Eis ist auch nur Wasser von Swanlady (MakoGou | Wichtelgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Eis ist auch nur Wasser ---------------------------------- Fassungslos starrte sie ihr Handydisplay an, das für die Hiobsbotschaften zwar nichts konnte, aber trotzdem von ihren behandschuhten Händen fester als nötig umklammert wurde. Missmutig schob Matsuoka Gou das Mobiltelefon in ihre Jackentasche und verzog säuerlich das Gesicht. Dabei hatte sie sich schon seit Ewigkeiten auf diesen Tag gefreut! Sie hatte ihren Freunden die Stadt zeigen wollen und nun schien es, als würde sie schon seit zehn Minuten umsonst in der – wohlangemerkt, sehr kalten – Gegend herumstehen. Leise seufzend, zog sie den cremefarbenen Schal enger um ihren Hals und rieb ihre Handflächen aneinander. Es war der kälteste Winter seit Jahren. Es schneite ununterbrochen und die sonst so pünktlichen Züge verspäteten sich nicht selten um mehrere Stunden. Nagisa und Rei steckten seit knapp zwei Stunden irgendwo im Nirgendwo fest, wie die Kurznachricht sie eben informiert hatte. Rins Flug hatte ebenfalls Verspätung. Haruka war telefonisch nicht erreichbar. Und Makoto… „Gou-chan?“ Erschrocken sah sie auf. Warme, grüne Augen, umrahmt von einer eckigen Brille, sahen sie fragend an. Gou blinzelte. „Ah, ist es die Mütze? Ich bin’s, Makoto.“ Gous Augen weiteten sich, als er die braune Wollmütze vom Kopf zog und lächelte. „Makoto-senpai!“, rief sie aus und presste die Hände erleichtert gegen ihre Brust. „Ich dachte, es würde außer mir niemand mehr kommen.“ Gou konnte sich ein kleines, theatralisches Schniefen nicht verkneifen. Die Erleichterung war aber durch und durch echt. „Ich bin mir sicher, dass die anderen gleich da sein werden“, versuchte Makoto sie zu beruhigen, doch Gou schüttelte den Kopf. „Nagisa-kun hat mir eben geschrieben, dass er und Rei-kun im Schnee feststecken. Onii-chan schafft es auch nicht rechtzeitig. Haruka-senpai konnte ich nicht erreichen“, zählte sie auf. „Oh.“ Makoto zog die Stirn kraus, ehe er sich die Mütze wieder aufsetzte, weil es immer noch schneite. „Was machen wir nun?“ Unsicher biss sich Gou auf die Unterlippe. Sie hatte diesen Tag mit all ihren Freunden verbringen wollen, aber das Wetter machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. „Willst du das Treffen auf morgen verlegen?“, hakte Makoto weiter nach, während Gou immer noch schweigend überlegte. „Ich meine – ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns ein wenig umsehen.“ „Zu zweit?“, erkundigte sich Gou verblüfft. „Wieso nicht?“, schmunzelte Makoto. „Wir sehen uns so selten, obwohl wir in derselben Stadt wohnen.“ Er hatte Recht. Wenn man es genau nahm, hatten sie sich seit langer Zeit überhaupt nicht mehr gesehen. Gou war zwar erst diesen Sommer nach Tokyo gezogen, um einen Job zu finden, aber das war keine Entschuldigung. „Stimmt. Es wäre schade, einfach wieder nach Hause zu gehen“, sagte sie und merkte, wie sein aufmunterndes Lächeln Wunder wirkte. Sie freute sich wieder auf die kommenden Stunden, obwohl der Rest des ehemaligen Schwimmclubs fehlte. „Wie lange stehst du schon hier?“, wollte Makoto wissen. Er klang besorgt. „Etwa fünfzehn Minuten.“ „Dann sollten wir uns zuerst aufwärmen gehen, meinst du nicht?“ Gou stimmte protestlos zu. Es tat gut, sich für eine Weile ins belebte Einkaufszentrum zurückzuziehen. Weder Makoto, noch sie selbst hatten Einkäufe zu erledigen, aber hier war es wenigstens warm. Gou mochte auch die vielen Lichter, die in den Schaufenstern als Dekoration dienten. Sie hatten die Form von Eiszapfen und sorgten für eine winterliche Atmosphäre. Ziellos schlenderten sie durch die Passagen. Makoto hatte seine Mütze ausgezogen und sie in seine Jackentasche gestopft, während Gou ihren Schal in der Hand trug. Sie warf einen verstohlenen Blick in seine Richtung, als er seine Brille auszog, weil die Gläser wegen des Temperaturunterschieds beschlugen. Sie rechnete jedoch nicht damit, dass ihm ihre Neugier sofort auffallen würde. „Ist die Brille gewöhnungsbedürftig?