Tränen im Schnee von Ixtli ================================================================================ Kapitel 1: We're Outta Here ---------------------------     Das leise Prasseln aus der Dusche nebenan ließ Marek langsam die Augen aufschlagen. Er hob die Arme, um sich zu strecken und zog sie gleich wieder unter die Decke. Es war saukalt im Zimmer. Ein Blick zum Fenster beantwortete das Warum. Draußen fielen die Schneeflocken dicht an dicht, so dass von den gegenüberliegenden Häusern nur noch hier und da ein paar verwaschene Schemen aus dem blendenden Weiß auftauchten. Der Wetterbericht hatte also mal wieder versagt, dachte Marek und rieb sich zitternd die Gänsehaut weg, die seine Arme überzogen hatte. Er unterdrückte den kurz aufkeimenden Drang, aufzuspringen und im Kalten zur Heizung zu sprinten, um sie höher zu drehen, und wandte dem Schneetreiben vor dem Fenster lieber den Rücken zu. Der leise atmende Berg neben ihm gab zwischen zwei Atemzügen ein kaum hörbares "Wie spät?" von sich, ohne dabei die Augen zu öffnen. "Eigentlich noch früh, aber es hat geschneit." "Ok", war die fast geflüsterte Antwort. Nach einer Woche Nachtschicht war das das Höchste, was momentan an Kommunikation zu erwarten war, dachte Marek amüsiert. Die Decke bis zum Kinn hochgezogen lag er regungslos da und betrachtete sich seinen Nebenmann, der wieder eingeschlafen war, ohne auch nur einen einzigen Blick zum Fenster hin geworfen zu haben, wo die Schneeflockendichte weiter zunahm. Was sich alles seit Sommer verändert hatte! Das Rotkäppchen wohnte mittlerweile beinahe offiziell beim Wolf, und sobald seine Eltern heute Abend wieder zurück waren, würde sich auch das endgültig klären. Auch der Jäger war nun die meiste Zeit hier bei ihnen und ging seit etwa vier Wochen nur noch in sein altes Zuhause, um zu lüften und ein paar potentiellen Nachmietern die Wohnung zu zeigen. Nach Esthers Tod hatte sich alles einfach irgendwie so ergeben. Niemand hatte das Bedürfnis gehabt, das durch endlose Gespräche in seine Einzelheiten zerpflücken zu müssen. Es hatte gepasst, wie es war und sie hatten es so gelassen. Johans Mund umspielte ein leichtes Lächeln, als könnte er Mareks Gedanken lesen. Marek rückte näher zu ihm hin, natürlich nicht, ohne auch darauf zu achten, dass er dabei nicht wieder an die kalte Luft kam. Vorsichtig tastete seine Hand unter der Decke zu Johan hinüber, als seine Finger auf halber Strecke auf etwas ziemlich Haariges trafen, das erschrocken zusammen zuckte. Ach ja, der schwarze Hai wohnte mittlerweile ebenfalls hier... Das Fellknäuel unter der Decke wanderte nach oben. Kaum an der Luft öffnete sich das winzige Haimaul und entblößte zwei Reihen ganz und gar nicht mehr so scharfer Zähne. "Guten Morgen, Feli", begrüßte Marek den kleinen schwarzen Hund, der ihn aus halbgeschlossenen Augen verschlafen ansah, ehe er sich zwischen Marek und Johan auf dem Kissen zusammenrollte und Sekunden später bereits wieder schlief. Feli gehörte eigentlich Tims Mutter, aber sie hatte vor kurzem die gemeinsame Wohnung über dem Bestattungsinstitut als ihr persönliches Königreich auserkoren. Vermutlich, weil sie hier drei Menschen – fünf, wenn Mareks Tante und Onkel sie besuchten - um sich herum hatte, die ihr alle Nase lang etwas Fressbares vor eben diese hielten. Ihr Bäuchlein, das Marek gerade vorsichtig kraulte, bestätigte die Vermutung. Eine warme Hand schob sich suchend zu Marek hinüber und griff nach dessen freier Hand, um sie zu sich zu ziehen. "Morgen", murmelte Johan lächelnd. Ohne Feli von ihrem Platz zu vertreiben, rückte Marek hinüber zu Johan, der einen Arm um dessen Taille schlang und ihn so nah es ging an sich