjaldrist fort. Und dann richtete sie sich endlich auf. Dies über sich selbst den Kopf schüttelnd und auf einem verheißungsvoll feuchten Fleck auf dem Bettlaken sitzend, über den sie nicht genauer nachdenken wollte. Sie erschauderte unzufrieden und rutschte mit dem Hinterteil etwas zur Seite. “Scheiße, Mann…”, wisperte sie in sich rein und fuhr sich mit einer Hand über das überforderte Gesicht. Was sollte sie jetzt bloß machen? Warum hatte Rist gestern nur mitgemacht? Und was würde es aus ihrer Freundschaft machen? Würde es etwas ändern? Das wollte sie nicht! Wie beschämt grub die arme Frau das Gesicht an ihre Hände und seufzte verhalten. Am liebsten wäre sie just einfach im Erdboden versunken, doch leider war sie weder ein Maulwurf, noch eine Zauberin. “Hey…”, als Hjaldrist, der offenbar ebenso wach war, Anna ansprach, nahm die Novigraderin die Hände sofort von ihrem etwas geröteten Gesicht. Hatte sich dieser Arsch etwa nur schlafend gestellt? Und als sie zu dem Liegenden hin lugte, sah auch er her. Er wirkte noch dezent zerstört, denn die Nacht war lang gewesen. Sein Blick war aber verhältnismäßig wach und aufmerksam. “Das war komisch.”, endete der ehrliche Skelliger seine knappe, trockene Zusammenfassung der vergangenen Stunden dann auch gleich. Anna sah ihm teils überrascht, teils unbeholfen entgegen. Doch schnell mischte sich in diesen Ausdruck ein Funke der Erleichterung. Zudem störte sie sich noch immer nicht daran, dass sie hier verdammt knapp bekleidet saß. Denn, oh, Hjaldrist hatte gestern doch eh alles gesehen. Das auch noch von allen möglichen Blickwinkeln. Und angefasst hatte er es auch. “Ja… schon…”, hüstelte die Kurzhaarige leise und schaffte es nicht so recht dem Blick ihres Kumpels standzuhalten. Denn, ja, es war ziemlich ‘komisch’ gewesen, was sie getan hatten. Im Nachhinein gar befremdlich, eigenartig und falsch. Doch insgeheim, so viel musste sich Anna eingestehen, hatte es ihr gefallen. Rist war beachtlich gut im Bett und das musste man ihm lassen. Wie viele Frauen er wohl schon gehabt hatte? Sicherlich einige. “Lass uns das nicht nochmal machen.”, sagte der Mann weiter und es klang mehr nach einer Frage als nach einer Bitte. Anna nickte schnell und spürte, wie ihr ein zentnerschwerer Felsbrocken vom Herz fiel. Sie musste schwach lächeln, als sie sah, dass der lockere Undviker schon wieder dabei war in gewöhnlicher Manier zu schmunzeln. “Mhm. Das machen wir nicht wieder.”, versicherte sie und ihre Unsicherheit erschien gleich wie weggeblasen. Ja, die Sache von heute Nacht würde nichts an ihrer Freundschaft ändern. “Das war dein Erstes Mal.”, stellte Rist dann noch ganz dreist fest, als sei er sich dessen zu hundert Prozent sicher. Anna fühlte sich, als hätte er ihr gerade ein dickes Brett vor den Kopf geschlagen. Und genauso sah sie ihn nun auch an. “Was? Nein!”, empörte sie sich und die Worte entkamen ihr dabei auffallend schnell. “Hm. Echt nicht?”, wollte er skeptisch wissen und hörte nicht damit auf dämlich-wissend zu grinsen. “Nein.”, murrte Anna stur. Doch sie wusste, dass ihr Freund ihr nicht glaubte. Dafür kannte er sie und ihre Marotten einfach zu gut. Und natürlich witzelte er deswegen gleich weiter. “Ach so? Dann bist du also von der devoten Sorte. Stehst du drauf unterbuttert zu werden? Das hätte ich mir ja nicht gedacht, so, wie du am Anfang-” Weiter kam der viel zu offene Undviker aber nicht, denn Anna drückte ihm das Kissen hastig in die Visage, als wolle sie ihn mit dem daunengefüllten Stoffpolster ersticken. Und ganz, ganz kurz dachte sie tatsächlich daran dies zu tun. Nachdem Anna später ein wenig steif in den gemütlichen Schankraum gekommen war - und ihr leicht humpelnder Gang war nicht nur ihrem beleidigten Knöchel zuzuschreiben -, ließ sie sich bei Rist nieder, der schon längst an einem der kleinen Tische saß und in einen dampfenden Teebecher pustete. Der Mann sah über den Rand seines tönernen Trinkgefäßes auf und es war nach der vergangenen Nacht ein wenig seltsam ihm entgegen zu sehen. Denn auch, wenn Anna mittlerweile über dieses Gefühl hinweg war sich absolut betreten zu fühlen, hatte sie noch immer gewisse Bilder vor dem geistigen Auge. In diesen Bildern von vor einigen Stunden hatte ihr Freund sie auch angesehen. Aber nicht so, wie er es gerade tat - etwas müde und abwartend - sondern mit mitreißender Begierde im Blick. Lustvoll, ungezügelt und manchmal auch so seltsam sanft. Die Erinnerung daran machte Anna ein wenig unruhig, doch sie ließ es sich nicht anmerken. Stattdessen versuchte sie eine bequemere Sitzposition einzunehmen und lehnte sich seufzend zurück. “Bin ich müde…”, entkam es ihr, um die seltsame Stille zu brechen und ohne, dass sie davor so recht darüber nachdachte. Denn es gab schließlich einen guten Grund dafür, dass sie heute alles andere, als ausgeschlafen war. Und dieser verdammte Grund saß ihr gerade gegenüber und grinste schief in sich hinein. War da gar ein Funke Triumph im Blick des Skelligers? Also echt! Die pikierte Anna wollte schon genervt seufzen, da nickte ihr der Jarlssohn zu, als wolle er etwas hinter oder bei ihr andeuten. Irritiert verengte die Frau die braunen Augen, linste fragend über die Schulter zurück. Doch der Dunkelhaarige deutete auf Anna selbst. “Du hast da was.”, bemerkte er und die Angesprochene richtete die Aufmerksamkeit auf den Schönling zurück, der gar nicht mehr damit aufhörte äußerst belustigt zu schnaufen. “Was?”, fragte sie misstrauisch. Und daraufhin tippte sich Hjaldrist an den Hals. Genau an die Stelle, an der sein Gegenüber einen beachtlichen, roten Fleck hatte. Sofort verstand Anna und starrte wie ertappt, zog den Kopf etwas ein und fummelte sich den Kragen höher. So, als wolle sie den Knutschfleck an ihrer dünnen Haut verbergen. Wie ein kleines, dummes Mädel fühlte sie sich dabei und rollte mit den Augen. “Wie gemein...”, kommentierte sie vorwurfsvoll. Schließlich hatte sie den Nacken ihres besten Freundes heile gelassen. “Was dann? Gestern hat es dir noch gefallen.”, gluckste der Undviker schelmisch. Er war manchmal wirklich unglaublich! “Rist!”, maulte Anna protestierend und ein älteres, ziemlich genervt wirkendes Paar, das unweit saß, starrte böse her. Waren wohl die Zimmernachbarn. Obwohl sie nicht mehr die Jüngsten zu sein schienen, waren sie sicherlich nicht schwerhörig und hatten in der letzten Nacht mitgehört. Oh Mann... “Was gibt’s zu essen?”, fragte die Novigraderin dann nach einem betroffenen Räuspern, bevor ihr Kumpel auf die Idee kommen könnte irgendwelche anstößigen Witze zu machen. Es sah nämlich so aus, als wäre er drauf und dran dies zu tun. Also zog sie nun einen klaren Schlussstrich und wechselte das Thema. Zum Glück ging Hjaldrist auch darauf ein. “Rührei mit Speck. Hab schon für dich mitbestellt.”, meinte er und stellte seinen Teebecher auf den abgegriffenen Tisch. Anna nickte im stummen Dank. “Wie geht es deinem Knöchel?”, wollte der Undviker dann gleich wissen und die Giftmischerin wippte unter dem Tisch einmal kurz prüfend mit dem bandagierten, dick eingesalbten Fuß. Sie lächelte zufrieden. “Besser. Ich bekomme den Fuß mittlerweile wieder in den Stiefel…”, versicherte sie und war heilfroh darüber “Ich glaube, wir könnten auch heute schon wieder los und müssen nicht bis morgen warten.” “Hmm. Sicher?”, der Dunkelhaarige runzelte die Stirn tief und zeigte sich kritisch. Doch Anna nickte selbstsicher. Zwar tat ihr das Fußgelenk noch etwas weh, doch sie konnte wieder auftreten. Außerdem wollte sie nicht noch länger tatenlos herumsitzen. Sie musste dringend an die frische Luft. “Der Caed Myrkvid ist recht nah. Wenn man hinter dem Gasthaus auf den Hügel geht, kann man ihn schon in der Ferne sehen.”, erzählte Rist wissend. Er war die letzten Tage über oft draußen gewesen, während Anna sich kaum aus dem Tavernenzimmer gerührt hatte. Er hatte die Gegend sicherlich ein wenig erkundet und sich Belhaven angesehen. “Die Leute der Gegend warnen übrigens davor dorthin zu gehen. Sie sind der festen Überzeugung, dass dieser Wald der sichere Tod ist.”, schmunzelte der tollkühne Skelliger, der sich nicht viel um das dämliche Panikmachen der Kleingeistigen scherte. Er war mutig und mochte Herausforderungen. “Der Tod?”, grinste Anna, als die blonde Schankmagd herankam und ihnen beiden das Frühstück servierte. Erst an diesem Punkt angekommen realisierte die Novigraderin, wie hungrig sie war. Ihr flauer Magen hing ihr in den Kniekehlen und grummelte so laut, dass man hätte glauben können, hinter der schmalen Tavernenbank säße ein knurrender Wolf. Die Frau ächzte erleichtert, als sie zur Gabel griff und ihr der Duft der riesigen Portion Rührei mit Speck und Zwiebeln in die Nase stieg. Sie bemerkte gar nicht, wie die Tavernenbedienstete in dem schlichten Kleid Rist schöne Augen machte und sich dann mit puterrot angelaufenen Wangen umdrehte, um geschäftig von Dannen zu ziehen. “Japp, der Tod.”, erzählte Hjaldrist weiter und hatte es mit seinem Essen nicht ganz so eilig, wie Anna “Man munkelt, dort gäbe es einen Baum, der auf zwei Beinen herumläuft und alles erschlägt, das den Caed Myrkvid betritt.” “Oh.”, machte die Kurzhaarige unbeeindruckt und der Sarkasmus in ihrer Stimme war kaum zu überhören “Und ich dachte, die Druiden dort seien blutrünstige Hinterwäldler und Kannibalen. Aber wenn es nur ein Baum ist, der spazieren geht, ist ja alles in Ordnung.” Rist musste heiter lachen und steckte sich einen Happen Ei in den Mund, zog die Stirn kraus und gestikulierte knapp in die Richtung seiner Freundin. “Gib mir mal das Salz rüber.”, bat er mit vollem Mund nuschelnd, bevor die Frau ein kleines Fläschchen aus ihrem gut gefüllten Trankgürtel zog. Sie schob es ihm hin und der dankbare Undviker nickte anerkennend. Er bemerkte die Blicke der drei Leute am Nebentisch nicht, die ihn äußerst eigenartig musterten, als er das Glasfläschchen entkorkte und etwas von dem weißen, körnigen Gewürz daraus auf sein fettiges Essen rieseln ließ. Tja. Anna hatte sich hinsichtlich der Alchemie zwar sehr weiterentwickelt, doch das hatte nichts daran geändert, dass sie noch immer Salz und Pfeffer am Gürtel trug. Denn sie liebte Essen. Und nichts war schlimmer, als eine Speise, die zu schwach gewürzt war. So etwas ruinierte einem doch den Tag. Erst recht, wenn man sich auf einer