Residuum von MeriRene ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Kapitel 3     Newt Scamander achtete sorgfältig darauf, dass ihm niemand folgte. Er apparierte und disapparierte mehrfach hintereinander, suchte sich die dunkelsten Orte aus und schlug zunächst einen Weg in Richtung Osten, nach Queens ein, um seine Spuren zu verwischen. In kurzen Abständen, tauchte er mal hier, mal dort auf, machte schließlich einen größeren Sprung in den Norden der Stadt und von dort einen letzten Sprung, zurück an die Südspitze von Manhattan, als er sich endlich sicher war, dass er keinen Verfolger hatte.   Ein wenig unwohl fühlte er sich schon bei dem Gedanken, dass er Tina und Queenie Goldstein nicht in sein Vorhaben eingeweiht hatte. Beide waren durchaus talentierte und verständnisvolle Hexen, die ihm womöglich Hilfe leisten konnten. Doch auf der anderen Seite war es ihm noch wichtiger, dass die beiden Schwestern seinetwegen nicht wieder in so ein Chaos gestürzt wurden, wie es vor wenigen Tagen der Fall gewesen war. Noch einmal würde es die Präsidentin wohl nicht bei einer einfachen Versetzung belassen. Wenn Newt jemanden in Komplikationen verstricken wollte, dann nur noch sich selbst. Und er befürchtete, dass er sich mit seinem Unternehmen auf jeden Fall in höchste Schwierigkeiten brachte.   Er war sich nicht gänzlich sicher, aber er hoffte oder wünschte sich zumindest, dass Credence Barebone noch am Leben war. Und möglicherweise kannte er sogar dessen aktuellen Aufenthaltsort. Der MACUSA hingegen wäre wohl weniger erfreut, von dieser Gegebenheit zu erfahren. Vor zwei Tagen hatten sie ohne zu zögern alles darangesetzt, den Obscurus zu zerstören, den der Junge in sich beherbergte. Zugegeben, Credence hatte mit dieser Kraft durchaus gewaltigen Schaden angerichtet und drei Menschenleben gefordert. Doch auf der anderen Seite stand die unumstößliche Tatsache, dass ein Obscurial keine Kontrolle über den Obscurus ausüben kann und welche Schmerzen man letztendlich erfahren musste, wenn die Macht aus einem herausbricht, davon wollte sich Newt keine genauere Vorstellung machen. Ihn trotz dieses altbekannten Wissens eiskalt zu vernichten, war in Newts Augen nur das erbärmliche Abbild eines glorreichen Triumphes. Credence hätte mindestens einen fairen Prozess verdient, aber mehr noch die Hilfe der magischen Gemeinschaft.   Newt hatte in den letzten beiden Tagen noch ein paar Mal Bekanntschaft mit dem MACUSA, insbesondere der Präsidentin Picquery gemacht. Sie war klug und auch verständnisvoll, so wie im Falle von Tina, welche nach einigen lobenden Worten seitens Newt, durch Picquerys Entscheidung zurück in die Aurorenabteilung versetzt wurde. Doch sobald es um die Sicherheit der magischen Gesellschaft und Rappaports Gesetz ging, verflog jeglicher Hauch von Mitgefühl und Vernunft. Es war, wie die Muggel es gerne zu sagen pflegten, als würde man einem Pferd Scheuklappen aufsetzen. Für die Präsidentin war das einzig wichtige Ziel, die Geheimhaltung und Trennung der magischen Bevölkerung, von der nichtmagischen und je schneller ein Problem gelöst wurde, desto besser. Und wenn es nach der Ansicht des MACUSA sein musste, schreckte man auch nicht vor dem Tod zurück, wie es Newt traurigerweise hatte erleben müssen. Es war egal, ob derjenige es mit Absicht getan hatte oder aus Versehen, solange es die Geheimhaltung sicherte, schien ihr jedes Mittel recht zu sein.   