Burgweg 25 von kikidergecko ================================================================================ "Sehr geehrte Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir unseren nächsten Halt" -- "MAMA, SIND WIR JETZT ENDLICH DAAA? MAAAMAAAA?" "Ja, gleich sind wir da! Siehst du, da vorne ist schon der Bahnhof, ganz ruhig mein Schatz." -- "...sowie an den Nahverkehr. Vielen Dank für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn und auf Wiedersehen. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung rechts." Ohne große Eile verstaute Frederik das Notebook und die Kopfhörer in seiner Umhängetasche und zupfte sich noch einen Fussel vom Anzug, bevor er sich den Mantel aus dunkelgrauem Wollfilz überstreifte. Mit dem kleinen Rollkoffer im Schlepptau reihte er sich in die Schlange der Wartenden ein, während der Zug sanft abbremste. Hoffentlich wartete das bestellte Taxi auf ihn. "Ach, Sie schon wieder! Das ist jetzt schon das dritte Mal diesen Monat, dass wir uns auf dieser Strecke treffen!", die Zugbegleiterin lachte ihn mit ihrer kräftigen Stimme an. Frederik brauchte einen Moment, um die Mittvierzigerin mit dem auffälligen Brillengestell einzuordnen. "Oh, ich erinnere mich! Freut mich sehr." Er lächelte zurück. "Was machen Sie eigentlich beruflich, wenn ich fragen darf? Mit dem schicken Anzug verkaufen Sie unmöglich Staubsauger!" Sie lachte erneut. Der Zug wurde immer langsamer. "Oh nein, ich bewerte Immobilien. Derzeit als Nachlassverwalter." "Na dann scheint ja Einiges hinterlassen worden zu sein. Bis bald!" Die Türen schoben sich mit einem Zischen zur Seite und die Zugebleiterin trat hinaus, bevor Frederik etwas erwidern konnte. Nachdem sein Großvater im Frühjahr letzten Jahres verstorben war, musste sich die Familie durch das schier unendliche Dickickt an Wertpapieren, Anlagen, Investitionen und Besitztümern kämpfen, welches das Familienoberhaupt zusammen mit einer gar nicht mal so großen Barschaft -- für wohlhabende Verhältnisse, versteht sich -- hinterlassen hatte. Dies war der Moment, auf den Frederik Ephraim Wildmann, jüngstes von drei Kindern der Familie, sich sein ganzes Leben lang vorbereitet hatte. Er hatte BWL mit Schwerpunkt Immobilienmanagement studiert, dazu Auslandssemester in Großbritannien und der Schweiz absolviert, als Jahrgangsbester bestanden und nun leistete er seinen Dienst für die Familie; eine Dynasitie deren Reichtum einst aus dem Maschinenbau spross und sich nun zu einem Global Player im Automobilzulieferergeschäft gewandelt hatte. Die letzten vierzehn Monate verbrachte er auf Reisen quer durch Deutschland und angrenzende Nachbarstaaten, um jede der hinterlassenen Immobilien genau zu begutachten und zu dokumentieren. Die Bahncard erster Klasse und seine Kreditkarte waren in dieser Zeit seine besten Freunde geworden, doch es fühlte sich gut an. Er hatte eine Aufgabe und konnte der Familie dienen, die ihm so viel ermöglicht hatte. Er war auf einmal nicht mehr nur der reiche Schnösel, er hatte einen Job. Und diesen Job wollte er verdammt nochmal gut machen. Das Taxi wartete wie bestellt. "Herr Wildmann?" Frederik nickte und der Fahrer stieg aus, um den Rollkoffer im Kofferraum zu verstauen. "Burgweg, richtig?" "Ganz genau. Vielen Dank." Für den Rest der Fahrt schwiegen sich die beiden an, während draußen die Bürogebäude zu hässlichen Mehrfamilienhäusern, dann zu weniger hässlichen Mehrfamilienhäusern, dann zu Industriegebiet wurden. Als sie die Stadt verließen, bahnte sich das Auto seinen Weg über von Bäumen gesäumten Landstraßen und kleinen Waldstücken bis zum nächsten Ortsschild. Als sie in eine Sackgasse einbogen, konnte Frederik sein Ziel schon zwischen den hohen Bäumen erahnen. Diese Straße trug nicht ohne Grund den Namen "Burgweg". Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich ein stattlicher Turm, der vermutlich eher als Wach- oder Grenzanlage gedient haben mag, doch an vielen Stellen war der blassgelbe Putz aufgesprungen oder vom wuchernden Efeu dahingerafft. Einzelne Dachschindeln fehlten. "Soll ich auf Sie warten?", fragte der Fahrer. "Nein, danke. Ich schätze, das wird etwas dauern." Mit einem charmanten Lächeln nahm er zwei Scheine aus dem Portmonnaie. "Der Rest ist für Sie. Vielen Dank." "Vergessen Sie Ihren Koffer nicht!" Und dann war Frederik allein. In der kühlen Herbstluft konnte er seinen Atem in kleinen Wölkchen vor sich sehen. Ein paar Vögel zwitscherten, sonst war es still. Eine willkommene Abwechslung. Manchmal stellte er sich vor, in einem dieser Dörfer zu wohnen. Komplett abgeschieden vom Rest, von der Familie, den Verpflichtungen, den Menschen. Er atmete tief durch und ging dann langsam zum schmiedeeisernen Tor der Anlage. Das Rattern des Rollkoffers war ihm beinahe peinlich. Ein alter Mann wartete dort bereits auf ihn und begrüßte ihn überschwänglich, fast fühlte Frederik sich als sei er tatsächlich ein Burgherr, der nach langer Reise wieder an seinen Stammsitz zurückkehrte. Der alte Mann war überaus freundlich, redete viel und konnte sogar die meisten Nachfragen zum Alter und Zustand der Anlage beantworten. Rund zweihundert Fotos später hatten sie das Außengelände einmal im Rundgang um die Turmanlage durchquert. Ein schönes Kleinod, doch es würde einiges an Investition benötigen, um es wieder zu restaurieren. Frederik tippte "Denkmalschutz prüfen" in sein Telefon und musste überrascht feststellen, dass der alte Mann an der Eingangstreppe zum eigentlichen Gebäude stehen geblieben war. "Nun, Herr Wildmann, wie Sie sehen habe ich mich immer gut um den Garten und den Teich gekümmert. Aber diese Treppenstufen sind einfach zu viel für meine alte Hüfte. Einige Jahre hat meine Frau noch drinnen nach dem Rechten geschaut, aber seit sie letztes Jahr so schwer gestürzt ist..." "Oh, ich verstehe! Ich finde mich drinnen schon allein zurecht. Geben Sie mir einfach die Schlüssel, länger als eine halbe Stunde wird es sicher nicht dauern." Frederik lächelte, während der Mann eine Mischung aus einer Entschuldigung und einem Danke stammelte und ihm den Schlüsselbund übergab. "Meine Frau und ich würden Sie gern noch zu Kaffee und Kuchen einladen, Herr Wildmann. Oder müssen Sie direkt wieder weiter? Die Jugend ist ja immer so beschäftigt!" "Vielen Dank für die Einladung, ich komme gern noch auf einen Kaffee zu Ihnen. Dann bis später!" Er strich den Gedanken einer Restaurierung schnell wieder aus seinem Kopf. Wenn hier seit einem Jahr niemand einen Fuß hinein gesetzt hatte, würde vermutlich der Keller unter Wasser stehen und der Dachstuhl komplett durchweicht sein, die Lücken im Dach sahen von draußen schon dramatisch genug aus. Und der Schimmel... Schnell verscheuchte Frederik den Gedanken wieder. So lange es noch hell war, wollte er sich die oberen Geschosse vornehmen, der Keller konnte warten. Und so tat er, was er an dieser Stelle immer tat: Langsam seinen Weg bahnend fotografierte er jedes auch nur ansatzweise interessante Bisschen und machte sich Notizen. Wären nicht so viele Spinnen und Rattenkot involviert, könnte es fast meditativ sein. Im größten Raum des Erdgeschosses klaffte ein großes Loch in der Decke. Im Obergeschoss war es noch deutlich heller und... es redete jemand? Frederik hielt die Luft an und konzentrierte sich auf das Murmeln, das er eben noch vernommen hatte. Stille. Dann ein leises Rascheln. Waren das Schritte? Könnten das Ratten gewesen sein, oder doch ein Mensch? Die Dokumentation des Erdgeschosses konnte warten. Möglichst leise kehrte Frederik wieder zum Eingangsbereich zurück und spähte die schmale Treppe