Tränen im Schnee von Ixtli ================================================================================ Kapitel 2: Road To Ruin ----------------------- Road To Ruin   Die Scheibenwischer fuhren mit doppelter Geschwindigkeit über die Scheibe und schafften es trotzdem nicht, sie von dem Schnee freizuhalten, der wie irre vom Himmel fiel. Rieseln konnte man das nicht mehr nennen. Innerhalb einer Stunde war aus den zarten Flocken wieder ein undurchdringlich dichtes Schneegestöber geworden, das den Straßenverkehr augenblicklich auf Schneckentempo gedrosselt hatte. Nicht einmal der Räumdienst hatte so schnell streuen können, wie der Schnee fiel. Wenigstens war das Flugzeug seiner Eltern noch planmäßig gelandet. Tim wünschte sich, der Schnee hätte gewartet, bis sie alle wieder zuhause gewesen wären, doch das Wetter hatte ihnen einen fetten Strich durch die Rechnung gemacht. Sie waren noch keine zehn Kilometer auf der Autobahn gefahren, als die ersten Autos vor ihnen bereits immer langsamer geworden waren und schließlich ganz hielten. Und jetzt standen sie hier irgendwo weit von einer Abfahrt entfernt mitten im Stau, ohne Hoffnung, dass es so bald weitergehen könnte. Der Verkehrsservice meldete einen Unfall nach dem anderen und die dazugehörenden Staus. Wie es aussah, war das halbe Land natürlich ausgerechnet heute unterwegs. "Möchtest du eine Orange?" Seine Mutter hielt ihm das Stück Obst vor die Nase. "Später vielleicht", lehnte Tim müde ab. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas durch den Schnee zu erkennen. Zwecklos. Die Straße hatte eine leichte Steigung, bevor sie dahinter wieder abfiel. Mehr als die ersten paar Autos konnte man von hier aus nicht sehen. Wer wusste, wie lang die stehende Kolonne hinter dem Hügel weiter ging? "Soll ich nachsehen?" Sein Vater schien neuerdings Gedanken lesen zu können. "Ach was, wir kommen sowieso nicht weiter, egal wie lang der Stau ist." Orangenduft erfüllte den Sprinter. "Ich steige mal kurz aus", murmelte Tim und machte seiner Mutter Platz, die auf den Fahrersitz nachrückte. Das Feuerzeug flackerte hell auf. Tim musste eine Hand um die wild tanzende Flamme halten, damit sie bei Wind und Schnee nicht gleich wieder erlosch. Knisternd glühte die Spitze seiner Zigarette auf, als er die Flamme daran hielt, und warf einen warmen Schein auf sein Gesicht. Es war das erste Weihnachten ohne Esther, fiel es Tim ein. Überhaupt alles, was nach dem Tod seiner Oma im Sommer gefolgt war, war das erste Mal gewesen. Der erste Geburtstag seiner Mutter ohne Esther. Tims Geburtstag ohne Esther. Und jetzt die Vorweihnachtszeit ohne sie. Was, wie er dachte, vermutlich gerade die schlimmste Zeit für seine Mutter sein dürfte. Gedankenverloren sah Tim der ausgeatmeten Rauchwolke nach, die vor ihm in den Himmel aufstieg. Vielleicht wurde es ab nächstem Sommer ja leichter für sie alle? Wenn nach dem ersten Jahrestag alles das zweite Mal ohne Esther stattfinden würde. Ein Blick zu seiner Mutter ließ diesen Gedanken wie einen dieser gutgemeinten Ratschläge wirken, die in Wirklichkeit einfach nur die eigene Hilflosigkeit verkörperte. Tim schnippte die Zigarette in den Schnee und stieg ins Auto.   