Das Blut der Mana-i von Elnaro (Der König von Kalaß) ================================================================================ Kapitel 5: Schwarzer Mond von Aranor ------------------------------------ Prinzessin Siva und Prinz Aiven nehmen eine andere Route nach Süden, als sie gekommen sind. Diese hier verläuft an der autonom geführten Festungsstadt Kalaß vorbei. Formal gehört diese zum Königreich Roshea, doch sie nimmt einen Sonderstatus innerhalb des Landes ein. Noch immer besitzt sie einen eigenen Staatsaufbau, der aus der Zeit stammt, bevor sich der Stadtrat dazu entschlossen hat, sich Roshea anzuschließen. Die alte Festungsstadt stellt eine Art Überrest des einst mächtigsten Landes des Kontinents dar, nämlich dem Königreich Kalaß, welches der Ewige König Ramon bei seinem Fall mit sich riss. Das amtierende Königspaar Nico und Kara, welches ursprünglich aus dieser Stadt stammt, hat in Kalaß eine Art Ferienvilla, die sie und ihre Tochter jedes Jahr einmal für eine Woche besuchen, deshalb kennt sich Siva auch einigermaßen aus. Wie auch sonst, hat sie selbstbewusst die Führung übernommen. Die zwei Königskinder beschließen etwas länger als einen Tag in der Stadt zu verweilen, um sich etwas auszuruhen. Sechs Tage haben die beiden bis hierher benötigt. Siva, die eigentlich keine Freundin von weiten Reisen ist, beklagt sich in zunehmenden Intervallen über die Langeweile. Aiven hingegen, hat seit Tagen mit einem schweren Muskelkater in den Oberschenkeln zu kämpfen, den er einfach nicht in den Griff bekommt. Direkt hinter dem Kalaßer Eingangsportal und den gigantischen grauen steinernen Festungsmauern, liegt der Markt mit seiner Kathedrale des Windgottes. Anders als in den anderen Gotteshäusern, sind hier keine Abbilder des namensgebenden Gottes zu sehen, sondern nur Windsymbole und Pfaue. Der Pfau ist zudem auch das Wappentier der Festungsstadt und zierte einst die grünen Flaggen des mächtigen Königreiches. Da sie das Siegel dieses Gottes bereits in Besitz haben, lassen sie das imposante Gebäude links liegen und reiten in die schmalen Gassen der Stadt ein. Die meisten Wege müssen sie hintereinander zurücklegen, weil die Straße an einigen Stellen so eng sind. Früher diente diese enge Bauweise wohl der Stadtverteidigung, heute ist sie nur noch lästig. Als sich Siva in einer Straße irrt und diese überraschenderweise von einem der vielen Wasserkanäle geschnitten wird, über den keine Brücke führt, springt sie ungestüm mit ihrem Pferd über das Rinnsal. Aiven, der nicht ganz so abenteuerlustig ist, bleibt nichts anderes übrig, als es ihr gleichzutun. Beim harten aufkommen des Pferdes auf der anderen Seite des Kanals, stöhnt er vor Schmerzen über seinen Muskelkater: „Auaa, verflixt, quäl mich doch nicht so und gib wenigstens zu, dass du dich verfranzt hast!“ Stolz trabt die junge Frau mit ihrem Pferd davon, ohne zu antworten. Sie hat keine Schmerzen und fühlt sich von seinen Worten angegriffen. Sie hat sich nicht verlaufen, auch wenn für ihn alle Straßen gleich aussehen mögen, hat sie die Orientierung nicht verloren. Ihr Ziel ist das Kalaßer Rathaus, wo der Schlüssel für die Ferienvilla verwahrt wird und selbstverständlich weiß sie ganz genau wo es sich befindet. Nur zwei Gässchen weiter erscheint plötzlich das mit Pfauenreliefs verzierte Rathaus auf der linken Seite. Der geschundene Prinz muss sich entschuldigen Siva ein schlechtes Orientierungsvermögen unterstellt zu haben, was in ihren Ohren wie Musik klingt. Sie machen die Pferde vor dem Rathaus fest und treten hinein. Bereits in der Stadt ist die Prinzessin schon einige Male von einigen Bürgern erkannt und ehrfürchtig begrüßt worden und auch hier im Rathaus wird sie sofort angemessen willkommen geheißen. Es dauert nicht lang, bis die alte Farsa Gena, die schon unzählige Jahre im Stadtbetrieb arbeitet, die beiden in der Haupthalle empfängt. Die vollständig ergraute alte Dame ist nicht mehr gut zu Fuß, doch ihr Verstand ist nach wie vor hell wach und sie denkt gar nicht daran sich zur Ruhe zu setzen. Die Stadträtin freut sich ungemein über den überraschenden Besuch. „Die Königskinder, wie wunderbar. Was treibt Euch denn nach Kalaß?“ Respektvoll beantwortet die junge Prinzessin die Frage. „Frau Stadträtin, wir sind nur auf der Durchreise. Würden Sie uns bitte den Schlüssel für die Villa aushändigen, den Sie verwahren? Wir möchten ein paar Tage in der Stadt bleiben.“ „Prinzessin Siva und Prinz Aiven, was für eine erfreuliche Konstellation. Natürlich übergebe ich Euch den Schlüssel sehr gern, eure Hoheit.“ Wo es gerade so gut läuft, traut sich Siva noch eine andere Bitte zu äußern: „Wissen Sie, das hier ist eine Studienreise. Es mag zwar etwas vermessen klingen, aber würden Sie uns bitte Zutritt zu den geheimen Archiven von Kalaß gewähren?“ Überrascht sieht die alte Dame zum Prinzen, dessen Gesichtsausdruck ihrem ähnlich ist. „Natürlich dürft Ihr in die Archive, wenn Ihr eine Erlaubnis vom König bei Euch tragt.“ Siva erwidert ertappt: „Das ist es ja gerade. Wir haben keine.“ Farsa Gena lächelt sanft, aber bestimmt. „Ohne ausdrücklicher Erlaubnis des Königs, darf ich keiner Menschenseele Zutritt zu diesen Räumen gewähren. Es tut mir leid, Eure Hoheit. Wenn Ihr möchtet, werde ich die Genehmigung umgehend beantragen.“ Ein bisschen geschockt von diesem Vorschlag, weicht Siva ein kleines Stück zurück. „Nein, nein, das ist nicht nötig, denn so lange wollen wir uns nicht in der Stadt aufhalten. Vielen Dank, Frau Stadträtin. Aber in der normalen Stadtbibliothek dürfen wir uns doch umsehen, oder?