langen, anstrengenden Reise nur von Trockenfleisch und zähem Brot ernährt hatte und zum ersten Mal wieder etwas Warmes zwischen die Kauleisten bekam. “Ein laufender Baum also, hm?”, meine Anna dann wieder etwas ernster. Sie runzelte die Stirn, während sie aß und nachdachte und tippte sich mit dem Ende ihres Bestecks gedankenverloren an das Kinn. “Es gibt Sagen, in denen solche Wesen vorkommen. Oft werden sie darin auch ‘Ent’ genannt. Aber außerhalb irgendwelcher Märchen habe ich noch nie von ihnen gehört, geschweige denn welche gesehen. Es gibt verwunschene Bäume, ja. Aber die laufen nicht herum.”, sinnierte die Ungeheuerjägerin, deren dickes Bestiarium in Kaer Morhen keine ‘lebenden’ Bäume aufgewiesen hatte. Oder hatte sie es schlichtweg vergessen? Nein. Das konnte nicht sein. “Sollte es dort also irgendein besonders starkes Waldwesen geben, dann könnte es zum Beispiel ein alter Waldschrat sein. Vielleicht gibt es aber auch Dryaden. Oder Kobolde, die Fremden Streiche spielen. Wir werden ja sehen. Bereiten wir uns einfach gut vor, dann wird uns schon nichts passieren.”, schlug die Kurzhaarige vor. “Du bist ja wirklich optimistisch.”, lächelte Rist schief. “Naja. Nur, weil sich ein paar Leute aus Belhaven wegen einer Sagengestalt im Wald in die Hosen scheißen, heißt das nicht, dass ich dem Forst auch fernbleibe.”, sie zuckte mit den Schultern und sah dann verstohlen neckend zu ihrem Kumpel auf “Oder hast du etwa Angst?” Hjaldrist hob eine Augenbraue an und lehnte sich, mit Rührei am Löffel, lässig zurück. “Nein.”, sagte er dabei unbeeindruckt. “Gut.”, lächelte die Novigraderin “Ich hätte mir ja Sorgen um deinen Kopf gemacht, wenn.” Der Undviker schnaubte amüsiert und winkte die von ihm angetane Schankmagd mit den Zöpfen erneut herbei, um noch eine Kanne Tee zu bestellen. Schwarztee. Der Mann trank den immer nur dann, wenn er der Müdigkeit wegen nicht in die Gänge kam. Anna beäugte ihn und versuchte dabei nicht leise wissend in sich rein zu lachen. Dass ihr Kollege so locker und gleichgültig mit der Tatsache umging, dass sie beide gestern zusammen im Bett gelandet waren, machte es auch der Frau - langsam aber sicher - leicht ebenso erheitert darüber denken zu können. Es war ihr nicht einmal mehr wirklich peinlich oder dergleichen. Vor einem Tag wäre dies noch undenkbar gewesen. “Und was ist mit den Druiden?”, warf Rist noch ein. Anna hielt inne und gab einen nachdenklichen Laut von sich. “Was soll mit ihnen sein?” “Du solltest meinen Onkel und die Spinner aus Gedyneith nicht unbedingt als Norm für solche Leute ansehen.”, riet der erfahrene Skelliger ernster und die Frau aus dem Norden hörte skeptischen Blickes zu “Adlet ist ein Eremit. Und die Druiden Ard Skelligs sind sehr mit dem normalen Volk verbandelt.” “Du meinst, die Druiden im Caed Myrkvid könnten tatsächlich feindselig sein?”, hakte Anna nach und fand diesen Punkt nun, wo sie darüber nachdachte, nachvollziehbar. Gut, dass ihr Freund ihn angesprochen hatte. Der Viertelelf, der in seinem Leben bestimmt immer wieder einmal mit dem Druidenvolk zu tun gehabt hatte, nickte langsam. “Sie leben recht abgeschieden. Und ich kann mir denken, dass sie mit der Außenwelt nicht ganz so viel zu tun haben.”, schätzte Rist und streute sich noch etwas Salz auf sein Essen. “Hm, ja, logisch.”, stimmte seine beste Freundin zu. Dann schwiegen sie eine kurze Weile, um zu essen und vor sich hin zu grübeln. “Wir zerstören im Wald einfach nichts, gehen Auseinandersetzungen mit den Tieren aus dem Weg. Und wenn wir uns den Mistelschneidern nähern, dann zeigen wir ihnen sofort, dass wir in Frieden kommen?”, schlug Anna unschlüssig vor, nachdem sie ihren Teller hungrig geleert hatte. “Wir heben die Arme in die Luft und laufen mit guter Miene in ihren Hain?”, fragte Hjaldrist nach. “Ja. Oder?” “Hm. Naja. Ja, viel mehr können wir wohl kaum machen. Wird schon gutgehen.” Kapitel 20: Feuerfuchs und Winterkind ------------------------------------- Die beiden Abenteurer waren, trotz der Entschlossenheit Annas, erst am nächsten Morgen losgezogen. Seit der frühen Dämmerung waren sie nun schon unterwegs und die lädierte Hexerstochter trug einen stützenden Verband unter dem Stiefel, um sicher und vollkommen schmerzfrei auftreten zu können. Und bisher war der Marsch in den Caed Myrkvid, den Dunkelwald, unerwartet gut und ruhig verlaufen. In voller Montur und begleitet vom Schein ihrer grünen Lampe führte die Frau ihre Schimmelstute hinter sich her. Hjaldrist folgte auf dem Fuße, zerrte an Apfelstrudel’s Halfter und brachte den störrischen Gaul damit dazu über eine dicke, verdrehte Wurzel zu steigen. Das Wetter war heute nicht das Beste. Kurz bevor die Vagabunden den großen Wald betreten hatten, hatte es angefangen zu regnen. Eine dicke, dunkle Wolkendecke hatte sich vor die Sommersonne geschoben und sehr schnell für unangenehmes Nieseln gesorgt. Die Regentropfen kamen hier, im dichten Forst, aber kaum mehr bis zum Grund durch. Die alten Bäume waren hoch und ihre Blätterkronen wie Dächer. Dementsprechend ließen sie auch kaum Licht bis zum Grund fallen, was wiederum den Namen des Caed Myrkvid rechtfertigte. Es war hier, entfernt vom Forstrand, so dunkel, wie am frühen Abend. Nebel schob sich gespenstisch zwischen dicken Baumstämmen und Ästen hindurch, kroch über die Erde, verschleierte Büsche und Sträucher, Steine und Moos. Wege gab es keine. Oder jedenfalls hatten die vorsichtigen Reisenden keinen einzigen entdeckt. Nicht einmal einen schmalen Trampelpfad oder dergleichen gab es. Es war also sehr leicht sich hier zu verirren oder sich aus den Augen zu verlieren, wenn man sich zu weit voneinander entfernte. Daher vergewisserte sich Anna immer wieder dessen, dass Hjaldrist noch hinter ihr war. Sie zog sich die Kapuze ihres wollenen, roten Mantels etwas aus dem Gesicht, warf im Gehen einen Schulterblick zurück und fing den Blick ihres Begleiters auf, bevor sie sich wieder darauf konzentrierte sich einen Weg durch das Unterholz zu bahnen und die Flora dabei nicht zu beschädigen. Und daran änderte sich lange nichts. Der finstere Wald war still und ruhig, während Rist und Anna voran gingen. Er wurde immer dichter, holpriger und das Gelände unberechenbarer. Vorhin, da war Hjaldrist einmal in knietiefen Schlamm getreten und hätte dabei beinah seinen rechten Stiefel verloren. Die zähe, sumpfige Masse, die verschlang und an einem zog, wäre für Apfelstrudel oder Salamireserve bestimmt zum Verhängnis geworden, denn beide Pferde hatten sehr eigene, schreckhafte Gemüter. Wäre eines von ihnen im Moor gelandet, wäre es kein Leichtes gewesen das schwere Tier wieder aus jenem hervor zu ziehen. Und genau aus diesem Grund band Rist seinem schnaubenden Braunen gerade an einem Baum und ließ ihm den Zügel dabei sehr lang. Anna tat es dem Jarlssohn gleich und zurrte die Leine ihrer Stute an einem dicken Ast fest. “Wir lasse die Pferde erst einmal da…”, meinte die darüber nicht sehr glückliche Novigraderin ernst “Und suchen uns einen sicheren Weg durch den Wald.” “Wie finden wir den Weg zurück? Wenn sich der Nebel nicht legt, ist es schwer sich zu orientieren.”, warf Rist klugerweise ein. Eigentlich eine Sache, die die gesamte, halsbrecherische Reise in den Caed Myrkvid betraf. Doch zuvor, da hatten sich die zwei Abenteurer keine Sorgen darum gemacht hier wieder heraus zu finden. Sie wollten nämlich nicht gezwungenermaßen nach Belhaven zurück. Wo sie am Ende landen würden, war ihnen einerlei, solange sie es schafften die hiesigen Druiden zu finden. Doch anders, als der Weg zurück in die Stadt, waren die Pferde Anna und Hjaldrist nicht einerlei. Sie wollten sie daher ungern an den Dunkelwald verlieren. “Ich dachte, du bist hier der Elf von uns beiden.”, witzelte die Giftmischerin und sorgte damit für eine leichte Gesichtsentgleisung ihres Kumpans. “Was?”, empörte er sich schnaufend. “Na, so Spitzohren finden sich doch gut in Wäldern zurecht, nicht?”, wollte die Kriegerin wissen und verkniff sich ein zu breites Lächeln. Hjaldrist bedachte sie mit mürrischen Blicken. “Pff. Ich bin kein Spitzohr.”, abfällig legte der dunkelhaarige Mann den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. Offenbar mochte er es nicht sonderlich als Elfchen betitelt zu werden. Das würde sich die amüsierte Anna merken. Sie ärgerte ihn beizeiten nämlich ganz gerne. “Also gut. Ich habe eine Idee...”, meinte sie nach einem Moment der Stille verschmitzt und stellte ihren Rucksack auf den Grund, um jenen zu öffnen und suchend darin herum zu kramen. Hjaldrist kam neugierig näher und machte den Hals lang. Er stutzte, als seine Freundin bald ein blaues, dickes Wollknäuel hochhielt. “Anna. Ich glaube, gerade ist nicht die Zeit um zu häkeln?”, entkam es ihm irritiert und er schenkte ihr einen sonderbaren Augenausdruck. “Nein, nein. Sieh her, wir binden den Wollfaden an einen der Bäume hier und rollen das Knäuel auf unserem Weg aus. So können wir ihm später zurück folgen und finden unsere Pferde wieder.”, meinte Anna und wirkte ganz stolz über ihre glorreiche Idee. Rist’s Miene erhellte sich. “Wie weit kommen wir damit?”, wollte er wissen. “Hmm?” “Wie lange ist der Faden?” “Mh. Etwa dreihundert Meter.”, sagte Anna und lächelte ungebrochen optimistisch “Jedenfalls sagte mir der Wollhändler das.” “Dreihundert? Dann kommen wir nicht sehr weit.” “Ich habe noch fünf weitere Knäuel in meinem Rucksack.” “Oh!” “Also? versuchen wir es?”, wollte die schlaue Nordländerin auffordernd grinsend wissen und erhob sich, warf ihr blaues Wollknäuel locker in die Luft und fing es wieder auf “Oder hast du eine bessere Idee, wie wir wieder zu den Pferden zurückfinden?” Anna knotete einige Zeit später das Ende des aufgebrauchten zweiten Wollknäuels an das des neuen dritten, als ein tiefes Knarren die nebelverhangene Gegend erfüllte. Abrupt hielt sie im Schein ihrer Lügenlampe inne und sah auf. “Hast du das gehört?”, flüsterte sie an ihren Kumpel gerichtet. Eigentlich eine obsolete Frage. “Ich wäre taub, wenn nicht.”, murmelte Rist leise und sah angespannt um sich. Er wendete sich herum, bis er Anna im Rücken hatte und hatte die abwartende Hand bereits am Gürtel lieben. Die Finger an der ledernen Axthalterung, verengte er die braunen Augen prüfend. Die anwesende Novigraderin, die ihr wollenes Knäuel längst hatte sinken lassen, horchte