“, fragte er erheitert. Gou spürte, wie ihre Wangen plötzlich nicht mehr ganz so kühl waren. „Ein wenig“, gab sie zu. „Aber sie sieht gut aus! Ich meine – du –“, verstrickte sie sich in ihren eigenen Worten und gestikulierte wild mit den Händen. „Schon gut, schon gut“, winkte Makoto verlegen lachend ab. „Ich war nicht auf ein Kompliment aus. Ich trage sie meistens nur zum Lesen.“ „Du liest bestimmt eine Menge, was?“, schnappte Gou das Thema auf, das sie aus dieser peinlichen Situation manövrieren würde. „So als Literaturstudent.“ Das erste Eis schien gebrochen. Das Gespräch verlief lockerer und ungezwungener. Gou hörte gespannt zu, als er von seinem Studium erzählte. „Anfangs war das Großstadtleben eine Umstellung. Dir geht es bestimmt auch so, oder?“, lenkte er schließlich den Gesprächsfokus geschickt wieder auf sie. Makoto war schon immer ein nachsichtiger Mensch gewesen, den das Wohlergehen anderer mehr interessierte als sein eigenes. Gou hatte hautnah miterlebt, wie er um Harukas Freundschaft und Seelenheil gekämpft hatte. Seine Selbstlosigkeit war etwas, das sie sehr an ihm schätzte, auch wenn es ein merkwürdiges Gefühl war, selbst mit ihr konfrontiert zu werden. Er war das komplette Gegenteil von Rin, dem sie ständig hinterherjagen musste. Wenn sich alle eine Scheibe von Makoto abschneiden würden, dann wäre die Welt gleich ein Stückchen besser. „Ich habe mich relativ schnell daran gewöhnt“, gab sie zu. „Ich mag den Trubel, wenn ich ehrlich bin.“ Makoto schenkte ihr einen verständnisvollen Blick. „Du hast mir noch gar nicht gesagt, was du machst“, lenkte er ein. „Dabei scheinst du genau zu wissen, was wir anderen gerade treiben.“ Gou schmunzelte ertappt. Sie interessierte sich natürlich dafür, was ihre Freunde nach der Schule für Wege eingeschlagen hatten. Die meisten Informationen hatte sie von Nagisa, der gerne den neuesten Klatsch und Tratsch mit ihr teilte. So wusste Gou beispielsweise, dass Makoto Literatur studierte. Sie wusste selbstverständlich, dass es Rin wieder nach Australien verschlagen hatte und dass Haruka in Iwatobichō geblieben war. Rei arbeitete als Assistent in einem Chemielabor und Nagisa, dessen beruflichen Werdegang sie dank der regelmäßigen Telefonate und E-Mails etwas ausführlicher kannte, hatte seinen Platz in der Tourismusbranche gefunden. Beide wohnten in der Nähe von Kyoto – weshalb sie auch gemeinsam auf dem Weg nach Tokyo waren. „Ich überlege noch, ob ich studieren möchte“, setzte Gou an und zuckte mit den Schultern. „Momentan habe ich einen Halbzeitjob.“ Neugierig legte Makoto den Kopf schief. „Hier.“ „Hier?“, hakte er verwirrt nach. Gou lächelte mysteriös und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „In diesem Einkaufszentrum. Wenn du errätst, wo, dann –“, sie überlegte einen Moment, „– dann darfst du dir etwas wünschen.“ „Etwas wünschen?“, wiederholte er verdutzt. Der Gedanke, sich etwas von ihr zu wünschen, schien Makoto tatsächlich zu überfordern, weil er stumm die Lippen bewegte, aber kein weiteres Wort hervorbrachte. Gou grinste amüsiert. „Keine Widerrede“, beharrte sie auf ihrem Vorschlag. „Ich bin gespannt, ob du es erraten kannst. Du hast aber nur einen Versuch!“ Makoto wirkte unsicher, aber er schien einzusehen, dass er keine Wahl hatte, weshalb er kapitulierend seufzte und damit begann, sich genauer umzusehen. Gous Herausforderung sorgte dafür, dass sie durch das komplette Einkaufszentrum spazieren mussten, aber da sie ohnehin keine konkreten Pläne hatten – Makoto kannte die Stadt größtenteils, er brauchte also keinen Rundgang – war das nicht weiter schlimm. Wenigstens war ihnen wieder warm. Neugierig beobachtete sie Makotos Suche nach ihrem Arbeitsplatz aus den Augenwinkeln. Sein Blick blieb an Boutiquen, Buchhandlungen und Souvenirläden hängen, doch Makoto blieb an keinem von ihnen stehen. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er sie als Mitarbeiterin eines dieser Geschäfte eingeschätzt hatte – es wunderte sie eher, dass er es nicht tat. „Noch keine Idee?“, erkundigte sie sich gespannt. „Ich möchte erst alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen“, gab er nachdenklich zurück. „Du scheinst dir ja wirklich etwas wünschen zu wollen.“ Makoto zuckte ertappt zusammen und Gou kicherte. „Nein, das stimmt nicht! Daran habe ich gar nicht gedacht!“, verteidigte er sich und brachte Gou nur noch mehr zum Lachen. Sie ließ ihn zappeln und statt etwas zu sagen, schlenderte sie einfach weiter. Noch bevor sie das oberste Geschoss erreichten, blieb Makoto plötzlich wie angewurzelt stehen. Gou schielte neugierig an ihm vorbei. Sie standen vor einem Sportgeschäft, das professionelle Bekleidung, kleinere Geräte und allerlei Accessoires anbot. „Hier“, sagte Makoto und klang dabei so sicher, dass Gous Augen zu leuchten begannen. „Du arbeitest hier.“ Abwartend sah er sie an, während Gou spürte, wie ihr Herz Purzelbäume schlug. „Wolltest du nicht zuerst alle Möglichkeiten in Betracht ziehen?“, hakte sie ausweichend nach und es fiel ihr schwer, ihre Mimik zu kontrollieren. Er hatte nämlich genau ins Schwarze getroffen und aus irgendeinem Grund machte Gou dies unglaublich glücklich. „Habe ich Recht oder nicht?“, fragte Makoto, ohne auf ihre Worte einzugehen und lächelte wissend. Anscheinend zeichnete sich doch eine Reaktion auf ihrem Gesicht ab, ohne dass sie es wollte. Gou gab sich also nicht länger Mühe, ihre Gefühle zu verstecken. Sie strahlte ihn begeistert an und nickte. „Du liegst absolut richtig. Was hat mich verraten?“ Makoto zuckte mit den Schultern. „Es hat einfach… gepasst.“ „Komm, lass uns reingehen“, schlug sie vor, während sie über die Bedeutung seiner Worte nachdachte. Es hatte gepasst? „Liegt es an meinen Vorlieben?“, versuchte sie der Sache noch einmal auf den Grund zu gehen, als sie den Laden betraten und an den Körben voller verschiedener Bälle vorbeigingen, die im Eingangsbereich standen. „Du weißt schon.“ Verschmitzt spitzte Gou die Lippen und sah zwischen den roten Haarsträhnen, die ihr in die Stirn fielen, zu ihm hinauf. Makoto schmunzelte ungehalten, schüttelte aber den Kopf. „Ich assoziiere mehr als nur Muskeln mit dir, Gou-chan“, stellte er klar. Gou hielt überrascht an. „Du bist und bleibst ein Mitglied unseres Schwimmclubs. Der Gedanke, dass du also weiter indirekt mit Sport zu tun hast, lag nicht fern“, erklärte er und kratzte sich verlegen an der Nase. „Es tut mir leid, falls sich das seltsam angehört hat.“ Energisch schüttelte Gou den Kopf und faltete die Hände unter dem Kinn. „Das macht mich wirklich froh“, flüsterte sie und blickte ihn gerührt an. „Mich auch“, murmelte Makoto kaum hörbar und noch bevor Gou hinterfragen konnte, was er damit meinte, steuerte er bereits die Abteilung mit Badebekleidung an. „Was wünschst du dir?“, fragte Gou, während Makoto eine Badehose in die Hände nahm und näher betrachtete. „Du musst mir wirklich keinen Wunsch erfüllen, Gou-chan“, winkte er ab. „Du musst dir wegen mir keine Umstände machen.“ Gou plusterte die Wangen auf und sah ihn streng an. „Wenn ich dir keinen Wunsch erfülle, fühle ich mich, als würde ich ein Versprechen brechen, also raus damit“, argumentierte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Beschwichtigend hob Makoto die Hände, nachdem er die Badehose wieder an ihren Platz verfrachtet hatte und wich einen Schritt zurück. „Okay, dann –“, begann er und sah sich um, als würde er Inspiration suchen. „Muss ich mir jetzt schon etwas wünschen?