“ „Aber natürlich. Sie steht Euch jederzeit offen.“ Die Königskinder verabschieden sich und gehen die zweihundert Meter bis zur Villa zu Fuß. Um die Pferde hat sich bereits jemand gekümmert. Sivas Ziel war es in den geheimen Archiven etwas über das Ableben des Ewigen Königs Ramon herauszufinden, über das kaum etwas bekannt ist. Wenn es sich bei der mysteriösen Höhle an der Quelle des Lanim wirklich um sein Grab handeln sollte, müssten dann dazu nicht irgendwelche Aufzeichnungen existieren? Siva ist sich sicher, dass es welche geben muss, doch sie vermutet diese in den geheimen Archiven der Stadt und nicht in den öffentlich zugänglichen. Einer Beantragung einer Zugangsberechtigung kann sie jedoch auf keinen Fall zustimmen. Nicht nur, dass ihr Vater ihr diese nicht ausstellen würde, nur für den bloßen Gedanken an die geheimen Schriften würde er sie tadeln, was ihrem Herzen schwere Stiche versetzt. Wie enttäuscht wird er ohnehin schon von ihr sein, weil sie das Windsiegel entwendet hat? Sicherlich weiß er schon Bescheid. Sie weiß um seine Gunst sie bei ihrem Vorhaben gewähren zu lassen, wenngleich sie unter ihrem Verrat sehr zu leiden hat. Andererseits hat er es nicht anders gewollt. Er hätte zur rechten Zeit mit ihr reden sollen. Trotzig entscheidet die junge Frau an ihrem Vorhaben festzuhalten. Mit dem Notizbuch im Gepäck machen sich die beiden Aristokraten gleich am nächsten Tag auf in die Bibliothek, um nach weiteren Fakten zu König Ramon zu suchen. Es dauert nicht lang, bis sie in einem Buch einen Kupferstich vorfinden, der einen Raum in der Tarbasser Festung in Kalaß darstellt. Auf dem Boden des Zimmers ist ein Relief zu sehen, das Aiven bekannt vorkommt. „Das habe ich schon mal gesehen. Zeig mal das Notizbuch, Hübsche!“ Ruft er, an einem Tisch sitzend seiner Freundin zu, die zwei Gänge weiter an einem Bücherregal steht. Niemand anders hält sich im Archiv auf, sodass sie keine Rücksicht zu nehmen brauchen. Das Kosewort überhörend, eilt Siva herbei und schlägt es erfreut über seine Entdeckung auf, um darin zu blättern, bis sie bei einer speziellen Zeichnung von Nico angekommen ist. „Das ist es, dasselbe Relief. Sehr gut gemacht, Aiven. Manchmal bist du ja doch zu etwas nütze.“ Er wehrt sich gegen diese unverschämte Aussage: „Manchmal? Ohne mich hättest du bisher immer noch nur das Windsiegel.“ Sie lacht laut, weil ihre Neckerei funktioniert hat. Dann schaut sie sich ertappt um, da ihr Ausbruch einen lauten Widerhall erzeugt hat. Sie möchte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken und dass nach wie vor niemand zu sehen ist, erleichtert die Prinzessin. „Das weiß ich doch, Aiven. Das weiß ich doch. Komm, wir sehen uns das vor Ort an!“ Beschwichtigt willigt er ein. Sie stellen das Buch zurück, verlassen die Bibliothek und gehen, aufgeregt etwas entdeckt zu haben, zu Fuß bis zur alten Tarbasser Festung, die von allen Seiten gut sichtbar auf einem Hügel mitten in der Stadt thront. Nachdem Kalaß vor zwanzig Jahren besetzt worden war, ist die Festung teilweise renoviert und öffentlich zugänglich gemacht worden. Die zwei Königskinder benötigen mehr als eine viertel Stunde, bis sie die Serpentinen des bewaldeten Hügels unterhalb der Festung erreichen und der Aufstieg dauert noch einmal so lang. Die Burg ist inzwischen ein beliebtes Ausflugsziel, weshalb die beiden nicht allein sind. Immer wieder werden Siva und auch manchmal Aiven erkannt, was ihren Gang entschleunigt. Sie durchschreiten das Hauptportal der Festung und treten hinein. Siva erinnert sich an die Geschichten, die ihr in ihrer Kindheit von ihrem Vater über diesen Ort erzählt wurden. Er war als junger Mann beim Rosheanischen Militär in dieser Burg stationiert und hat von hier aus im Alleingang die Besatzung seiner eigenen Königin gestürzt. Wie genau er das angestellt hat, ist dem Mädchen bis heute allerdings ein Rätsel geblieben, da er ihr nie eine wahrhaft plausible Erklärung dafür lieferte. Seine Königin zu verraten ist schon harter Tobak, findet Siva, doch damit nicht genug, ein halbes Jahr später ermordete er sie wahrscheinlich sogar und ließ sich selbst krönen. Was sich genau abgespielt hat, liegt im Schleier seiner Verzerrungen. Selbst für seine Tochter ist er ein mysteriöser Mann. Was wirklich vorgefallen ist, wissen nur er und Kara und zu Sivas Verbitterung, verweist ihre Mutter immer nur auf ihn. Die Prinzessin behält diese Geschichten immer im Hinterkopf, wenn sie mit ihrem Vater verkehrt. So einen Karriereaufstieg erreicht man nicht mit einem so einwandfreien Charakter, wie er ihn zu haben vorgibt. Da Aiven bemerkt, dass sein Mädchen in Gedanken zu schwelgen scheint, übernimmt er die Führung durch die Festung. Er muss nicht lange nach dem Bodenrelief suchen, denn es befindet sich direkt in der Haupthalle. Sie vergleichen Nicos Zeichnung aus der Höhle mit dieser Bodenplatte hier und stellen einige kleine Unterschiede fest. In der Hoffnung, dass eine wichtige Information darunter sein könnte, zeichnet Siva diese Bodenplatte ebenfalls ab. Ganz so begabt wie ihr Vater ist sie zwar nicht, aber es wird reichen. Darauf zu sehen ist der ewige König Ramon in einer Rüstung, welche drei der vier göttlichen Siegel trägt, Wind auf der Brust, Feuer am rechten Arm und Wasser am Linken. Vermutlich wird sich das Erdsiegel auf der Rückseite der Rüstung befinden, die nicht abgebildet ist. Ob es sich dabei um