Kaum saß er wieder auf dem Fahrersitz, als sein Handy eine Nachricht ankündigte. Wie geht’s?, wollte Johan wissen. Stehen im Stau... Ende in Sicht? Nope Aber wir haben Orangen und Muscheln aus Gran Canaria, setzte er seiner letzten Nachricht hinterher. Du Glücklicher. Feli und ich haben nur Brötchen... Irgendwas kam Tim spanisch vor, und es waren nicht die Orangen oder die Muscheln. Sein Finger tippte gerade auf Antworten, als sein Vater neben ihm aufschrie. "Es geht weiter!" "Endlich", entgegnete Tim und ließ das Auto an. Der schönste Anblick für heute ging an die Autokolonne, die sich langsam Auto für Auto in Bewegung setzte. Als die Reihe an ihnen war, trat Tim aufs Gas, doch statt anzufahren, gaben die Reifen ein jämmerliches Winseln von sich. Tim überlief es eiskalt. "Oje", kommentierte seine Mutter die durchdrehenden Reifen und fasste damit alles zusammen, wofür Tim normalerweise gerade nur Schimpfwörter einfielen. Ein Rücklicht nach dem anderen verschwand hinter dem Hügel, ohne dass der Sprinter auch nur Anstalten machte, ihnen zu folgen. Statt sich ebenfalls vorwärts zu bewegen, rutschte er nach hinten weg. Verdammter Frontantrieb! Tim, dem das Herz bis zum Hals schlug, versuchte es noch einmal. Erfolglos. Der Sprinter schlitterte bloß nach links und rechts, aber keinen Millimeter nach vorne. "Fuck", flüsterte Tim und musste unwillkürlich lachen, weil er an Esther denken musste, die von Johan hatte wissen wollen, was Fuck heißt, als es Tim bei einem Besuch aus Versehen herausgerutscht war. Mann, die hatte ihn vielleicht zusammengefaltet, nachdem es ihr einer ihrer Bekannten im Altenheim schließlich verraten hatte. Sie hatte ihm sogar den gleichen Blick zugeworfen wie seine Mutter gerade in diesem Moment... "'tschuldigung", stieß Tim lachend aus. Irgendwann musste er seiner Mutter mal sagen, wie sehr sie und Esther sich glichen. Und das meinte er ausnahmsweise als Kompliment.   Vorsichtig bremste Marek den Kombi am Straßenrand ab. "Mann, was für ein Wetter", seufzte der junge Mann, der sich neben ihm auf den Beifahrersitz fallen ließ. "Wem sagst du das?!" Marek warf einen Blick zu seinem Sitznachbarn, der sich den Schnee aus den Haaren schüttelte. "Weißt du schon mehr?" Kopfschütteln. "Nur, wie viele." Marek atmete unhörbar aus.     It's A Long Way Back   "Lass ihn mal ein Stück zurückrollen und versuch es dort, wo der Schnee noch nicht so glattgefahren ist." Der Tipp seiner Mutter war gut. Tim tat, was ihm geraten wurde. Mittlerweile war niemand mehr hinter ihnen und alle, die noch kamen, wichen dem Sprinter mit dem blinkenden Warnlicht rechtzeitig auf die Überholspur aus. Tim gab vorsichtig Gas. Die Räder griffen tatsächlich wieder, doch als sie auf den vereisten Flecken kamen, war es das. Das helle Surren der durchdrehenden Reifen fraß sich ins Tims Nervenkostüm. "Ich weiß was", meldete sich sein Vater zu Wort. "Komm nach draußen und bring die Fußmatten mit." "Was willst du damit?", rief Tim gegen den eisigen Wind an, der ihnen draußen um die Ohren pfiff. Er hielt seinem Vater die Fußmatte von der Fahrerseite hin. "Wir legen die Matten hinter die Reifen. Du lässt den Wagen draufrollen und gibst dann Gas." Sein Vater platzierte die Matten und bedeutete Tim, wieder einzusteigen. "Nicht zu viel Gas, okay? Und fahr weiter, bis du auf dem Hügel bist, ich komme nach." Tim startete den Sprinter und ließ ihn rollen, bis sein Vater von draußen die Hand hob. Dann gab er Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, als die Reifen auf den Matten Halt fanden. Sein Vater schrie irgendwas, als sie an ihm vorüber zuckelten und Tim gab noch mehr Gas. Sie hatten fast den höchsten Punkt des Hügels erreicht als seine Mutter das Fenster auf der Beifahrerseite herunterkurbelte und nach draußen sah. "Oh Gott, dein Vater", stieß sie erschrocken aus. Tim zuckte zusammen und würgte prompt den Sprinter ab. Seine Mutter lachte und für einen winzigen Augenblick war Tim erleichtert. Er rückte zu seiner Mutter hinüber und folgte ihren Blicken. Sein Vater kam angelaufen und