Die Sternenstaubkugel von Salix ================================================================================ Kapitel 1: Die Sternenstaubkugel -------------------------------- Eisiger Winde fegte Schnee von den Ästen kahler Bäume und ließ die Glaslaternen an den Ständen klappern. Linnea war froh, dass die Buden des Wintermarktes den Wind ein wenig abhielten, obwohl sie weniger leicht fror als ein Mensch. Sie hoffte der Wind würde ihre Eislaufnummer nicht erschweren. Sie ging davon aus, dass weniger Besucher als sonst zur Vorführung kommen würden. Wenn sie Glück hatte, legte er sich eventuell bis zu ihrem Auftritt, noch hatte sie ein wenig Zeit. Sie schlängelte sich geschickt zwischen den Besuchern des Marktes hindurch. Einige machten ihr bereitwillig Platz, wenn sie ihr Abzeichen mit der Schneeflocke umschlossen von einem Wellenkreis erkannten. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass sie unterwegs war um die Dicke des Eises zu prüfen. Das war eine bedeutende Aufgabe, welche dennoch öfters den Studenten der Universität aufgebrummt wurde. Fand der Wintermarkt doch traditionelle auf den zugefrorenen Flüssen und Kanälen Sternheims statt. Es würde die festliche Stimmung gewaltig mindern, sollten Leute im Eis einbrechen. Doch Linnea hatte andere Pflichten, die weniger verantwortungsvoll waren. Noch war es hell, aber trüb, so dass der Wintermarkt noch nicht seine volle zauberhafte Atmosphäre entfalten konnte. Graue Wolken ballten sich am Himmel, rasch dahingetrieben vom eisigen Wind. Eine Gruppe angetrunkener Fischer drängte Linnea an den Rand. Mit einer Drehung kam sie vor einem Stand zum Stehen. Jemand rammte ihr seinen Arm in die Seite. Obwohl sie eine hervorragende Eisläuferin war, musste sie sich am Stand festhalten. Glas klirrte bedrohlich. Eine warme Hand berührte sie an der Schulter, verhinderte, dass sie in den Glaskreationen landete. Linnea atmete auf, als die Schiffer vorbei waren. Sie lächelte die junge Frau am Stand an, die erleichtert zurücklächelte. „Ich hoffe die Waren sind heil geblieben“, murmelte sie. „Ja, zum Glück. Geht es dir gut?“ Linnea nickte und wandte den Blick von den hellblauen Augen der Frau ab. Sie betrachtete das Angebot. Es bestand aus zierlichen Glasfiguren, Laternen, Kerzenhalter und den hier üblichen Sternenstaubglaskugel. Bei Tag erzeugte, der im Glas enthaltene Sternenstaub weiß glitzernde Schlieren. Nachts hingegen schimmerten sie weißlich. Der Staub speicherte das Tageslicht und gab es im Dunkeln wieder ab. Bedächtig strich Linnea über eine kleine Kugel. Sternheim war für seine Sternenstaubkugeln berühmt. Sie waren die bedeutendste Ware der freien Handelsstadt. Selbst Linneas Familie hatte von diesen Kugeln in der entfernten blauen Schlei gehört. Die Sternenstaubkugeln und die Magieruniversität, welche auf Wasser- und Glaszauber spezialisiert war, waren die Wahrzeichen der Stadt. Sternheim, der Stadt, in der sich die Flüsse Ache und Lau trafen und zum Meander vereinigten. „Gefällt sie dir?“, riss die sanfte Stimme der Verkäuferin sie aus ihren Gedanken. „Oh ja. Sie ist wunderschön.“ Obwohl Linnea nun schon ein halbes Jahr in Sternheim studierte, faszinierten die Glaskugeln sie noch immer. „Soll ich sie dir einpacken?“ Bedauernd schüttelte Linnea den Kopf. Sie erhielt genug Geld von ihren Eltern, um ihr Studium zu finanzieren, wie auch ihr Bruder, doch für den Luxus einer Sternenstaubkugel reichte es nicht. „Es tut mir Leid. Sie ist herrlich, aber ich kann sie mir nicht leisten.