Residuum von MeriRene ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- KAPITEL 4   Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt und gebannt starrte Credence hinüber zu einem der Seen. Ein Schatten bewegte sich unter dem Wasser, dicht unter der Oberfläche und bahnte sich einen Weg ans sandige Ufer. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er den dunklen Fleck, der langsam anwuchs und schließlich das Wasser durchstieß. Ein gewaltiges Tier, noch größer als ein Elefant, aber mit der Statur und Farbe eines Nashorns, stapfte gemächlich ans Ufer und schritt dann erstaunlich leichtfüßig durch die grasbewachsene Savanne. Kopf und Hals des Monstrums waren zu einem großen Buckel verwachsen und sein Horn sah wie eine furchterregende Wucherung aus, dick und wulstig und von einem gelblichen Leuchten erfüllt.   Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Credence, wie Newt an ihn herangetreten war und nun ebenfalls hinüber zu dem Ungetüm sah. Sie verfolgten gemeinsam, wie es sich an einigen Grasbüscheln gütlich tat und aus der Ferne drang ein dröhnendes Brummen zu ihnen herüber.   „Das ist ein Erumpent“, erklärte ihm Newt fast beiläufig. „Sie leben in Afrika und zählen zu den größten, dort lebenden magischen Tierwesen. Sie sind meist in sehr kleinen Herden anzutreffen und sind friedlich, solange man sie nicht verärgert. Das Horn kann Stein und sogar Metall durchdringen. Außerdem enthält es ein Sekret, das höchst explosiv, aber auch sehr begehrt bei Zaubertränken ist. Deswegen werden diese Tiere gejagt oder aus dem Land geschmuggelt“, fügte Newt mit wenig Begeisterung hinzu.   Credence musterte das Erumpent und wand sich dann ungläubig zu dem schiefgebauten Schuppen herum, aus welchem er gerade herausgetreten war. Der schmale, etwas verzerrte Eingang würde nicht einmal ein Bein dieses Tieres hindurch lassen. Dann sah er nach oben, zur der Decke, doch auch dort war, zumindest auf den ersten Blick, keine weitere Öffnung zu erkennen. „Wie… wie haben Sie es hier hereinbekommen? Und warum?“, fragte er erwartungsvoll. Vielleicht gab es ja doch einen anderen Eingang, eine versteckte Luke oder ein Tor. Dennoch würde ihm das nicht erklären, wie überhaupt ein so gewaltiger Raum in den kleinen Koffer passen sollte.   Newt lächelte, als er Credence‘ ungläubige Mimik sah. „Zu deiner ersten Frage: Magie. Genauer gesagt ein Schrumpfzauber, der beim Betreten des Koffers ausgelöst wird, sollte etwas versuchen hereinzukommen, was größer ist als die Öffnung.“ „Das heißt also, wir sind winzig?“ Wenn sie bei dem Sprung ins Innere tatsächlich geschrumpft worden waren, würde das natürlich erklären, warum dieser Raum so groß erschien. Alles hier war viel kleiner, als es eigentlich sein sollte.   Doch zu seinem weiteren Erstaunen grinste Newt schelmisch und schüttelte den Kopf. „Wir sind normalgroß. Der Koffer selbst ist so verzaubert, dass er innen größer ist, als außen. Es ist ein komplizierter Dimensionszauber, der den Inhalt eines Objektes vergrößert und die äußere Hülle unverändert lässt. Ich habe ihn etwas erweitert… und gebe zu, dass ich es vielleicht ein wenig übertrieben habe.“ Newt ließ seinen Blick für einen Moment seufzend über die Ebenen schweifen. Er lächelte trotzdem zufrieden und glücklich. „Im Normalfall verwendet man diesen Zauber nur, um etwas mehr Gepäck zu verstauen oder ein weiteres Zimmer in einem Haus zu schaffen. Aber große Tiere erfordern auch viel Platz und in einem einzigen, kleinen Raum, würde ich wohl kaum alle unterbringen können.“   „Sie haben noch mehr von denen?