angestrengt in den unheimlichen, zwielichtigen Forst hinein. Und dann ertönte es wieder, dieses Knarren. Es war, als öffne jemand eine riesengroße, morsche Tür; grollend, dumpf. Der gesamte Wald schien dieses Echo weiterzutragen. Und plötzlich schritt da etwas aus dem zähen Nebel. Etwas, das aussah wie ein Stamm, der in beweglichen, dicken Wurzeln auslief. Massig trat er am weichen, feuchten Boden auf, schwer, doch relativ langsam. Dann war da ein zweites Wurzelgeflecht. Wie ein weiteres Bein trat es vor und der getane Schritt war so weit, dass er die Bedächtigkeit der Bewegungen des Wesens ausglich. Hjaldrist entkamen unverständliche Worte, als er das sah und bemerkte, dass das knarzende Ding direkt auf sie zukam. Anna ließ ihr Wollknäuel vor Schreck fallen. Kaum eine Sekunde später schrie sie auf. “Lauf!”, entkam es der alarmierten Novigraderin und sie erwischte ihren paralysierten Gefährten am Handgelenk, um ihn im dichten Wald nicht zu verlieren “Lauf, lauf!” Vor sie trat ein beträchtlicher Baum. Ja, tatsächlich. Und er sah aus, wie die Ents, von denen in den alten Märchen und Sagen die Rede war. Ein Loch in seinem dicken Stamm rührte sich schnarrend, war der Mund. Darüber starrten zwei glotzende Augen aus der braunen Rinde hervor. Die lianenähnlichen, dünnen Äste der Weide fielen ihr über den steifen Holzkörper, als seien es lange Haare. Und das zornige Brüllen des großen Baums klang wie das laute Knarren von uralten, dicken Dielen. Anna zögerte nicht, lief gehetzt los und zerrte Rist hinter sich her. Der entgeisterte Skelliger fasste sich endlich, hielt Schritt und versuchte nicht auf feuchtem Moos auszurutschen oder wieder in tiefen Schlamm zu treten. “Was, bei Mörhogg?”, bellte er aufgescheucht, doch bekam keine Antwort. Denn Anna, die völlig überfordert durch hüfthohen Farn stob, hatte wirklich keinen Atem zum Reden. Und sie dachte nicht daran ihren besten Freund loszulassen, denn hätten sie sich hier getrennt, hätten sie einander nur schwer oder gar nicht wiedergefunden. Also liefen sie zusammen, so schnell es in unebenem Gelände ging, durch den regelmäßig erzitternden Wald und hatten den schreitenden Baum, der aggressiv mit den Blättern raschelte, direkt im Nacken. Der Ent machte große Schritte und mutete so rasend an, wie es eine Trauerweide nur vermochte. Das helle Lachen einer Frau begleitete diese schräge Szene. Ja, sie kicherte erheitert und sang ein Lied über Bäume und kleine Insekten, die man zertrampelte. Anna sprang über einen spitzen Felsen hinweg, stolperte beinah, drängte sich an ein paar dicken Buchen vorbei, atmete schwer und dachte kaum über den weiteren Weg nach. Sie wollte bloß fort von hier und zwar schnell. Rist folgte ihr aus Ermangelung anderer, besserer Optionen und wirkte nicht minder aufgewühlt, wie seine unruhig atmende Kollegin. Jene hetzte an einem dürren Strauch vorbei, eilte und trat plötzlich ins Leere. Denn es ging bergab. Erschrocken aufbrüllend stürzte sie und landete hart auf nadelbedecktem Waldboden, schlitterte eine Senke hinab und überschlug sich dabei einmal, zweimal. Hjaldrist’s Handgelenk war ihren kalten Fingern längst entglitten. Ohne die Kontrolle über den unfreiwilligen, schmerzhaften Weg nach unten zu haben, schlug die ächzende Kurzhaarige die Arme schützend vor dem Gesicht zusammen, schmeckte Erde, stöhnte überwältigt auf. Am Ende der rutschigen Senke landete sie wuchtig in einem Gebüsch, weitete die Augen benommen und kehlig einatmend. Sie wusste in diesem Augenblick kaum, wo sich das Oben oder das Unten befand; ihr Gleichgewichtssinn war wild durcheinandergewürfelt worden und spielte ihr einen Streich. Zu allem Überfluss landete Rist keinen Herzschlag später halb auf ihr und verpasste ihr dabei einen ungewollten Ellbogenhieb in die protestierende Magengegend. Der Dreck flog nur so durcheinander und die Blätter des Gebüschs, in dem Anna hing, raschelten nur so, als auch der Undviker darin landete. Laut hörte man die Frau aus Kaer Morhen fluchen, dann husten und spucken. Sie drückte Rist von sich, doch der musste wohl erst einmal realisieren, was geschehen war. Schummrigen Blickes kam er auf die Knie und kippte daraufhin fast wieder um. Die arme Hexerstochter hatte eine Hand noch am rebellierenden Magen liegen und stöhnte ein weiteres Fluchwort. Wie ihr Freund, war sie vollkommen verdreckt. Kleine Blätterreste und Baumnadeln rieselten nur so, als sie den Kopf jammernd schüttelte. “Komm hoch.”, entkam es dem anwesenden, wieder stehenden Krieger dann und ohne Widerworte ließ sich Anna aus dem Gebüsch ziehen. Sie beide wankten kurz und hatten kaum Zeit, um zu Atem zu kommen. Denn schon war die bedrohliche Weide bei ihnen und peitschte unsäglich stark mit den Lianen. “Na, hol sie dir!”, lachte die fremde, hohe Frauenstimme liebevoll in ihrem Singsang “Nimm sie mit, meine Kleine!” Anna zog abrupt das Schwert aus der Scheide und hob gegen einen der schmalen Äste des lebenden Baums. Rist hatte seine Waffe ebenso in der Hand und war drauf und dran zum Stamm des knarrenden Waldwesens vorzueilen. Ein wildes Peitschen von Ästen verfehlte in nur knapp. Ein zweites traf ihn an der stählernen Armschiene, dass es nur so schepperte. Er sprang und hackte zu, versenkte das hübsche Axtblatt in der dicken Rinde des Ents. Doch dies schien der hoch gewachsenen Trauerweide nichts auszumachen. Sie reagierte darauf nicht einmal und brachte den schwitzenden Skelliger damit dazu planlos zu starren. “Was…?”, wisperte er zerfahren. “Fang sie, aber töte sie nicht!”, tönte die Stimme der Frau, die man nirgendwo ausmachen konnte. Die erdbeschmierte Anna schwang das Langschwert herum, doch es war offensichtlich, dass sie damit nicht mehr ausrichtete als eine kleine, stechende Mücke, die hinter einem großen Pferd her war. Es war zu spät, als dieser Gedanke ihren aufgerüttelten Geist erreichte. Denn als die Monsterjägerin mit den wirren Haaren geschickt zurückwich, um sich hektisch nach Rist umzusehen, wurde sie harsch gepackt. Einige, holzige Lianen schlangen sich um ihre Mitte, zogen sofort ungnädig zu und rissen die Frau ruckartig vom ebenen Boden fort. Anna johlte vor Schreck auf und schlug mit dem Schwert gegen die Äste. Doch es brachte nichts. Wo sie blätterbedeckte Stränge fort schnitt, kamen abrupt neue, um sich erneut um sie zu legen, wie gierige Tentakel eines riesigen Kalmars. Und umso heftiger sich die Braunhaarige wehrte und fuchtelte, strampelte und fluchte, desto fester drückten die groben Weidenlianen zu und wirbelten sie herum. Am Ende schnappte die desorientierte Novigraderin schon japsend nach Luft und gab schmerzverzerrte Laute von sich. Sie konnte kaum noch atmen und glaubte, der verdammte Scheißbaum erdrücke sie noch. Als zerquetsche er ihr die weichen Innereien. Die gebeutelte, auf den Kopf gestellte Kriegerin fühlte, wie die Ohnmacht fahrig nach ihr haschte und wie ihr das Schwert aus der zitternden Hand glitt. Sie hörte Rist rufen und sah vage, wie eine dunkelhaarige, leicht bekleidete Frau die verlorene Stahlklinge mit dem Wolfsknauf vom Boden aufklaubte. Und dann umfing sie die zähe, ungnädige Schwärze. “Das könnt ihr nicht machen!!”, Rist’s lauter Protest ließ Anna heftig hochschrecken. Konfus schlug sie die braunen Augen auf und sah orientierungslos um sich. Sie wollte sich erheben, doch brachte es erst einmal nicht zustande. Und als sie erneut dazu ansetzen wollte, verstand sie ihre missliche Lage und ließ es bleiben. Es war Nacht, bereits völlig dunkel und die frische Waldluft war kühl. Über ihr erstreckte sich der sternenklare Himmel über dünnen Baumkronen einer weitläufigen Lichtung. Da waren Fackeln, die ein unruhig flackerndes, oranges Licht verströmten. Sie ließen die Schatten des Käfiggitters aus Holz auf dem Gesicht der Schwertkämpferin tanzen. Denn, ja, Anna saß in einem Zwinger. Er war gerade einmal so groß, dass er für zwei Menschen Platz bot. Für sie und ihren besten Freund, der gerade mit einer hellhaarigen Frau stritt, die vor dem mickrigen Gefängnis stand. Diese Frau, in naturfarbene Kleider gehüllt und die graublonde Haarpracht zu einem dicken Zopf geflochten, lächelte schwach. “Oh, wir KÖNNEN.”, konterte jene auf die unglückliche Beschwerde des bemitleidenswerten Skelligers hin “Das hier ist unser Wald. Hier schreiben wir die Regeln.” “Bullenscheiße!”, keuchte Hjaldrist heiser und war völlig außer sich. Er packte an die Käfiggitterstäbe, die sich nun, da Anna genauer hinsah, als Äste entpuppten. Im schlechten Licht hatte sie zunächst geglaubt, sie hocke in einem gewöhnlichen Gefängnis. Doch dem war nicht so. Denn dieser Zwinger, aus dessen erdigem Grund Gras spross, sah aus, als sei er natürlich gewachsen. Kurios. Die wirre Kurzhaarige sah stumm von den starren Ästen fort, hin zu ihrem verdrossenen Kumpel. Sie war noch zu durcheinander, als dass sie Wut verspüren könnte. “Rist...”, meinte sie in einer leisen Aufforderung und einem Haschen nach etwas Aufmerksamkeit, doch entweder hörte der grantige Schönling sie nicht oder er ignorierte Anna. “Wir haben nichts getan! Wieso solltet ihr uns also bestrafen, hm?”, wollte der Krieger wissen. Er trug bloß seine Stoffgewandung, keine Rüstung. Auch seine Waffe war fort. Wahrscheinlich hatte man sie ihm genommen. Anna verengte die Augen leicht und fasste sich an den Brustkorb, sah an sich hinab. Dreckige Stiefel, Hose, Hemd, Jacke. Mehr nicht. Auch ihr Hab und Gut war weg. Die fremde, ältere Frau mit der unglaublichen Ruhe im Blick lächelte ungebrochen. Sie nickte Rist zum Abschied zu und antwortete ihm nicht weiter. “Habt eine geruhsame Nacht. Bis morgen.”, und mit diesen Worten wandte sie sich einfach ab und ging. “Wartet!”, bat der Skelliger, doch vergebens. Die gelassene Dame käme nicht noch einmal, um sich forsch anbellen zu lassen. Rist, der dazu gezwungen war dies zu akzeptieren, ließ sich entnervt seufzend zurücksinken, setzte sich hin und fuhr sich mit der Hand über das blasse, unrasierte Gesicht. Erst dann sah er aus dem Augenwinkel zu seiner zerstreuten Freundin. “Was… ist los?”, fragte die Frau vorsichtig. Natürlich war die Kacke am Dampfen, das war ihr klar. Sonst wären sie zwei ja auch nicht hier eingesperrt. Doch wo waren sie? Was war bisher geschehen? Warum hatte Hjaldrist, der sonst doch immer recht beherrscht war, so