Stolen Dreams Ⅻ von Yukito ================================================================================ 4. Kapitel ---------- Das Erste, das Valentin am nächsten Morgen tat, war seine Männer nach den Ermittlungsfortschritten bezüglich der Leiche in Yuris Haus zu fragen. Er hatte damit gerechnet, dass er seine Kontakte spielen lassen musste, damit die Tatsache, dass er gestern am Tatort gewesen war, unauffällig unter den Tisch gekehrt wurde und man ihn in Ruhe ließ, aber wie sich herausstellte, hatte die Polizei ihr Augenmerk auf ganz andere Fakten gerichtet. Das Opfer trug den Namen Sonja. Sie war 15 Jahre alt, eine Mitschülerin von Yuri und ziemlich beliebt gewesen. Die Autopsie ergab, dass jemand sie diesen Freitag zwischen zehn und zwölf Uhr abends erstickt hatte. An ihrer Kleidung und ihrem Körper fand man DNA-Spuren von zu vielen Menschen, um daraus brauchbare Ergebnisse gewinnen zu können, aber bei ihrer Unterwäsche hatte es mehr Erfolg gegeben. Dort befand sich Ejakulat von drei verschiedenen Personen; zwei davon waren Schüler aus Sonjas Jahrgang und die dritte war Oleg. „Soll das heißen, sie hat in dieser Nacht mit drei Kerlen geschlafen?“, wiederholte Valentin leicht ungläubig. „Die Polizei geht davon aus, dass von den drei Akten nur die ersten beiden einvernehmlich waren; der letzte geschah entweder nach, während oder kurz vor dem Mord, beziehungsweise Totschlag – da ist man sich auch noch nicht ganz sicher. Fest steht jedenfalls, dass Oleg mit diesem Mädchen etwas hatte. Der Typ ist übrigens fast viermal so alt wie sie.“ Valentin verzog angewidert das Gesicht. „Also ist er der Hauptverdächtige?“ „Ja. Er behauptet, das Mädchen nicht einmal angefasst zu haben, obwohl die Beweise das eindeutig widerlegen. Außerdem sagt er, dass ein ''fremder Mann Mitte dreißig'' mit seiner ehemaligen Stieftochter ins Haus eingebrochen wäre und seinen Sohn entführt hätte. Die Polizisten glauben ihm kein Wort; sie denken, dass er Yuri umgebracht und die Leiche versteckt hat.“ „Aber da waren doch bestimmt Hautschuppen oder Ähnliches von mir und Anna. Hat die Polizei dazu nichts gesagt?“ „Sie haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt und nicht nur DNA-Spuren von euch beiden, sondern auch von zahlreichen anderen Menschen gefunden, sodass ihr nicht auffallt. Es sind wirklich viele, weil das Haus seit einer Ewigkeit nicht mehr geputzt wurde. Die Polizei würde mehrere Wochen brauchen, jede Person einzeln zu befragen.“ „Okay. Ich will, dass du mir eine Liste von allen Leuten schickst, von denen die Polizei Spuren gefunden hat. Und sag Bescheid, wenn irgendetwas Neues herauskommen sollte.“ „Alles klar, Boss.“ Valentin legte auf und seufzte genervt. Den ganzen unnötigen Stress musste er sich nur antun, weil er nachgegeben und diesen verdammten Jungen in sein Haus gelassen hatte. Er hätte Anna ignorieren sollen. Launisch ging er zu seinem Kleiderschrank und zog sich an. Nach einigen Minuten im Badezimmer schlenderte er in die Küche und machte sich einen Kaffee. Das Wort ''mürrisch'' stand ihm auf die Stirn geschrieben, direkt über ''Rede nicht mit mir'', aber Anna schien weder das eine noch das andere lesen zu können. „Morgen“, flötete sie so fröhlich, dass Valentin erschauerte, und betrat die Küche. „Weißt du, ob Yuri schon aufgestanden ist?“ „...“ „Ich sagte: Weißt du--“ „Sehe ich so aus?!