“ Um die Ablehnung abzumildern, da sie die Enttäuschung auf dem Gesicht der Verkäuferin fürchtete, fügte sie hinzu: „Ich könnte sie auch gar nicht heil transportieren und dann würde sie womöglich auch noch in der Hektik im Garderobenzelt kaputt gehen.“ „Ah, du bist eine der Eistänzerinnen der Akademie. Ich liebe eure Auftritte.“ War das Neugier in der Stimme der Frau? „Danke, aber ich bin noch sehr neu.“ „Dann wünsche ich dir viel Erfolg“, die Frau hielt inne. Vorsichtig nahm sie die Kugel von ihrem Platz, um sie in einer Schachtel mit einer aufgedruckten Sternschnuppe zu verpacken. „Ich weiß, ihr werdet für eure Auftritte bezahlt. Da sie dir so gut gefällt, lege ich sie dir bis zur Wintersonnenwende zurück, einverstanden?“ „Vielen, vielen Dank!“ Linnea war gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich die Kugel zurücklegen lassen könnte. Die Frau hatte Recht, mit dem Geld, welches sie bis zur Wintersonnenwende verdienen würde, könnte sie sich diese kleine Sternenstaubkugel leisten. „Also abgemacht. Nochmals viel Erfolg bei deinen Auftritten. Du findest mich am Wintersonnwendtag wieder hier.“ Eine der Turmuhren schlug Drei. Linnea schreckte zusammen. „Entschuldigung, ich muss los.“ Sie musste sich sputen, ihr Auftritt war in einer Viertelstunde. Mit einem vagen Handheben verabschiedete sie sich und flitzte los. Nur einmal drehte sie sich zum Stand um, wo sie die Frau winken sehen konnte. Ihr Bruder würde sie Auslachen, doch sie wollte diese Kugel besitzen und die Frau wiedersehen. Wärme erfüllte Semiramis, während sie der Nixe hinterherschaute. Sie hatte ihre Stütze gefunden. Am liebsten wäre sie ihr gefolgt, um sie beim Eistanzen zu sehen, doch sie wurde am Stand gebraucht. Sie würde sich den Spielplan der Eistänzer besorgen… in diesem Moment fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte sich nach dem Namen der Nixe zu erkundigen. Sie legte die Schachtel mit der Sternenstaubkugel in einen Weidenkorb, bevor sie ein Stück Papier vom Block für die Einnahmen abriss. Entschlossen zückte sie die Feder und schrieb: „Für jemand Besonderes reserviert!“ Ihre Schwestern, sie bezeichneten sich als Geschwister, obwohl sie nicht blutsverwandt waren, würden es verstehen. Semiramis Mundwinkel hoben sich, sobald sie an die Freude der Nixe dachte, als sie ihr angeboten hatte die Kugel zurückzulegen. Das Beste an der Wahl dieser Kugel war, dass sie ihren Staub enthielt. Das erste Mal, seit sie vom Nachthimmel gestürzt war, verspürte Semiramis eine Vorfreude so stark, dass sie sogar die Sehnsucht nach ihrer Heimat überdeckte. Weil sie nach ihren Sturz hier unten feststeckte, hatte ihre älteste Schwester einen Weg gefunden diese Welt zu ihrer Heimat zu machen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das alles war schon lange her und der erste Mensch, der Sefira als Stütze gedient hatte, schon lange begraben. Er war ein Glasbläser gewesen und hatte entdeckt, wie man Sternenstaub im Glas verarbeiten konnte. Nach seinem Tod hatte Sefira für sich einen neuen Sinn und irgendwann eine neue Stütze gefunden. Semiramis war Sefira dankbar, dass diese alles daran gesetzt hatte andere gefallene Sterne in dieser Stadt zu versammeln, wo sie sich ein neues geschützteres Leben aufbauen konnten. Sefira war es sogar gelungen das Leben eines Sterns wertvoller zu machen als die Aussicht auf mögliche Unsterblichkeit. Inzwischen war die Jagd auf gefallene Sterne um ihr Herz zu verspeisen, was Unsterblichkeit verleihen solle, verpönt. Stattdessen jagte man sie wegen des Sternenstaubs, doch dabei blieben sie wenigsten am Leben. Allerdings hatte auch die Sternenjäger rasch gemerkt, dass ein gefangener Stern