Doch Newt dachte keineswegs so, wie der überwiegende Teil der amerikanischen magischen Bevölkerung. Vielleicht lag es an seinem außerordentlichen Einfühlungsvermögen, seinem Drang nach mehr Erkenntnis und Einsicht oder einfach nur daran, dass er Engländer war und deswegen anders tickte. Er wollte diesem jungen Mann helfen, ihm eine zweite Chance geben - falls dieser bereit dazu war. Das Schicksal zumindest, schien auf seiner Seite zu sein, denn Newt war offenbar der Einzige gewesen, der bemerkt hatte, dass ein kleiner Teil des Obscurus lebend aus dem U-Bahn-Tunnel hatte fliehen können. Für Credence gab es nun wohl kaum einen anderen Zufluchtsort, als sein altes Heim und so war dies der erste Anlaufpunkt gewesen, an dem Newt nach ihm suchen wollte. Zwar hatte er ihn dort noch nicht angetroffen, aber er konnte sich vorstellen, wie unsicher und verängstigt der Junge nach all diesen Erlebnissen war und statt die Kirche nach ihm zu durchforsten, hatte er einen aufklärenden, entschuldigenden Monolog in der Haupthalle gehalten, in der Hoffnung, dass der Junge ihm zuhören würde. Er konnte nicht erwarten, dass er ihm sofort sein volles Vertrauen schenkte. Aber er konnte ihm zumindest zeigen, dass er ihn nicht vergessen hatte und sich ernstlich Sorgen machte.   Newt stand nun an der Ecke der Pike Street und gegenüber sah er die dunkle Silhouette der Second Salemers Church. Das schmale, symmetrische Haus, mit seinem Spitzdach und den gotisch angehauchten Fenstern, wirkte zwischen den breiten und massiven Backsteingebäuden absolut fehl am Platz. Anders als seine doppelt so hohen Nachbargebäude, bestand es aus rostigen Blech und bemaltem Holz, wirkte unfreundlich, schutzlos und kalt. Die Kirche war ein wenig zurückgesetzt und verschwand beinahe im Schatten dieser Bauten. Selbst das kleine Wellblech-Häuschen mit der grünen Tür, welches ein stückweit zur Straße hin gebaut worden war und als Eingang diente, konnte nicht verhindern, dass man es leicht übersah und daran vorüberlief.   Das Haus lag ruhig und finster da, so wie in der Nacht zuvor. Doch Newt hatte schon beim ersten Betreten des Gebäudes das kribbelige Gefühl im Nacken gehabt, welches ihm verriet, dass er nicht alleine gewesen war. Newt blickte sich ein letztes Mal aufmerksam um, dann eilte er zügig auf das Tor der Kirche zu. Er öffnete es so leise, wie er konnte und schlüpfte hinein. Der Boden des Raumes wurde flüchtig mit dem trüben Licht der Laternen beleuchtet, ein paar Schneeflocken flogen tänzelnd in den Flur, dann fiel die Tür zu und Newt stand im Dunklen. Er zückte seinen Zauberstab.   „Lumos modico.“   Ein schwacher Lichtstrahl, kaum heller als der Schein einer Kerzenflamme, brach aus der Spitze seines Zauberstabes hervor und beleuchtete die hölzernen Dielen vor ihm. Im Gegensatz zu der mondklaren Nacht davor, in der er noch Schemen und Umrisse hatte erkennen können, hatte er nun beschlossen, nicht länger im Dunklen durch den Raum zu laufen. Die mattleuchtende Zauberstabspitze nach unten gerichtet, betrat er langsam den Hauptraum und steuerte erneut auf den Tisch zu.   Als am Rand des Lichtkegels die Umrisse einer liegenden Person auftauchten, hielt er inne. Eingehüllt in seinen alten Mantel und einen verunsicherten Ausdruck im Gesicht, starrte ihm Credence‘ bleiches Gesicht entgegen. Der junge Mann richtete sich mühselig auf und obwohl Newt den zwanghaften Drang verspürte, ihm zu Hilfe zueilen, tat er es nicht.   Viel mehr ging er diese Begegnung so an, als würde er ein Tier beobachten. Da war ein unbekanntes Wesen, eine noch scheue Kreatur, die erst bedächtig abschätzen musste, ob man ihm trauen konnte und wie nahe man ihn heranlassen wollte. Ein falscher Tritt oder eine zu schnelle Bewegung, konnte die Situation gefährden und Newt, wie schon einige Male zuvor, in die Bredouille bringen. Er wusste, dass Credence sicherlich nichts Böses vorhatte, aber der Junge war verängstigt und geschwächt, möglicherweise sogar verletzt. Dass er die Kontrolle über den Obscurus verlieren könnte, sollte er sich bedroht fühlen, war nicht undenkbar.   „Wie geht es dir, Credence?“, fragte Newt leise, sodass seine Stimme nicht zu stark von den hohen Wänden widerhallte. Reglos blieb er dort stehen, wo er gerade war, seine Aufmerksamkeit nur auf den Jungen gerichtet. Er wartete. Credence schien einen Moment mit einer Antwort zu ringen.   „M-Mir tut… alles weh“, hörte er ihn heiser sprechen. „Und i-ich spüre meinen Arm nicht mehr.“   Newt überlegte einen Moment und fragte dann sanft: „Darf ich mir das ansehen?“   Credence zögerte, doch dann nickte er kurz, eine schwache Bewegung in der Dunkelheit. Langsam und freundlich lächelnd, trat Newt näher, sehr darauf bedacht, in der Finsternis nirgendwo gegen zustoßen. Er ließ sich auf der Sitzbank neben ihm nieder. Credence versuchte derweil seinen Arm aus dem Jackenärmel zu ziehen. Newt stellte seinen Koffer behutsam auf den Boden, wippte kurz mit seinem Zauberstab, damit dieser gemächlich an Helligkeit zunahm und legte den Stab lautlos auf die Tischplatte, damit er beiden genügend Licht spendete. Credence hatte innegehalten und alles mit großer, ängstlicher Neugierde beobachtet, denn Blick nun fasziniert auf das leuchtende Holz geheftet.   Sachte streckte Newt die Hände aus und half dem jüngeren Mann mit dem Kleidungsstück. Gemeinsam konnten sie den schlaffen Arm aus dem Mantel befreien und behutsam umfasste Newt das eiskalte Handgelenk. Im Schein des immer noch zunehmenden Lichtes, stachen vor allem die Venen hervor. Als er sorgfältig den Ärmel hochschob, bekam er einen weiteren Eindruck des Ausmaßes der Verletzungen. Die Blutgefäße zogen sich wie ein formloses Netz unter der Haut entlang, von den Fingerspitzen bis hinauf zum Hals – dunkel verfärbt und viel deutlicher, als im Normalzustand. Gründlich inspizierte er Credence‘ Arm, drehte ihn im Schein des Lichtes ein wenig herum und bemerkte schließlich auch die rötlichen, geraden Striemen auf der Handinnenfläche. Markante Narben, die er das ein oder andere Mal auch bei Tieren entdeckt hatte – Narben, hervorgerufen durch die kraftvolle und peinigende Macht von Peitschen oder Riemen.   Er bemerkte, dass der junge Mann etwas unruhig wurde und blickte zu ihm auf. Ein sorgenvoll fragender Blick wanderte hastig zwischen dem Arm und dem Zauberer hin und her.   „Das krieg ich wieder hin“, versprach Newt zuversichtlich und er wusste im ersten Moment selber nicht, ob er es auf die Venen oder die Narben bezog. Dann fügte er – vielleicht auch für sich selbst - erklärend hinzu: „Das ist nichts Ungewöhnliches, wenn man eine ganze Ladung diverser Flüche abbekommen hat. Du hast bestimmt auch Gliederschmerzen und ein Ziehen in der Magengegend? Ein Stechen im Brustbereich? Schwindel?“ Credence nickte bei jedem der erwähnten Symptome. Dann schaute Newt prüfend über den Tisch und entdeckte nur eine Armlänge von sich entfernt, die unberührte Flasche mit dem Stärkungstrank. Er griff beherzt danach und nestelte an dem Korken herum.   „Es gibt verschiedene Arten von Zaubersprüchen, musst du wissen. Viele erleichtern unseren Alltag, andere bereiten uns Vergnügen und ein paar sind leider äußerst unangenehme Flüche. Etliche von Hexereien können erst auf Befehl beendet werden, aber die Meisten lassen mit der Zeit von alleine nach.