“ Credence deutete hinüber zu dem Erumpent, welches nun damit beschäftigt war, seinen gewaltigen Kopf an einem knorrigen Baum zu reiben. Dieser neigte sich unter dem Gewicht des Tieres beinahe bis zum Boden und drohte zu zerbrechen. „Nein, sie ist die Einzige ihrer Art, die ich habe. Womit wir erstmal wieder bei deiner zweiten Frage wären: Sie wurde von einigen Schmugglern von ihrer Herde getrennt und sollte geschlachtet werden, um an das Sekret ihres Horns ranzukommen. Ich konnte das rechtzeitig verhindern und die Behörden informieren, aber bis jetzt war es in ihrer Heimat noch nicht sicher genug, um sie wieder zurück zu ihrer Herde zu bringen. Deswegen behalte ich sie vorerst hier, studiere sie und bringe sie zurück, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.“   Sie beobachteten noch eine Weile das Erumpent-Weibchen, das für ihre Größe und ihr Gewicht erstaunlich agile Bewegungen machte. Sie trotte schnell über den staubigen Boden ihres Bereiches, wälzte sich schwungvoll in einer schlammigen Pfütze und vollführte ein paar tänzelnde Seitwärtsbewegungen.   Credence zuckte kurz zusammen, als Newt ihn unvermittelt am Arm berührte. Er wandte sich herum und Newt bedeutete ihm mit einem kurzen Nicken, ihm zu folgen. Den Blick immer wieder zurück zu dem Erumpent werfend, stolperte er dem älteren Mann hinterher, eine breite Holztreppe hinunter zu einem kleinen Gärtchen, direkt vor dem Bambuswald. Über einen schmalen, hölzernen Aufgang erreichten sie eine Lichtung, welche von einer Handvoll knorrigen Bäumchen und dem Bambus umgeben wurde. Nun betrachtete Credence die Umgebung ein wenig genauer und ihm fiel etwas auf, was er vorher nicht bemerkt hatte. Erst jetzt, wo er seinen Standort gewechselt hatte, wurde ihm bewusst, dass der Raum eigentlich gar nicht so groß war, wie er es erst angenommen hatte. Er konnte die äußeren Wände erkennen und es gab sehr viel mehr Trennwände, als man zunächst vermuten würde. Diese hatten durch ihre strategische Platzierung weniger eine abgrenzende Funktion, sondern dienten viel mehr zur optischen Täuschung. Credence erkannte, dass das Wäldchen nur aus gut zwei Dutzend echten Bambusrohren bestand und zwischen den gelblichgrünen Stämmen, vielleicht zehn Schritte von ihm entfernt, konnte er eine Grenzwand ausmachen, die schlicht und ergreifend mit einem sehr realistischen Motiv bemalt worden war und den Wald nur durch seine ausgewählte Perspektive geräumiger erschienen ließ. Auf der anderen Seite, ein wenig verdeckt vom Schuppen, bemerkte er einen halb gerafften Vorhang, der von der Decke hing und ein gewaltiges Panorama von Arizona erkennen ließ. Fast ein wenig enttäuscht, stellte er fest, dass die meisten Gebiete nicht einmal halb so groß waren, wie er es auf den ersten Blick vermutet hatte.   Je genauer er sich umsah, desto mehr Details des Aufbaus wurden ihm bewusst. Die meisten Begrenzungen wurden von Seilen und Streben aufrechterhalten und mithilfe von Seilzügen und Rädern konnten sie verschoben werden. Oft waren es palettenartige Konstruktionen, bespannt mit Leinwänden oder großen, lichtdurchlässigen Vorhängen. In der Gliederung gab es keine Systematik, alles wirkte chaotisch, nahezu halbherzig zusammengebastelt. Doch im Gegensatz dazu stand die liebevolle Gestaltung der Landschaftsmotive und Dekoration. Credence stellte sich die Frage, was Newt mit diesem sonderbaren Ort vorhatte. Augenscheinlich baute er sich irgendetwas auf und obwohl er bei dem Gedanken an das Erumpent zunächst an einen Zoo dachte, kam er nicht um den Eindruck eines Theaterstücks herum. Jedes der Gebiete war wie eine Bühne aufgebaut, mit künstlerischen und realwirkenden Kulissen, natürlichen Requisiten und detailgetreu bemalten Vorhängen. Einige der Schauplätze standen auf einem Brettergerüst oder wurden mit Rampen geformt, um mehr Höhe vorzutäuschen, andere wirkten durch die geschickt angewendeten Verläufe ihrer Hintergründe endlos lang. Doch das, was Credence am meisten irritierte, war die Tatsache, dass es keine Zäune oder sonstigen Absicherungen gab. Den Tieren wurde vielleicht ihre heimatliche Landschaft vorgegaukelt, aber zwischen den Terrains gab es nichts, was sie von einander trennen konnte.   