“ Anna hob die Hände, als würde sie erwarten, dass Valentin etwas nach ihr warf, und ging rückwärts wieder aus der Küche heraus. Es war zu hören, wie sie die Treppe nach oben und zu Yuris Zimmer lief. Warum hatte sie dort nicht zuerst nachgesehen, wenn ihr dieser dämliche Junge so wichtig war? Nachdem Valentin gefrühstückt hatte, zog er sich mit einem zweiten Kaffee in sein Büro zurück und bemerkte, dass vor ein paar Augenblicken die Email mit der Liste angekommen war, nach der er verlangt hatte. Gemächlich schaute er sich die Personen an, die sich in den letzten Monaten in Yuris Haus aufgehalten hatten, und erkannte recht zügig, dass es bei diesen Personen Gemeinsamkeiten gab. Mit nur wenigen Ausnahmen waren alle Leute männlich, zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, in einem Radius von etwa 15 Kilometern wohnhaft und auf bekannten Partnerbörsen angemeldet. Valentin gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht in dieses Muster passten, aber weil er damit nicht alleine war, fiel das überhaupt nicht auf. Kein Wunder, dass die Polizei kein Interesse an ihm hatte. Neugierig betrachtete er die Profile, die sich die Männer im Internet angelegt hatten. In Russland war Homosexualität ein Tabu, weshalb hier niemand offen zugab, dass er auf Kerle stand, aber wenn man zwischen den Zeilen las, war schnell zu verstehen, dass diese Typen nicht nach Frauen, sondern nach Gleichgesinnten suchten. Valentin konnte ihnen das nicht verübeln. Wäre er ein gewöhnlicher Mensch ohne Zugang zu Menschenhändlern, wüsste er auch nicht, wie er jemanden finden sollte, den er als attraktiv empfand. Hinzu kam, dass er seine ''Partner'' – falls man das überhaupt so nennen konnte – nicht gerade gut behandelte, was nicht selten zu ihrem Tod führte. Aber zurück zu den Männern aus dem Internet. Wie es aussah, hatten sie ihre DNA in Yuris Haus hinterlassen, indem sie es betreten oder sich mit einem Bewohner getroffen hatten, der die Spuren dann sozusagen mit nach Hause gebracht hatte. Oleg war also schwul, traf sich heimlich mit Männern und damit war der Fall auch schon abgeschlossen, aber es gab ein Detail, das nicht zum Rest passte. Und das war Sonja. Warum sollte Oleg, wenn er auf Kerle stand, ein Mädchen umbringen und vergewaltigen? Es hätte sein können, dass sie sein Geheimnis herausgefunden hatte und er sie zum Schweigen hatte bringen müssen, aber dann hätte er sie nur umgebracht, nicht missbraucht. Das Ganze ergab keinen Sinn, es sei denn... Valentin schüttelte den Kopf. Der Gedanke, dass sich nicht Oleg, sondern Yuri mit den fremden Männern getroffen hatte, war zu absurd, um der Wahrheit zu entsprechen. Wie alt war der Junge noch mal? 16? In dem Alter machte man so etwas doch ni-- Erneut unterbrach Sonja seinen Gedankengang. Wenn ein 15-jähriges Mädchen es schaffte, die Dorfmatratze zu sein, dann schaffte ein 16-jähriger Junge das schon lange. Auch wenn Valentin sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie sich das kleine Pummelchen an wildfremde Kerle ranmachte. Obwohl... so schlecht sah er ja nicht aus. Und wenn er zehn bis zwanzig Kilo leichter wäre, hätte Valentin es sicherlich in Erwägung gezogen, ihn-- Anna würde mich umbringen. Er trank seinen Kaffee aus und beschloss, Yuri später auf das Thema anzusprechen. Natürlich würde es komisch wirken, den Jungen zu fragen, ob er oder sein Vater mit dem halben Ort geschlafen hatte, aber Valentin brauchte dringend Gewissheit über diese Angelegenheit. Gegen Mittag kam der Vorfall mit Sonja zum