herumgeschrien? “Die wollen uns anzünden.”, klärte der unglückliche Inselbewohner kurz und knapp auf und Anna wollte die Kinnlade gen Erde klappen. Ihre Augen weiteten sich im Unglauben und sie sagte noch einige, perplexe Momente lange nichts. So, als hoffe sie darauf, dass ihr Kollege gleich lachen und all das hier als Scherz auffliegen lassen würde. Tat er aber nicht. “Anzünden…?”, murmelte die entsetzte Novigraderin. “Ja. Morgen, wenn die Sonne am höchsten steht. Oder was weiß ich.” “Warum?” “Weil wir in den Wald gekommen sind.” “Aber wir haben keine bösen Absichten!” “Das ist der Flamina von gerade eben egal.”, brummte der Jarlssohn nun und verschränkte die Arme mürrisch vor der Brust. Mit dem Rücken an die stabilen Aststäbe gelehnt, saß er da und sah finster vor sich hin. Und während er das tat, ließ seine vorige Aussage Anna’s Hirn zu Hochtouren auflaufen. Flamina? Das waren doch die weiblichen Ältesten bei den Druiden. So etwas wie Anführer und Weise, nicht wahr? Die männlichen Äquivalente zu ihnen nannte man Hierophanten. “Was…?”, entkam es der Trankmischerin nunmehr lau “Aber ich dachte-” “Tja.”, schnitt Rist ihr das Wort patzig ab. Dann entkam ihm ein tiefes Seufzen. “Wir sollten uns ganz schnell etwas sehr Gutes einfallen lassen. Sonst sind wir am Arsch. Ich habe schon versucht diese seltsamen Äste hier zu zerstören, aber ohne Waffe kann man das vergessen. Sie sind viel zu zäh.”, schnaubte er. Anna sah angestrengt fort und fixierte einen wahllosen Punkt am grünen Käfigboden. Also, nochmal ganz langsam: Sie beide hatten die Druiden gefunden. Oder eher: Die Druiden hatten sie gefunden. Mithilfe eines lebenden Baumes hatten diese Leute die Reisenden geschnappt und hierhergebracht, um sie einzusperren. Und die bösartigen Druiden hielten sie nur deswegen noch am Leben, weil sie Anna und Hjaldrist verbrennen wollten. Als Strafe dafür den Caed Myrkvid betreten zu haben? Ach du-... War das hier vielleicht ein schlechter Traum? “Hjaldrist, hast du denen gesagt weswegen wir hier sind?”, fragte die Kurzhaarige dann schnell, als sie den Kopf wieder hob und ihren Begleiter abwartend taxierte. Er nickte, zuckte mit den Schultern. Die Nachtluft war klamm und roch nach Regen. “Ja, aber es ist ihnen egal. Wir sind Eindringlinge und sollen deswegen hingerichtet werden. In eine Strohpuppe eingeschlossen und mit Öl übergossen. Nicht, weil das hier so Gang und Gäbe ist, aber weil die Mistelschneider dieser Praktiken beschuldigt werden.”, erzählte der Mann aus Undvik. Anna zog die Brauen sehr weit zusammen und gab einen irritierten Laut von sich. “Sie… sie machen das, um damit ein Klischee zu erfüllen, das sie im Grunde ablehnen?” “Ja.” “Das macht keinen Sinn!” “Das habe ich denen auch gesagt. Aber offenbar sind sie ganz schön wütend.” “Weil man Vorurteile gegen sie hat?” “Wahrscheinlich. Ach, keine Ahnung! Können wir uns jetzt bitte überlegen, wie wir hier rauskommen?”, brummte der Jarlssohn ungeduldig und sah seine Freundin eindringlich an. Jene gab sogleich nach, fragte nicht weiter, sondern richtete den Blick forschend nach draußen. Sie zögerte. Doch dann packte sie an die Stäbe aus Astwerk und wollte daran rütteln und ziehen. Sie zerrte, wollte biegen, trat laut keuchend zu, rüttelte wieder. Doch es half nicht. Der Waldkäfig blieb heile und die verwachsenen Stäbe waren so unnachgiebig, wie Stahl. Der Kriegerin aus dem Norden entkam ob dem ein frustriertes, unbeholfenes Stöhnen, als sie innehielt und die Arme wieder sinken ließ. Rist kommentierte ihre aufbrausende Aktion nicht. War besser so. Die kläglichen Abenteurer diskutierten und grübelten in dieser unliebsamen Nacht lange. Doch nichts brachte sie weiter. Sie hatten keine Waffen, kein Feuer und keinerlei Möglichkeiten irgendwelche nützlichen Hilfsmittel von Außerhalb in ihr unzerstörbares Gefängnis zu ziehen. Auch zu zweit hatten sie es nicht geschafft die Aststücke zu beschädigen oder auch nur ein klein wenig zu bewegen. Ihre Lage war also aussichtslos und daher hatten sie sich darauf geeinigt einen Fluchtversuch zu starten sobald man sie morgen für den Feuertod holen kommen würde. Und solange könnten sie nichts tun. Daher schliefen sie oder versuchten es zumindest. Denn Anna erwachte immer wieder aus ihrem seichten Schlaf; wegen Geräuschen, die aus dem Dunkelwald kamen oder weil sich Hjaldrist neben ihr unruhig verhielt. In letzter Zeit träumte er offenbar ziemlich häufig sehr schlecht, sprach dabei kryptisches Zeug oder schrie gar auf. Am frühen Morgen, als es langsam anfing zu grauen, war er aber endlich ruhig. Still lag er am grasbewachsenen Käfigboden herum, mit angezogenen Beinen, und rührte sich nur noch selten. Sein Atem ging flach und er schien tief und fest zu schlafen. Anna war jedoch wach. Schon wieder. Und müde sah sie vor sich hin. Sie war etwas bleich um die Nase und fror, rieb sich die Oberarme fröstelnd und rutschte auf dem Hinterteil näher zu Rist heran, um sich von ihm etwas Körperwärme zu erhaschen. Weit senkte sie den Kopf und sah auf ihre Knie, seufzte bestimmt zum zwanzigsten Mal in dieser Stunde. Was sollten sie bloß machen? Würden sie später fliehen können oder hätten die Druiden wieder irgendeinen grantigen Baum bei sich? Wie würde die ganze Sache ablaufen? Und würden die Druiden zaubern, wenn sie bemerkten, dass ihre Gefangenen die Fliege machen wollten? Wie, zum Geier, kämen Hjaldrist und Anna bloß wieder aus dieser Misere, diesem riesengroßen Haufen Scheiße, heraus? “Kacke…”, atmete die burschikose Novigraderin und biss sich auf die spröde Unterlippe. Sie hatte Durst und fürchterlichen Hunger, war matt und gleichzeitig innerlich aufgewühlt. Ihr war ein wenig übel. Und sie erschrak, so ruhelos wie sie war, beinah, als sie bemerkte, wie sich in der Düsternis des viel zu frühen Morgens zwei Frauen näherten. Schnell hob sie den Kopf und hielt den Atem an. Kamen die Druidinnen, um sie zu holen? Nein. Nein, sie wollten die Gefangenen doch erst zu Mittag verbrennen! Unschlüssig ruckelte Anna also auf ihrem Platz herum, wartete ab und starrte argwöhnisch. Denn die zwei Damen näherten sich tatsächlich dem kleinen Gefängnis aus Ästen und Laub. Eine von ihnen trug ein schlichtes Kleid, das dem der Flamina ähnlich war: Es bestand aus weißem Leinenstoff und wurde in der Mitte von einer einfachen Schärpe gehalten. Sie hatte dunkelblaue Blumen im schwarzen Haar und ein frohes Lächeln auf den vollen Lippen. Die Druidin ging barfuß und schien recht jung zu sein, dennoch stützte sie sich schwerfällig auf einen knorrigen Stab, als sie sich mit der zweiten Frau unterhielt. Jene war blond, etwas größer, als die erste und ihr Gang graziler, leichtfüßiger. Das, obwohl sie lederne Stiefel trug. Sie wirkte beinah vornehm, als sie da im grünen Kleid und mit einer Öllampe in der Hand durch das Moos ging und lachte im Gegenzug zu der sehr offenen, humorvollen Dame mit dem Stab, verhalten. Die Kleine erklärte der Großen gerade etwas über irgendwelche Bräuche und ein Fest, das zu Mittag seinen Höhepunkt erreichen sollte: Es ging um die Sommersonnenwende. Anna schluckte trocken und ihre Miene wurde härter, als die zwei Fremden bei ihr ankamen. “Und das hier werden die Opfergaben sein. Ein Mann und eine Frau. So gehaben wir das seit jeher.”, endete die Schwarzhaarige, die nicht älter aussah als fünfzehn, und die ruhige Blonde hob ihre Lampe an. Anna presste die trockenen Lippen zusammen, um nicht lauthals loszuschimpfen, als sich der warme Lichtschein auf sie legte. Die blauen, leicht mandelförmigen Augen der Fremden musterten sie gleichgültig und nahezu arrogant. So, wie man einen verlausten, stinkenden Bettler auf der Straße ansah. Der Blick der Blondine wanderte langsam über die erdbeschmierte Hexerstochter, die am Boden sitzend feindselig aufsah und sich augenblicklich so verdammt hässlich fühlte. “Sie sind Eindringlinge. So, wie all die anderen Opfer zuvor…”, erzählte die Druidin mit dem Stock und als die im grünen Kleid zu jener hin lugte, um ihr aufmerksam zu lauschen, erkannte Anna die spitz zulaufenden Ohren der Anmutigen. Eine Elfe also. Sie kam nicht von hier, so schien es. Denn sonst hätte man ihr auch nicht so eingehend von dem heutigen Fest und dem makabren Verbrennen von Opfergaben zur Sommersonnenwende erzählt. Anna’s Zähne mahlten zornig und aus dem Augenwinkel folgte sie jeder Bewegung der Elfe mit den langen, glatten Haaren. Jene wanderte nun um den schmalen Käfig herum und hob die flackernde Lampe erneut, um auch den schlafenden Rist desinteressiert zu betrachten. Das schöne, schlanke Spitzohr blieb stehen und schien ganz plötzlich gründlich über irgendetwas nachzudenken. “Und ihr macht das jedes Jahr?”, wollte sie wissen ohne die blauen, wachen Augen von dem weggetretenen Gefangenen zu nehmen. Sie strich sich eine lose Haarsträhne der hüftlangen Mähne aus der Stirn. “Ja. Es hat uns bisher eine reiche Alraunenernte beschert.”, nickte die Kleine mit dem Stab. Erst nach dieser Erklärung riss die Elfe den phlegmatischen Blick von Hjaldrist fort und lächelte bezaubernd. “Ich würde die Mandragora-Gärten sehr gerne einmal sehen.”, entkam es ihr. “Aber natürlich, Frau Ehillea.”, strahlte die Schwarzhaarige und Anna schüttelte den Kopf ungläubig über diesen prompten Themenwechsel. Wie konnte man nur so locker von abscheulichen Hinrichtungen sprechen und davon ausgehend zur Besichtigung von Gärten kommen? Wie abgebrüht musste man sein? Diese verdammten, abgedrehten Spinner! Es war bereits hell auf der Lichtung, als Anna erneut zu sich kam. Sie tat dies an Rist gelehnt, der längst wach war und sie heftig gerüttelt hatte. “Wa-… was?”, nuschelte die müde Hexerstochter schlaftrunken und blinzelte, wusste zunächst nicht so recht, wo sie war. “Steh auf.”, flüsterte der Jarlssohn drängend “Sie holen uns.” Er schüttelte seine beste Freundin erneut, als schlafe sie noch und machte sie damit und mit seiner davor gewisperten Aufforderung augenblicklich wacher. Aus großen Augen sah die Kurzhaarige eilig gen Himmel. Die Sonne stand noch nicht im Zenit. Rist erhob sich und sie tat es ihm sofort nervös gleich. “Es ist noch nicht Mittag…”, entkam es ihr heiser und als sei dies ein wichtiges, Hoffnung spendendes Detail. “Spielt keine Rolle.”, zischte der aufgebrachte Undviker und ihm schien der Herzschlag für einen Moment