“ Mit einem leisen ‚Plopp‘ öffnete er das Fläschchen und hielt es Credence vorsichtig entgegen, der sich unsicher zurücklehnte und immer noch misstrauisch auf die blaue Flüssigkeit starrte. Newt sprach vorerst unbeirrt weiter. „Dasselbe gilt für Zaubertränke. Dieser hier beschleunigt den Abbau der Magiewirkung und hat einen dauerhaften Effekt. Er schwächt den Fluch ab, lindert Schmerzen und spendet Kraft und Energie. Es ist unterschiedlich, wie schnell der Trank wirkt, je nachdem wie stark der zu lindernde Zauber oder das Symptom ist. Aber auch die Anzahl der Zauber verzögert die Wirkung. Um ehrlich zu sein, hattest du sogar Glück, dass du bei der Masse von Flüchen nicht gestorben bist. Ich nehme an, da du bei dem Angriff praktisch körperlos warst, haben sich die Folgen der Magie bei dir anders ausgewirkt. Das Meiste hat der Obscurus abbekommen, aber da er selbst eine Form von Magie ist, hat er viele der Zauber einfach absorbiert oder neutralisiert. Er hat dir im Grunde das Leben gerettet.“   Credence hatte seinem kurzen Vortrag aufmerksam gelauscht, doch noch immer machte er keinerlei Versuche, den Trank zu probieren. Newt seufzte ergeben. „Also, wenn ich dich wirklich vergiften wöllte, hätte ich es auch mit dem Tee oder dem Essen versucht. Hier…“ Newt nahm nun selber einen kräftigen Hieb von dem bläulichen Getränk. Er verzog das Gesicht und schüttelte kurz den Kopf. „Na gut… ich gebe zu… er schmeckt etwas scheußlich. Aber bei Muggelmedizin soll das wohl nicht anders sein.“   Endlich ein wenig überzeugt, nahm ihm Credence das Fläschchen ab, hob es an seine Lippen und trank einen winzigen Schluck. Auch er verzog das Gesicht, aber blickte dann verwundert hinunter zu seinem betäubten Arm. Seine Fingerspitzen bewegten sich. „Ich spüre meine Finger wieder“, stellte er fest. In seiner heiseren Stimme schwang eine Spur Begeisterung mit. „Zumindest ein bisschen.“ Davon ermutigt, nahm er einen weiteren, größeren Schluck.   „Das muss ein partieller Lähmungszauber gewesen sein. Die kann man recht einfach aufheben. Aber ich schätze, dass es trotzdem noch etwas dauern wird, bis die Lähmung und die restlichen Zauber aufgehoben sind. Das Stechen in der Brust wird vermutlich am längsten bestehen bleiben.“   Credence musterte noch kurz seine Finger, dann fing er umständlich damit an, den Mantel wieder überzuziehen. Newt nahm ihm die kleine Flasche ab, verkorkte sie und verstaute sie in seiner Jacke. Dann streckte er die Arme aus, um ihm wieder zu helfen.   „Sind…Sind Sie ein Arzt?“, hörte er Credence fragen, während er ihm gerade den Kragen richtete. „Äh, nein. Ich bin Magizoologe.“ Credence blickte ihm ratlos entgegen. „Eine Art Tierforscher. Ich bin eigentlich nach Amerika gekommen, weil ich einen Donnervogel nach Hause bringen wollte. Ein riesiger Vogel, mit mehreren Flügeln, der seine eigene Wetteratmosphäre erschaffen kann“, fügte er hinzu, als Credence ihn immer noch fragend ansah. Allerdings machte es die Beschreibung nicht besser. Newt grinste ihn amüsiert an.   „Na gut, lassen wir das erstmal beiseite und kommen wir zum eigentlichen Thema: Wärst du bereit, mit mir nach England zu kommen?“   Obwohl es abzulesen war, dass diese Frage im Laufe der Unterhaltung fallen würde, schien Credence sehr überrascht zu sein. Seine Augen fixierten nervös einen Punkt auf seinen Knien und seine Körperhaltung wurde recht steif, die Lippen pressten sich aufeinander.   „Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte Newt freundlich, fügte jedoch ernst hinzu: „Aber es wäre mir lieber, wenn du zumindest nicht hier in New York bleiben würdest. Der MACUSA… oder eher die magische Bevölkerung hier, hält dich für tot und im Gegensatz zu mir wären sie nicht so erleichtert, dass du noch am Leben bist.