Er sah wieder hinüber zu Newt, der geduldig auf ihn wartete. Dieser stand in der Mitte der Lichtung, zwischen zwei äußerst seltsamen Gebilden. Eines davon war aus langen, dünnen Bambusstämmen gebaut und als Halbkugel angeordnet worden. Das andere Objekt war wie eine richtige Kugel geformt und so groß, dass Credence gut und gerne zweimal hineingepasst hätte. Es bestand aus Ästen, langen Blättern und feinen, silberfarbenen Fäden, die in das Geäst verflochten waren und eine kreisrunde Öffnung an der Seite gewährte ein wenig Einblick, in das finstere und hohle Innere. Zu dieser seltsamen Kugel winkte Newt ihn heran und als Credence neben ihm stand, beugte er sich hinunter zu der Öffnung.   „Dougal?“, fragte Newt in die offenkundig leere Kugel hinein und ließ seinen Blick suchend hindurch schweifen. „Wir haben Besuch. Würdest du dich bitte zeigen? Wenigstens für einen Moment?“ Vorsichtig streckte er die Hand ins Innere. Credence beobachtete die Szene mit einer eher skeptischen Erwartung und setzte erschrocken einen halben Schritt zurück, als ihn plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Paar große, bernsteinfarbene Augen anstarrten. Im nächsten Moment - er hatte kurz geblinzelte - saß in der Kugel eine silberhaarige, affenartige Kreatur und musterte ihn nachdenklich. Langsam und bedächtig ergriff das Tier Newts helfende Hand und ließ sich von ihm nach draußen ziehen.   „So ist es fein.“ Newt half dem Wesen, auf seine Schultern zu klettern und ließ sich von ihm unbeeindruckt die ohnehin schon wirren Haare verwuscheln. Dougal klammerte sich mit seinen Beinen um Newts Hals und legte die Hände auf dessen Kopf, sodass seine langen, zotteligen Haare in Newts Gesicht fielen. Der Mann pustet kurz nach oben, um die Strähnen aus seinen Augen rauszuhalten und hielt das Tier an seinen Füßen fest. „Dougal, das ist Credence“, sagte er mit einem kurzen Nicken in seine Richtung. „Credence, das ist Dougal.“   Credence starrte das Tier verwundert an und es erwiderte seinen Blick interessiert und träumerisch. An das Erumpent denkend, welches er zuerst für ein Nashorn gehalten hatte, fragte er: „Das… Das ist kein Affe, oder?“   „Nein“, grinste Newt. „Das ist ein Demiguise. Er ist ein friedlicher Pflanzenfresser und kommt im fernen Osten vor. Er kann sich unsichtbar machen, weshalb er gerne wegen seines Pelzes gejagt und geschoren wird. Daraus kann man Tarnumhänge machen.“ Newt trat etwas näher und machte sich kleiner, damit Dougal und Credence auf etwa der gleichen Augenhöhe waren. Dougal schien den Jungen noch einen Moment zu mustern, dann streckte er forschend seinen langen Arm aus, um die kurzen, schwarzen Haare zu erwischen. Credence, der hin und hergerissen war, zwischen Neugier und Furcht, ließ sich kurz von den Wesen tätscheln und wich dann vorsichtig zurück, bevor dieses womöglich beschließen würde, ihm ganze Büschel vom Kopf zu reißen. Ein wenig enttäuscht zog Dougal seinen Arm zurück und schien sich damit zu trösten, an Newt herumzuklettern. Schließlich half Newt Dougal zurück in sein Nest und belohnte ihn mit einem Büschel saftiger Halme, die er aus einer seiner Jackentaschen gezogen hatte. Der Demiguise nahm sie bedächtig entgegen, schob sie in sein Maul und war mit einem weiteren Wimpernschlag wieder verschwunden.   „Weiter geht’s.“ Newt stapfte hinüber zu dem anderen Gebilde und Credence trottete ihm hinterher. Beim Vorbeigehen warf er noch einmal einen prüfenden Blick in das Nest, doch Dougal war tatsächlich restlos verschwunden. Nur noch zwei Grashalme wippten schwerelos in der Luft, wurden kleiner und waren schließlich ebenso entschwunden.   