lang auszusetzen, als er bemerkte, dass die zwei Männer, die da kamen, eine dahinstapfende Eiche bei sich hatten. Der massige Baum folgte ihnen gemächlich knarzend und jeder seiner Schritte schien den weichen Waldboden leicht erbeben zu lassen. Oje. “D-die haben nen Ent. Was machen wir?”, keuchte Anna hastig und unbesonnen. “Ich-... keine Ahnung.”, gab Rist genauso aufgelöst zurück. “Ich lenke den Baum ab.” “Was? Und dann?” “Und du kümmerst dich um die Druiden.” “Wir sind unbewaffnet und die können sicherlich zaubern.” “Ich weiß, verdammt. Aber was sollen wir sonst-” “Pscht. Still.” Die zwei gefangenen, dreckbeschmierten und entkräfteten Abenteurer erstarrten, als die zwei Männer in den grauen Roben an das Gefängnis herantraten. Ihr Baum verharrte solange unweit und wiegte sich leicht in der Sommerbrise. Es war, als warte er auf Befehle; auf Anweisungen, die ihm die verrückten Mistelschneider geben würden. Diese Hurensöhne! “Wir sind hier, um euch zu holen.”, verkündete einer der Druiden, als er an die harten Stäbe aus Astwerk herantrat. Er hatte tiefgrüne Augen und einen langen, rotblonden Bart. Anna zuckte fahrig zusammen, doch ihre Miene wurde sehr schnell düster und böse. Hjaldrist’s Ausdruck war nicht weniger freundlich und er wartete schweigend ab; kampfbereit, obwohl er glaubte nicht die leiseste Chance zu haben. “Die Flamina will euch sprechen.”, setzte der Fremde fort und fuhr sich mit einer Hand durch den Vollbart “Bleibt friedlich und euch wird nichts geschehen.” Nun entkam Anna ein knappes und trockenes Lachen, das vermutlich spöttisch klingen sollte. “Ach. ‘Nichts geschehen’? Ihr wollt uns verbrennen, ihr Bastarde!”, schimpfte sie, doch der Mann lächelte bloß geduldig. Er beäugte sie, als sei sie nicht mehr, als eine kleine Rotznase. “Euch wird nichts geschehen.”, wiederholte er sich “Macht ihr aber Unsinn, müssen wir den Bäumen ausrichten euch wieder einzusperren.” “Ihr seid doch wahnsinnig!”, kläffte die aufgebrachte Frau in der gestreiften Jacke und setzte sich unerwarteter Weise in Bewegung, fasste abrupt durch das Gitter nach draußen und wollte nach dem Druiden schnappen. Doch ihr Arm war zu kurz dafür und sie verfehlte den lächelnden Mistkerl daher knapp. “Ihr seid völlig durchgeknallt!”, schrie sie weiter, doch Hjaldrist beschwichtigte sie, indem er ihr von hinten eine Hand auf die Schulter legte und mahnend zudrückte. Sofort entspannte sich die impulsive, verzweifelte Hexerstochter wieder etwas, atmete tief und gefrustet aus. Sie zog die Nase hoch. “Warum will die Flamina mit uns sprechen?”, fragte der Jarlssohn mit kratzbürstigem Unterton, bevor seine Freundin weitere, wüste Beschimpfungen brüllen konnte “Gehabt sich das hier so? Mit den Opfergaben eines morbiden Festes zu plaudern, bevor man sie mit Öl übergießt?” Der Druide mit dem Bart lachte leise und auch sein Kollege schmunzelte und schüttelte das Haupt. “Nein. Das ist nicht gebräuchlich.”, versicherte er “Kommt ihr nun oder müssen wir die Eiche holen?” Anna und Hjaldrist sahen auf diese Drohung hin sofort durch die Aststäbe hindurch und zu dem Ent, der kaum zehn Meter weit entfernt in der Sonne stand und die Äste reckte. Die Erinnerungen an gestern, an die Begegnung mit der barschen Trauerweide, steckten ihnen noch sehr, sehr tief und schwer in den armen Knochen. Dieses Wesen hätte sie ohne Mühe und im Nu zerquetschen können, wie lästige Käfer. Und als sie an den kurzen Kampf gegen die Lianen der Weide dachten, erschien es plötzlich als so verlockend einfach brav mit den zwei Druiden in den grauen Kutten zu gehen. Anna atmete demnach durch und auch Hjaldrist holte Luft, um zu sprechen. Der Schönling nickte. “In Ordnung. Wir kommen mit.”, stimmte er zu, doch sein unzufriedener Ausdruck sprach Bände. Anna ballte die Fäuste und ermahnte ihr Herz im Geiste dazu mit dem schnellen Pochen und Hüpfen aufzuhören. Ruhig! Ja, sie musste sich beruhigen. “Das ist schön. Also kommt.”, nickte der Bärtige noch und sah sich nach seinem Freund um. Jener hob eine seine Hände und gestikulierte kurz. Der Käfig aus verdrehten Ästen, der die armen Monsterjäger bisher gefangen gehalten hatte, zog sich magisch in den Erdboden zurück, als sei er nie da gewesen. Perplex sah die zurückweichende Novigraderin dem zu. Anna sah Momente später stur voraus, als sie neben Rist her ging und dabei wieder etwas hinkte, denn bei der Flucht vor der rasenden Trauerweide hatte sie sich und ihr lädiertes Fußgelenk übernommen. Sie beide folgten den zwei seelenruhigen Männern, die die Ausländer aus ihrem ungeliebten Zwinger geholt hatten. Und hinter den Abenteurern, da schritt die lebende Eiche dahin. Gemächlich setzte der Baum Wurzel um Wurzel voran und ließ Anna und Hjaldrist nicht aus dem starren Blick. Es war klar, dass er jederzeit zuschlagen würde, würden die Druiden es so wollen. Man fühlte sich unglaublich klein, wenn man dieses verfluchte Ding im Rücken hatte und keine Bewaffnung bei sich trug. Anna schluckte trocken und ihre Hände waren eiskalt. Dennoch wanderten ihre braunen Augen immer wieder verstohlen umher. Wie die eines Vogels, der sich in ein Haus verirrt hatte und aufgeregt nach einem Weg nach draußen suchte. Doch solch eine gelegene Fluchtmöglichkeit wurde immer aussichtsloser. Denn die Druiden führten ihre zwei Gefangenen direkt in eine Siedlung. Etwa ein Dutzend strohbedeckter Jurten waren hier, inmitten von hohen Bäumen, kreisrund aufgebaut worden. In ihrer Mitte befand sich ein weitläufiger Platz mit einem großen, niedergebrannten Lagerfeuer. Keine dichten Baumkronen verdeckten diesen Hain und die Sonne kam ungehindert bis zur grasbewachsenen Erde, die überwuchert war mit Löwenzahn und Gänseblümchen. Es wäre so idyllisch gewesen, hätten sich Hjaldrist und Anna nicht in einem gefährlichen Schlamassel befunden, das ihnen heute Mittag noch die Köpfe kosten würde. Aus dem Augenwinkel sah die nervöse Hexerstochter erneut um sich und erblickte die verdammte Weide von gestern. Neben ihr gab es weitere Ents: Eine Buche mit Misteln in der Krone, einen Nussbaum und eine Esche mit fleischigen Baumpilzen am Stamm. Sie alle standen ruhig und wollten nicht so recht zu den normalen, leblos wirkenden Bäumen, die den Platz säumten, passen. Es war angsteinflößend daran zu denken, was die belaubten Waldwesen ausrichten könnten, hätten sie sich zusammen auf all die Menschen hier gestürzt. Diese laufenden Pflanzen hätten die Kraft ganze Dörfer nieder zu schlagen, ganz bestimmt. Im Gehen stieß Anna ungewollt an Hjaldrist’s Seite, doch anstatt sich wieder etwas zu entfernen, fischte sie fahrig nach dessen Ärmel, um sich daran festzuhalten. Wie ein kleines Kind, das verunsichert nach der Hand der Mutter griff, tat sie das. Von der Seite aus blickte der Mann etwas überrascht zu seiner jüngeren Begleiterin hin, ließ sie jedoch gewähren. Oh, Anna war an und für sich kein Angsthase. Sie warf sich oft und nur zu gerne in Kämpfe gegen mächtige Wesen und Kreaturen. Beizeiten kroch sie auch schon mal allein in stockfinstere Höhlen oder Katakomben. Doch fünf oder mehr riesige, schreitende Bäume, denen Klingenwaffen nichts anhaben konnten, waren zu viel für das sonst so ungebrochen ehrgeizige Gemüt der Frau aus Novigrad. Selbst, wenn sie in voller Montur und bis an die Zähne bewaffnet hier gestanden hätte, wäre ihr der Arsch auf Grundeis gegangen. Sie versuchte trotzdem nicht allzu beängstigt auszusehen und bemühte sich um eine finstere, sture Miene. Ringsum hatten sich einige der Druiden versammelt. Sie alle trugen simple, helle Kleidung. Manche von ihnen hatten bunte Blüten in den Haaren, besonders die Frauen. Manche der Männer trugen wiederum schlichte Kappen aus Filz und nicht wenige von ihnen hatten lange Stäbe bei sich, die sicherlich nicht nur zum Spazierengehen zu gebrauchen waren. Neugierig starrten die Fremden, tuschelten und flüsterten. Sie beobachteten, wie die zwei Gefangenen vor die große Jurte der Flamina geführt wurden und die knarrende Eiche neben diesem Heim, das mit Efeu überwuchert war, Stellung bezog. “Bitte, hier hinein.”, der bärtige Druide nickte Rist und Anna zu und deutete in die Richtung des Jurteneinganges “Frau Sybilla erwartet euch.” Die Novigraderin im Bunde atmete tief durch die Nase durch und ließ den bestickten Ärmel ihres Kumpels nur zögerlich wieder los. Sie folgte ihm in die geräumige Hütte der Druidenältesten. Jene saß dort auf einem hölzernen Stuhl mit hoher Lehne, den ein weißes Fell säumte. In ihrem beigen Kleid lehnte sie da und sah fragend auf, als die zwei Abenteurer eintraten. In ihrem Haus befand sich ein großer Tisch, auf dem eine große Schüssel mit Gemüse darin stand und der locker Platz für sechs, sieben Leute bot. Auf kleinen Kästchen und Tischchen ringsum befanden sich viele Tontöpfe mit verschiedensten Gewächsen darin und durch den Raum spannten sich an der Decke Schnüre, von denen hier und da leichte, halbtransparente Fähnchen mit seltsamen Zeichen darauf hingen. Wie weiße Schleier wehten sie der Zugluft wegen sacht. Es roch nach Kräutertee und Honig. Die Elfe von heute Morgen war bei der Flamina. In ihr schmuckes grünes Kleid gehüllt saß sie auf einem zweiten großen Sessel und trank etwas aus einem kleinen Hornbecher. Anders als die Flamina, die abwartend musternd schwieg, erhob sich das Spitzohr elegant und stellte den Becher fort. Ihre blonden Haare fielen ihr wie Seide von den schmalen Schultern und die unnatürlich blauen Elfenaugen nahmen einen zufriedenen, gutwilligen Ausdruck an. Sie faltete die Finger bedächtig ineinander und trat einen Schritt weit vor. “Céadmil Invaerneweddin.”, lächelte die Elfe hinreißend. Es war unglaublich, wie schön sie war. Verwirrt sah Anna sie an und wusste nicht, was sagen, denn sie verstand die Sprache der Dame nicht. Sie warf einen hilfesuchenden Seitenblick zu Rist und erkannte, dass der Mann just so aussah, als stünde er einem wahrhaftigen Herzinfarkt nahe. Die entrückte Nordländerin blinzelte verwirrt, sah zurück zur Elfe und dann wieder zu ihrem grenzenlos fassungslosen Freund. Was folgte war ein Schwall aus Wörtern aus dem Mund des Selbigen, die Anna nicht verstand, denn sie gehörten zur Alten Rede. Perplex starrte die Giftmischerin ihren Kumpel also an, wie er gestikulierte und der Elfe weiter vorn irgendwelche Anschuldigungen zu machen