“   Es wurde still im Raum. Credence schien über die Bedeutung der Worte nachzudenken. Newt warf einen kurzen Blick auf seine Uhr und stellte fest, dass es nun fast halb Eins war. Er würde nicht mehr lange bleiben können, sondern musste zurück in sein Zimmer, bevor Tina und Queenie seine Abwesenheit bemerken konnten. Immerhin konnte er Credence noch ein paar Tage Bedenkzeit geben. Außerdem brauchte er selber dringend etwas Schlaf. Am gestrigen Morgen hatte er behauptet, dass der Niffler wieder Schwierigkeiten gemacht hätte – natürlich nur innerhalb des Koffers – doch er konnte nicht immer mit einer neuen oder gar derselben Ausrede für seine Müdigkeit aufwarten. Abgesehen davon, dass beide Schwestern nicht dumm waren, konnte Queenie auch noch Gedankenlesen und sie hatte bereits den Eindruck gemacht, als würde sie Newts Erklärung nicht recht glauben. Er konnte also nur hoffen, dass sie entweder sehr diskret war oder tatsächlich Probleme mit seinem britischen Akzent hatte.   „Warum… warum haben sie mir nicht geholfen?“, fragte Credence zögerlich. „Die anderen Zauberer, meine ich.“ Er starrte noch immer auf seine Knie und er fing damit an, seine Hände zu kneten, als wäre ihm plötzlich bewusstgeworden, dass seine Frage völlig unangebracht war.   Newt seufzte nachdenklich und beobachte kurz Credence‘ sich windende Finger. „Weißt du… es herrschen hier strenge Regeln. Nicht nur bei den Muggeln – den nichtmagischen Menschen – sondern auch in der Zauberergesellschaft. Beide Parteien dürfen nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander interagieren. Es gibt ein richtiges Gesetz dafür, dass Zauberer und Hexen sich nicht mit Muggeln treffen dürfen, sich mit ihnen anfreunden oder gar verheiraten. Ein Auslöser dafür ist jene Aktion, die deine Adoptivmutter so angepriesen hat: Die Hexenprozesse von Salem.“ Credence blickte erschrocken zu Newt auf. „Deswegen haben… haben sie versucht… mich zu töten?“ Sofern es überhaupt möglich war, wurde er noch bleicher. Seine Finger kratzten unruhig über den Stoff seiner Hose.   „Nein, nein“, sagte Newt rasch. Das Letzte, was er gewollt hatte, war, dem Jungen noch mehr Angst zu machen. „Nein, es ist eher… es ist nicht deine Schuld, Credence und das darfst du keine Sekunde lang glauben. In den Augen der magischen Regierung von Amerika hast du vielleicht das oberste Zaubereigesetz gebrochen. Aber die Leute haben sich im Laufe der Zeit so sehr darauf versteift, dass sie vollkommen blind für andere Betrachtungsweisen geworden sind. Ihnen ist es egal, ob du von dem Gesetz weißt oder nicht, ob du es mit Absicht oder Unwissenheit gebrochen hast. Sie sehen nur, dass du es getan hast, das ist alles was für sie zählt, um ein derartiges Urteil zu fällen. Aber ich sehe das nicht so, Credence, und viele andere auch! Du kannst nichts dafür und es war falsch von ihnen, dich anzugreifen. In anderen Ländern gibt es zumindest medizinische Einrichtungen, wo man dich hätte betreuen können, auch wenn das selbstverständlich keine dauerhafte Lösung ist. Jedenfalls würde ich dich gerne aus… na ja, es wäre mir zumindest lieber, wenn ich wüsste, dass du nicht mehr hier in New York wärst, direkt unter den Augen des MACUSA. Ich will nicht, dass dir das noch einmal passiert.“   Credence musterte ihn mit einem unsicheren, fragenden Blick. „Wieso?