Neugierig, welches sonderbare Wesen sich wohl in dem anderen Nest befinden würde, wollte sich Credence schon neben Newt stellen. Doch diesmal wurde er von einem ausgestreckten Arm zurückgehalten. „Moment noch“, mahnte Newt. Dann griff er unverblümt nach Credence‘ rechten Arm, winkelte ihn an und drehte die Hand so nach oben, dass es aussah, als wolle der Junge Wasser schöpfen. „Mach keine hastigen Bewegungen und versuch nicht, sie zu streicheln. Das mögen sie gar nicht. Und keine Sorge, sie tun nicht mehr, als es sich gemütlich zu machen.“ Mit diesen Worten wandte sich Newt von ihm ab und griff in das Nest hinein. Ein Geräusch, halb Zwitschern, halb Fipsen erklang.   „Ganz ruhig“, sprach Newt sanft und liebevoll. „Mummy ist wieder da. Oh, nicht so schnell, immer nur einer! Hey, ihr beiden da, passt auf, bevor ihr euch noch verknotet.“ Newt richtete sich wieder auf und nun schlängelte sich, wild und unruhig, eine bläuliche Schlange um seinen Arm. Absolut reglos blieb Credence stehen und musterte die Schlange genauer. Er stellte fest, dass sie anstelle von rauen Schuppen zarte, bläuliche Federn hatte, die im Licht grünlich schimmerten. Außerdem besaß sie so etwas wie zwei Flügel und anstelle eines Maules mit scharfen Zähnen, hatte sie einen gelblichen Schnabel.   „Das ist ein Occamy“, erklärte Newt und bewegte seine Arme in die Nähe von Credence‘ ausgestreckter Hand. Der Junge stolperte hektisch zurück und zog den Arm weg, als ihm plötzlich bewusstwurde, was Newt vorhatte. „Nein, nein, keine Angst. Er wird dir nichts tun.“   Credence verfolgte noch einen Augenblick die hektischen, schlängelnden Bewegungen, dann trat er zögernd wieder näher und hob die Hand so, wie Newt es ihm gezeigt hatte. Der Occamy kringelte sich kurz in Newts Handflächen zusammen, dann machte er sich auf den Weg zu Credence Fingern. Das Tier rutschte über sein Handgelenk, wand sich schlängelnd um seinen Arm und machte sich dann auf den Rückweg zu der Handfläche, wo es sich mit kreisenden Bewegungen zu einer Schnecke zusammenrollte. Aus der Mitte heraus, musterte ihn das Tier mit seinen großen, gelben Augen und einem beinahe freundlichen Blick. Die Federn des Occamys fühlten sich warm und weich an. Das Wesen war insgesamt nicht länger als Credence‘ Arm und sehr leicht. Reglos stand der junge Mann da, den Arm erhoben und darum bemüht, nicht zu sehr zu zittern. Er konnte sich kaum auf Newts folgende Worte konzentrieren.   „Occamys kommen hauptsächlich in indischen Dschungel vor und sind in der Regel sehr scheu. Sie können aber angriffslustig werden, sollte man sich ihren Nestern nähern oder gar versuchen sie zu plündern. Es gibt immer wieder Menschen, die das versuchen, weil ihre Eier aus purem Silber bestehen und das natürlich einen großen Wert hat, sowohl in der Zauberer- als auch in der Muggelwelt. Ein frischgeschlüpfter Occamy ist schon vollentwickelt und kann sich ebenso verteidigen, wie ein erwachsenes Exemplar. Zudem ist er choranaptyktisch, was bedeutet, dass er im Notfall seine Größe verändern oder sich den räumlichen Begebenheiten anpassen kann, wenn ihm danach ist.“   Newt nahm Credence das Tier wieder ab und setzte es zurück in sein Nest. Er winkte den erleichterten Jungen endlich heran und mit größter Vorsicht beugte dieser sich über das Nest. Dort drinnen kringelten und schlängelten sich fünf Stück dieser Tierwesen. Tatsächlich entdeckte Credence noch die ein oder andere, silberfarbene Eierschale. Dann beobachtete er, wie Newt wieder in den Tiefen seiner Taschen kramte und eine Hand voller getrockneter Schaben hervorholte. Jedem der Occamys wurde eine Schabe zugeschnippt und das Insekt wurde auf der Stelle mit einem schnellen, gierigen Happs verschlungen. „Nein, jeder bekommt nur eins“, sagte Newt streng, als sich zwei Köpfe gefräßig und erwartungsvoll in seine Richtung reckten, um ein weiteres Insekt zu erhaschen. Newt stopfte die restlichen Schaben zurück in seine Tasche. Dann machte er sich wieder auf den Weg, gefolgt von Credence, der nun etwas zügiger hinter ihm herlief.   „Wie fühlst du dich?“, fragte Newt, während sie das Podest und den Schuppen ein Stück umrundeten. Sie kamen an unzähligen Blumentöpfen vorbei, hier und da standen Wasserfässer und Kisten herum und die Planken von unvollständigen Wänden waren kreuz und quer aufeinandergestapelt. Auf der Rückseite des Schuppens tauchte eine arg mitgenommene Werkbank auf, überall lagen rostige Werkezuge, Eimer, Gartengeräte und eine Handvoll unbekannte Gegenstände herum. Newt schien absolut keinen Sinn für Ordnung zu haben.   Credence dachte einen Moment über Newts Frage nach. „Ich habe immer noch Schmerzen, aber mein Arm fühlt sich nicht mehr ganz so taub an“, stellte er ein wenig überrascht fest. „Wenn du dich ein wenig ausruhen möchtest, kannst du mir das ruhig sagen.“ Credence war dankbar für dieses Angebot. Sie waren zwar nicht viel gelaufen, aber er fühlte sich noch sehr geschwächt, seine Glieder schmerzten und seine Muskeln und Sehnen fühlten sich an, als könnten sie jeden Augenblick reißen. Ihm war nun heiß geworden und in seinem Kopf schwirrte es, ob nun durch seine Erschöpfung oder all diese neuen, faszinierenden Einblicke in die magische Welt.   Newt führte ihn zu einer Sitzbank hinter dem Schuppen. Direkt daneben schwebte eine kleine Insel, mit einem grasbewachsenen Hügel und einem Baum, den Credence für einen Bonsai hielt. Nachdem er sich gesetzt hatte, inspizierte er diese schwebende Insel genauer, aber er konnte keinerlei Fäden oder Drähte erkennen, die sie oben hielten. „Ein Schwebezauber“, sagte Newt amüsiert, als er Credence‘ akribische Untersuchung verfolgte.   Dann rauschte etwas Rosafarbenes über ihre Köpfe hinweg und sie verfolgten gespannt, wie es einen hohen Bogen machte und sich dann mit einem steilen Flug in ein Gebüsch stürzte. Der Strauch erzitterte kurz und dann hüpfte ein kleiner, flauschiger Vogel daraus hervor. Er hatte einen tränenförmigen Körper und mehrere lange Schwanzfedern. Mit einem grimmigen Blick starrte er hinüber zu den beiden Männern.   „Wie viele Tiere haben Sie hier drinnen?“, fragte Credence neugierig.   Newt seufzte und dachte nach. Sein Blick wanderte hoch zur Decke, als würde er dort nach der Antwort suchen. „Das kann ich dir gar nicht so genau sagen. Ich habe einen ganzen Schwarm Billywigs und Fischschwärme, die sich unmöglich zählen lassen und die Diricawls haben erst letzten Monat Junge bekommen. Aber ich dürfte etwa fünfundzwanzig verschiedene Tierarten haben.“   Credence blickte sich bei diesen Worten suchend um. Bei so vielen verschieden Arten, hätte er erwartet, mehr davon zusehen. Einige waren sicherlich nachtaktiv und in den dunkleren Bereichen verborgen, doch das taghelle Gebiet war wesentlich größer und musste mehr Kreaturen beherbergen.   Es dauerte wieder einen Moment, bis er erkannte, dass sich tatsächlich noch weitere Tiere in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten. In den Sträuchern und Bäumchen raschelte es verdächtig, das Geäst zitterte und hier und da bewegte sich ein Schatten. Ein Schwarm voller blauer, funkelnder Flecken zog dicht unter der Decke seine Kreise. Insekten summten und Vögel zwitscherten in der Ferne. „Und Sie haben all diese Tiere gerettet?“, hakte Credence nach. „So kann man es sagen“, bestätigte Newt nachdenklich. „Ich konnte schon immer sehr viel besser mit Tieren auskommen, als mit Menschen. Deswegen finden mich die meisten Leute… nun, sie mögen mich nicht sonderlich. Und ich ziehe die Gesellschaft von Tieren vor.