schien. Er raufte sich die Haare, als sie gelassen antwortete und schlug sich dann die Hand vors Gesicht, als die Dame hinter vorgehaltener Hand glockenhell lachte. Und Anna schwieg. Etwas verloren und deplatziert wirkend stand sie da, verdreckt und planlos, und sah zwischen der Elfenfrau und dem Undviker hin und her. Erst, als die Diskussion in der Jurte verstummt war, holte die Kurzhaarige hörbar Luft. Dann fragte sie vorsichtig nach. “Rist...? Was geht hier vor?”, wollte sie wissen und lugte noch einmal aus Argusaugen zu der bildhübschen Elfe in dem grünen Samtkleid. Jene lächelte ihr stoisch zu. Hjaldrist stöhnte abgespannt und trotz seiner Aufgebrachtheit und den vorigen, aufbrausenden Worten, lag da ein Deut Erleichterung in seinem Ton. Seine dunklen Augen hefteten sich auf Anna. Er seufzte und nickte in die Richtung der Blondine mit dem langen Haar und den spitzen Ohren. “Das hier ist Ehillea.”, offenbarte der Skelliger “Meine Großtante.” “Deine WAS?”, Anna glaubte, sie habe sich verhört und starrte ihren Freund, dem Erde an der Wange klebte, entsetzt an. Sofort zeigte sie eine längere Erklärung verlangend auf die erhabene Elfe weiter vorn und nahm die geweiteten Augen solange nicht von Rist. “Meine Großtante.”, wiederholte sich der Mann räuspernd. Die Flamina beobachtete das Geschehen nach wie vor nur schweigend. “Die Schwester deiner Oma?” “Die Schwester meiner Oma.”, bestätigte der Undviker unwohl und nickte schwach. Aus dem Augenwinkel linste er zu Ehillea zurück. Jene stand bloß abwartend da und schmunzelte leicht. “Aber-... was...”, entkam es der verdatterten Novigraderin nunmehr. Sie war fassungslos, wusste gar nicht so recht was sagen. “Was macht sie hier? Warum ist sie nicht in Undvik?”, hakte die perplexe Kurzhaarige nach und an diesem Punkt angekommen, mischte sich auch die Elfe ein, um die es hier ging. “Ich bin noch hier. Ihr müsst nicht in der dritten Person von mir sprechen.”, warf sie ein, als hätte man sie vergessen. Ja, Anna sprach hier mit Hjaldrist, als seien sie unter vier Augen. Doch das waren sie nicht. “Verzeiht, dass die Druiden so harsch mit euch umgegangen sind. Wie ich es Invaerneweddin bereits erklärt habe, gab es da wohl ein Missverständnis.”, lächelte Ehillea schmal “Nicht wahr, Sybilla?” Die Druidin im Hintergrund sagte nichts, was das ansehnliche, feingliedrige Klingenohr wiederum als Bestätigung hinnahm. “Invaerne-wer…?”, murmelte Anna und Rist winkte schnell und hüstelnd ab. Dessen Verwandte musste erheitert und hinter vorgehaltener Hand lachen. “Ach, nur ein Kosename, verzeiht.”, erklärte sie sich und die ungläubige Hexerstochter schenkte ihr und ihrem Freund seltsame Blicke. “Jedenfalls schienen die Druiden euch für welche der Banditen gehalten zu haben, die in letzter Zeit nur zu oft durch den Caed Myrkvid streifen.”, erzählte Ehillea beschwichtigend weiter. Ihr weiches Gesicht nahm wieder etwas Ernsteres an. “Ihr müsst wissen, dass es unweit ein Erzvorkommen gibt. Die Menschen wissen das und haben daher schon einige Male versucht hierher zu kommen, um die Natur auszubeuten. Sybilla und die anderen wollen das verhindern. Denn der Bau einer Mine würde den Tod vieler alter Bäume und Tiere bedeuten.”, klärte die schlanke Elfe aus Skellige auf. Sie seufzte mitleidig und schüttelte den Kopf, schlug die meerblauen Augen nieder. Anna schwieg. Auch ihr Kumpel sagte nichts. Doch die bisher stumme Flamina erhob sich endlich und kam, sich das helle Kleid vorn glattstreichend, an die Seite Ehilleas. “Das ist richtig.”, pflichtete Sybilla bei und fixierte die Abenteurer aus strengen Augen “Vor zehn Monden erst wurde unsere Siedlung überfallen. Es war der erste Vorfall dieser Art. Und seither wachen die Baumwesen sehr aufmerksam über uns. Drei unserer Leute wurden von den gierigen Menschen aus dem Norden getötet. So etwas soll nie wieder passieren.” “Und deswegen verbrennt ihr die Räuber in Strohpuppen?”, brummte Rist. Sybilla lachte leise. Der unaufrichtig amüsierte Ausdruck erreichte ihre Augen kaum. “Man schimpft und Geisteskranke. Und man behauptet, wir würden jeden Eindringling kaltherzig in solchen Puppen anzünden. Die Menschen fürchten uns dieser Geschichten wegen und daher erfüllen wir sie. Oft lassen wir einen Zeugen solch einer Prozedur laufen, damit er weitererzählen kann, wie ‘grausam’ wir doch sind. Es gilt unserem Schutz, wenn Ihr versteht, was ich meine.”, rechtfertigte die Flamina sich. “Aber wir sind keine Banditen.”, konterte Rist. “Und bestimmt waren unter euren bisherigen Opfern auch Unschuldige!”, fügte Anna hinzu. Wieder lächelte Sybilla dünn und unnachgiebig. “Das mag sein. Doch wir können keine Risiken mehr eingehen. Wir verteidigen unser Land so, wie es auch jeder andere tun würde. Ja, sagt mir: Welcher König würde nicht Soldaten aussenden, wenn eine feindliche Armee in sein Gebiet vorstößt? Wo, in der heutigen, gewaltvollen Zeit, hilft Reden denn noch? Wir sind nur 34 Leute. Und wir dürfen uns keine Fehler erlauben.“, setzte die ältere Flamina fort. Die Reisenden verstummten auf diesen Vergleich hin. Denn irgendwo hatte die erfahrene Druidin ja Recht. Dies, obwohl ihre Methoden so obskur und übertrieben erschienen. “Doch was euch zwei angeht: Ich bitte euch um Verzeihung. Freunde Ehilleas sind auch meine Freunde. Euch steht es frei zu gehen, doch lade ich euch auch dazu ein zu bleiben und mit uns zu feiern. Ich weiß, der Schreck steckt euch wohl noch in den Knochen, doch hilft Wein und Gesang dabei ihn abzuschütteln.”, entkam es der aufrichtigen Dame im naturfarbenen Kleid, aber sie mutete dadurch nicht weniger kalt an “Badet euch. Zieht euch um. Euch soll hier, im Caed Myrkvid, kein Leid mehr geschehen.” Es war früher Abend, als Anna und Rist aus der kleinen, strohbedeckten Jurte traten, die zurzeit eigentlich von Ehillea bewohnt wurde. Die Elfe hatte ihnen die gemütliche Hütte in der Zwischenzeit überlassen, damit sie sich zurückziehen und ausruhen könnten. Und das hatten die Abenteurer auch getan, nachdem sie sich in einem sehr nahen Waldsee den Dreck von den Körpern gewaschen und die Erde aus den Haaren geschrubbt hatten. Trotz der fröhlichen, lauten Feierlichkeiten am Hauptplatz des Hains, hatte die erschöpfte Anna eine Zeit lang richtig tief geschlafen und auch Hjaldrist hatte zwei gute Stunden lang vor sich hin gedöst. Dies bei seiner matten Freundin im breiten Bett, denn schließlich war in diesem großen Ding voller Felle und Kissen doch Platz genug gewesen. Die weise Elfentante des Undvikers war diese Zeit über nicht aufgetaucht, hatte die viel Jüngeren in Ruhe gelassen. Nur einmal, da war ein rothaariges Druidenmädchen eingetreten, um frische Kleidung für die Fremden auf das Bettende zu legen. Dies jedoch unbemerkt, denn die ursprünglichen Gefangenen, die jetzt Gäste des Dunkelwalds waren, hatten fest geschlafen. Nun aber, da hatten sie sich längst umgezogen und trugen die leichten Monturen, die man ihnen gebracht hatte: Hjaldrist steckte in einer einfachen, doch hübschen, dezent orangefarbenen Tunika, deren vordere Mitte unter einem breiten, grünlichen Kragen etwas schräg bis zu den Knien lief. Sie wurde von einer Schärpe zusammengehalten. Die neue Hose des Skelligers war dunkel, das Hemd unter der kurzärmeligen Tunika beige. All die Stoffe sahen aus, als seien sie von den hiesigen Leuten selbst eingefärbt worden. Der Inselbewohner schien froh darüber zu sein, heute nur noch in solch bequemer Kleidung herumspazieren zu müssen. Vielmehr war er aber damit beschäftigt den neugierigen Blick an Anna zu heften, die neben ihm aus der Jurte kam. Denn die sonst so burschikose Frau, die selbst in Hosen schlief, steckte in einem roten Kleid der Druiden. Es war einfach geschnitten, oben anliegend, mit großzügiger Schnürung und langen, grünen Ärmeln. Nach unten hin wurde es weiter und fiel in schönen Falten. Der bestickte Ausschnitt des Kleidungsstückes war für jemanden, wie die kesse Novigraderin weit; Nicht so ausfallend und skandalös, wie der so mancher Frauen auf Beutefang, doch für ihre Verhältnisse durchaus beachtlich. Und als sie so dastand, war ihr forschender Blick war auf den Platz gerichtet, in dessen Mitte ein großes Feuer brannte. All die Druiden waren anwesend, saßen auf hölzernen Bänken oder im Gras, aßen, tranken und lachten. Einer von ihnen klimperte auf einer alten Laute, eine Frau spielte auf einer kleinen Flöte und ein Anderer trommelte beschwingt. Singend und klatschend tanzten ein paar der Mistelschneider um das hoch flackernde Feuer im Hain, stampften mit den Füßen auf und summten. Die Stimmung war ausgelassen und nichts erinnerte an das Grauen, das Anna und Hjaldrist vor Stunden noch erwartet hatten. Hier, in der Abenddämmerung, war die große Druidensiedlung zu einem anschaulichen Platz geworden. Zu einem Ort der Versammlung und des Zusammenseins bei Musik und Umtrunk. Anna sah sich nach ihrem Freund um, dessen Blicke sie im Nacken kitzelten. Abwartend taxierte sie ihn, zuppelte ein wenig am Kragensaum ihres Kleides herum und fasste sich an den Stoff, der sich eng an ihre Taille schmiegte. Es war ungewohnt solch ein Ding zu tragen und immer wieder hatte sie den Drang dazu zu überprüfen, ob man ihr wohl nicht in den Ausschnitt sehen konnte oder ob die Schnürung an eben jenem locker war. Sie seufzte leise und friemelte an ihrem Ärmel herum. Sollte sie sich unbehaglich fühlen? Sie wusste es noch nicht so recht. Ihre anderen Klamotten waren dreckig, verschwitzt oder nass und mussten gewaschen werden. Sie könnte sich nicht umziehen. “Hör auf damit andauernd an dem Kleid herumzufummeln.”, sagte Hjaldrist, als er endlich zu Anna aufschloss. Er schmunzelte dabei ein wenig und sah damit aus, als ob er ihr Verhalten niedlich finden würde. Die konfrontierte Kriegerin quittierte dies nur mit einem abfälligen Schnauben und wischte sich die Haare aus der Stirn. Ihre verzwickte Miene erhellte sich jedoch gleich wieder etwas, als ihr Kumpel lieb meinte, das Kleid der Druidinnen stehe ihr. Ihre Lippen verzogen sich gar zu einem leichten Lächeln, nachdem er das getan hatte. Dann nickte er ihr auffordernd zu. “Suchen wir Ehillea?”, fragte er und diese Option erschien auch der Alchemistin in Rot am besten. Denn zur Flamina wollte sie nicht. Sybilla war ziemlich unsympathisch und wirkte so streng. Und den