zog. "Kann er überhaupt fahren?" Johan hatte das Schneegestöber vor dem Fenster entdeckt und betrachtete es besorgt. "Du kennst ihn ja." Marek lachte leise und drückte sein Gesicht gegen Johans Hals. Ein bisschen froh war er schon, dass er jetzt noch nicht raus musste, auch wenn er Tim bemitleidete, dass er bei diesem Wetter vier Stunden im Auto sitzen musste. Das waren immerhin zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück, die er hier bei ihnen hätte sein können. "Dreckswetter", fluchte Tim auch prompt, der gerade das Schlafzimmer betrat. Den Schnee draußen nicht aus den Augen lassend, zog er sich hastig an und stürmte aus dem Schlafzimmer, kaum dass sein Pullover richtig saß. "Guten Morgen auch", rief er aus dem Flur. Irgendetwas polterte und Tim fluchte erneut.     I Don't Wanna Go Down To The Basement   "Kaffee?" Johan, der dem Poltern aus dem Flur gefolgt war, half Tim, die von der Schiene gesprungene Schublade der Kommode wieder an ihren Platz zu bekommen. "Kaufe ich mir unterwegs, danke." Tim tastete seine Jackentasche nach den Schlüsseln ab und fand sie schließlich in der Innentasche. "Tanken muss ich auch noch." Er sah zu Johan, der sich gegen die Kommode lehnte, und seufzte kurz. "Ich wäre lieber hier." "Soll ich mitfahren?" "Der Sprinter hat nur drei Sitze." Er hatte es seinen Eltern versprochen, sie am Flughafen abzuholen. Dass es ausgerechnete heute schneien sollte, hatte niemand wissen können. Wahrscheinlich waren auch noch Straßen gesperrt oder nicht geräumt oder sonst was. "Fahr vorsichtig." Marek, der sich mit Feli im Schlepptau zu ihnen gesellt hatte, schlang seine Arme um Tim. Er hielt ihm einen flachen rechteckigen Gegenstand unter die Nase. "Und melde dich mal." Tim schob sein Smartphone in seine Jacke und ging ein letztes Mal durch, ob er noch etwas vergessen hatte. Aber was brauchte man außer Kaffee und einem vollen Tank schon großartig auf einer Fahrt, die vielleicht zwei Stunden dauerte; naja, heute vielleicht auch drei Stunden. Er sah zu Johan und Marek und wusste die Antwort. "Wir brauchen ein größeres Auto", murmelte Tim und machte sich auf den Weg. Am Nachmittag wäre er wieder hier...   "Ich gehe mit Feli raus", rief Marek Johan zu, den er in der Küche rumoren hörte. Feli, die nur ihren Namen verstanden hatte, spitzte die Ohren und sah Marek mit schiefgelegtem Kopf aufmerksam an. Eiskalte Luft wehte durch den schmalen Spalt des gekippten Badfensters in den Raum hinein und wirbelte die Nebelschwaden darin umher, die Tims Duschmarathon dort vor nicht mal einer halben Stunde hinterlassen hatte. Marek stand vor dem beschlagenen Spiegel und wischte das kondensierte Wasser darauf weg. Hinter seinem Spiegelbild sah er das Fenster und vor dem Fenster hatte der Schnee eine kurze Pause eingelegt. Marek atmete erleichtert auf. "Brötchen sind dann auch gleich fertig." Johan mühte sich vergeblich ab, das Brustgeschirr an dem wuseligen Hund anzubringen, der vor Freude über den Spaziergang kaum noch zu bremsen war und in möglichst kleinen Kreisen um Johans Füße raste. "Lass nur, die rennt schon nicht weg." Grinsend hob Marek das kleine Fellbündel hoch. "Haben wir alles, oder soll ich noch schnell was von unterwegs mitbringen?" "Am besten noch irgendwas für heute Abend." Johan schob das Blech mit Aufbackbrötchen in den Backofen und kontrollierte ein letztes Mal den Temperaturregler. Das einzige, womit er hier noch nicht klarkam. "Wird erledigt." Ein schneller Kuss traf Johans Wange. "Bis später."   