die tatsächlichen Siegel, oder nur Verzierungen handelt, ist dem Relief nicht zu entnehmen. Hierauf sind alle Schriftzeichen zu lesen, die auf der alten Zeichnung nur schemenhaft übertragen wurden: „26. KOENIG VON KALAß † TERA SERIS I“ und „RAMON RANDA MANAI * TERA NIS 4322“. Es unterscheidet sich zudem noch an einer anderen Stelle. Siva glaubt Nico habe den Ewigen König mit einem leicht geöffneten Mund dargestellt, wohingegen er auf dieser Platte vollständig geschlossen ist. Das kann ein kleiner Fehler in der Zeichnung sein, oder eben auch ein Hinweis. Sie versucht das Gesicht so detailliert wie möglich zu übertragen. Sie bleiben noch zwei weitere Tage in Kalaß, können aber zu ihrer Enttäuschung keine weiteren Hinweise finden, weshalb sie am vierten Tag abreisen. Eine hinreichende Begründung für den Fall des Königs konnten sie nirgends aufspüren und Informationen zur Exekution oder dem Bestattungsort des Aristokraten sind ebenfalls nicht offiziell zugänglich. Aber auch wenn sie das Geheimarchiv nicht betreten konnten, sind sie zuversichtlich. Sie benötigen ja nun nur noch das Wassersiegel. Die Reise nach Aranor verläuft weitestgehend problemlos. Aivens Muskelkater hatte genügend Zeit sich zurück zu bilden und Siva hat begonnen während der Reise ohne Unterlass ihre Vermutungen bezüglich des Krieges vor über zweihundert Jahren zwischen Kalaß, Roshea und Yoken zum Besten zu geben. Langweilig wird ihr dadurch jedenfalls nicht mehr. Sie versucht Gründe zu erfinden warum König Ramon in Wahrheit gar nicht an Wahnsinn und Größenwahn litt, sondern einfach nur missverstanden wurde und sich die Welt gegen ihn verschwor, was der Prinz für aus der Luft gegriffen empfindet. Für ihn liegt die Sache klar auf der Hand. Ein König, der glaubt gottgleich zu sein, zieht gegen zwei Länder in den Krieg, um sie von seiner erhabenen Macht zu überzeugen und scheitert, selbstverständlich. Klar, dass sie versucht sich damit selbst zu schützen, da sie aus Ramons Blutlinie stammt. Wer möchte schon von einem Wahnsinnigen abstammen? Weiterhin studieren die wissbegierigen Königskinder Nicos Aufzeichnungen. Laut seinen Aussagen hat sich die Kathedrale im Süden der riesigen Wüstenstadt Aranors befunden. Je weiter die beiden nach Süden vordringen, desto heißer werden die Tage und Nächte. Der warme Wüstenwind sorgt kaum für Abkühlung. Sie werden sich jedoch an die Hitze gewöhnen müssen, denn in diesen Breitengraden werden sie sich noch einige Zeit bewegen müssen. Aiven hat inzwischen etwas Farbe bekommen, was ihm zu seinen fast weißen Haaren sehr gut steht. Als sie am vierten Tag in die belebte Stadt Aranor einreisen, fällt er allerdings sehr auf. Nicht nur seine hellen Haare, die gleißend in der Sonne erstrahlen, sondern auch seine hellen Augen kennzeichnen ihn als Ausländer. Da die Königskinder auf den Spuren der Kathedrale in die stark bevölkerte Altstadt von Aranor müssen, kaufen sie ihm ein dunkles Tuch, das sie ihm wie eine Kapuze über die Haare legen. Ganz zufrieden ist er damit nicht, denn er verbirgt sein Gesicht nicht gern, doch nun kann er sich wenigstens etwas freier bewegen, ohne von allen gemustert zu werden, was vor allem auch für Siva eine Erleichterung darstellt. Die Altstadt liegt im Süden Aranors und grenzt weder an den Trinkwassersee Lanima, oder den Umschlaghafen noch an die Handelsrouten in den Norden, was sie zum ärmsten Viertel der Stadt macht. Die wird dominiert von einfachen zweistöckigen Steinhäusern und Baracken, die sich entlang vieler schmaler Straßen aufreihen. So reich die neueren Stadtteile auch sein mögen, in diesem hier kommt davon anscheinend nicht viel an, findet Siva. In ihren Augen leben die Menschen hier äußerst bescheiden und ärmlich. Warum tut ihr Vater nichts dagegen? Er hat doch viele Jahre seines Lebens hier verbracht und sollte von den Zuständen in der Altstadt wissen. Die Straßen sind staubig vom Sand der nahen Wüste. Die Hitze ist bereits jetzt im späten Frühjahr schon schwer erträglich, aber die Menschen scheinen sich damit arrangiert zu haben. Viele sind recht freizügig unterwegs, andere ziehen es vor ihre Haut vor der Sonne vollständig zu schützen. Vor allem junge Menschen neigen dazu eher weniger zu tragen, was der Prinz nicht uninteressant findet. Auch wenn er sein Traummädchen bereits gefunden hat, schaut er sich trotzdem gern die braun gebrannten aranoischen Mädchen an. Immer wieder begegnen den beiden bettelnde Menschen an den Straßenrändern, die ihre Hand für eine Gabe aufhalten. So etwas hat Siva in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Jedem von ihnen gibt sie etwas Geld. Sie beobachtet, wie einige Bettler von Rosheanischen Soldaten vertrieben werden, was die normale Bevölkerung überhaupt nicht zu stören scheint. Die junge Frau kann das nicht verstehen. Warum wird den Armen nicht geholfen? Die anderen Menschen bedanken sich im Anschluss auch noch bei den Soldaten und grüßen sie freundlich. Es ist nicht so, dass sie Mitleid hätte, aber sie sieht es als Unrecht an. Aiven hat weniger Probleme mit den angeblich prekären Zuständen, als damit, dass Siva das ganze Geld an Fremde verteilt. „Gib ihnen doch wenigstens nur etwas Kuper und nicht unsere Silberstücke!“ gibt er besorgt zu bedenken. „Wenn du so weiter machst, bekommen sie die paar Goldstücke, die wir noch haben.“ antwortet sie giftig und fügt hinzu: „Siehst du dieses Unrecht nicht? Sollten sich Menschen nicht untereinander helfen?