unglücklich war und ein unglücklicher Stern leuchtete weder noch tanzte er. Da nur ein tanzender Stern Sternenstaub verbreitete, der sich auffegen ließ, wurde auch diese Art der Jagd bald eingestellt. Jeder gefallene Stern, den man im Reich fand, wurde nach Sternheim gebracht und Sefiras Obhut übergeben. Dennoch so ohne Stütze und Sinn im Leben auf der Erde, fiel es Semiramis schwer Freude zum Tanzen und Leuchten zu finden. Doch nun hatte sie ihre Stütze entdeckt, falls das Interesse gegenseitig war. Linneas Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb. Ihre Hände zitterten leicht, während sie den blauen Mantel ablegte. Darunter kam ihr blaugrünes Seidenkostüm zum Vorschein. Rasch befestigte sie noch ihren Kopfschmuck im Haar. Ihre Haare waren am Haaransatz geflochten und fielen ab dem Hinterkopf offen über ihre Schultern. Geschickt umrahmte sie ihre Augen mit Kohl und färbte ihren Mund rötlich. Sie betrachtete sich skeptisch im Spiegel, war sie bereit den Zuschauern gegenüberzutreten? Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Das wird schon“, hörte sie die Stimme ihres Bruders an ihrem Ohr. Was er sagte, war ihr schon bekannt, doch weil es guttat, wie er versuchte sie zu beruhigen, unterließ sie eine schnippische Antwort. Langsamer Trommelschlag erklang. Leanders Hand drückte noch einmal ihre Schulter, bevor er sie sacht aus dem Zelt schob. Zusammen glitten sie zur Mitte des freien Platzes auf dem Eis, der ihnen als Bühne diente. Die Trommeln steigerten ihren Rhythmus, Flöten setzten ein. Es war, als hätte der eisige Wind ihre Aufregung weggefegt. Nun schlug Linneas Herz ruhig. Sich der kleinen Erhebungen im Eis bewusst, vollführte Linnea ihre Kreise und Bögen um Leander. Er fing sie ein, drehte sie und hob sie in eine Figur über seinen Kopf. Die Gesichter der Zuschauer verschwammen. Linnea landete wieder auf dem Eis. Sie wirbelte mit Leander herum. Sein sonst dunkles, fast schwarzes Haar, stob als heller Wirrwarr um seinen Kopf. Es erinnerte sie an die weiße Gischt der Wellen. Sie wusste, dass auch ihr eigenes Haar diesen Effekt hatte. Leander schwang sie herum, seine Hand ergriff ihre Hüfte. Sie sprang und er hob sie mit einem Arm über seine Schulter. Er drehte sich zum Klang der Musik, während er sie wie einen Stern über sich hielt. Sicher setzte er sie ab, ein letztes Kreiseln und sie kamen zum Stillstand. Die Musik verstummte, Applaus brandete auf. Linnea verbeugte sich, noch leicht außer Atem mit Leander zusammen. Der Wind strich ihnen das Haar aus dem Gesicht. Ihr strahlendes Lachen, kündete davon, wie sehr sie das Eistanzen genoss, auch wenn ihr Partner nur ihr Bruder war. Nun roch sie den Wein, der unter den Zuschauern herumging um sich warm zu halten. Die Gewürze versprachen Exotik, kamen sie doch aus fernen Ländern, die Linnea gerne besucht hätte. Leander zog sie Richtung Zelt und sie ließ sich ziehen. Erstaunlich fürsorglich half er ihr in den schweren, blauen Wollmantel. „Du solltest aufpassen. Abends treibt sich hier Gesindel rum.“ „Das sagst du jeden Tag.“ „Am besten du bleibst im Zelt bis zum nächsten Auftritt.“ „Ich kann auf mich selbst aufpassen! Und ich lerne Selbstverteidigung an der Uni, dass weißt du.“ „Ich mache mir nur Sorgen.“ „Wenn es dir so wichtig ist, warum verschwindest du dann jedes Mal mit deinen Kameraden?“ Leander senkte den Blick. „Siehst du. Lass es einfach! Ich pass schon auf, außerdem respektieren die Meisten das Universitätswappen. Wer will sich schon mit jemandem anlegen, der unter einem das Eis öffnen kann? Wenn du dir um etwas Sorgen machen solltest, dann eher, dass ich vereinsame, weil mir aus dem Weg gegangen wird und du Studenten durch dein überbordendes Beschützerverhalten verscheuchst! Ich bin jetzt seit dem Sommer hier und habe noch keine einzige Freundschaft geschlossen!