Wir machen Urlaub! verkündete das Schild an der Tür des Blumenladens. Marek warf einen kurzen Blick in den stillen Laden, dessen einzige Beleuchtung auf die Blumen im Schaufenster schien. Auf dem Rückweg würde er noch einmal hier durchgehen und eventuell gießen und dann war es das, bis der Laden nächste Woche rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft wieder öffnete. Bis dahin waren auch seine Tante und sein Onkel wieder hier, die sich momentan auf einer Rundreise durch halb Europa befanden, um noch vor Jahresende ihre ganze Verwandtschaft zu besuchen. Marek öffnete die Ladentür und sofort flitzte Feli durch den schmalen Spalt nach draußen, wo sie freudig kläffend in die Höhe sprang und sämtliche vom Himmel rieselnde Schneeflocken mit dem Maul aufzufangen versuchte. Bis auf das schneefreie Rechteck vor dem Laden, wo der Sprinter gestanden hatte, lag über allem ein knöchelhoher weißer Teppich. Feli sprang von einem Schneehaufen zum anderen, tauchte ein, um gleich daneben wieder in die Luft zu springen. Sie hatten noch etwa zehn Minuten Zeit, bevor die Läden öffneten und Marek wog schnell ab, ob es sich lohnte, jetzt schon den Bürgersteig freizuräumen. Der Wind hatte ganz schön zugelegt und blies den Schnee, der wieder kräftiger wurde, fast waagerecht vor sich her. Dunkelgraue tiefhängende Wolken ließen kein so schnelles Ende erkennen. Marek pfiff nach Feli, die auf der Stelle zu ihm gerast kam. Je schneller er das Einkaufen hinter sich hatte, um so besser.     Take It As It Comes   Ungeduldig wartete Tim darauf, dass der Zähler an der Zapfsäule endlich stoppte und der Sprinter vollgetankt war. Er sah auf die Uhr im Cockpit. In einer Stunde würde das Flugzeug landen und bis jetzt sahen die Straßen erstaunlich gut aus. Laut Verkehrsservice waren die Hauptstraßen schon freigeräumt oder wurden es gerade. Scheinbar kannte der Räumdienst eine bessere Wetter-App als er selbst. Das Klicken des Zapfhahns riss Tim aus seinen Gedanken. Auf einen Kaffee verzichtete er; er brauchte etwas stärkeres. Vor allem, wenn er in etwas mehr als einer Stunde seiner Mutter klarmachen musste, dass er jetzt doch endgültig zu Marek und Johan zog. Er konnte nur hoffen, dass sie noch etwas in Resturlaubsstimmung war.   Marek zog sein klingelndes Handy aus der Jacke und wischte über das Display. Feli stand vor ihm und wartete mit aufgeregt wedelndem Schwanz darauf, dass ihr neues Herrchen den Schneeball warf, den er in seiner Hand hielt. "Halbe Stunde müsste ich schaffen", antwortete Marek der Stimme aus dem Hörer. Er ließ den Schneeball fallen, wo er stand und nahm den protestierend kläffenden Hund auf den Arm.   Johan sah von seinem Buch auf, als sich die Tür zu ihrer Wohnung öffnete. "Einer von euch beiden ist definitiv zu früh", witzelte er und klappte das Buch zu. "Ich muss auch gleich wieder los." Marek ließ Feli zu Boden, die damit alles andere als einverstanden war, und zog Schuhe und Jacke aus. Er wischte sich die Tropfen der in der Wärme schmelzenden Schneeflocken aus dem Gesicht und steuerte auf das Schlafzimmer zu. "Hast du was vergessen?" "Nein, es kam was dazwischen." Marek knöpfte sich das frische Hemd zu, das er jetzt trug, und griff nach seiner Jacke. Nach seiner guten Jacke, wie Johan bemerkte - seiner formellen Arbeitskleidung, um präzise zu sein. "Oh, okay." "Ich kam leider nicht bis zum Laden", entschuldigte sich Marek, was Johan mit einem aufmunternden Lächeln quittierte. "Kein Problem, ich besorge alles und-" Fast hätte er 'und koche' gesagt, aber das wäre mehr als optimistisch gewesen. "Ist Pizza in Ordnung?" Marek lachte. "Besser als das, was ich heute zustande bringen würde." "Tim wird sicher auch nichts dagegen haben, wenn er zurück ist." "Ich wette, der isst alles, was man ihm heute Abend hinstellt." Ein letztes Mal fuhr sich Marek durch sein Haar. Er atmete tief ein und stieß den Atem hörbar aus. "Na dann bis später." Johan wartete, bis der schwarze Kombi mit den verdunkelten Heckscheiben vom Hof gefahren war. "Hast du Hunger auf Brötchen? Ich hätte da welche übrig." Feli hielt den Kopf schief und blinzelte.   