Rest der Kommune kannten die Reisenden nicht. Sie wollten sich nicht wahllos zu irgendeinem fremden Grüppchen gesellen und so tun, als seien sie alle Freunde. Denn das waren sie nicht. Noch heute Morgen hatte man die beiden Außenseiter verbrennen wollen und dies hatten sie sich gut gemerkt. Es würde eine Weile dauern, bis sie hier an etwas, wie Vertrauen denken könnten. Ehillea stand nicht weit von dem großen Feuer entfernt. Sie hielt einen gebrannten Tonbecher in den Händen, als wärme sie sich die Finger daran, und ihre blauen Augen folgten dem Treiben am Platz im Hain aufmerksam. Schwach lächelte sie dabei und sah so, wie sie da stand, unglaublich anmutig aus. Noch nie hatte Anna eine Elfe, wie sie gesehen. Die einzigen Spitzohren, mit denen sie jemals zu tun gehabt hatte, waren dreckige Halunken gewesen. Söldner, die ihr gezeigt hatten, wie man sich Fisstech in das Zahnfleisch rieb und ihr den Schwindel und Brechreiz ihres Lebens beschert hatten. Die Klingenohren der Scoia’tael hatten, so wie Rist’s Großtante, ebenso feinere Züge besessen, doch vom Gemüt her waren sie nicht besser, als irgendwelche Menschen gewesen. Mit Narben in den Visagen und Dreck an den Mänteln waren sie herumgelungert, hatten sich mit Messern Essensreste zwischen den Zähnen hervorgepuhlt und Drogen geschnupft. Nichts an der strahlenden Ehillea erinnerte an diesen chaotischen Haufen, als sie wach hersah und ein Nicken andeutete, um die beiden Jüngeren zu begrüßen. “Ihr seid wach. Wie geht es euch?”, wollte die Blonde wissen, als Anna und Rist bei ihr ankamen. Um Respekt vor der Hexerstochter zu bekunden, griff sie dabei auf die Gemeinsprache zurück. “Besser…? Denke ich.”, entkam es der Kurzhaarigen, die sich in Ehillea’s Anwesenheit fühlte wie ein hässliches Entlein vor einem wunderschönen Schwan. Die Elfe lächelte sanftmütig und wendete sich dann an ihren Verwandten, der bei Anna stand. “Ich weiß nicht, warum ihr in den Caed Myrkvid gekommen seid, Invaerneweddin. Doch ich hoffe, ich werde es nicht bereuen die Verantwortung für euch übernommen zu haben, damit ihr nicht sterben müsst.”, sagte die Blondine mit der langen Mähne ruhig und sah ihren Großenkel eindringlich an. Ihre merkwürdigen Augen wirkten, als könne sie damit in Andere hineinsehen. Dennoch wahrte sie eine bedächtige Miene und starrte nicht böse. Anna sah abwartend zu Hjaldrist hin und war dezent nervös. “Du wirst es nicht bereuen.”, versicherte er gleich mit fester Stimme. “Wir gehören nicht zu den Banditen, die die Druiden angegriffen haben.”, fügte die Novigraderin im roten Kleid dem hastig hinzu “Wir sind hier, weil ich mit den Leuten des Hains sprechen will.” Auf diese Äußerung hin wanderten die unnatürlich blauen Elfenaugen, die an tiefe Waldseen erinnerten, zu Anna zurück. Ehillea wirkte unerwarteter Weise überrascht. “Sprechen? Worüber?”, wollte der Blondschopf wissen und zum ersten Mal erkannte die Hexerstochter ehrliches Interesse im Blick der Älteren. Im Hintergrund trommelten und flöteten die Trankmischer und lachten und tanzten auf bloßen Füßen wild um das Feuer am großen Platz. Sie alle trugen Blumenkränze auf den Köpfen, lange, luftige Kleider in allen möglichen Farben oder wallende Roben aus schwerem Stoff. “Über Alchemie.”, sagte Anna aufrichtig und die kluge Elfe musterte sie, als glaube sie dies nicht so recht. “Dieses Anliegen muss sehr wichtig sein, wenn Ihr dafür in den Dunkelwald kommt.” “Ist es.” “Nun, in dem Fall empfehle ich Euch mit Sybilla zu sprechen.”, lächelte Ehillea zurückhaltend und nippte an ihrem dampfenden Becher. Als sie bemerkte, wie die kurzhaarige Novigraderin etwas neugierig gen Trinkgefäß lugte, lachte sie leise und wies dann zu einem Tisch, der da unweit stand. “Setzen wir uns. Der Gewürzwein ist gut und passt wunderbar zu den Hanfbroten. Ihr beide solltet ihn probieren.”, lud die bildhübsche Frau ein und die ausgezehrten Abenteurer nickten sofort bereitwillig. Denn neben Durst hatten sie auch einen fürchterlichen Hunger. Essen und Trinken klang also nur zu verlockend. Anna hinkte kaum merklich, als sie Ehillea also zu dem Tischchen folgte, an dem sich die Elfe niederließ. Hjaldrist setzte sich dazu, seine Freundin fand den beiden gegenüber Platz und die Blondine zögerte nicht damit den Gästen reichlich Wein einzuschenken. Sie füllte auch ihren kleinen Becher wieder auf, der augenblicklich dampfte und einen verlockenden Geruch nach süßen, roten Reben und Nelken verströmte. Obwohl es Sommer war, hatten die Druiden den Wein leicht erhitzt. Denn die Nächte im Caed Myrkvid konnten durchaus kalt werden, wie es Anna erst gestern hatte herausfinden müssen. Gewärmter Wein war also eine Wohltat. Und während das Fest ringsum nicht abflaute und die Flötenmelodie fröhlich mit der Laute hüpfte und trällerte, setzte Rist zum Sprechen an. Er lehnte beide Unterarme locker auf den Tisch, drehte seinen Weinbecher zwischen den Fingern und sah zu Ehillea hin. So, wie die beiden da nebeneinandersaßen, konnte man fast nicht glauben, dass sie miteinander verwandt waren. Klar, Hjaldrist sah nicht aus wie ein typischer Skelliger, war schmaler gebaut und seine Züge waren feiner. Er war sehr weit davon entfernt auch dann, wenn er es wollen würde, ruppig, abgeranzt oder wie ein steinharter Hüne zu wirken. In dem Sinn kamen die Elfengene wohl durch. Doch abgesehen davon hatte er nichts an sich, das der Erscheinung seiner Großtante glich. Er besaß keine Mandelaugen mit so seltsam tiefem Blau darin, hatte keine Spitzohren und keine hellblonden Haare. Nun ja, Anna hatte längst bemerkt, dass sein Haar vereinzelt heller meliert anmutete und dass dies für einen Menschen in seinem Alter nicht gewöhnlich war. Entweder kam da also auch Elfisches aus ihm raus oder er wurde einfach nur früh grau. Daneben war sein Gehabe alles andere, als dem seiner Verwandten gleich. Er war nicht elegant und anmutig, blickte nicht so eigenartig arrogant vor sich hin und lächelte nicht zurückhaltend. Anna war froh darüber. “Also. Was machst du eigentlich hier? Bist du nun auch zum Druidentum übergegangen?”, wollte der besagte Skelliger an seine Großtante gerichtet wissen. Abwartend sah er die Blonde neben sich an und sein Starren duldete keine Ausreden. Ehillea lächelte zauberhaft. “Nein. Trankmischerei liegt mir recht fern, wie du weißt.”, erinnerte die Elfe mit der sanften Stimme “Ich bin vielmehr zu Besuch.” “Zu Besuch?”, Rist kräuselte die Stirn. “Ja. Das Waldsterben ist mir doch seit jeher ein Anliegen. Zudem komme ich in meiner Profession als Vermittlerin zum Zug.”, meinte die Langhaarige, die leicht nach Jasmin duftete, aufrichtig. Anna hob die Brauen und wusste nicht, ob sie so recht folgen konnte. Ehillea bemerkte diesen Blick und klärte auf: “Menschen dringen immer wieder in unberührte Wälder vor und zerstören sie kopflos. Sie sind gierig und holen sich mehr Holz, als sie brauchen. Oder aber, sie roden ganze Forstflächen, um Minen zu errichten. Der Handel und das liebe Geld sind daran schuld.”, seufzte die schöne Frau “Erst recht in kriegerischen Zeiten, wie dieser. Kriege, müsst ihr wissen, werden nicht nur mit Waffengewalt bestritten. Geld und Güter spielen ebenso eine große Rolle. Und sie drängen die Menschen dazu zu vergessen, dass sie der Natur sehr schaden.” Anna’s fragende Miene rutschte in eine wieder viel ernstere Richtung. Sie verstand endlich und fasste nachdenklich nach ihrem warmen Becher. “Ich bin den Menschen jedoch nicht böse. Denn manchmal wissen sie es einfach nicht besser.”, setzte die geduldige Elfe fort “Früher fungierte ich als Botschafterin zwischen den Völkern. Zwischen den Aen Seidhe und den Menschen. Das ist eine Art, nun, Tradition unserer Familie und die Insel forderte es so. Später, da ging ich jedoch auf Reisen, um meine Liebe zu den Wäldern und Tieren mit dieser diplomatischen Profession zu verbinden. Heute versuche ich zu vermitteln, sobald Leute zu stark und zu gewaltsam in die Natur eingreifen. Als Sprecherin der Druiden hier genieße ich Ansehen, wenn ich zwischen dem Caed Myrkvid, dem Norden und dem Süden reise.” “Und du findest es gut, dass die Druiden des Waldes Leute ermorden?”, wollte Hjaldrist äußerst skeptisch wissen. Anna trank stumm etwas von ihrem Wein, der wirklich ausgezeichnet schmeckte. Er lief einem die Kehle runter wie weicher, gewürzter Traubensaft. Daneben griff sie nach einem der Hanfbrote, die reichlich mit Butter beschmiert waren. “Nein.”, antwortete Ehillea Hjaldrist ruhig “Es ist weder gut vermeintliche Eindringlinge zu töten, noch ist es rechtens hier einzubrechen, um die Leute des Hains und den Wald anzugreifen. Und genau deshalb bin ich hier. Ich hoffe auf Einigungen und Lösungen.” “Eine langwierige Sache.”, schätzte Anna im Hintergrund, nachdem sie einen Bissen leckeren Brotes hinuntergeschluckt hatte. Die faszinierende Blondine am Tisch nickte. “Ja, langwierig, in der Tat. Jedenfalls für euch Menschen.”, lächelte sie gutmütig und machte damit indirekt klar, dass sie als Elfe länger lebte, als jeder Normalsterbliche. Die Novigraderin blinzelte etwas wirr, als ihr dies in den Sinn kam. Sie fühlte sich ein wenig dumm. Und unweigerlich fragte sie sich, wie alt Hjaldrist wohl werden würde. Und wie alt war er im Moment? Sie hatte keine Ahnung, obwohl sie ihm nah stand. Was, wenn er schon sechzig Jahre auf dem Buckel hatte und nur so aussah wie um die Dreißig? Ja, wie war das so mit Menschen, die Elfenblut besaßen? Eigenartigen Blickes taxierte die Kurzhaarige ihren besten Freund, der gerade einen Teller voller belegter Hanfbrote zu sich heran zog, um sie eingehend zu beäugen. Er pickte sich eines mit Butter und Kresse heraus und schien nicht so glücklich darüber zu sein, dass es keine Wurst gab. Offenbar lehnten die Druiden des Dunkelwalds Fleisch ab. “Ach, aber bitte reden wir doch nicht über solche unguten Themen. Wir sind auf einer Feier zur Midaëte.”, lenkte Ehillea dann ein. Sie griff nach ihrem Becher und vollführte damit eine elegant prostende Geste. “Hael.”, lächelte sie dabei und der essende Rist nickte, gab ein ‘Hael’ aus halbvollem Mund zurück und trank. Auch Anna hob den Becher leicht an und gab den elfischen Toast von sich, musste breit lächeln. Die Gesellschaft, in der sie sich befand, war angenehmer, als zunächst angenommen. Der Wein und Ehillea, die