“   Credence sah kurz zu Newt hinüber und dann wieder über die Landschaften und all die Wesen, die sich langsam aus ihren Verstecken wagten. Er erblickte bunte Vögel, die aufgeplustert auf Ästen saßen und ihn musterten und die schillernden Flecken über ihren Köpfen waren in Wirklichkeit eine Art Insekt mit kreiselförmigen Körper, auf deren Köpfen rotierende Flügel saßen. Ein Laubbaum – zumindest hatte er es dafür gehalten - entpuppte sich gar als blätterlos, denn das, was er für Herbstlaub gehalten hatte, waren tatsächlich hunderte, wenn nicht gar tausende orangefarbene Schmetterlinge. Und irgendetwas Gräuliches machte sich offenbar einen Spaß daraus, jedes Mal mit einem leisen Plop zu verschwinden, wann immer sein Blick darüber schweifte, um an einer anderen Stelle wiederaufzutauchen.   Credence musste zugeben, dass er diesen Ort faszinierend fand. Trotz des allgemeinen Chaos des Raumes, herrschte eine gewisse Harmonie in diesem Zusammenleben von Mensch und Tier. Es gab so viele interessante und verschiedene Kreaturen, auch wenn ihm nicht alle davon geheuer waren und Newt ging so selbstverständlich, so vertrauensselig mit ihnen um, wie er es noch nie zuvor bei irgendjemanden gesehen hatte. Er schien sie nicht einfach nur wie Tiere zu betrachten, sondern mehr wie Freunde. Wie eine große, bunt zusammen gewürfelte Familie.   „Ich weiß, dass es schwer ist, jemanden zu vertrauen, wenn man so oft enttäuscht und verletzt wurde“, fing Newt an. „Vertrauen ist etwas, das auf beiden Seiten existieren muss. Ich vertraue dir, Credence, deswegen bist du hier. Diese Tiere, sie bedeuten mir alles. Ich habe sie aus den Fängen grausamer Menschen befreit, habe sie vor schrecklichen Schicksalen bewahrt und gesund gepflegt. Ich habe sie studiert und von ihnen gelernt. Ich weiß mehr über sie, als über mich selbst.“ Er machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Mit den Augen verfolgte er einen vorbeifliegenden Vogelschwarm und sah dann zu Credence hinüber, der ihn dabei beobachtet hatte und nun betreten zur Seite starrte. „Diese Tiere sind wie du, Credence. Sie waren verletzt und verstört, man hat ihnen furchtbare Dinge angetan oder es zumindest versucht. Sie wurden ausgenutzt, ihrer Heimat und ihren Familien beraubt. Und dass sich alles noch einmal wiederholt, ist das Letzte, was ich für meine Geschöpfe will. Und für dich.“   Credence konnte das Gesagte nachvollziehen. Er war von Mary Lou geschlagen worden, Percival hatte ihn ausgenutzt und der MACUSA hatte ihn gejagt und beinahe getötet. Für sie war er das Tier gewesen, welches sie verabscheuten, von dem sie sich irgendeinen Gewinn erhofften oder vor dem sie Angst hatten. Auf einmal kamen ihm die Kreaturen nur noch halb so unheimlich vor und zum ersten Mal in seinem Leben, verspürte er einen Hauch von Mitleid.   „Sie möchten wirklich versuchen, mir zu helfen?“ „Ja, das werde ich, versprochen. Aber du wirst dich noch etwas gedulden müssen. Zuerst reisen wir nach England, genauer gesagt nach Dorset, Fiddleford, wo ich wohne.“ Credence schüttelte energisch den Kopf. „Können wir das nicht sofort machen? Können Sie nicht versuchen…“ „Nein, das wäre keine gute Idee. Du musst dich erholen und ich muss noch mal alles durchgehen, was ich über Obscuriale finden kann. Ich möchte nicht, dass es genauso endet wie… du weißt schon.“ Newt sah ihn entschuldigend an. „Der Obscurus mag zwar ebenso geschwächt sein, aber ihn zu entfernen, wird dich enorme Kraft, Energie und Konzentration kosten. Das Einzige, was wir tun können, ist dir einen Vorteil zu verschaffen. Der Obscurus nährt sich von Angst, Unterdrückung und Schmerz - Drei Dinge, die wir in nächster Zeit vermeiden sollten.“   Credence‘ Mimik verriet, dass er sich nicht recht vorstellen konnte, wie sie das anstellen sollten. Er wollte ja gerne unbeschwert und gefasst sein und nicht ständig Angst haben, irgendetwas falsch zu machen oder die Kontrolle zu verlieren. Aber er konnte es nicht verhindern. Es war ihm einfach unmöglich, all seine Ängste abzustellen, all die Zweifel in seinem Kopf mir nichts, dir nichts beiseite zu schieben.    Newt brauchte nicht lange zu überlegen, um eine ermutigende Antwort zu finden. „Wenn ich es richtig gedeutet habe, dann gefällt es dir hier, oder?