“ Gou kräuselte die Lippen, schüttelte dann aber den Kopf. „Dann würde ich das gerne später tun, wenn mir die zündende Idee kommt“, teilte Makoto ihr mit und lächelte. „Ich werde es nicht vergessen, versprochen.“ Nun, da er ihr seinerseits ein Versprechen gegeben hatte, war Gou wieder zufrieden und wandte sich ebenfalls dem Regal mit Badehosen zu. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, ertönte es bereits fünf Minuten später aus der Umkleidekabine. Makoto war zunächst dagegen gewesen, eine Badehose, die ihm gefallen hatte, anzuprobieren, aber Gou hatte mit sanfter Gewalt ein wenig Nachhilfe geleistet und schließlich einfach den Vorhang hinter ihm zugezogen. Diesen zog Makoto in diesem Moment so abrupt wieder auf, dass Gou zusammenzuckte. Natürlich fiel ihr sein unentschlossenes Gesicht zuerst auf, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick gleich danach über den entblößten Oberkörper wanderte. Gous Herzschlag legte einen Zahn zu, denn es war schon eine ganze Weile her, seit sie trainierte Muskeln hatte bewundern dürfen. Er war nicht ganz so in Form wie sonst, auch das erkannte Gous geschultes Auge, aber in ihrer Gegenwart würde Makoto nicht leugnen können, dass er hin und wieder immer noch schwimmen ging. Als Gou bemerkte, dass sie starrte, räusperte sie sich und drehte den Kopf weg. „Sieht gut aus“, versicherte sie, ohne auch nur einen Blick auf die Badehose geworfen zu haben. „Meinst du?“ Makoto runzelte die Stirn und schien zu überlegen, während er an sich hinab sah. Anschließend kehrte er Gou den Rücken zu, um sich im Spiegel zu betrachten und präsentierte ihr somit eine weitere Partie Muskeln. Sie verkniff sich das zufriedene Seufzen. Es war nicht verwerflich, die kleinen Freuden im Leben zu genießen. „Na gut, dann nehme ich sie“, beschloss Makoto und nickte ihr dankbar zu, ehe er sich wieder zurückzog, um sich umzuziehen. Zufrieden umklammerte Makoto seine Einkaufstüte, als sie den Laden verließen. „Eigentlich brauche ich die Badehose gar nicht“, gestand er und warf Gou einen verstohlenen Blick zu. „Ich schwimme zur Zeit nur noch am Wochenende, eine neue ist also überflüssig.“ „Ich habe wohl ein wenig zu sehr nachgeholfen, oder?“, lachte Gou verlegen, bereute es aber nicht, ihm mehrmals die gute Qualität der Ware versichert zu haben. Makoto schien sich nämlich wirklich über die ergatterte Badebekleidung zu freuen. „Auf keinen Fall“, protestierte er, als sie auf den Ausgang zusteuerten. „Ich habe mich für einen Moment so gefühlt, als würde ich morgen mit allen anderen schwimmen gehen. Es war ein schönes Gefühl.“ Gou konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen ähnlichen Shoppingausflug mit dem Schwimmclub unternommen zu haben, weshalb sie neugierig nachhaken wollte, was für Makotos Sentimentalität verantwortlich war, doch ihre Aufmerksamkeit galt plötzlich etwas ganz anderem: Er war stehengeblieben. Verwirrt hielt sie ebenfalls an und sah, wie er suchend seine Jackentaschen abtastete. „Hast du etwas verloren?“ „Meine Mütze“, antwortete Makoto. „Warte hier, ich –“ Bevor er seinen Satz beenden konnte, packte Gou ihn auch schon am Handgelenk. „Wir suchen sie“, beschloss sie und zog Makoto unnachgiebig mit sich, ohne auf seine verdutzten Proteste zu achten. In diesem Moment war Gou eine Frau, die eine klare Mission hatte: Sie würde Makotos Mütze finden, um jeden Preis. Zielstrebig klapperte sie den Weg ab, den sie im Einkaufszentrum gegangen waren. Konzentriert hielt sie den Boden im Blick und bekam nicht viel davon mit, dass Makoto Probleme damit hatte, mit ihr mitzuhalten. Als sie um die nächste Ecke bog, tauchte urplötzlich eine junge Frau vor ihr auf, die so viele Einkaufstaschen in den Händen hielt, dass das Ausweichen unmöglich war. Gou japste erschrocken, denn sie rempelte die Fremde versehentlich an und taumelte zurück. Bevor sie jedoch stürzen konnte, schlossen sich starke Hände um ihre Schultern und hielten sie an Ort und Stelle. Verblüfft blickte sie hinauf und sah sich mit Makotos besorgtem Blick konfrontiert. „Hast du dir etwas getan?