gelassen von ihren spannenden Reisen erzählte, der Gesang, Spaß und Tanz ringsum, lockerten die Stimmung der Kriegerin aus Kaer Morhen folgend sehr. Auch Hjaldrist lachte, als seine Elfentante den Onkel Drakensunds, Adlet, als völlig durchgeknallt bezeichnete. Die Atmosphäre war angenehm und ausgelassen. Noch amüsierter wurde Anna, als sie bemerkte, dass die bildschöne Elfe am Tisch nach kaum einer Stunde des Trinkens angeheitert anmutete. Denn sie lachte offener, gab sich entspannter und weniger vornehm, obwohl sie nach wie vor ihre fremdartige Anmut besaß. “In einen Fuchs?”, fragte die Elfe nach dem Geplapper Hjaldrists belustigt nach “Ach herrje…” “Ja… wir haben tagelang nach ihr gesucht und sie hat sich erst zurückverwandelt, nachdem Adlet ihr einen weiteren Trank eingeflößt hat.”, grinste der Schönling und warf Anna einen schelmischen Blick zu. Die Novigraderin lächelte betreten und kratzte sich am Hinterkopf, als sich die blauen Augen der Großtante an sie hefteten. “Hmmm. Aenyecrevan.”, entkam es der Blondine und sie wirkte angetan und stolz, als sie das sagte. Dann lächelte sie der Kurzhaarigen am Tisch wohlwollend zu “Wie passend!” Anna hob eine Augenbraue verdattert an und linste hilfesuchend in die Richtung ihres besten Freundes, der nur mit den Schultern zuckte. “Sie hat die Angewohnheit Freunden und Verwandten blöde Spitznamen zu verpassen…”, erklärte der wissende Undviker und verkniff es sich mit den braunen Augen zu rollen. Er musste schief grinsen und den Kopf über die Elfe neben sich schütteln. Jene wirkte durch eben diese Ausführung viel menschlicher. Ja, Anna’s Gesicht lichtete sich und sie erwiderte den netten Ausdruck der Elfenfrau jetzt. Jene hatte ja auch Rist mit einem Kosenamen bedacht, nicht? Wie lautete der nochmal…? “Was bedeutet der Name?”, wollte Anna wissen. “So viel wie Feuerfuchs.”, gab die Elfenfrau zurück und die Novigraderin musste lachen “Du hast viel Feuer in dir, Arianna. Ich kann es sehen.” “Also ‘Flohbeutel’ wäre eigentlich passender.”, warf Hjaldrist mit schiefem Grinsen ein und bekam dafür einen festen Klaps auf den Hinterkopf. Erheitert glucksend beschwerte er sich und schlug die Arme schützend über dem Haupt zusammen, ehe er zum Gegenschlag ansetzte und die arme Anna bei sich mit den Zeigefingern so beherzt in die Seite piekte, dass sie damit anfing zu lachen und von der Bank floh. Ja, der Abend stellte sich als wirklich unterhaltsam heraus. Und das, obwohl die zwei Vagabunden es heute Morgen nicht für möglich gehalten hatten überhaupt noch so lange zu leben. Es blieb im Laufe des Festes nicht dabei, dass Ehillea und ihre zwei Anhängsel von außerhalb des Caed Myrkvid an ihrem Tisch sitzen blieben. Irgendwann, da hatten sie sich erhoben und sich dem lodernden, wärmenden Feuer zur Sommersonnenwende genähert. Sie waren leicht angetrunken und hatten Freude an dieser jungen Nacht, die von den tanzenden Flammen erhellt und der lauten Musik der Druiden erfüllt wurde. Sie klatschten in die Hände, als die jüngsten Frauen des Hains in farbenfrohen Kleidern um das große Feuer tanzten. Die undviker Elfenfrau berührte Rist sacht am Arm und deutete amüsiert auf einen Druiden, der unweit herumtorkelte und bestimmt nicht nur Alkohol intus hatte. Anna stand ebenso belustigt da, war absolut mitgerissen von dem fröhlichen Spektakel am Platz. Die lebenden Bäume am Rande des Hains störten sie längst nicht mehr. Die Ents, die zunächst so unheimlich und respekteinflößend gewirkt hatten, waren zur Nebensache geworden. Die burschikose Frau aus dem Norden lachte begeistert und beobachtete das Geschehen mit einem Strahlen im Gesicht. Auch die Männer des Caed Myrkvid mischten sich beim nächsten Flötenlied, das von der großen Trommel begleitet wurde, wieder in den lustigen Tanz um das Lagerfeuer. Einer von ihnen erwischte Anna währenddessen einfach so und spielerisch am Arm, zog sie mit und drängte sie einem der Mädchen in den weiten Kleidern entgegen. Und während die Novigraderin sofort überrumpelt und planlos starrte, nahm die Druidin sie wie selbstverständlich an den Händen und forderte sie mit Gesten dazu auf sich einfach gehen zu lassen und mit um das Feuer zu springen. Wirklich tanzen, das musste man dabei nicht können. Und die Kurzhaarige, die so etwas schließlich nie gelernt hatte, war froh darüber. Zunächst hielt sie sich etwas zurück, auch ihres noch etwas beleidigten Fußgelenks wegen. Doch es dauerte nicht lange, da stand sie den Druiden in nichts nach, tanzte lachend mit ihnen und hüpfte im leichten Weinrausch zum Takt der Musik und des Trommelschlags. Penibel an ihrem Leinenkleid herumzuzuppeln und die Arme unwohl vor der Brust zu verschränken lag ihr dabei längst fern. Sie hatte ungehalten Spaß, reichte einer schwarzhaarigen Druidin vor sich die Hand und wurde in einem simplen Volkstanz zum nächsten Hainbewohner geführt. Sie drehte sich, sah auf. Eine lächelnde, rothaarige Frau stand plötzlich vor ihr und legte ihr, wie so vielen anderen zuvor, einen Kranz aus blauen Kornblumen auf den Kopf. Die Druidin bewegte sich daraufhin weiter und tänzelte zu einem Anderen, um ihm ebenso Blumen zu schenken. Doch Anna, die hatte innegehalten. Nahezu erstarrt war sie und fasste sich im flackernden Feuerschein vorsichtig ans Haar. Ihre Fingerspitzen berührten die hübschen, duftenden Blumenblüten darin und augenblicklich sank ihre Stimmung. Denn als sie den Blick senkte, sah sie Lin vor ihrem geistigen Auge. Wie er vor ihr stand, pfiff, summte und ihr einen Blumenkranz flocht. Wie er fröhlich lächelte und ihn ihr reichte, als seien die Blüten ein wertvolles Geschenk. Er hatte Margeriten und Kornblumen geliebt, sie stets äußerst geschäftig vom Wegesrand gepflückt. Lin hätte das Fest zur Sommersonnenwende auch gefallen. Oh, was wäre er hier im grünen Hain herumgesprungen und wie laut hätte er mit den feiernden Druiden gesungen… nicht wahr? Es wäre für den Kleinen ein unvergessliches Erlebnis gewesen und er hätte mit Vorliebe und seiner schrägen Weltoffenheit die guten Hanfbrote probiert. Anna bemerkte erst, dass sie weinte, als ihr eine dicke Träne vom Kinn tropfte. Noch immer stand sie wie verloren da, inmitten des Platzes und vor dem knisternden Lagerfeuer, das sie um mehrere Köpfe überragte; zwischen tanzenden und laut feiernden Menschen. Ganz plötzlich schien sie nicht mehr hierher zu gehören. Die Blumen auf ihrem Kopf und das hübsche Kleid wollten nicht mehr so recht zu ihrem tieftraurigen Ausdruck und den nassen Wangen passen. Anna stand herum, wie ein verplantes, flennendes Häufchen Elend. Als sie dies selbst spät realisierte, wendete sie sich ab, wischte sich mit dem Ärmel über die braunen Augen und zog die Nase hoch. Die aufgelöste Novigraderin hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, um sich betreten zurückzuziehen, da stand Hjaldrist schon vor ihr. Er musste den plötzlichen Stimmungswechsel seiner besten Freundin bemerkt haben, nachdem ihr die Druidin den Kornblumenkranz in die Haare gelegt hatte. Und natürlich wusste er sofort Bescheid, WUSSTE weswegen Anna plötzlich in Tränen ausgebrochen war. Es war höchste Zeit dafür gewesen. Denn bisher hatte sie des toten Göttlings wegen kein einziges Mal so richtig geweint. Dass sie nun leise schluchzen musste war, als ob eine Mauer in ihr barst, in sich niedersackte und all die krampfhaft verdrängten Gefühle tosend losbrechen ließ. “Na, na.”, Ehillea zeigte sich irritiert besorgt, als sie die zwei kläglichen Abenteurer wenige Zeit später abseits auffand “Was ist denn los?” Anna und Rist saßen zusammen auf der Holzbank, auf der der Abend so lustig und feuchtfröhlich begonnen hatte. Diesmal jedoch mit dem Rücken zum emporleckenden Feuer mit den hellen Glutfunken und all den singenden Leuten. Der Skelliger in der orangen Tunika hatte einen Arm um die Schultern seiner Kumpanin gelegt. Er stand ihr damit stumm bei und tröstete, sah jedoch auch äußerst niedergeschlagen aus. Seine dunklen Augen waren glasig, doch anders, als seine Freundin aus Kaer Morhen, schniefte er nicht. Anna wischte sich eine letzte Krokodilsträne von der Wange und ermahnte sich im Stillen zur Fassung. Schließlich saß sie nun schon viel zu lange hier und kriegte sich kaum mehr ein. Dies war ungewöhnlich für sie, denn an und für sich mimte sie doch immer die Starke. Eher verglich man sie sonst mit irgendwelchen Haudraufs und Kerlen eines Söldnerhaufens und vergaß dabei, dass sie auch durchaus eine sehr mädchenhafte Seite an sich hatte. Und dieser Part heulte, jammerte und hatte manchmal auch eine ziemliche Angst. “Alles gut.”, antwortete Hjaldrist seiner sorgenvollen Großtante lau und sprach für seine Freundin mit dem blauen Blumenkranz im Haar, die nicht in der Stimmung war sich groß zu unterhalten. Anna atmete tief durch und schlug die schmerzenden Augen nieder. Ehillea betrachtete sie eingehend, doch war natürlich schlau genug, um zu verstehen, dass nichts ‘gut’ war. Man musste doch bloß die Mienen der Jüngeren auf der kleinen Steckbank beäugen. Ja, selbst Hjaldrist sah aus, als müsse er sich ordentlich am Riemen reißen. Also setzte sich die Elfe einfach zu ihnen. “Ihr habt schlimme Dinge gesehen. So gehabt es sich, wenn man viel reist.”, entkam es der Blonden ruhig “Diese Erfahrungen formen einen und daher sind sie wichtig.” Anna schwieg, hielt ein Stofftaschentuch fest in ihrer Rechten, seufzte und putzte sich die Nase. Und Rist atmete ebenso tief aus. “Ich bezweifle… ich bezweifle, dass der Tod von Freunden so ‘wichtig’ und gut für irgendwelche Entwicklungen ist.”, kritisierte der anwesende Skelliger und Ehillea’s Ausdruck veränderte sich trotz dieser indirekten Erklärung der Situation nicht. Sie lächelte leicht und reizend. “Va'esse deireádh aep eigean, va'esse eigh faidh'ar. Etwas endet, etwas beginnt.”, kommentierte die weise Elfenfrau diese Aussage schlicht “So ist der Kreislauf der Dinge.” Anna verstand nicht, was die schlanke Dame damit meinte, fragte aber auch nicht nach. Doch Rist sah aus, als verkneife er sich eine schnippische Meldung. Der Jarlssohn äugte wieder von seiner Großtante fort, hatte den einen Arm noch immer um die Schwertkämpferin in dem roten Kleid gelegt und drückte sie brüderlich. Es half. Ja, Anna war heilfroh darüber nicht allein zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)