“ Linnea brach ab, ihre Stimme war lauter geworden als beabsichtigt. Mehrere interessierte Augenpaare wandten sich hastig ab. „Ja, glotzt nur, sonst passiert hier ja nichts anderes Spannendes!“, zischte sie und rauschte aus dem Zelt. „Linnea!“, hörte sie hinter sich. „Ach, lass mich, Leander, wie sonst auch!“ Blindlings drängte sie sich durch die Besuchermenge. Tränen verschleierten ihre Sicht. Das würde schwarze Streifen auf ihrem Gesicht geben. Hektisch wischte sie, sie weg, wobei sie das Kohl verschmierte. Das war doch bescheuert, nur wegen Leanders Worten so in die Luft zu gehen. Vorhin war sie noch so glücklich und zufrieden gewesen und nun das! Manchmal hasste sie ihr Temperament, welches so wechselhaft wie das Wasser war, doch das war bei vielen Nixen so. „Was mochten die Leute nur denken?“, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie schlug die Kapuze des Mantels hoch und sah zu, dass sie aus dem größten Gewühl rauskam. Der verführerische Duft heißer Schokolade mit Gewürzen stieg ihr in die Nase. Genau, was sie jetzt brauchte. Linnea ließ sich von dem Duft zum Getränkestand leiten. Eigentlich hatte Semiramis gedacht sie würde die Nixe erst am Wintersonnenwendtag wiedersehen, doch nun entdeckte sie sie, wie sie sich durch die Leute schob. Was war passiert, sie wirkte aufgebracht. Hatte sie sich da gerade Tränen weggewischt? Semiramis, die nun nachdem sie am Stand abgelöst worden war, auf dem Weg zum Veranstaltungsbüro der Universität war, änderte kurzentschlossen ihren Kurs. Es war schwieriger als gedacht der blaugewandeten Gestalt zwischen den Besuchermassen zu folgen. Fast dachte sie, sie hätte sie verloren, als sie in einen Nebengang einbog. Rasch lief Semiramis ihr nach und schlitterte unelegant um die Kurve. Sefira hätte sie wegen ihrer ungebührlichen Hast gerügt, doch das war ihr egal. Da war sie ja! An einem Getränkestand. Semirami erreichte den Stand, so dass sie sich direkt hinter der Nixe anstellen konnte. Diese war offensichtlich so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihre Umgebung kaum beachtete. Und was jetzt? Sie ansprechen? Ihr das teure Getränk ausgeben? War das nicht zu bevormundend? Die Nixe erhielt einen Tonbecher mit dampfender Schokolade und rückte zur Seite ohne Semiramis zu bemerken. Also erst einmal selbst bestellen. „Eine heiße Schokolade mit Zimt und Chili, bitte“, bestellte Semiramis höflich. Nun wandte sich ihr die Nixe langsam zu. Schwarze Spuren um ihre Augen und auf den Wangen bewiesen, dass sie geweint haben musste. Semiramis lächelte sie zaghaft an. „So sieht man sich wieder“, grüßte sie. Besser nicht mit der Tür ins Haus fallen. „Ja“, hauchte die Nixe, ihren Becher mit beiden Händen umklammernd, die Stimme leicht belegt. Ehe sie noch mehr sagen konnte, wurde sie bedient und musste bezahlen. Die Nixe machte ihr Platz, damit der Kunde nach ihr an den Tresen herankam. So standen sie nun neben der Bude, beide mit einem Becher in den Händen. „Ähm, danke noch Mal, dass sie mir die Kugel zurückgelegt haben.“ Die Stimme war so leise, dass Semiramis genau hinhören musste, um die Worte zu verstehen. „Das habe ich gern getan.