schwenkte dabei die Fußmatten in den Händen. Allerdings konnte man ihn kaum erkennen, denn seine gesamte Vorderseite war über und über mit Schnee bedeckt. "Warum habt ihr denn angehalten?", beschwerte sich sein Vater, als er endlich zu ihnen aufgeholt hatte. Ein Klumpen schmutziger Schnee fiel ihm von der Stirn. "Ich glaube, das war wohl meine Schuld." Seine Mutter lachte leise vor sich hin. In ihren Augenwinkeln glitzerte es verdächtig. Ihr Mann sah aus, als wäre vor ihm ein Schneehaufen explodiert. Auch Tim konnte sich nicht länger das Lachen verbeißen. "Ihr hattet es fast geschafft", murrte der Schneemann, während ihm weitere Klumpen Schnee von der Vorderseite fielen. Er hob die Hände und zeigte ihnen die Matten, die genau wie er völlig mit Schnee bedeckt waren. "Sind leider nicht mehr zu gebrauchen..." "Ist jetzt auch egal", prustete Tim und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. "Ich rufe den Abschleppdienst."   "Hey", begrüßte Tim Marek gutgelaunt, der ihn per Videochat anrief. "Wie geht’s euch?" "Und wie geht’s Feli?", rief seine Mutter dazwischen. Sie winkte Marek auf dem Display zu, der zurück winkte. "Soweit ich weiß, ging es allen bis eben gut", beantwortete Marek brav die Frage von Tims Mutter. "Dann bin ich ja beruhigt." Tims Mutter rückte weiter zu ihrem Sohn hin, um einen besseren Blick auf das Display zu haben. Sie beugte sich näher zu dem Smartphone herab und flüsterte: "Du rätst nie, was Tim eben fertiggebracht hat!" Sie konnte den Satz kaum beenden, ohne nicht wieder kichern zu müssen. "Ja, erzähl es ihm nur", rief Tims Vater von hinten aus dem Laderaum des Sprinters. Es rumpelte und dann quetschte er sich zwischen den Vordersitzen nach vorne. Mit offenem Mund bestaunte Marek Tims Vater, der neben seiner Frau auf dem Bildschirm erschien. Er trug ein schrilles Hawaiihemd, was zu dieser Jahreszeit ein bisschen deplatziert wirkte. "Okay, jetzt will ich es wissen." Marek schielte nach links hinüber zu Thomas, seinem Assistenten, der auf der Rückfahrt das Fahren übernommen hatte. "Dauert viel zu lange", wimmelte Tim seinen Vater kurzerhand ab, der eben zu einer Erklärung ansetzte, warum er hier in seinem Urlaubshemd saß. Er drehte das Display etwas weg, so dass nur noch er selbst Marek sehen konnte. "Hier ist ja sogar eine Decke", rief sein Vater und kramte die Wolldecke hinter dem Fahrersitz hervor, die dort schon seit Sommer lag. "Sehr umsichtig, im Winter eine Wolldecke ins Auto zu legen", lobte er seinen Sohn, der ihn ertappt ansah. Tim biss sich auf die Unterlippe. Er konnte seinen Eltern unmöglich sagen, warum die Decke, die sie sich gerade über die Beine drapierten, im Auto lag. Es hatte nämlich ganz und gar nichts mit Winter und Schnee zu tun, sondern mit Sommer und Marek... "Wir warten jedenfalls auf den Abschleppdienst", wandte sich Tim wieder an Marek, der geduldig gewartet hatte. "Ich habe aus Versehen das Auto festgefahren." "Aber euch geht’s gut, oder?" Tim nickte. "Wir haben Orangen hier", flötete seine Mutter dazwischen und Marek grinste. "Darüber wird sich Johan sicher freuen, außer Brötchen haben wir nichts zuhause", gestand Marek etwas kleinlaut. "Dann kommt ihr nachher zu uns essen", wurde er angewiesen. "Und du?" Tim hielt kurz inne. "Warum trägst du Arbeitskleidung?" Er hörte, wie Marek seufzte. "Ist auch 'ne lange Geschichte." "Okay, aber ich will sie hören, ja?" Marek nickte. "Ich freue mich, euch nachher zu sehen." "Wir uns auch", riefen Tims Eltern dazwischen. Tim verdrehte die Augen, lachte aber. "Ja, was sie sagten..."     E N D E Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)