“, fragte er schließlich. Newt schaute ebenso fragend drein. Credence holte kurz Luft und fuhr damit fort, seine Knie zu betrachten, während er mit zittriger Stimme weitersprach. „Wieso wollen Sie mir helfen? Und… und warum sollte ich Ihnen vertrauen? Ich habe auch… Ich habe auch Mr Graves vertraut und er…“ „Das war nicht Mr Graves“, unterbrach ihn Newt mit hastigem Nachdruck. Der Junge horchte verwundert auf. „Der richtige Name des Mannes, den du kennengelernt hast, lautet Gellert Grindelwald und er ist ein äußerst gefährlicher Schwarzmagier aus Europa. Er versucht schon seit vielen Jahren ein Regime aufzubauen, um damit die Herrschaft über die Zauberer und Muggel zu erlangen, bis er vor etwas mehr als einem Monat spurlos verschwunden ist. Zum gleichen Zeitpunkt muss er den echten Graves entführt, wenn nicht sogar getötet haben und hat seinen Platz beim MACUSA eingenommen – er hat einen Verwandlungszauber benutzt, der sein Aussehen verändert hat“, fügte Newt erklärend hinzu. „Ich nehme an, du hast ihn auch erst vor ein paar Wochen getroffen?“   Credence nickte bestätigend. Er starrte wieder hinunter, sein Blick war nachdenklich und verwundert, aber wieder etwas lockerer und entspannter. Diese Neuigkeit schien ihn sehr verwirrt zu haben und beinahe konnte Newt erraten, welche Überlegungen sich in seinem Kopf formten.   „Ich weiß nicht, was der echte Mr Graves getan hätte und ich will keine Vermutungen anstellen. Aber Grindelwalds Absichten waren böse und zutiefst verwerflich. Für ihn warst du nicht mehr, als ein Machtwerkzeug und solange wie du ihm dienlich für seinen Aufstieg und seine Herrschaft über die Muggel gewesen wärst, hätte er dir alles erzählt, was du hören willst.“   „Woher weiß ich, dass Sie nicht etwas Ähnliches planen?“   Newt starrte ihn für ein paar Sekunden verdutzt an, doch dann nickte er verständnisvoll. Natürlich hatte er mit so einer Frage gerechnet und zum Glück hatte er einen Plan in petto, wie er den Jungen von seiner ehrlichen Absicht, ihm helfen zu wollen, überzeugen konnte. Oder zumindest hoffte er, dass es funktionierte. Der Schlaf, den sein Körper verlangte, musste er wohl doch noch eine Weile verschieben.   Newt erhob sich von der Bank, nahm seinen Zauberstab und wandte sich seinem Koffer zu. Er kniete davor und werkelte an den Verschlüssen herum. Der Deckel schnappte klickend auf und er sah zu Credence hinüber, der sich neugierig, aber auch wachsam nach vorne beugte, um zu sehen, was Newt vorhatte.   „Ich weiß, dass ich dich kaum mit Worten von meiner Aufrichtigkeit überzeugen kann. Es wäre auch töricht von dir, wenn du das so einfach zulassen würdest, nach allem was man dir angetan hat. Aber vielleicht kann ich dir etwas zeigen, was deine Meinung ändert. Oder viel mehr: Jemanden.“ Mit diesen Worten steckte Newt seine Füße in den Koffer. Doch anstatt einfach nur mit den Schuhen auf dem Boden zu landen, versanken die Füße immer tiefer, dann die Unterschenkel, die Knie und schließlich steckte er bis zur Hüfte in seinem Koffer, den Zauberstab so haltend, dass er noch immer genügend Licht spendete. „Komm mit.“ Newt streckte Credence eine helfende Hand entgegen.   Mit großen Augen und leicht geöffneten Mund, starrte ihm der Junge entgegen, für einen Moment unschlüssig, was er tun sollte. Sein Blick huschte beinahe panisch zwischen dem Koffer und Newts zuversichtlich lächelndem Gesicht hin und her. Doch dann, zögernd und mit einem Ausdruck, als würde er gleich versuchen in eine Falle zu greifen, umfasste er Newts Handfläche. Newt ließ sich ruckartig hinunterfallen und zog den erschrockenen Credence mit sich, der kopfüber in dem Koffer verschwand.   ~*~*~    Sie stürzten hinab, das Licht des Zauberstabes wirbelte umher und die beiden rauschten durch die Luft, welche sich schlagartig veränderte, wärmer wurde und nun einen leicht modrigen Duft beherbergte.   