hinauf. Die steinernen Stufen waren ausgetreten von jahrelanger Benutzung. Mit dem Rücken zur Wand arbeitete er sich Stufe für Stufe hinauf ins Obergeschoss. Die Geräusche waren nun verstummt und gaben Platz für allerlei Schreckensszenarien: Versteckte sich dort ein Krimineller? Ein stinkender Aussätziger? Ein Junkie? Wütende Halbstarke? Das Herz schlug ihm bis zum Hals als er die letzten Stufen nahm. Niemand war zu sehen, doch das Obergeschoss zeigte Spuren eines Bewohners. Auf einem Tisch lagen einige Steine und kleine Äste, im Staub auf dem Boden waren Fußabdrücke zu sehen. In der Dachschräge des an den Turm angebauten Gebäudes, in dem er sich befand, klaffte ein großes Loch durch das blendendes Tageslicht und kühle Luft hineinströmten. In einer Zimmerecke lag eine Art Laubhaufen. Frederik wünschte sich einen Knüppel, doch er hatte nur sein Smartphone in den Händen, pansich umklammert. "Na Hallo, wen haben wir denn da?", lachte es plötzlich von hinter ihm und Frederik wirbelte so schnell herum wie er es noch nie getan hatte. Einige Gegenstände vom Tisch polterten zu Boden. "Halt! Keine Bewegung!", rief er der Person entgegen wie ein Cop aus einer dieser unzähligen Krimiserien, doch statt einer Waffe hatte er immer noch nur das Telefon in der Hand. Jetzt konnte er sein Gegenüber sehen, doch das schien ihm nicht auch nur ein Fünkchen Respekt beizubringen. Junkie, eindeutig. Der Mann war etwa einen halben Kopf größer als Frederik und hatte deutlich breitere Schultern als er. Die dunkelblonden Haare fielen ungekämmt auf seine Schultern und das Gesicht mit den dunkelbraunen Augen und dem kantigen Kiefer schmunzelte ihn als wäre er ein Katzen-Gif. Er trug weder Socken noch Schuhe und der Rest seiner Kleidung erweckte den Anschein, als sei er von einem Mittelalter-Festival weggelaufen. Er war dreckig, aber stank viel weniger als er es müsste. Und wieso war er perfekt rasiert? Als die Person ein paar Schritte auf Frederik zuging, schien sie plötzlich langsam kleiner zu werden. Die Gesichtszüge wurden weicher, die Lippen voller, sogar seine ganze Statur veränderte sich, bis er geradezu weiblich aussah. War es das Licht? Eine optische Täuschung? Hatte er Frederik irgendwelche...? Pansich suchte er das Zimmer nach Spritzen und Pflastern ab, doch er fand nichts. Noch immer kam dieser... Mensch auf ihn zu, so wie man sich einem Kleinkind nähern würde. "K-Keinen Schritt weiter!" Frederiks Stimme überschlug sich. "Ganz ruhig, mein Lieber. Gib mir das Ding in deiner Hand und dann reden wir weiter, in Ordnung?", fragte sie mit ausgestreckter Hand und sanfter Stimme. Dieser Typ hat sich in den letzten zwanzig Sekunden eindeutig in eine Frau verwandelt, dachte Frederik. Was geht hier ab? Aber anscheinend kannte dieser... diese... Hinterwäldlerin keine Smartphones. Ihm kam eine Idee. "Stop, oder ich schieße!" In seinem Kopf hatte es sich deutlich weniger bescheuert angehört, aber sein Gegenüber blieb trotzdem stehen und schaute verwirrt. Rennen. Jetzt. Halb rückwärts stolperte Fredetik die Steintreppe wieder hinunter. Er musste diesem Verrückten entkommen, dann könnte er die Polizei rufen. Er musste einfach wieder hinaus in den Garten, dann würde der alte Herr ihn schon sehen und die Polizei rufen. Es war ganz einfach, er musste es nur die Treppe-- Jemand umarmte ihn. Auf Hüfthöhe. Frederik schaute an sich hinab und sah ein Kind, einen Blondschopf der ihn fest umklammerte. "Geh nicht! Bleib noch ein bisschen hier, bitte! Du brauchst keine Angst haben, ich bin auch ganz lieb, versprochen!" Der Knirps blickte ihn mit rührseligen Augen an, den Tränen nahe. Frederik war baff. Welcher optischen Täuschung auch immer er dort oben zum Opfer gefallen sein mag, dies hier konnte einfach nicht sein. Oder hatte der Typ Komplizen? Das