“ Er zuckt mit den Schultern. „Ehrlich gesagt nicht. Wenn das hier das ärmste Viertel sein soll, dann bin ich wirklich positiv überrascht. Alle scheinen einer Beschäftigung nachzugehen und kaum jemand lungert auf der Straße herum. Ich glaube fast, dass diese Bettler nur keine Lust haben ehrlich zu arbeiten. Das finde ich ungerecht.“ Die Prinzessin ist gar nicht begeistert von Aivens Pragmatismus, weshalb sie seine Antwort ignoriert und in strengem Ton einen der Soldaten zu sich befehligt, der gerade den Bettler vertrieben hat. „Hey Feldwebel, kommen Sie mal kurz zu mir!“ Aiven greift sich bestürzt an die Stirn. Das Prinzesschen führt sich auf als sei sie noch im Schloss von Nalita und hätte eine Weisungsbefugnis für die Männer. Überrascht folgt der Soldat der Anweisung des Mädchens. Freundlich, aber nicht unterwürfig fragt er: „Gibt es ein Problem, junge Frau?“ Sie stemmt ihre Arme in die Hüften und baut sich vor ihm auf. „Ja, das gibt es, Feldwebel. Was denken Sie sich dabei diesen armen Mann von der Straße zu jagen?“ Der Soldat kann nicht an sich halten und beginnt zu lachen. „Sie sind wohl neu hier, junges Fräulein?“ Aiven schämt sich für seine Begleitung. Er will die Hand gar nicht wieder vor den Augen wegnehmen. Immer noch genau so selbstgefällig bleibt Siva vor dem lachenden Soldaten stehen, ohne auch nur den kleinsten Muskel zu bewegen. „Ich wüsste nicht was Sie das angeht. Erklären Sie sich!“ befiehlt sie hart. Der Feldwebel braucht einen Moment, um sich wieder zu beruhigen. Dieses Kind ist einfach zu komisch. Es hat sich inzwischen eine kleine Traube um die beiden gebildet, weshalb er an sie heran tritt und mit seiner Hand ihren Rücken berührt, um sie von der belebten Straße zu führen. Immer noch etwas kichernd sagt er sanft zu ihr: „Kommen Sie etwas an den Straßenrand, damit wir die Menschen nicht bei ihrer Arbeit behindern. Dann erkläre ich Ihnen alles in Ruhe.“ Für Aiven ist dies das Stichwort zu ihr aufzuschließen. Er gesellt sich zu den beiden. Sie wütet: „Zum Glück habe ich dem armen Mann zwei Silberstücke gegeben, bevor Sie Rüpel ihn verjagt haben. Ein gutes und gerechtes Königreich sollte für alle Menschen gleichermaßen da sein.“ Nun völlig gefasst und entspannt antwortet der junge Feldwebel: „Das hätten Sie nicht tun sollen, denn das bestärkt ihn nur in seiner fehlgeleiteten Ansicht. Menschen wie er zerstören das Selbstverständnis der Bürger von Arbeit und Entlohnung. Wenn er zwei gesunde Hände hat, dann kann er auch etwas leisten.“ Aiven grinst die empörte Prinzessin an. „Es ist wie ich es gesagt habe. Hör auf den Mann!“ Sie baut sich nun vor den beiden jungen Männern auf. „Jetzt hört ihr beide mir mal schön zu! Dass hier Menschen diskriminiert werden und es keinen zu interessieren scheint, ist ein Armutszeugnis für ganz Roshea!“ Der Soldat hebt beschwichtigend die Hand. „Jetzt mal langsam, junges Fräulein. Hier wird keiner diskriminiert, denn-“ Sie schneidet ihm das Wort ab. „Von wem haben Sie überhaupt die Erlaubnis so etwas zu tun?“ Perplex antwortet er: „Die Anweisung stammt vom König.“ Siva weicht zurück. Von Nico höchst persönlich? Seit wann ist er denn ein Menschenfeind, der Klassengesellschaften duldet? Endlich ist sie bereit zuzuhören, sodass der Feldwebel seine Erklärungen ausführen kann. „Der König hat die Armut hier in der Stadt fast vollständig besiegt. Ich stamme von hier, bin in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen. In diesem Stadtviertel gab es manchmal kaum noch Wasser oder etwas essbares. Meine Familie hatte nichts, keine Arbeit, kein Geld. Mit Unterstützung von Hilfstruppen wurden Wasserläufe hierher verlegt und Brunnen gegraben. Der König hat die Menschen ohne Arbeit dazu aufgefordert dabei zu helfen die Stadt wieder aufzubauen, hat Lehrmeister aus den anderen Stadtteilen hier her beordert, um uns Berufe zu Schulen und so weiter. Er hat den Handel mit anderen Stadtteilen und der Welt da draußen aufleben lassen. Das alles hat viele Jahre gedauert, doch heute sind wir kein verarmter Slum mehr. Wir sind stolze Bürger Aranors. Jeder von uns trägt einen Teil dazu bei diese Stadt noch ein bisschen schöner und gerechter zu machen. Die einzigen, die dies nicht tun, die nicht bereit sind den Aufbau der Stadt zu unterstützen, sind diese Bettler. Sie sind Feinde des Königs. Sprechen Sie sie darauf an, wenn Sie mir nicht glauben, junges Fräulein! Diese Halunken können froh sein, dass wir sie nur vertreiben und nicht einsperren.“ Sie ist etwas beschwichtigt, denn das klingt schon eher nach ihrem Vater, in den sie so großes Vertrauen hegt. „In Ordnung, Feldwebel. Ich werde Ihre Aussage überprüfen. Sie dürfen wegtreten.“ Kichernd den Kopf schüttelnd hebt er die Hand als Abschiedsgruß. „Tun Sie das.“ Ihm ist klar, dass es sich bei dem Mädchen nur um einen verzogenen Adelsspross handeln kann, was ihn überaus amüsiert. Nachdem er verschwunden ist, packt Aiven die junge Frau an den Schultern. „Siva, du bist hier nicht im Schloss von Nalita. Es wäre schön du würdest dich etwas mäßigen und dich wie eine normale Bürgerin verhalten. Wenn es dein Ziel ist, aufzufallen, dann kann ich das Tuch um meinen Kopf auch wieder abnehmen. Es ist nämlich ganz schön warm darunter.“ Anstatt einzulenken, schimpft sie: „Du hättest mich ruhig auch mal ein wenig unterstützen können.“ Er kichert so ähnlich, wie es der Soldat zuvor getan hat und tätschelt dabei ihren Kopf. „Fehlgeleiteten Dickköpfen sollte man nicht im Weg stehen. Ich hätte dir schon geholfen, wenn es notwendig gewesen wäre.