“ Gou schüttelte hastig den Kopf und wandte sofort ihre Aufmerksamkeit der Frau zu, der zum Glück auch nichts passiert zu sein schien. Gou verbeugte sich tief und entschuldigte sich. „Ich werde besser aufpassen“, versprach sie, was die Frau zu besänftigen schien. Sie kräuselte zwar die Lippen, schimpfte aber nicht mit Gou. „Das wäre besser“, merkte sie nur an, ehe sie weiterging. „Du solltest es etwas langsamer angehen“, riet Makoto und zog seine Hände vorsichtig zurück. „Es ist nur eine Mütze.“ Leise murrend, schob Gou die Unterlippe vor. Ihre Mission war ein voller Reinfall gewesen, denn ihr fiel kein Ort mehr ein, an dem sie noch suchen konnten. Sie hatte auf die Umkleidekabine getippt, aber dort war sie auch nicht gewesen. Geknickt setzte sie sich wieder in Bewegung, um zurück zur Hauptpassage zu kommen. Als ihr Blick auf den riesigen Weihnachtsbaum fiel, der in der Mitte des Einkaufszentrums stand und von allerlei Lichtern beleuchtet wurde, hatte sie plötzlich eine Idee. „Warte hier“, echote sie Makotos Worte und machte auf dem Absatz kehrt. Sie stürmte davon, noch ehe er reagieren konnte. Zwanzig Minuten später kam sie wieder auf Makoto zugerannt. Ihre Wangen waren gerötet, weil sie sich beeilt hatte und ein zufriedenes Funkeln in ihren Augen verriet, dass sie alles erledigt hatte, was sie sich vorgenommen hatte. „Hier“, sagte Gou und überreichte Makoto eine Tüte. „Du hast sie gefunden?“, fragte er hoffnungsvoll und nahm sie entgegen. Gou lächelte nur mysteriös, während sie Makoto in die Tüte greifen ließ und gespannt abwartete. Er zog durchaus eine warme Wollmütze heraus, aber es war nicht die seine – sondern eine vollkommen neue. „Gou-chan, das wäre nicht nötig gewesen!“, protestierte er. „Das kann ich doch nicht annehmen.“ „Natürlich kannst du das“, erwiderte Gou mit Nachdruck. „Sieh es als frühes Weihnachtsgeschenk an.“ Sie hatte daran gedacht, als ihr die großen Geschenkschachteln unter dem Weihnachtsbaum aufgefallen waren. Makoto sah verzweifelt aus. Regungslos stand er da, die beige Mütze – die sich nicht mit seiner Haarfarbe beißen würde, darauf hatte Gou geachtet – in der Hand. Unschlüssig ließ er die Arme sinken. „Du machst Sachen“, wisperte er und allein an seiner leisen Stimme erkannte Gou, dass er kapitulierte. „Gewöhn dich dran“, gab sie vergnügt zurück und kündigte somit an, dass er in Zukunft womöglich weitere Überraschungen in Kauf nehmen musste. Gou konnte unberechenbar sein und es stimmte sie glatt ein wenig nachdenklich, dass Makoto so reagierte. Bekam er so selten Geschenke? Vielleicht lag es aber einfach daran, dass sie ein Mädchen war. Unter ihren Freundinnen war es vollkommen normal gewesen, dass sie einander hin und wieder Kleinigkeiten schenkten. „Danke, Gou-chan“, murmelte Makoto und zwang ein Lächeln auf seine Lippen, obwohl er immer noch überfordert zu sein schien. In diesem Moment nahm Gou sich vor, ihm zu zeigen, dass er ruhig ab und zu an sich selbst denken konnte. „Gern geschehen“, sagte sie heiter. „Probierst du sie an?“ „Selbstverständlich“, versicherte Makoto und es erleichterte Gou, dass seine Gesichtszüge sich etwas entspannten. „Es ist eine wirklich schöne Mütze.“ Gou beobachtete ihn dabei, wie er sich das Kleidungsstück anzog und als er sich ihr präsentierte, grinste sie breit. „Perfekt“, lobte sie und Makoto kratzte sich verlegen an der Nase, wirkte aber geschmeichelt. „Nun können wir endlich gehen.“ „Wohin?