Erst nachdem beide sicher mit den Füßen auf dem Boden gelandet waren, wurde Newt schlagartig bewusst, dass es wohl eine ziemlich dämliche Idee gewesen war, den verängstigten, geschwächten Mann auf diese Weise in den Koffer zu locken. Hastig und besorgt warf Newt einen Blick auf seinen Nebenmann, der sich nun krampfhaft an seinen Arm klammerte, doch Credence war bereits hin und weg von dem ungewohnten Anblick, der sich ihm bot.   Die beiden Männer befanden sich nun in einer Art Schuppen. Direkt hinter ihnen befand sich eine Leiter, die wieder nach oben führte und an der Kante eines kleinen, rechteckigen Fensters endete, durch welches sie soeben gefallen waren. Die Wände des Raumes waren größtenteils von Schränken und Regalen gesäumt, allesamt vollgestellt mit bunten Flaschen und Dosen, alten Büchern, Papierrollen, einem Fotoapparat, zwei Ferngläsern und unzähligen, exotischen Pflanzen. Bleistiftzeichnungen, handschriftliche Notizen und Fotografien waren an eine Pinnwand geheftet. Riesige Netze und groteske Masken baumelten von der Decke herab. Ein äußerst mitgenommener Schreibtisch war beladen mit diversen Gegenständen, darunter eine erleuchtete Öllampe, eine Schreibmaschine und einigen Ständern mit Reagenzgläsern. Dazwischen lagen weitere Bücher und lose Seiten, Federn und Tintenfässer, Zeichengeräte, medizinisches Besteck und eine noch dampfende Teekanne, die einen leicht würzigen Hauch im Raum versprühte.   Newt atmete erleichtert aus, als er erkannte, dass Credence sich voll unter Kontrolle hatte. Dieser wandte nämlich seinen Kopf in alle Richtungen und schien nicht recht zu wissen, wo er zuerst hinschauen sollte, die Spur eines verzückten Lächelns auf den Lippen. Nachdem sich der erste Schock langsam gelegt hatte, löste er sich von Newt und wanderte langsam und mit kleinen, holprigen Schritten durch den Raum, ließ seinen neugierigen Blick über dieses und jenes schweifen und inspizierte das ein oder andere Objekt etwas näher. Nicht nur die Größe und Fülle des verborgenen Raumes, schien ihn zu beeindrucken, sondern auch die sich bewegenden Motive der Fotografien zogen ihn in den Bann. Aufmerksam verfolgte er, wie ein Schwarm voller sonderbarer geflügelter Wesen nicht nur in der eigenen Fotografie seine Kreise zog, sondern das ein oder andere Exemplar im Rand verschwand und in dem Schnappschuss daneben wieder auftauchte. Voller Staunen erblickte er Bilder von feuerspeienden Drachen, einem hektisch umher sausenden kleinen Vogel und einem Einhorn, welches sich schüchtern im Gestrüpp des Hintergrundes versteckte, als Credence sich ungläubig nach vorne beugte, um es genauer zu betrachten.   Newt verfolgte alles ganz aufmerksam und lächelte zufrieden, dass dieser erste Teil seines Planes so reibungslos funktioniert hatte. Er gewährte ihm noch ein paar Minuten des Staunens und Entdeckens, bevor er den nächsten Zug in Angriff nehmen wollte.   „Das… das ist… kein Traum… oder?“ Credence löste seinen Blick von einer detailierten Zeichnung verschiedener Drachenflügel und wandte sich zu Newt herum. „Nein“, antwortete dieser. „Das ist alles echt.“ Er trat neben den verblüfften Jungen und deutete auf ein paar der Drachenfotografien. „Während des Weltkrieges habe ich diese Drachen studiert. Man nennt sie Ukrainische Eisenbäuche und sie sind die größte, existierende Drachenart. Äußerst gefährlich, auch wenn sie recht langsam sind. Allein durch seine Größe und das Gewicht, kann ein einziges Exemplar alles, was sich ihm in den Weg stellt, zerstören.