“ Sie hätte ihr die Kugel auch geschenkt, aber Semiramis bezweifelte stark, dass die Nixe das angenommen hätte. Nixen waren stolz und unabhängig, zumindest die Nixen, die sie kannte. Das mussten sie auch sein, arbeiten viele Nixen und Nöcker doch als Lotsen für die Handelsschiffe. Würde es sie kränken, wenn sie sie auf ihren Kummer anspräche? In ihre Gedanken verstrickt, hätte Semiramis fast die nächsten Worte verpasst. „Die Schokolade ist sehr gut. Wollen sie sie nicht probieren?“ „Oh, ja, natürlich.“ Das hatte sie ganz vergessen. Ein leises Kichern erklang, beide sahen sich an. Ein Grinsen erblühte auf Semiramis Gesicht. Die Nixe sah einfach entzückend aus, trotz der schwarzen Kohlspuren auf dem Gesicht oder gerade deswegen? Sie benahm sich wirklich unbeholfen. Passierte das immer, wenn man seine Stütze kennenlernte? Semiramis nippte an der heißen Schokolade. „Hm.“ Das Getränk war wirklich hervorragend. „Ich heiße übrigens Linnea“, stellte die Nixe sich vor und streckte ihr die Hand entgegen. „Semiramis, es freut mich, dich kennen zu lernen.“ Sie schüttelte die dargebotene Hand, was ungewohnt war. Die Bürger der Stadt verhielten sich sonst eher überhöflich und distanziert. Das war wohl ein Zeichen, dass Linnea keine Ahnung hatte, mit wem sie es zu tun hatte. Und Linnea stürmte gleich weiter mutig vor. „Ich habe noch zwei Stunden Zeit. Magst du mit mir über den Wintermarkt gehen?“ „Sehr gerne“, ergriff Semiramis die Gelegenheit. Linnea konnte ihr Glück kaum fassen. Sie ging mit jemanden über den Wintermarkt, der sie mochte und das, obwohl sie sich kaum kannten! Bevor sie losgezogen waren, hatte Semiramis ihr taktvoll ein Taschentuch und einen Taschenspiegel gegeben, ohne sie weiter nach dem Grund für die verschmierte Schminke zu fragen. Darüber war Linnea froh, sie wollte nicht über diesen dummen Streit mit ihrem Bruder sprechen. Stattdessen erfreute sie sich am Wintermarkt. Die Schokolade war längst ausgetrunken, sie hatten sich ein paar gebrannte Mandeln besorgt und schlenderten an den Ständen vorbei. Nun ja, die dick gegen die Kälte eingemummelte Semiramis schlenderte. Linnea zog Kreise um sie, da sie auf ihren Schlittschuhen ein ganz anderes Tempo hatte als ein Fußgänger. Es war ein wenig gewöhnungsbedürftig auf eine langsamere Person zu achten, aber sie schaffte es. Semiramis machte sie auf Stände aufmerksam, die sie zuvor völlig übersehen hatte. Einmal verhinderte Linnea gerade noch einen Zusammenstoß mit einem verdrießlich blickenden Waldschrat durch eine Pirouette. Semiramis glockenhelles Lachen erfüllte die Luft. Der Waldschrat grummelte nur wortlos und drängte sich an ihnen vorbei. Kurz darauf deutete Semiramis auf einen kleinen Kanal, der neben einem Stand abzweigte. „Wenn du dem folgst, kommst du zu einem Teich, der von Trauerweide umstanden ist. Die meisten Leute beachten ihn nicht, weil es eine Sackgasse ist.“ „Schade, dass es zu dunkel ist, um es uns anzusehen.“ „Bei Gelegenheit. Oder du siehst es dir Morgen im Hellen an. Ich schätze es ist ein guter Ort, um in Ruhe für sich alleine in Ruhe zu üben.“ „Würde es die Anwohner nicht stören?“ „Ich kenne die Besitzer des Grundstücks, das an den Teich grenzt. Sie würden sich nicht daran stören.“ Viel zu schnell verflogen die zwei Stunden. Es war Semiramis, die geschickt ihre Route so lenkte, dass sie kurz vor Linneas Auftritt beim Tanzplatz ankamen. „Vielen Dank, dass du die Zeit mit mir verbracht hast, an deinem wohlverdienten Feierabend.“ „Es war mir eine Freude, glaub mir. So viel habe ich schon lange nicht mehr gelacht. Lass uns das bald wiederholen.“ Linnea schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich soll bei der großen Sonnwendfeier auftreten und ab Morgen proben wir dafür, in den Zeiten zwischen den Auftritten. Es tut mir Leid.