“, wollte Makoto wissen. „Ich habe da schon eine Idee“, antwortete Gou geheimnisvoll und ihre Augen blitzten vorfreudig auf. Draußen wehte ihnen wieder die Kälte entgegen und Gou schauderte. Sie waren wohl zu lang im Einkaufszentrum gewesen, denn nun spürte sie den beißenden Frost stärker als zuvor. Auch Makoto stopfte seine Hände in seine Jackentaschen und vergrub seine Nase – soweit es ging – im Kragen. Gou war jedoch zuversichtlich. Ihre Idee würde sie beide aufwärmen. Obwohl sie es nicht eilig hatten, schlenderten sie doch recht zügig die Hauptstraße entlang. Trotz der Kälte, nahm sich Gou die Zeit, die winterlich geschmückte Umgebung zu betrachten. Überall funkelten Lichter. An jeder Ecke standen Schneemänner (echt und künstlich) und der Duft von Amazake lag in der Luft. „Ich liebe die Weihnachtszeit. Es ist so ein romantisches Fest!“, schwärmte Gou. Als Makoto nichts darauf erwiderte, hob sie den Kopf und erkannte, dass sie ihn mit ihrem Ausruf in Verlegenheit gebracht hatte. Sie waren noch nicht so lange draußen, als dass seine Wangen bereits eine so gesunde Farbe hätten einnehmen können. Peinlich berührt presste Gou die Lippen aufeinander, nahm ihre Worte aber nicht zurück. Sie konnte nichts dafür, dass sie so empfand. Sie mochte glitzernde, kitschige Dinge und konnte auch nicht leugnen, dass sie Makotos Gesellschaft genoss. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie auf ihr Mobiltelefon gespäht hatte, um zu überprüfen, ob sie eine Nachricht von den anderen erhalten hatte. Gou lotste ihn in Richtung Park. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als das gesuchte Objekt endlich in ihrem Blickfeld auftauchte. „Was sagst du, Makoto-senpai?“, fragte sie aufgeregt und deutete auf die künstlich errichtete Eislaufbahn, auf der sich Menschen allen Alters tummelten. Kinder rutschten mehr schlecht als recht übers Eis, ein paar Erwachsene drehten ruhig ihre Runden und ein Jugendlicher versuchte sich sogar an einer Pirouette. „Du willst Schlittschuhlaufen?“, fragte Makoto überrascht und machte ein Gesicht, das Gou merkwürdig vorkam. Sie runzelte die Stirn und vermutete mehr dahinter. „Möchtest du nicht?“ „Nein, ich – ja, ich meine –“, rang er nach Worten und stockte endgültig, als Gou sich in sein Blickfeld schob und sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihm direkt ins Gesicht blicken zu können. Ihr auffordernder Blick genügte, um seine Zunge zu lockern. „Ich kann nicht Schlittschuhlaufen“, gestand er kleinlaut. Gou blinzelte. Das war alles? Sie wusste nicht, ob sie lachen oder einfach nur den Kopf schütteln sollte. „Das ist kein Problem. Ich bringe es dir bei“, verkündete sie selbstbewusst. „Ich kann es nämlich.“ Stolz reckte Gou das Kinn und wollte abermals nach seinem Handgelenk greifen, um ihn mit sich zu ziehen, doch da die Ärmel seiner Jacke lang waren, erwischte sie stattdessen versehentlich seine Hand. Obwohl zwischen ihren Fingern zwei Schichten Stoff lagen, zog die Stelle, an der sie sich berührten, Gous Blick magisch an. Einen Augenblick lang zögerte sie, doch dann gab sie sich einen Ruck und stampfte auf die Eislaufbahn zu. Makotos Hand ließ sie nicht los. Da Gou nicht zum ersten Mal hier war, steuerte sie zielstrebig die Bude des alten Mannes an, an der man sich Schlittschuhe leihen konnte. Normalerweise nahm sie ihre eigenen mit – wie der Großteil der Eisbahnbesucher – aber dieses Mal konnte sie nicht wählerisch sein, nun, da Makoto eingewilligt hatte (oder zumindest nicht protestiert hatte). Der Mann nahm auch kleinere Wertsachen in Verwahrung, sodass Makoto seine Einkaufstüte nicht mit auf die Eisfläche nehmen musste. Es dauerte eine Weile, bis sie Makoto seine Schuhgröße entlockt hatte und die gewünschten Schlittschuhe von dem Mann entgegennahm. „Hier“, sagte sie und reichte Makoto seine enthusiastisch. Gou begann sich aber ernsthaft Sorgen zu machen, als sie seinen unsicheren Blick sah, der skeptisch das Eis ins Visier nahm. „Makoto-senpai“, sprach Gou ihn besänftigend an. „Wir müssen das nicht tun.