Kapitel 2: Road To Ruin ----------------------- Road To Ruin   Die Scheibenwischer fuhren mit doppelter Geschwindigkeit über die Scheibe und schafften es trotzdem nicht, sie von dem Schnee freizuhalten, der wie irre vom Himmel fiel. Rieseln konnte man das nicht mehr nennen. Innerhalb einer Stunde war aus den zarten Flocken wieder ein undurchdringlich dichtes Schneegestöber geworden, das den Straßenverkehr augenblicklich auf Schneckentempo gedrosselt hatte. Nicht einmal der Räumdienst hatte so schnell streuen können, wie der Schnee fiel. Wenigstens war das Flugzeug seiner Eltern noch planmäßig gelandet. Tim wünschte sich, der Schnee hätte gewartet, bis sie alle wieder zuhause gewesen wären, doch das Wetter hatte ihnen einen fetten Strich durch die Rechnung gemacht. Sie waren noch keine zehn Kilometer auf der Autobahn gefahren, als die ersten Autos vor ihnen bereits immer langsamer geworden waren und schließlich ganz hielten. Und jetzt standen sie hier irgendwo weit von einer Abfahrt entfernt mitten im Stau, ohne Hoffnung, dass es so bald weitergehen könnte. Der Verkehrsservice meldete einen Unfall nach dem anderen und die dazugehörenden Staus. Wie es aussah, war das halbe Land natürlich ausgerechnet heute unterwegs. "Möchtest du eine Orange?" Seine Mutter hielt ihm das Stück Obst vor die Nase. "Später vielleicht", lehnte Tim müde ab. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas durch den Schnee zu erkennen. Zwecklos. Die Straße hatte eine leichte Steigung, bevor sie dahinter wieder abfiel. Mehr als die ersten paar Autos konnte man von hier aus nicht sehen. Wer wusste, wie lang die stehende Kolonne hinter dem Hügel weiter ging? "Soll ich nachsehen?" Sein Vater schien neuerdings Gedanken lesen zu können. "Ach was, wir kommen sowieso nicht weiter, egal wie lang der Stau ist." Orangenduft erfüllte den Sprinter. "Ich steige mal kurz aus", murmelte Tim und machte seiner Mutter Platz, die auf den Fahrersitz nachrückte. Das Feuerzeug flackerte hell auf. Tim musste eine Hand um die wild tanzende Flamme halten, damit sie bei Wind und Schnee nicht gleich wieder erlosch. Knisternd glühte die Spitze seiner Zigarette auf, als er die Flamme daran hielt, und warf einen warmen Schein auf sein Gesicht. Es war das erste Weihnachten ohne Esther, fiel es Tim ein. Überhaupt alles, was nach dem Tod seiner Oma im Sommer gefolgt war, war das erste Mal gewesen. Der erste Geburtstag seiner Mutter ohne Esther. Tims Geburtstag ohne Esther. Und jetzt die Vorweihnachtszeit ohne sie. Was, wie er dachte, vermutlich gerade die schlimmste Zeit für seine Mutter sein dürfte. Gedankenverloren sah Tim der ausgeatmeten Rauchwolke nach, die vor ihm in den Himmel aufstieg. Vielleicht wurde es ab nächstem Sommer ja leichter für sie alle? Wenn nach dem ersten Jahrestag alles das zweite Mal ohne Esther stattfinden würde. Ein Blick zu seiner Mutter ließ diesen Gedanken wie einen dieser gutgemeinten Ratschläge wirken, die in Wirklichkeit einfach nur die eigene Hilflosigkeit verkörperte. Tim schnippte die Zigarette in den Schnee und stieg ins Auto.   