“ Sie schnalzt mit der Zunge. Auf ihrer Suche nach den Überresten der Kathedrale, werden sie schon noch einen weiteren Bettler finden, den sie befragen kann. Erst einen Tag später wird sie fündig. Die Soldaten haben anscheinend ganze Arbeit geleistet. Die Person in der Kutte sitzt, seine Hand aufhaltend, an einer schattigen Häuserwand auf der Hauptstraße. Anstatt dem Bettler, etwas zu geben, setzt sich die Prinzessin zu ihm. Sie sieht unter seine Kapuze und erkennt einen Mann mit scharfem Blick. Er ist Mitte fünfzig und macht keinen ärmlichen oder ausgehungerten Eindruck. Selbstbewusst spricht sie ihn an: „Dürfte ich fragen, warum Sie betteln und nicht arbeiten gehen?“ Er rückt ein Stück von ihr weg und hält ihr, die Frage ignorierend, vehement seine Hand entgegen. „Ich bitte um eine Spende.“ Aiven setzt sich auf die andere Seite neben den Unbekannten, der sich nun bedrängt fühlt. Nach wie vor freundlich, stellt ihm Siva eine weitere Frage: „Für welchen Zweck sammeln Sie denn?“ „Meine Frau und meine drei Kinder.“ antwortet der Mann knapp, was der Prinzessin als Antwort noch nicht ausreicht. „Aber warum gehen Sie denn nicht arbeiten wie alle anderen in der Stadt? Sie können doch arbeiten, oder?“ Als hätte er ihre Frage ein weiteres Mal nicht verstanden, gibt er nichts weiter von sich Preis. „Ich bitte Sie, gute Frau. Helfen Sie mir und meiner Familie.“ Da Sivas Taktik nicht funktioniert, probiert Aiven eine andere aus. „Mein Herr, lassen Sie mich erklären, was mein Mädchen von Ihnen hören will. Wir beide entstammen dem Adel, der unter der verlogenen Herrschaft des Königs sein Ansehen verloren hat. Wir hörten es gäbe hier in Aranor eine Bewegung gegen ihn, die wir gern finanziell unterstützen würden. Sind wir nun bei Ihnen richtig oder nicht?“ Der Mann in der Kutte hebt seinen Kopf nicht in Richtung des jungen Mannes der ihn gerade angesprochen hat, sondern in die Richtung des Mädchens. Wenn er gelogen hat, dann wird es sich in ihrem Gesicht abzeichnen. Siva mag innerlich zerrissen über die Aussage Aivens sein, doch bereits in jungen Jahren hat sie es gelernt ihre Gesichtszüge zu kontrollieren. Sie nickt dem Mann entschlossen zu. Auch wenn er keine Lüge in ihren Augen erkennen kann, so antwortet er: „Dann lasst euer Geld hier und verschwindet!“ Er weiß nichts von einer weiteren Gönnerfamilie und die beiden sind ihm suspekt. Der Prinz steht auf. „Einem Handlanger wie dir übergeben wir unser Vermögen nicht. Komm, meine Liebe, wir gehen.“ Sie tut es ihm gleich und die beiden wenden sich ab, um zu gehen. „Ich werde eure Aussage prüfen, Kinder.“ Dem Bettler den Rücken zugedreht, hebt Aiven die Hand zum Abschied. Sie gehen ein paar Straßen weiter, bevor Siva den Prinzen am Arm packt und ihn an eine Häuserwand drückt. „Oh Siva, schon wieder so ein Überfall“ grinst er. Schien sie doch bis eben noch so gefasst, so wütet sie nun los: „Bist du von Sinnen? Der Typ prüft jetzt wer wir sind.“ Der junge Prinz kräuselt die Lippen. „Das ist zugegebenermaßen ungünstig.“ „Kannst du nicht wenigstens ein einziges mal denken, bevor du handelst? Wir müssen umgehend die Kathedrale finden, das Sigel nehmen und dann schleunigst von hier verschwinden!“ Er atmet schwer aus. „Verdammt, du hast recht. Tut mir leid.“ „Ich weiß, dass ich recht habe, aber das hilft uns jetzt nicht weiter. Wir müssen uns beeilen.“ Siva bindet sich nun auch ein Tuch um den Kopf, um nicht so schnell wiedererkannt zu werden. Nur wenige Straßen weiter, in einer weniger besuchten Gasse, finden sie die Ruinen der Kathedrale. Sie ist etwa zur Hälfte eingestürzt. Die Trümmerteile wurden bereits für neue Häuser verwendet. Alles was aus eigener Kraft noch steht, wurde jedoch ehrfürchtig so belassen. Zwei große Säulen ragen aus der Ruine empor. Die Rückwand mit dem Relief, auf dem eine anmutige Wassergöttin zu sehen ist, ist teilweise noch erhalten. Siva hält ihre Hand empor, hinauf zu einer sichelförmigen Kerbe. Die beiden wundern sich nicht, dass das Juwel aus dieser offen liegenden Wand entfernt wurde. Mehrere Stunden suchen sie das Gelände erfolglos ab. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es schon vor vielen Jahrzehnten entfernt worden. Gebrochen setzen sich die beiden, ohne auch nur den kleinsten Hinweis erhalten zu haben, auf die Eingangsstufen. In ihrem Rücken befindet die große Freifläche der Ruine der Wasserkathedrale. Konsterniert schaut Siva im Kartenmaterial des Notizbuchs nach, das ihr jetzt auch nicht weiterhilft. Nico hatte das schwarze Siegel niemals gefunden und seine Aufzeichnungen werden ihr nicht verraten wo es jetzt ist. Sie blättert zu der Seite, auf der er das Siegel skizziert hat. „Schwarzer Mond von Aranor“ ist dort zu lesen. Das deutet wohl auf die halbmondform des schwarzen Juwels hin. Siva findet eigentlich, dass Nicos Zeichnung eher einem Fisch ähnlich sieht, denn ein Mond hat schließlich keine Schuppen, aber sei es drum. Die beiden starren angestrengt auf das Papier, denn irgendetwas haben sie vielleicht übersehen...irgendeinen Hinweis auf den Verbleib..., als ihnen ein Schatten das Licht raubt. Sie sehen verwundert nach oben. Ein offenbar sehr alter, graubärtiger Mann hat sich überraschend von hinten über die beiden gebeugt, um einen Blick auf die Zeichnung werfen zu können. „Was sucht ihr zwei Hübschen denn? Vielleicht kann euch ein alter Mann wie ich, der schon so lange in dieser Stadt lebt wie er denken kann, behilflich sein? Was habt ihr da? Wollt ihr es mir zeigen?