“ Gou war es gewohnt, andere zu ihrem Glück zwingen zu müssen, da sie Rins Schwester war, aber wenn Makoto wirklich Angst hatte, dann würde sie dies zur Kenntnis nehmen. Sie drängelte, zog und zerrte manchmal, aber sie erkannte, wann es nicht richtig war, die Gefühle anderer zu ignorieren. „Ah, ist schon in Ordnung“, erwiderte Makoto hastig und winkte ab. „Ich bin mir nur etwas unsicher, aber Eis ist auch nur Wasser, nicht wahr?“ Er schmunzelte und Gous Sorge war wie verflogen. Sie kicherte amüsiert, denn damit lag er nicht falsch. „Richtig“, bestätigte sie. „Also kein Grund zur Panik. Ich halte die ganze Zeit über deine Hand, wenn du möchtest.“ Bevor Gou bemerkte, was sie da vorschlug, hatte es bereits ihren Mund verlassen. Ertappt wich sie Makotos Blick aus und begann damit, die Schlittschuhe anzuziehen. Eine Antwort blieb aus – sie konnte nicht sagen, ob es sie froh machte oder enttäuschte – und stattdessen tat er es ihr gleich, indem er zuerst aus seinen Winterschuhen schlüpfte und dann die für ihn ungewohnten Schlittschuhe anlegte. Als er sich aufrichtete – weniger graziös als Gou – geriet er ins Wanken, was Gou belustigt grinsen ließ. Sie versteckte es jedoch gekonnt in ihrem Schal und trat über eine niedrige Schwelle hinweg aufs Eis. Geschmeidig hieß es sie willkommen, ließ sie einige Zentimeter rückwärtsfahren, als sie sich Makoto zuwandte. Dieser stand unschlüssig auf trockenem Boden und zögerte. „Gou-chan, deine Hand“, murmelte er und obwohl er versuchte sie mit einem warmen Lächeln zu überspielen, bemerkte Gou seine Verlegenheit. Bevor ihre eigene zurückkehren konnte, streckte sie auch schon den Arm nach ihm aus und bot ihm ihre Hand an. Makoto atmete tief durch, ergriff sie und traute sich endlich auf die Eisfläche. Im Schneckentempo glitten sie vorwärts. Gou behielt Makoto aufmerksam im Blickfeld und lächelte verstohlen, als ihr sein konzentrierter Blick auf den Boden auffiel. Er gab sich wirklich Mühe, nicht auf die Nase zu fallen. Vorsichtshalber hielten sie sich in der Nähe der Absperrung auf, damit Makoto sich im Notfall jederzeit festhalten konnte. Gou war sich bewusst, dass sie ihn mehr über das Eis zog, als dass er allein fuhr, aber sie hatte trotzdem Spaß. Feine Schneeflocken wehten ihnen entgegen und sie atmete die frische Luft tief ein. „Und? Was sagst du?“, fragte sie neugierig. Sie war gespannt, wie Makotos Urteil ausfallen würde. „Nicht schlecht. Nur ungewohnt“, gab er ehrlich zu, was Gou positiver auffasste, als wenn er versucht hätte, falschen Enthusiasmus vorzuweisen. Es machte sie froh, dass Makoto es nicht mehr für nötig hielt, sich in der aktuellen Situation selbstaufopfernd zu verhalten. „Willst du meine Hand loslassen?“, fragte sie. Ob er mutig genug war, es allein zu versuchen? „Nicht wirklich“, nuschelte Makoto und die Art, wie er verneinte, beschleunigte Gous Herzschlag. Sie fügte sich seinem Wunsch und drehte eine weitere Runde. Dabei konnte sie jedoch spüren, dass Makotos Beine arbeiteten und er tatsächlich versuchte, selbstständig zu laufen. Die wenigen Zentimeter, die sie ihn bisher hinter sich hergezogen hatte, verschwanden. Sie fuhren Seite an Seite, was das Bild, das sie abgaben, vollkommen veränderte. Während sie eben noch wie eine Lehrerin und ein unbeholfener Schüler ausgesehen hatten, wirkten sie nun wie ein Pär– „Ah!“ Gous Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als Makoto plötzlich ruckartig an ihrer Hand zog. Erschrocken weiteten sich ihre Augen und es drang ein erstickter Laut aus ihrer Kehle, als sie spürte, wie sie fielen. Mit einem dumpfen Geräusch kam Makoto auf dem kalten und harten Eis auf, Gou folgte nur einen Sekundenbruchteil später – mit dem Unterschied, dass sie sehr viel weicher landete. Die Augen, die sie vor Schreck zusammengekniffen hatte, öffneten sich überrascht, als er Aufprall nicht so schmerzhaft ausfiel, wie erwartet. Makoto hingegen ächzte. Warmer, hektisch ausgestoßener Atem streifte ihr Ohr. Nun drang auch zu Gou durch, dass es Makotos Körper war, der ihren Sturz gedämpft hatte. „Makoto-senpai!