ersten Mal in den Nachrichten. Es wurde berichtet, wie das Opfer hieß, in welcher Gegend es gefunden wurde und dass bereits ein Verdächtiger festgenommen worden war. Mehr Informationen gab es nicht – wahrscheinlich weil Olegs Leben und Ruf für immer ruiniert wären, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass er die Tat gar nicht begangen hatte – aber das störte Valentin nicht. Er wusste, dass die Nachrichten in einer Stunde erneut auf einem anderen Sender kommen würden, und dann würde er sie Yuri zeigen. Knappe zwanzig Minuten später war zu hören, wie zwei gewisse Teenager in die Küche kamen und sich Frühstück machten. Sie redeten miteinander und erzählten sich Insiderwitze, die Valentin, der nebenan im Wohnzimmer saß, nicht selten die Stirn runzeln ließen. „Isst dein Vater nicht mit uns?“ „Nein, er isst meistens alleine. Ich hab's 'n paar Male geschafft, zur gleichen Zeit wie er zu essen, aber selbst dann geht er einfach, sobald er fertig ist.“ Valentin verdrehte genervt die Augen. Das, was Anna gerade beschrieb, war genau das, was er an Frauen – und Männern, die die gleiche Angewohnheit besaßen – nicht ausstehen konnte. Sie hatten ein Problem und anstatt darüber zu reden, wie jeder logisch denkende Mensch es tun würde, machten sie Andeutungen, die nicht zu verstehen waren, und dann wunderten sie sich, warum niemand sah, dass sie ein Problem hatten. Wenn Anna unbedingt wollte, dass die Mahlzeiten zusammen eingenommen wurden, dann musste sie das nur sagen... obwohl Valentin zugeben musste, dass er keinen Bock darauf hatte. Er wartete ungeduldig, bis die beiden fertig waren, ehe er sich zu ihnen in die Küche gesellte und sie gerade noch rechtzeitig davon abhielt, wieder nach oben zu gehen. „Kann ich dich mal kurz sprechen?“, fragte er Yuri, der für den Bruchteil einer Sekunde hilfeflehend zu Anna sah, ehe er sich Valentin zuwandte. „Ähm... klar.“ Während Anna alleine die Treppe zum oberen Stockwerk erklomm, setzte sich Valentin an den Küchentisch und beobachtete, wie Yuri es ihm gleichtat. Der Junge humpelte und verzog leicht das Gesicht, als hätte er Schmerzen. „Ich möchte mit dir über deinen Vater reden“, begann Valentin. „Hat er sich diese Woche irgendwie komisch verhalten?“ „Nicht dass ich wüsste. Wieso fragen Sie?“ „Nur so“, zischte Valentin, dem es tierisch auf die Nerven ging, dass Yuri sich anscheinend nicht entscheiden konnte, ob er den Älteren duzen oder siezen sollte. „Als was arbeitet er eigentlich?“ „Momentan ist er arbeitslos, aber er hat über die Jahre hinweg an Tankstellen und in Cafés gearbeitet.“ „Hat er viele Freunde?“ „Er hat viele Bekanntschaften, vor allem von seinen Jobs.“ „Lädt er sie zu sich nach Hause ein?“ Anstatt zu antworten, legte Yuri die Stirn in Falten und musterte sein Gegenüber nachdenklich. „Warum wollen Sie das alles wissen?“ Valentin zwang sich zur Ruhe. Am liebsten würde er über den Tisch langen, Yuri eine Ohrfeige verpassen, die ihn vom Stuhl fegen würde, und ihm sagen, dass er gefälligst antworten sollte, aber das stellte momentan leider keine Option dar. Er musste einen auf liebevollen, menschlichen Vater machen. „Oleg fand es nicht okay, dass ich in sein Haus eingebrochen bin und dich mitgenommen habe. Ich brauche ein paar Informationen über ihn, damit ich die Polizei anlügen kann, okay?