Kaum saß er wieder auf dem Fahrersitz, als sein Handy eine Nachricht ankündigte. Wie geht’s?, wollte Johan wissen. Stehen im Stau... Ende in Sicht? Nope Aber wir haben Orangen und Muscheln aus Gran Canaria, setzte er seiner letzten Nachricht hinterher. Du Glücklicher. Feli und ich haben nur Brötchen... Irgendwas kam Tim spanisch vor, und es waren nicht die Orangen oder die Muscheln. Sein Finger tippte gerade auf Antworten, als sein Vater neben ihm aufschrie. "Es geht weiter!" "Endlich", entgegnete Tim und ließ das Auto an. Der schönste Anblick für heute ging an die Autokolonne, die sich langsam Auto für Auto in Bewegung setzte. Als die Reihe an ihnen war, trat Tim aufs Gas, doch statt anzufahren, gaben die Reifen ein jämmerliches Winseln von sich. Tim überlief es eiskalt. "Oje", kommentierte seine Mutter die durchdrehenden Reifen und fasste damit alles zusammen, wofür Tim normalerweise gerade nur Schimpfwörter einfielen. Ein Rücklicht nach dem anderen verschwand hinter dem Hügel, ohne dass der Sprinter auch nur Anstalten machte, ihnen zu folgen. Statt sich ebenfalls vorwärts zu bewegen, rutschte er nach hinten weg. Verdammter Frontantrieb! Tim, dem das Herz bis zum Hals schlug, versuchte es noch einmal. Erfolglos. Der Sprinter schlitterte bloß nach links und rechts, aber keinen Millimeter nach vorne. "Fuck", flüsterte Tim und musste unwillkürlich lachen, weil er an Esther denken musste, die von Johan hatte wissen wollen, was Fuck heißt, als es Tim bei einem Besuch aus Versehen herausgerutscht war. Mann, die hatte ihn vielleicht zusammengefaltet, nachdem es ihr einer ihrer Bekannten im Altenheim schließlich verraten hatte. Sie hatte ihm sogar den gleichen Blick zugeworfen wie seine Mutter gerade in diesem Moment... "'tschuldigung", stieß Tim lachend aus. Irgendwann musste er seiner Mutter mal sagen, wie sehr sie und Esther sich glichen. Und das meinte er ausnahmsweise als Kompliment.   Vorsichtig bremste Marek den Kombi am Straßenrand ab. "Mann, was für ein Wetter", seufzte der junge Mann, der sich neben ihm auf den Beifahrersitz fallen ließ. "Wem sagst du das?!" Marek warf einen Blick zu seinem Sitznachbarn, der sich den Schnee aus den Haaren schüttelte. "Weißt du schon mehr?" Kopfschütteln. "Nur, wie viele." Marek atmete unhörbar aus.     It's A Long Way Back   "Lass ihn mal ein Stück zurückrollen und versuch es dort, wo der Schnee noch nicht so glattgefahren ist." Der Tipp seiner Mutter war gut. Tim tat, was ihm geraten wurde. Mittlerweile war niemand mehr hinter ihnen und alle, die noch kamen, wichen dem Sprinter mit dem blinkenden Warnlicht rechtzeitig auf die Überholspur aus. Tim gab vorsichtig Gas. Die Räder griffen tatsächlich wieder, doch als sie auf den vereisten Flecken kamen, war es das. Das helle Surren der durchdrehenden Reifen fraß sich ins Tims Nervenkostüm. "Ich weiß was", meldete sich sein Vater zu Wort. "Komm nach draußen und bring die Fußmatten mit." "Was willst du damit?", rief Tim gegen den eisigen Wind an, der ihnen draußen um die Ohren pfiff. Er hielt seinem Vater die Fußmatte von der Fahrerseite hin. "Wir legen die Matten hinter die Reifen. Du lässt den Wagen draufrollen und gibst dann Gas." Sein Vater platzierte die Matten und bedeutete Tim, wieder einzusteigen. "Nicht zu viel Gas, okay? Und fahr weiter, bis du auf dem Hügel bist, ich komme nach." Tim startete den Sprinter und ließ ihn rollen, bis sein Vater von draußen die Hand hob. Dann gab er Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, als die Reifen auf den Matten Halt fanden. Sein Vater schrie irgendwas, als sie an ihm vorüber zuckelten und Tim gab noch mehr Gas. Sie hatten fast den höchsten Punkt des Hügels erreicht als seine Mutter das Fenster auf der Beifahrerseite herunterkurbelte und nach draußen sah. "Oh Gott, dein Vater", stieß sie erschrocken aus. Tim zuckte zusammen und würgte prompt den Sprinter ab. Seine Mutter lachte und für einen winzigen Augenblick war Tim erleichtert. Er rückte zu seiner Mutter hinüber und