“ „Du darfst bei der großen Feier auftreten? Das ist wundervoll!“ „Ja, ist es, aber auch sehr viel Arbeit.“ „Das glaube ich. Jetzt sehe ich mir erst einmal deinen heutigen Auftritt an und dann freue ich mich darauf, dich bei der großen Feier bewundern zu dürfen.“ „Du bist sehr verständnisvoll.“ „Jeder hat seine Pflichten. Husch, ab mit dir. Du kommst sonst noch zu spät. Wir sehen uns!“ Linnea schüttelte Semiramis die Hand, froh über deren Verständnis. Semiramis war eine dieser Personen, die man nicht sofort umarmte. Im Zelt starrte Leander sie verdutzt an, schwieg jedoch, so als wolle er ihre Stimmung lieber erhalten, statt Gefahr zu laufen sie erneut zu trüben. Nun, wo im Publikum jemand war, der extra hier war um sie zu sehen, stieg Linneas Lampenfieber. Sie brauchte es nur ein paar Minuten, in denen sie ihre Schminke erneuerte, zu ertragen, ehe sie mit Leander übers Eis glitt und sich besonders viel Mühe gab. Semiramis genoss Linneas Auftritt. Sie folgte Linneas schlanker Gestalt mit den Blicken. Sie war so geschmeidig. Es verblüffte sie wie hell das dunkle Haar schimmerte, wenn es mit Linneas Bewegungen mitschwang. Wärme bereitete sich noch stärker in Semiramis aus als zuvor und sie war sich sicher, dass sie schwach schimmerte. Sie verkroch sich noch mehr in ihrem Mantel, es wäre ungünstig erkannt zu werden. Sie konnte im Moment gut auf diese besondere Aufmerksamkeit verzichten. Es war völlig anders so zwischen den Leuten zu stehen, angerempelt zu werden. Glühwein angeboten zu bekommen und schlicht mittendrin zu sein, anstatt abgegrenzt und erhoben auf einer Tribüne zu sitzen. Nach dem Auftritt verstreuten sich die Zuschauer. Semiramis ließ sich mit ihnen forttreiben, da Linnea mit ihrem Eistanzpartner im Zelt am Rand des Tanzplatzes verschwunden war. So ähnlich, wie die Beiden sich sahen, ging Semiramis davon aus, dass es Geschwister waren. Sie schob die Idee, dass die Beiden auch außerhalb des Eistanzens ein Paar sein könnten von sich. An ihrem Stand hielt sie nur, weil Alastair sie rief. „Was machst du denn noch hier?“ „Ich habe meine Stütze gefunden und Zeit mit ihr verbracht“, sprudelte Semiramis hervor. Alastair runzelte die Stirn und sie konnte seine Skepsis schier riechen. „Bist du dir sicher, dass es deine Stütze ist und nicht nur jemand, der dich ausnutzen möchte?“ Semiramis ergriff seine Hand und drückte sie. Alastair war von einem Menschen belogen und versklavt worden, von dem er dachte, er wäre seine Stütze. „Keine Sorge, ich passe auf. Sie ist eine Nixe und studiert an der Universität, außerdem weiß sie noch gar nicht, was ich bin.“ „Versprich mir trotzdem vorsichtig zu sein?“ „Ich verspreche es. Und weißt du was, ich lade sie zu unsere Jahresendtanz ein, da kannst du sie selbst begutachten.“ „Dort werden nur Personen eingeladen, die diese Ehre verdient haben“, gab er zu Bedenken. „Sie tanzt auf dem Eis bei der großen Wintersonnenwendfeier und ist noch in ihrem ersten Studienjahr. Ich denke damit hat sie sich qualifiziert, was meinst du?“ Sie war sich bewusst, dass sie Alastair anstrahlte. „Das hat sie.“ Ein kaum merkliches Lächeln kräuselte seine Lippen. „Soll ich die Einladung für dich verfassen?“ Semirami zwinkerte ihm zu. Er wusste sehr genau, wie schwer sie sich mit den Formulierungen für solche Einladungen tat. „Wenn du dir die Mühe machen würdest…“ „Für dich, doch immer.