Kind bemerkte anscheinend, dass sein Widerstand sich in Verwirrung auflöste, und so löste es auch seinerseits die Umklammerung und versuchte, Frederik die Treppe hinaufzuziehen. Gut, wenn es sich bei dem Kind um einen Komplizen handelt, dann sollte der Verrückte ja noch oben sein, also spiele ich jetzt einfach mit und finde es heraus, dachte er sich. Langsam gingen die beiden also wieder nach oben, doch dort war niemand mehr. War der Typ aus dem Fenster gesprungen? Hatte er sich weiter den Turm hinauf zurückgezogen? Doch dann schaute ihn das Kind genüsslich an, schnippte mit den Fingern und war im nächsten Moment wieder der Mittelalter-Markt-Ausbrecher von vorhin. Nur dass er jetzt sauber war, und auch seine Kleidung wieder in kräftigen Farben leuchtete. Der Typ war wie Q!, schoss es Frederik ins Bewusstsein. Wie Q, die gestaltwandelnde, allmächtige, egozentrische, brandgefährliche Lebensform aus Star Trek. In zahlreichen Folgen hatte es sich Q zum Ziel gemacht, verschiedenen Sternenflotten-Kapitänen das Leben schwer zu machen und übertrat dabei munter allerlei persönliche Grenzen der Betroffenen. Doch es gab einen Haken an der Sache: Star Trek war nicht real, aber dieser Typ war es. Was hätte Janeway getan?, fragte sich Frederik fieberhaft. Der Q machte vor ihm einen Knicks, dabei schienen unsichtbare Fäden die Ecken seines Gewandes ein kleines bisschen hochzuziehen, sodass die Bewegung beinahe wie aus einem Disney-Film kommen könnte. "Es freut mich sehr, dich in meinem bescheidenen Provisorium begrüßen zu dürfen. Gestatten, Lezim. Großmagier." Während Frederik das Geschehen immer noch verarbeitete, löste Lezim geschickt seine rechte Hand vom Smartphone und küsste sie zärtlich. Frederiks Kinnlade klappte nach unten. Was war das hier? Jeden Moment erwartete er die versteckte Kamera. Doch stattdessen spielte er wie auf Schienen mit. "F-Freut mich!? Frederik Ephraim Wildmann, Immobilienmakler." Er hasste seinen Namen, den zweiten noch mehr als den Ersten. Was tat er da nur? Doch es schien zu funkionieren. "Immobilien-Magier? Äußerst interessant, sehr erfreut! Darüber sollten wir uns unbedingt einmal austauschen! Doch zunächst verzeih mir bitte den Schrecken, ich dachte schon du seist der alte Mann! Hah, der wäre wahrlich nicht so verständnisvoll wie du als mein Magier-Kollege. Leider kann ich dir nichts anbieten, denn alles womit dieser Abschaum mich hier zurückgelassen hat, war das was zum Dach hineingeflogen kam!" Frederik starrte den anderen wie gebannt an, dessen Gesichtszüge sich nicht nur seiner Stimmung, sondern auch dem Gesprächsinhalt anzupassen schienen. Alles passte perfekt zu den ausladeneden Gestiken und seiner... ihrer? Körpersprache. Es wirkte so echt, dass er mittlweile auch an der versteckten Kamera seine Zweifel hegte. Erst dann bemerkte er, dass Lezim in seiner Pose verharrt war, die Arme ausgestreckt um seine Bleibe zu präsentieren. "Oh, ähm, kein Problem schätze ich. Wir können einfach zu mir gehen. Ich meine natürlich, ins Hotel. In die Stadt. Verzeihung!" Flammende Röte schoss ihm ins Gesicht. Wieso musste er auf einmal so dummes Zeug stammeln? Was war mit ihm los, dass ein verrückter Junkie ihn so aus der Bahn werfen konnte? Ein gestaltwandelnder, verrückter Junkie. "Hah, darauf habe ich gewartet!", Lezim lachte und streckte ihm nun eine Hand hin. "Also dann ist es besiegelt? Du bürgst fortan für mich in dieser Welt?" Das war Frederiks Chance. Er würde dem Kerl jetzt die Hand reichen, dann gingen sie gemeinsam nach Draußen und dann könnte er in einem unauffälligen Moment die Polizei rufen. Frederik ergriff die angebotene Hand und schüttelte sie, ohne auch nur den leisesten Schimmer zu haben, auf was er sich damit eingelassen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)