folgte ihren Blicken. Sein Vater kam angelaufen und schwenkte dabei die Fußmatten in den Händen. Allerdings konnte man ihn kaum erkennen, denn seine gesamte Vorderseite war über und über mit Schnee bedeckt. "Warum habt ihr denn angehalten?", beschwerte sich sein Vater, als er endlich zu ihnen aufgeholt hatte. Ein Klumpen schmutziger Schnee fiel ihm von der Stirn. "Ich glaube, das war wohl meine Schuld." Seine Mutter lachte leise vor sich hin. In ihren Augenwinkeln glitzerte es verdächtig. Ihr Mann sah aus, als wäre vor ihm ein Schneehaufen explodiert. Auch Tim konnte sich nicht länger das Lachen verbeißen. "Ihr hattet es fast geschafft", murrte der Schneemann, während ihm weitere Klumpen Schnee von der Vorderseite fielen. Er hob die Hände und zeigte ihnen die Matten, die genau wie er völlig mit Schnee bedeckt waren. "Sind leider nicht mehr zu gebrauchen..." "Ist jetzt auch egal", prustete Tim und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. "Ich rufe den Abschleppdienst."   "Hey", begrüßte Tim Marek gutgelaunt, der ihn per Videochat anrief. "Wie geht’s euch?" "Und wie geht’s Feli?", rief seine Mutter dazwischen. Sie winkte Marek auf dem Display zu, der zurück winkte. "Soweit ich weiß, ging es allen bis eben gut", beantwortete Marek brav die Frage von Tims Mutter. "Dann bin ich ja beruhigt." Tims Mutter rückte weiter zu ihrem Sohn hin, um einen besseren Blick auf das Display zu haben. Sie beugte sich näher zu dem Smartphone herab und flüsterte: "Du rätst nie, was Tim eben fertiggebracht hat!" Sie konnte den Satz kaum beenden, ohne nicht wieder kichern zu müssen. "Ja, erzähl es ihm nur", rief Tims Vater von hinten aus dem Laderaum des Sprinters. Es rumpelte und dann quetschte er sich zwischen den Vordersitzen nach vorne. Mit offenem Mund bestaunte Marek Tims Vater, der neben seiner Frau auf dem Bildschirm erschien. Er trug ein schrilles Hawaiihemd, was zu dieser Jahreszeit ein bisschen deplatziert wirkte. "Okay, jetzt will ich es wissen." Marek schielte nach links hinüber zu Thomas, seinem Assistenten, der auf der Rückfahrt das Fahren übernommen hatte. "Dauert viel zu lange", wimmelte Tim seinen Vater kurzerhand ab, der eben zu einer Erklärung ansetzte, warum er hier in seinem Urlaubshemd saß. Er drehte das Display etwas weg, so dass nur noch er selbst Marek sehen konnte. "Hier ist ja sogar eine Decke", rief sein Vater und kramte die Wolldecke hinter dem Fahrersitz hervor, die dort schon seit Sommer lag. "Sehr umsichtig, im Winter eine Wolldecke ins Auto zu legen", lobte er seinen Sohn, der ihn ertappt ansah. Tim biss sich auf die Unterlippe. Er konnte seinen Eltern unmöglich sagen, warum die Decke, die sie sich gerade über die Beine drapierten, im Auto lag. Es hatte nämlich ganz und gar nichts mit Winter und Schnee zu tun, sondern mit Sommer und Marek... "Wir warten jedenfalls auf den Abschleppdienst", wandte sich Tim wieder an Marek, der geduldig gewartet hatte. "Ich habe aus Versehen das Auto festgefahren." "Aber euch geht’s gut, oder?" Tim nickte. "Wir haben Orangen hier", flötete seine Mutter dazwischen und Marek grinste. "Darüber wird sich Johan sicher freuen, außer Brötchen haben wir nichts zuhause", gestand Marek etwas kleinlaut. "Dann kommt ihr nachher zu uns essen", wurde er angewiesen. "Und du?" Tim hielt kurz inne. "Warum trägst du Arbeitskleidung?" Er hörte, wie Marek seufzte. "Ist auch 'ne lange Geschichte." "Okay, aber ich will sie hören, ja?" Marek nickte. "Ich freue mich, euch nachher zu sehen." "Wir uns auch", riefen Tims Eltern dazwischen. Tim verdrehte die Augen, lachte aber. "Ja, was sie sagten..."     E N D E Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)