“ In den wenigen Tagen bis zur Wintersonnenwende war Semiramis froh die Verabredung mit Alastair getroffen zu haben und zu wissen, dass Linnea noch ihre Sternenstaubkugel kaufen musste. Sie sah die junge Nixe gelegentlich, wenn diese an ihrem Stand vorbeiflitzte auf dem Weg zu ihren Auftritten. Dann winkten sie einander zu, doch selbst für einen kurzen Plausch war Linnea zu sehr in Eile. So sehr wie in diesem Jahr, hatte Semiramis sich noch nie nach der Wintersonnenwende gesehnt. Die Tage schlichen dahin und ihre einzigen Lichtblicke waren die kurzen Augenblicke, in denen sie Linnea vorbeirasen sah und sie ihr ein Lächeln verbunden mit einem Winken schenkte. Am Wintersonnenwendtag war Linnea viel zu beschäftigt, um sich Gedanken darum zu machen, dass der Wintermarkt mit der großen Feier endete. Ihr Vormittag war vollgepackt mit den letzten Proben auf der Eisbahn der Universität. Zur Mittagszeit schaffte sie es geradeso eine schnelle Mahlzeit zu sich zu nehmen, bevor sie die Kostüme und Requisiten zur Eisfläche des Wintermarktes bringen mussten. Erst im Umkleidezelt, fiel ihr ein, dass sie die Kugel nach der Feier nicht mehr kaufen konnte. Sie starrte in den Spiegel und blinzelte hektisch, dabei hatte sie das Geld sogar zusammengesucht und mitgenommen. „Und Semiramis hat sie mir noch extra zurückgelegt“, dachte sie. „Alles in Ordnung?“, wollte Leander wissen, mit dem sie sich inzwischen wieder vertragen hatte. „Jetzt ist es eh zu spät, es zu ändern“, murmelte sie. „Etwas Schlimmes?“ Linnea schüttelte den Kopf. „Ich hatte mir Etwas zurücklegen lassen, ohne zu bedenken, dass der Wintermarkt mit der Feier endet.“ Leander umarmte sie fest. „Das ist schade, vielleicht findest zu nächstes Jahr etwas Ähnliches.“ „Ich bezweifle es.“ Das, für sie die Enttäuschung, welche sie Semiramis zufügte schwerer wog, als das Nichterhalten der Kugel, verschwieg sie. Leander richtete ihren Haarschmuck. „Kopf hoch! Wir haben einen Auftritt vor uns!" Linnea nickte, streckte sich und folgte ihm erstaunlich gelassen, trotz Lampenfieber aus dem Zelt. Fackeln und Laternen erhellten den Platz. An einer Seite war eine Tribüne errichtet worden, wo die Stadtoberen, der Senat und die Sterne sich niedergelassen hatten. Linnea erkannte die Würdenträger an ihren teuren Kleidern in leuchtenden Farben und dem extravaganten Kopfputz. Von ihrem Platz aus, verbarg die Dunkelheit die Gesichter der Zuschauer. Sie atmete tief ein und glitt mit Leander in die Mitte der Fläche. Ihre Nummer für die große Feier war ausgefeilter, ausgeklügelter und um einiges schwieriger, als alle vorherigen Nummern. Das ließ keinen Raum für Zweifel und Bedenken. Hochkonzentriert und berauscht zugleich von der Bewegung zur Musik auf dem Eis, gab Linnea sich dem Moment hin. Ihre Welt verringerte sich auf das Dahingleiten auf dem Eis, die Kreise, Drehungen und Hebefiguren, die sie und Leander vollführten. Außer Atem kamen sie nach einer letzten spektakulären Hebefigur mit dem Ende der Musik zum Stehen. Elegant verneigten sie sich vor den Leuten auf der Tribüne. Dem restlichen Publikum Kusshände zuwerfend kehrten sie in das Zelt zurück. Nun waren andere Eistänzer dran. Linnea schlüpfte gerade in ihren Mantel, als die Zeltplane beiseitegeschoben wurde und Semiramis eintrat. Semiramis war in ein elegantes, mit weißen Perlen besticktes, hellblaues Seidenkleid gewandet. Ihr hellgrauer Mantel war aus Merinowolle. Alles in allem, sah sie wie eine Noble der Stadt aus und nicht wie eine einfache Verkäuferin. Verdutzt beobachtete Linnea, wie sich alle im Zelt verneigten. Mit einer geübten Geste brachte Semiramis die Leute dazu sich wieder aufzurichten. „Bitte lasst euch durch mich nicht stören. Ich möchte nur kurz mit jemandem sprechen.