“ Credence bestätigte diese Vermutung mit einem zaghaften Nicken. „Nun, du kannst gerne hier unten bleiben, wenn du möchtest. Ich habe ein bequemes Bett, viele Bücher über Magie und auch Essen und Trinken. Und natürlich die Tiere. Das sollte Ablenkung genug sein“, lächelte Newt.   „Was ist…“ fing Credence unsicher an. Er seufzte. „Was ist, wenn ich doch… wenn der Obscurus…“ „Genau daran solltest du nicht denken“, sagte Newt nachdrücklich. „Du bist stark, Credence, du weißt es nur nicht. Es gibt keinen dokumentierten Fall, der deinem ähnelt. Menschen, mit einem Obscurus, haben selten ihr elftes Lebensjahr erreicht, bis auf dich. Du bist weit über diesen Punkt hinaus. Ich weiß, das ist kein richtiger Trost, aber zumindest ein Ansatz, an dem du festhalten kannst. Du musst versuchen, dich von deinen Ängsten abzulenken. Dir darüber Sorgen zu machen, bedeutet nur, dass du doppelt soviel leidest.“   „Na gut…. Ich werde es versuchen.“ „Schön, dann gibt es nur noch eine Sache, die wir klären müssen“, lächelte Newt zuversichtlich. „Oder besser gesagt eine Bedingung: Du hörst jetzt auf, mich zu Siezen. Sag einfach Newt zu mir, einverstanden?“ Credence nickte.   ~*~*~   Wenig später machten sie sich auf den Rückweg, in den Schuppen hinein, wo Newt ein recht klappriges Feldbett zurechtmachte. Credence saß derweil auf einem Stuhl und betrachtete noch einmal den unebenmäßigen Raum, samt seinem chaotischen Inhalt. Er musterte die schiefen Holzwände und die Regale, die aussahen als wären sie aufs Geradewohl zusammengezimmert worden. An den oberen Enden neigten sie sich so weit herum, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht umfielen oder zusammenbrachen oder ihr ganzen Gut über den Fußboden verteilten. Alles wirkte so unfassbar instabil, dass er sich fragen musste, ob es auch Magie war, die alles aufrechterhielt.   „Also“, sagte Newt und schreckte ihn aus seinen Überlegungen. „Das dürfte ausreichen. Ich hoffe, dich stört das hier nicht.“ Er hob kurz die Arme und deutete über das Durcheinander im Schuppen. „Nein, tut es nicht“, antwortete Credence. „Ich frag mich nur… wird das alles mit Zauberei zusammengehalten?“   Newt beantwortete ihm diese Frage nicht sofort, sondern kletterte ein Stück die Leiter hinauf. Auf halber Höhe stoppte er, hielt sich mit einer Hand fest und lehnte sich hinüber zu einem proppenvollen Bücherregal. Mit dem Zeigefinger fuhr er suchend über die Bücherrücken und zog dann einen arg mitgenommenen, purpurnen Wälzer hervor. Er kletterte wieder hinab und reichte das Buch an Credence weiter. „Lehrbuch der Zaubersprüche, Teil 4. Kapitel 17, wenn ich mich nicht irre. Das Aufrechterhalten instabiler Konstruktionen. Ich kann dir die ganze Reihe zum Lesen geben, wenn du magst.“   Credence nahm ihm das Buch ab und blätterte flüchtig durch. Es war kein Vergleich zu den Büchern, die er kannte. Der Wälzer wirkte beinahe ebenso chaotisch, wie Newts Schuppen. Die Schriften verliefen nicht nur geradlinige unter einander, manchmal schlängelte sich auch ein Satz quer durch das Schriftbild oder endete in einer Spirale und in seltenen Fällen musste man das Buch sogar auf den Kopf drehen, um die Anleitungen zu entziffern. Die Bilder und Zeichnungen bewegten sich ebenfalls und zeigten sehr genau an, wie man den Zauberstab für gewisse Formeln halten oder bewegen musste. Das sah sehr nach der Ablenkung aus, die er brauchte. Er würde ungeheuer lange damit beschäftigt sein, sich da durchzulesen, vor allem wenn es noch mindestens drei weitere Werke gab.   „Du kannst dir jedes Buch nehmen, was du hier findest. Ich kann dir auch zeigen, wie und mit was du die Tiere füttern kannst. Ich habe…“ Newt unterbrach sich und fing an, auf seinem Arbeitstisch zu kramen. Er schob Bücher und Pergamentrollen beiseite und beförderte schließlich ein kleines, ledergebundenes Buch hervor. „Ich habe ein Buch geschrieben, einer Art Anwenderlexikon im Umgang mit den magischen Geschöpfen. Du kannst es gerne vorab lesen.