“ Die Stimme des Alten klingt rau, doch sie hat den Rest einer Jugendlichkeit erhalten. Siva will das Notizbuch auf keinen Fall aus den Händen geben. Sie dreht sich zu dem alten, etwas verwahrlost aussehenden Zausel um und hält ihm das Büchlein entgegen. Seinen Gesichtsausdruck kann sie nicht erkennen, er hat seinen Hut so weit ins Gesicht gezogen, dass sie seine Augen nicht sehen kann und sein Bart verschleiert seine rechtliche Mimik. Sie kann nur versuchen seinen Tonfall zu deuten. „Das ist aber eine schöne Arbeit. Sucht ihr diesen Gegenstand? Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Tja, tut mir leid, Kinder. Ich kann euch anscheinend doch nicht helfen.“ Er löst seinen Blick, lacht verlegen und verschwindet dann so schnell wie er gekommen ist. „Was war das denn für einer?“ scherzt die Prinzessin abschätzig. Sie will das Buch zurück in ihre Umhängetasche tun, als sie bemerkt, dass diese weg ist. Unvermittelt schreit sie los: „Sie ist weg, Aiven! Hast du deine Umhängetasche noch?“ Ihm bleibt fast das Herz stehen, als er danach greift. Seine ist auch weg. Das Schlimme an der Sache ist, dass sich in diesen beiden Taschen alle drei Siegel befanden. „Der Alte von eben, er- er war ein Dieb!“ stammelt er fassungslos. „Siva, es tut mir so Leid, dass ich es nicht bemerkt habe!“ Sie stehen beide unter Schock. Die Siegel sind weg und die beiden Kinder werden aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Untergrundorganisation gesucht. Auf offener Straße wollen sie sich erst mal lieber nicht mehr blicken lassen. Aber was sollen sie nur tun? Siva ist den Tränen nahe, weshalb sie die Augen schließt, doch unmittelbar reißt sie sie wieder auf. „Aiven, wie blöd bin ich eigentlich? Ich kann doch das Windsiegel spüren. Wir brauchen nur meinem Gespür zu folgen.“ Aber natürlich. Er greift sich an den Kopf und entgegnet euphorisch: „Also dann, leg los, mein kleines Trüffelschweinchen!“, was sie nicht so lustig findet und ihm dafür einen Schlag auf den Arm verpasst. Die beiden folgen Sivas sechstem Sinn in eine unbelebte Straße, zu einem äußerst suspekten kleinen Laden, zu welchem man ein paar Stufen in das Subterrain gehen muss. Vorsichtig betreten sie ihn. Wertsachen aller Art liegen hier zu Spottpreisen verstreut und ungeordnet in mehrstufigen Regalen. Dieses Geschäft schreit doch förmlich das Wort „Diebesgut“. Ein Glöckchen klingelt, als sie die Tür hinter sich schließen. Durch eine weitere Tür hinter dem Tresen betritt ein junger, dunkelhaariger Mann den Raum, der kurz innehält und die beiden dann überzogen freundlich begrüßt: „Willkommen, die Herrschaften. Womit kann ich denn dienen? Ich habe allen möglichen Tinnef, Accessoires und Souvenirs im Angebot. Sie sehen aus als wären Sie nicht von hier. Bringen Sie Ihren Lieben zu Hause doch etwas typisch Aranoisches mit. Sie haben Glück, denn heute ist alles im Ausverkauf und alles kostet nur die Hälfte.“ Dass der junge Mann ein Schlitzohr ist, erkennen die beiden nicht nur an dem kleinen fehlenden Stück in seiner Ohrmuschel. Sein freches Gesicht tut sein übriges, zumal die beiden schon wissen, dass sich die Symbole in diesem Haus befinden müssen. Aiven hat keine Lust ein Verkaufsgespräch zu heucheln. „Wo ist der alte Zausel?“ Der schlitzohrige junge Mann stellt sich dumm: „Welcher alte Zausel denn? -“ Der Prinz hat nicht die Geduld sich diese Lügen anzuhören. Er packt den jungen Verkäufer über den Tresen hinweg am Kragen und zieht ihn zu sich heran, der als Antwort darauf verlegen lacht: „Ach, du meinst Großvater! Ja, der ist tatsächlich hier. Wie unhöflich ihn ‚Zausel‘ zu nennen. ‚Alt‘ ist er hingegen, das kann ich nicht leugnen. Ich gehe ihn holen, in Ordnung?“ „Vergiss es! Du bleibst schön hier! Ruf ihn her!“ raunt Aiven verständnislos. „Schon gut, mein Freund.“ entgegnet der Verkäufer kleinlaut, dann ruft er: „Opa, hier sind zwei junge Leute, die dich sehen wollen...Oooopaa!“ Er wendet sich an den Prinzen, der ihn immer noch am Kragen gepackt hält und kichert: „Er ist schwerhörig, tut mir leid. Lass mich bitte los, lieber Freund, damit ich ihn lauter rufen kann. Du schnürst mir die Luft ab.“ Aiven macht einen Kontrollblick zu Siva, die ihm widerwillig zunickt. Er lässt den Verkäufer los, der nun nicht mehr auf seinen Zehenspitzen, halb über den Tresen gezogen, balancieren muss, was ihn erleichtert durchatmen lässt. Er trägt einen schwarzen Schal, an den er sich jetzt fasst. Lauter als zuvor ruft er: „OPA, BESUCH FÜR DICH!“ Aus dem Zimmer hinter dem Tresen scheint die Antwort von einer Stimme zu kommen, die zu dem Alten passen würde. „Wie schön, schicke ihn zu mir herein.“ Der eingeschüchterte Verkäufer bittet die beiden hinter den Tresen. Siva hebt die Augenbrauen, folgt dieser Bitte jedoch und Aiven tut es ihr gleich. Sie betreten den unordentlichen Raum, der wiederum nur zu einem anderen noch unaufgeräumteren Raum führt. Die Prinzessin dreht sich um, doch plötzlich ist der freche junge Mann verschwunden, dabei war er gerade noch hinter Aiven. „Wo ist er?“ faucht sie. Aiven kann sich das auch nicht erklären. Aus dem Raum vor ihnen hören sie eine zittrige Stimme: „Kommt doch herein!“ Siva geht voran, wohingegen sich Aiven noch einmal im Verkaufsraum des kleinen Ladens umschaut. Von dem Verkäufer ist keine Spur mehr zu sehen. Tatsächlich sitzt im zweiten Hinterzimmer der alte bärtige Mann, den sie vorhin auf der Straße getroffen haben. Sie werden begrüßt von einem freundlichen: „Ach, ihr seid es wieder, wie schön. Möchtet ihr vielleicht etwas von meinen Enkel kaufen. Die Preise sind gut und -“ Siva unterbricht ihn: „Wir haben dich durchschaut, alter Mann. Wir wollen wieder haben, was du uns gestohlen hast.