“ Linneas Verwirrung wuchs. Semiramis sah sehr fremd aus und ihr Benehmen war ihrer Kleidung angemessen. Hinzukam, dass es so selbstverständlich und natürlich wirkte, dass Linnea sich fragte, wie sie Semiramis je für eine Verkäuferin hatte halten können. Semiramis trat zu ihr. „Frohe Wintersonnenwende. Dein Auftritt war ein wahrer Augenschmaus. Da ich mir dachte, dass du kaum Zeit hattest zum Stand zu kommen, habe ich beschlossen sie dir vorbeizubringen.“ Linnea beobachtete wie Semiramis die kleine Pappschachtel aus einer Tragetasche holte, die ihr jetzt erst auffiel. „Äh… vielen Dank.“ Linnea nahm die Kugel entgegen. „Ich habe hier irgendwo…, Oh.“ Ihr Blick war auf das Bild der Sternschnuppe auf der Schachtel gefallen. Wie hatte sie das nur übersehen können. „Desweiteren möchte ich dir dies überreichen, in der Hoffnung, dass du meine Einladung annehmen wirst.“ Semiramis hielt ihr einen versiegelten Umschlag entgegen. Auch auf dem Siegelwachs prangte die Sternschnuppe, bemerkte Linnea. Sie stellte die Schachtel auf dem Schminktisch vor dem Spiegel ab. Ihre Finger zitterten als ihr Semiramis den Umschlag überreichte. Nervös öffnete sie den Umschlag und zog eine goldgerahmte Einladungskarte hervor. Hastig überflog sie den Text. „Du… sie laden mich ein?“ „Ja, ich lade dich ein. Bleib bitte beim Du, es würde mich sehr freuen, wenn du weiterhin ungezwungen mit mir umgehen könntest.“ Linnea schluckte. „Aber, du bist einer der Sterne!“ Semiramis neigte den Kopf. Linnea musterte sie genauer. Ihr fiel auf, dass Semiramis mit einer Kapuzenkordel ihres Mantels spielte. Bei jedem anderen hätte sie das als Zeichen der Nervosität interpretiert, aber doch nicht bei einem Stern. „Falls du dir Sorgen machst, wegen deiner Garderobe, dem kann ich abhelfen“, wisperte Semiramis. „Wie bitte? Garderobe, oh! Und du willst mich wirklich bei eurem Jahresendtanz dabeihaben?“ Statt gestelzter Worte antwortete Semiramis simpel: „Ja.“ Leander stellte sich neben sie, nah genug ihr jederzeit beistehen zu können. Linnea war ihm dankbar dafür. „Lass mich erst die Sternenstaubkugel bezahlen.“ „In Ordnung.“ Fast fiel Linnea das Portemonnaie aus den Händen, als sie es hervorkramte und hektisch darin nach dem richtigen Betrag suchte. Mit bebenden Händen streckte sie das Geld Semiramis entgegen, die es graziös entgegennahm und verstaute. Linnea räusperte sich, ihre Kehle war ungewöhnlich trocken. „Ich nehme deine Einladung gerne an, allerdings besitze ich kein Ballkleid“, brachte sie schließlich mit erstaunlich fester Stimme hervor. „Wie gesagt, dem kann abgeholfen werden. Wenn du die Güte hättest mich zu begleiten. Bevor ich es vergesse.“ Sie überreichte auch Leander einen Umschlag. „Es wäre grausam Geschwister zu den Jahresendfeierlichkeiten zu trennen.“ Linnea stopfte ihre Sachen in ihre Tasche, nur die Kugel in ihrer Schachtel verstaute sie äußerst behutsam. So bekam sie nicht mit, wie ihr Bruder sich vor Semiramis verbeugte. „Ich bin bereit.“ „Hervorragend und bevor wir ein Kleid für dich ausfindig machen, schätze ich, dass eine Mahlzeit angebracht ist, so hart wie du Heute gearbeitet hast.“ „W-wenn das möglich wäre…“ „Ist es. Dein Bruder kann uns begleiten, wenn es dich beruhigt.“ Linnea schielte zu ihrem Bruder hinüber, der ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. „Ja, das wäre mir lieber.“ „Wenn das geklärt ist, wollen wir?“ „Gerne.“ Linnea verließ mit Semiramis und Leander das Zelt. Dieses Jahresende hatte eine Überraschung bereitgehalten und sie hoffte, wenn der berühmte Jahresendtanz der Sterne überstanden war, dass das neue Jahr weitere freudige Überraschungen bereithalten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)