“   Credence nahm ihm auch dieses Buch ab und warf einen Blick auf den Einband. Mit einer spiralförmigen Büroklammer war ein Zettel mit der Aufschrift ‚Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind‘ befestigt. Neugierig schlug er die Seiten auf und fand handgeschriebene Texte, Zeichnungen und angeheftete Fotografien. „Es muss natürlich noch besser gestaltet und gedruckt werden“, bemerkte Newt beiläufig. „Ich hab es im Auftrag eines Verlages geschrieben, der verschiedene Bücher mit magischen Themen veröffentlicht. Das war mein ursprünglicher Grund, zurück nach England zu reisen. Aber gut, erstmal solltest du dich etwas ausruhen. Es ist schon viel zu spät.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Oder eher zu früh. Es ist kurz nach drei Uhr. Ich muss los.“ Er nahm Credence die beiden Bücher wieder ab und legte sie auf den Schreibtisch.   „Wohin wollen S… wohin willst du?“ fragte Credence überrascht. Er hätte gedacht, das Newt noch irgendwo sein eigenes Schlafzimmer haben würde. Die Vorstellung, allein hier unten zu bleiben, war nicht gerade verlockend.   „Ich habe ein Gästezimmer in einer Unterkunft belegt. Ich muss vor dem Aufstehen zurücksein. Aber keine Sorge, ich komme bald wieder. Dort in dem Schrank ist etwas zu Essen und Trinken, das Badezimmer findest du, wenn du die kleine Wendeltreppe raufgehst.“ Er deutete auf eine dunkle Ecke neben einem Schrank. Tatsächlich konnte man dort die Ansätze einiger Stufen erkennen. „Du solltest noch mehr von dem Stärkungstrank nehmen.“ Newt zog das Fläschchen wieder aus seiner Tasche und stellte es neben das Feldbett. „Ich werde versuchen, dir auch noch einen schmerzlindernden Trank zu brauen, aber dafür muss ich noch Zutaten organisieren. Aber jetzt solltest du erstmal etwas schlafen. Ich werde meinen Koffer immer in der Nähe haben. Falls etwas sein sollte, kannst du einfach die Leiter raufkommen und gegen den Deckel klopfen.“   Credence spürte zwar, dass er müde und erschöpft war, doch in seinem Inneren war er so aufgewühlt, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er jetzt einschlafen sollte. „Gibt es etwas, das beim Einschlafen hilft“, fragte er, bevor Newt die Leiter nach oben steigen konnte. Der Mann wandte sich suchend um und griff dann in eines der Flaschenregale. Er wählte eine dickbauchige Flasche mit einer lilafarbenen Flüssigkeit aus. „Das ist zwar kein richtiger Schlaftrank, aber es ist zur Beruhigung gedacht. Vielleicht reicht das erstmal aus.“ „Danke.“   Die beiden verabschiedeten sich und Credence verfolgte noch, wie Newt die Leiter hinaufstieg und durch die Öffnung verschwand. Der Deckel klappte zu und schon war er alleine. Er nahm einen kräftigen Schluck von dem Beruhigungsmittel und spürte augenblicklich eine Woge der Entspannung in sich aufkommen. Dann griff er noch einmal zu dem Stärkungstrank und leerte den Rest. Zu guter Letzt zog er seine Schuhe und den Mantel aus und legte beides auf eine freie Stelle am Boden.   Er lehnte sich zurück, in das knarzende, aber durchaus gemütliche Bett, deckte sich zu und starrte hinauf zur Decke. Seine Augenlieder wurden schwerer und er dachte noch kurz daran, wie erstaunlich einfach und schnell sich alles mit solchen Zaubertränken verändern konnte. Doch scheinbar war der Weg, mit dem man den Obscurus vernichten konnte, wesentlich komplizierter und schwerer. Es schien weder einen Trank, noch eine Zauberformel zu geben, die ihn davon auf schnellstem Wege befreien konnte.   Mit diesem letzten Gedanken schlief Credence ein, noch nicht ahnend, wie verworren und beschwerlich dieser Weg tatsächlich für ihn werden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)