“ Der Alte stottert geschockt: „Was für ein amüsanter Scherz. Wie soll ein Greis wie ich euch junge Leute denn bestehlen?“ Siva schließt die Augen für ein Moment und zeigt dann mit ihrem Zeigefinger in Richtung eines Schrankes. Aiven folgt ihrem Fingerzeig, öffnet den Schrank und findet darin die beiden gestohlenen Umhängetaschen, die er herausnimmt und dann gut sichtbar baumeln lässt. Der Alte hüstelt in seinen Bart: „Na sowas! Wie kommen die denn da hin?“ Geduldlos antwortet Siva: „Stell dich du nicht auch noch dumm, Alterchen. Wir haben dich der Tat überführt. Wir nehmen uns zurück, was uns gehört. Wag es nie wieder uns zu bestehlen!“ Der Alte sieht ihnen geschockt dabei zu, wie sie ihm den Rücken zuwenden und bleibt stumm. Sie gehen durch die beiden Zimmer wieder aus dem düsteren kleinen Laden hinaus und sind tief erleichtert. „Zum Glück haben wir sie zurück.“ haucht Siva ein paar Schritte vom Geschäft entfernt, als ihnen der schlitzohrige junge Verkäufer plötzlich selbstsicher hinterher ruft: „Sucht ihr vielleicht das hier?“ Er wedelt mit etwas in seiner Hand herum. Die beiden Königskinder können ihren Augen nicht trauen. Was dieser Diebeskomplize da in der Hand hält, ist nichts anderes als das Wassersiegel oder zumindest eine Replik davon. Sivas Gespür wird von der Stärke der anderen drei Siegel so gestört, dass es ihr schwer fällt dieses einzeln auszumachen. Sie ist sich nicht sicher, ob es echt ist. Das kann sie nur prüfen, indem sie es berührt. Der fremde junge Mann lacht frech: „Hab ich es mir doch gedacht! Was soll‘s. Los, kommt wieder rein, ihr zwei!“ Er steckt den schwarzen halbmondförmigen Stein in seine Hosentasche. Die beiden Aristokraten schauen fassungslos sich an. Dann macht Aiven einen Schritt in Richtung Laden. „Das ist unser erster und einziger Hinweis, Siva. Dem müssen wir nachgehen.“ Sie nickt ihm entschlossen zu und die beiden gehen wieder ins Haus, hinein in das zweite Hinterzimmer von vorhin. Der alte Tattergreis ist verschwunden. An einem runden, kleinen Tisch nehmen sie Platz und der junge, dunkelhaarige Verkäufer stellt sich vor: „Ich glaube es hat keinen Sinn mich vor euch zu verstellen. Ich bin Zarihm. Talentierter Verkäufer, Schauspieler und Bauchredner-“ „und Dieb“ wirft Aiven ein. Der junge Mann aus Aranor ignoriert ihn. „Ich lebe allein und betreibe dieses Pfandhaus. Ich weiß schon, das ist es nicht, was euch interessiert. Ihr wollt wissen woher ich diesen Edelstein habe.“ „So ist es!“ entgegnet Siva ungeduldig, die immer noch eine ziemliche Wut auf den jungen Mann hat, der unbeeindruckt weiter spricht: „Aber zunächst zu euch. Ihr beide seid nicht von hier. Ihr entstammt zwei verschiedenen, gut situierten Häusern. Du, junge Frau, kommst wahrscheinlich aus Kalaß oder Nalita und der junge Heißsporn aus einem Land weiter im Norden. Warum auch immer, seid ihr von Zuhause weggelaufen und sucht nun nach dem schwarzen Edelstein, den ich in meiner Hosentasche habe. Euer Problem: der Stein befindet sich in meinem Besitz und das wird sich auch nicht ändern. Mein Problem: mein ganzes Leben beschäftige ich mich schon mit diesem Ding und ich weiß immer noch nicht was es ist. Ihr seid die ersten, die mir die Hoffnung geben etwas darüber herauszufinden. Deshalb habe ich auch eure Taschen geklaut. Ich dachte ihr habt dort weitere Aufzeichnungen drin, doch es waren nur noch mehr dieser Steine. Eure Klunker interessieren mich nicht, ich will nur wissen, was meiner für einer ist. “ Siva hat alles gegeben, um diesen Dieb, der sich als Zarihm vorgestellt hat, weder zu unterbrechen, noch ihn zu bedrohen. Anscheinend ist ihre Identität mehr oder weniger offensichtlich. Das ärgert sie, aber es tut auch nichts zur Sache. Aiven beschäftigt hingegen ein ganz anderer Gedanke: „Du warst selbst der alte Zausel?“ Zarihm lächelt frech und seine dunklen Augen beginnen zu funkeln. „Gut erkannt, mein Freund. Ich bin selbst der alte Mann. Manche Menschen verhandeln lieber mit alten Herren, anstatt mit jungen Kerlen wie mir. Vor allem, wenn sie ihre Wertsachen in die Pfandleihe geben müssen. Das ist für die meisten ein sehr persönliches Erlebnis. Leider läuft das Geschäft in der letzten Zeit nicht allzu gut. Viele haben genug Geld und es deshalb nicht mehr nötig sich welches zu leihen. Naja, wir sind eben ein aufstrebender Stadtteil.“ Aiven ist begeistert: „Ist nicht dein Ernst! Wie hast du das gemacht? Wann hast du dich umgezogen? Wie hast du seine Stimme imitiert?“ Siva, die bis eben noch geglaubt hatte sie sei in einer Art Verhandlung, oder auch einem Verhör, wundert sich stark über Aivens Euphorie. Zarihm erklärt stolz wie er das Haus präpariert hat, um diese Effekte hervorzurufen, bis Siva einschreitet: „Es reicht, Jungs! Können wir bitte beim Thema bleiben? Zarihm, zeig mir dein Juwel! Ich will prüfen, ob es echt ist. Wenn nicht, sind wir gleich wieder weg.“ Er hält es ihr hin, gibt es aber nicht aus der Hand. Das reicht ihr. Die schöne junge Frau berührt es und beginnt sich schlagartig zu entspannen. Nein, es ist eher ein Erschlaffen, denn es fühlt sich für sie an, als würde sie in die Tiefe des Meeres hinab gerissen. Sie hat Mühe ihre Hand wieder zu lösen. Eindeutig ist dies das echte Wassersiegel. „Was möchtest du dafür? Ich kann dich in Gold bezahlen. Wie viel willst du dafür haben?