“, japste sie besorgt. „Hast du dir etwas getan?“ So schnell wie möglich bemühte sich Gou darum, ihn nicht länger mit ihrem Gewicht zu belasten, indem sie sich aufsetzte. Auch Makoto richtete sich auf und rieb sich den Arm. Gründlich tastete er diesen ab und bewegte ihn ein paar Mal prüfend. „Vermutlich nur ein blauer Fleck. Nichts passiert“, versicherte er. „Es tut mir leid, ich habe das Gleichgewicht verloren. Ist bei dir alles in Ordnung?“ Er nahm Gou abschätzend ins Visier, doch sie nickte sofort. „Das war keine Absicht“, entschuldigte auch sie sich. „Ich hatte nicht vor, dich als Landekissen zu missbrauchen.“ „Es war mir eine Ehre“, gab Makoto belustigt zurück. Er rappelte sich langsam auf und dieses Mal war er es, der Gou die Hand reichte, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Gou blinzelte die ausgestreckte Hand an, lächelte dann aber und ließ sich von Makoto auf die Beine ziehen. In einer mittlerweile fast natürlichen Geste verhakten sich ihre Finger ineinander und für Gou bedeutete sie nur eins: Keiner von ihnen hatte Angst vor einem weiteren Sturz. Das Piepen einer eingehenden Textnachricht holte sie aus ihren Gedanken. Mit der freien Hand zog Gou ihr Mobiltelefon hervor. „Es ist Nagisa-kun“, klärte sie Makoto auf und mit jedem weiteren Wort, das sie der Nachricht entnahm, funkelten ihre Augen stärker. „Er und Rei-kun dürften jeden Augenblick da sein!“ „Dann wird aus unserem gemeinsamen Tag doch noch etwas. Wir können sie vom Bahnhof abholen“, sagte Makoto erfreut und Gou nickte begeistert. „Gou-chan?“, sprach er sie zögerlich an, während sie eine Antwort tippte. „Mh?“ „Lass uns das so bald wie möglich wiederholen. Das ist mein Wunsch.“ Ruckartig sah Gou auf. „Wirklich?“ „Wirklich.“ Sie strahlte Makoto an und verspürte das Bedürfnis, ihn zu umarmen, aber sie wollte nicht riskieren, dass er morgen mit noch mehr blauen Flecken aufwachte. Deshalb widmete sie sich ganz schnell wieder ihrer Nachricht an Nagisa, konnte jedoch das kribbelnde Gefühl im Bauch nicht ignorieren. Während sie beschäftigt war, wandte sich Makoto leicht von ihr ab. „Dort drüben scheint irgendetwas los zu sein“, stellte er fest. Stirnrunzelnd sah Gou auf und spähte in die Richtung, aus der das Getuschel einer Menschentraube kam. Als sie entdeckte, was – oder eher wer – für den Trubel sorgte, riss sie die Augen auf. Im selben Moment drückte Makoto ihre Hand fester und spannte sich an. Er hatte es auch bemerkt. „Haru!“, rief er panisch. Zehn, vielleicht zwanzig Meter von ihnen entfernt stand Nanase Haruka und starrte mit dem üblichen, verschlossenen Blick auf das Eis vor seinen Füßen. Er hatte sich bereits aus seiner Jacke geschält und zog sich den blauen Pullover über den Kopf. Dieser Anblick war so absurd und doch so bekannt, dass Gou fassungslos den Kopf schüttelte, bevor sie losprustete. „Haruka-senpai“, gluckste sie, doch Makoto schien ihre Erheiterung nicht zu teilen. Alarmiert war sein Blick auf den sich ausziehenden Haruka fixiert und bevor er darüber nachdenken konnte, hatte er Gous Hand bereits losgelassen. Zu ihrer großen Verwunderung, glitt er ohne zu zögern mitten über die Eislaufbahn, direkt auf Haruka zu. „Haru, zieh dich wieder an!“, hörte Gou seine sich von ihr entfernende Stimme und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. Glücklich betrachtete sie Makotos Rücken. Er fuhr selbstständig über das Eis, ganz ohne ihre Hilfe. „Warte auf mich!“, rief sie ihm nach und eilte ihm, immer noch lachend, hinterher. Es wunderte sie nicht wirklich, dass Haruka sie gefunden hatte – oder eher: das einzige im Winter, das an Wasser erinnerte. In diesem Moment war Gou fest davon überzeugt, dass sie immer davon umgeben waren. Egal zu welcher Jahreszeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)