“ Newts Fingerzeig wanderte weiter und Credence‘ faszinierter Blick folgte ihm. Ihre Blicke landeten auf dem Bild des hektisch umherflatternden Vogels. „Das ist ein Schnatzer. Wegen seiner runden Form und seiner Schnelligkeit wurde er gerne für Quidditch verwendet, bis er um 1350 beinahe ausgestorben war. Seitdem steht er unter strengem Naturschutz.“   „Was…“, fing Credence zögernd an. „Was ist… Quwu… Quiwi…“ „Quidditch?“, grinste Newt schelmisch. „Das ist eine Sportart. Man spielt es auf Besen, es gibt sieben Spieler und vier Bälle. Der Schnatzer diente früher… nun, er diente als Spielball. Der Sucher des jeweiligen Teams musste versuchen ihn einzufangen und das brachte hundertfünfzig Punkte. Meistens konnte man mit diesem Fang das Spiel für sich entscheiden – und hat dabei nicht selten auch den Vogel getötet.“ „Besen?“ Credence starrte Newt an, als würde er erwarten, dass er ihm gleich sagen würde, es sei nur ein Scherz gewesen. Doch Newt lächelte nur. „Man kann wirklich… auf Besen fliegen?“ Newt nickte. „Ich selbst bin kein besonders guter Flieger“, gab er zu. „Es gibt andere Fortbewegungsmittel, mit denen ich besser umgehen kann.“ „Das Verschwinden und Auftauchen“, bemerkte Credence eifrig. „Ja, apparieren und disapparieren. Es erforderte zwar mehr Konzentration, aber dafür ist die Reise kürzer und bequemer. Und man fängt sich keine Holzsplitter ein“, fügte Newt augenzwinkernd hinzu. Über Credence Gesicht huschte erneut ein flüchtiges Lächeln.   Newt schritt auf eine schmale Tür zu, welche sich gegenüber der Leiter befand. Als er die Tür öffnete, fiel dämmriges Sonnenlicht in den Schuppen. Er machte einen halben Schritt nach draußen und wandte sich dann herum, um Credence zu sich zu winken. „Das ist noch nicht alles. Ich bin mit der Führung noch nicht durch.“ Er ging weiter und hörte hinter sich die stolpernden Schritte von Credence. Dann wartete er kurz, bis der Jüngere wieder an seiner Seite stand.   Vor ihnen erstreckte sich nun eine schier endlose Ebene, die ebenso real, wie unwirklich erschien. Weite Teile waren in nächtliche Finsternis gehüllt, wolkenverhangen oder von milchigem Mondlicht beschienen. Andere Stellen wurden von dem goldfarbenen Schein einer künstlichen Sonne erhellt, durchzogen von einem morgendlichen Nebelschleier oder flimmernder Hitze. Die vorkommenden Landschaften waren nicht weniger abwechslungsreich. In der Dunkelheit lagen überwiegend karge, felsige Gebiete mit hohen Hügeln und scharfkantigen Klippen, manchmal bedeckt von einer Schicht Schnee oder einem feinen Nieselregen ausgesetzt. Auf der Tagseite erstreckten sich weite Wiesenflächen und savannenartiges Tiefland mit vereinzelten Seen und Laubwäldern. Zerklüftete Felsen ragten aus einer canyonartigen Vertiefung empor und direkt vor ihnen zog ein bambusartiges Wäldchen die scharfe Grenze zwischen den Tageszeiten, eingehüllt in ein mystisches Zwielicht.   Und obwohl alles auf den ersten Blick recht nahtlos ineinander überzugehen schien, konnte man noch weitere Umzäunungen erkennen. Wege aus schlecht zusammengezimmerten Holzplanken führten in die einzelnen Gebiete und hier und da hatte sich die ein oder andere Plane von einer Halterung gelöst, flatterte peitschend im Wind und offenbarte ein Gebilde aus Holz- und Metallstreben, als wäre die gesamte Welt nur eine riesige Bühne.   Die beiden Männer standen auf einem kleinen, hölzernen Podest, von welchem aus jedes der Gebiete mit wenigen Schritten erreichbar war, und überschauten die vielfältige Landschaft auf ihre jeweils eigene Art: Credence voller sprachlosem Staunen und Newt mit einem zufriedenen Lächeln auf den schmalen Lippen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)