“ schlägt sie, etwas außer Atem, ohne Umschweife vor. Der junge Verkäufer schluckt. Er könnte einfach einen Betrag nennen und hätte für immer ausgesorgt. Trotzdem muss er das Angebot ablehnen. „Egal wie viel du bietest, ich werde es ausschlagen. Diesen Stein hat mir mein Großvater kurz vor seinem Tod geschenkt. Er war der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hat. Vielleicht kannst du dir ausmalen, dass dieser Stein nicht in Gold aufzuwiegen ist.“ Aiven glaubt verstanden zu haben was er meint. „Wie wär‘s, komm doch einfach mit uns mit. Du willst doch wissen was für ein Stein das ist. Wir zeigen es dir am Berg Bugat. Du musst uns dein Juwel nicht übergeben und bleibst weiterhin sein Besitzer. Begleite uns einfach auf unserer Reise!“ Siva zischt ihn an: „Aiven, das kannst du nicht ganz alleine entscheiden!“ Sie reißt überrascht die Augen auf, als sie bemerkt, dass sie ihn beim Namen genannt hat. Jetzt, wo sie vermutlich gesucht werden, wollten sie ihre echten Namen nicht mehr verwenden. Anscheinend sind sie bisher in Aranor nämlich noch nicht aufgeflogen, was ihnen nur zu Gute kommen kann. Sie tut so als sei es nicht geschehen, doch sie hat Zarihms Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Freundlich entschlossen unterbreitet er sein Angebot: „Ich komme mit euch, unter folgenden Bedingungen: Ihr beschafft mir ein abgeschiedenes Grundstück im Grünen und genug Gold, das bis zu meinem Lebensende reicht. Als Gegenleistung begleite ich euch zum Berg Bugat, wo ihr meinen Stein, wie auch immer verwenden könnt, solange ich ihn danach nur wieder zurück bekomme. Außerdem erklärt ihr mir was er ist.“ Das Angebot klingt fair und die beiden Königskinder sehen keine andere Möglichkeit für sich. Siva nickt und Aiven nimmt das Angebot stellvertretend für sie an. „In Ordnung. Wann brechen wir auf?“ Zarihm grinst zynisch: „Wenn ich meine Sachen gepackt und den Vertrag aufgesetzt habe. Das wird frühestens morgen sein. Bis dahin erklärt ihr mir, was das für Dinger sind.“ Ein Vertrag ist legitim und kann einem vorsichtigen Händler nicht vorgehalten werden. Der Prinz und die Prinzessin erbitten die Gastfreundschaft für diese eine Nacht. Sie erklären, dass sie so auch genug Zeit hätten Zarihm alles Wissenswerte über das Juwel zu erzählen. Etwas zögerlich und vor allem widerwillig stimmt er zu. Gäste in seinem Haus zu haben, ist ungewohnt für den Einzelgänger. Am Abend erklären sie ihm nur das Nötigste. Sie behaupten einer Schatzlegende König Ramons auf der Spur zu sein und erklären wahrheitsgemäß was sie über die Siegel wissen. Über ihre Herkunft schweigen sie sich aus. Der junge Hausherr breitet Decken auf dem Boden des ersten Hinterzimmers aus. Besonders komfortabel wird es nicht, aber zumindest müssen die beiden nicht mehr hinaus, was ihnen ganz lieb ist. Als sie allein sind, flüstert Siva zu ihrem Freund, der unter derselben Decke eng an ihr liegt: „Was hältst du von ihm?“ Aiven schaut zur uneben gearbeiteten Decke des Zimmers während er antwortet: „Er ist geschickt und klug. Vielleicht führt er etwas im Schilde.“ Die Prinzessin legt ihren Kopf auf seine Brust und haucht ängstlich: „Er hatte uns schnell durchschaut. Er wusste zwar nicht alles, aber es war unheimlich wie viel er in der kurzen Zeit über uns herausgefunden hat.“ „Das waren alles offensichtliche Dinge, Siva. Für jemanden, der trainiert ist Menschen zu durchleuchten, ist das normal würde ich sagen. Auch wenn er mir irgendwie sympathisch ist, vertraue ich ihm nicht. Wir sollten uns vor ihm in Acht nehmen.“ Da Zarihm das komplette Haus so präpariert hat, dass er von überall in Rohre hinein sprechen kann, sodass es klingt als käme seine Stimme von woanders her, kann er das Gespräch nun belauschen. Auch wenn das nicht der Zweck der Anlage ist, erfüllt sie ihn ganz gut. Nun kennt er beide Namen. Für ihn besteht kein Zweifel mehr, dass es sich bei seinen Gästen um keine geringeren als zwei Königskinder aus Roshea und Yoken handeln kann. Nicht ganz zufällig kennt er sich mit den Namen verschiedener Adelsfamilien aus. Am nächsten Morgen legt Zarihm frech lächelnd den Vertrag vor. In diesem Fall spielt er mit offenen Karten. „Ihr habt mir leider immer noch nicht persönlich verraten, wie eure Namen sind, aber ich war so frei sie selbst zu ergänzen. Prinz Aiven, Prinzessin Siva, ich möchte euch bitten hier zu unterschreiben.“ Die beiden staunen nicht schlecht über den Wissensschatz des Diebes. Nach einer Schrecksekunde erwidert der Prinz schließlich: „Ich denke langsam ernsthaft darüber nach, ob wir dich nicht doch lieber hier lassen sollten. Du bist gruselig. Was steht jetzt in diesem Vertrag?“ „Ihr habt doch keine Wahl, oder? Mach dir keine Gedanken. Ich werde ein angenehmer Reisegenosse sein. Lies den Vertrag ruhig aufmerksam durch. Es steht nichts darin, was wir nicht auch besprochen hätten.“ grinst er wieder einmal zynisch, was nicht unbedingt vertrauenerweckend ist und fügt hinzu: „Wenn ich euch übers Ohr hauen wollte, dann wäre ich jetzt der freundlichste und schleimigste Typ, den ihr euch nur vorstellen könnt.“ Da hat er auch wieder recht. Sie lesen den Vertrag und stellen keine ungewöhnlichen Passagen fest, weshalb sie ihn auch beide unterzeichnen. Damit wäre alles geklärt und die drei brechen zum letzten Reiseabschnitt, auf dem Weg zu König Ramons Mysterium, auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)