“ „Dafür, dass Sie schlimmstenfalls wegen Freiheitsberaubung ins Gefängnis kommen könnten, sind Sie ziemlich ruhig“, murmelte Yuri leicht nervös und betrachtete gedankenverloren sein gebrochenes Handgelenk, das in einem dicken blauen Verband gewickelt war. „Es wäre Freiheitsberaubung, wenn es gegen deinen Willen geschehen wäre, und das ist es nicht, oder?“ „Nein, aber... Oleg könnte lügen.“ „Ich kümmere mich schon darum“, versicherte Valentin und kämpfte gegen den Drang an, genervt zu stöhnen und die Augen zu verdrehen. „Also – hatte dein Vater oft Besuch?“ „Ja, ziemlich oft sogar. Meistens Bekannte oder Arbeitskollegen.“ „Kennst du die Namen dieser Leute?“ „Nur Vornamen.“ „Okay.“ Valentin holte sein Handy hervor und rief die Liste der Menschen auf, deren DNA-Spuren man in Yuris Haus gefunden hatte. „Heißen diese Leute zufälligerweise Aljoscha, Adam, Nikolai, Lev, Vanya, Michail, Wadim und Andrej?“ Yuri holte Luft, um zu antworten, als plötzlich Anna ihren Kopf in die Küche steckte. „Was hat Andrej in Yuris Haus verloren?“ „Glaub es oder glaub es nicht, aber es gibt mehr als nur einen Andrej in Russland“, erwiderte Valentin mürrisch. „Wie lange belauschst du uns schon?“ „Seitdem du die Polizei erwä--“ „Geh in dein Zimmer und lass uns in Ruhe. Das hier geht dich nichts an.“ Anna hob die linke Augenbraue und verschwand. Yuri sah ihr hinterher, ehe er sich an Valentin wandte. „Das war aber nicht sehr nett.“ „Ich kann noch ganz anders, wenn man mir auf die Nerven geht.“ „Aber--“ „Zurück zum Thema: Was wolltest du sagen?“ „Ähm... Dass mir diese Namen bekannt vorkommen. Ich weiß auch bei fast allen Männern, wie sie aussehen.“ „Und was hat Oleg dann mit seinen Freunden gemacht?“ „Sich unterhalten, was getrunken, Sport im Fernsehen geschaut... so was halt.“ „Er hat sie also nicht gefickt?“ Yuri blinzelte überrascht. „Was?“ „Du hast mich richtig verstanden. Ich will wissen, ob er mit ihnen Sex hatte.“ „Äh... keine Ahnung.“ „Hör zu: Die Männer, die ich dir gerade genannt habe, und auch andere sind erstens auf Partnerbörsen angemeldet, zweitens wahrscheinlich schwul und drittens in deinem Haus gewesen. Alles deutet darauf hin, dass Oleg sich mit ihnen getroffen hat, um mit ihnen zu schlafen. Stimmt das?“ „K-kann sein“, stotterte Yuri und wandte peinlich berührt den Blick ab. Sein Gesicht hatte die Farbe einer Tomate angenommen. „E-er hat behauptet, dass seien nur Arbeitskollegen. Ich habe d-das nie hinterfragt.“ „Komm mit“, forderte Valentin den Jungen auf, erhob sich von seinem Stuhl und verließ die Küche. Yuri folgte ihm und brauchte das Doppelte an Zeit, weil sein geprellter Knöchel ihn am Gehen hinderte. Valentin ließ sich auf die Couch fallen, schaltete den Fernseher an und suchte den Sender heraus, auf dem gleich die Nachrichten laufen würden. Er sah im Augenwinkel, wie Yuri sich in den Sessel setzte und nervös schluckte. „In deiner Klasse gibt es ein Mädchen namens Sonja. Was denkst du über sie?“ „Ich mag sie nicht“, antwortete Yuri verunsichert, weil ihn das plötzliche Wechseln des Themas irritierte. „Woher kennen Sie sie?“ „Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“ „Am Freitag, in der Schule. Wie kommen Sie jetzt auf sie?“ „Wart's ab“, erwiderte Valentin gelassen und verschränkte die Arme vor der Brust, während im Fernsehen die Nachrichten begannen. Eine junge Moderatorin mit unnatürlich roten Lippen begrüßte die Zuschauer und begann sogleich über den Fund einer Leiche zu berichten. Diesmal schien darauf verzichtet worden zu sein, Olegs Identität geheimzuhalten. Aufnahmen von seinem Haus wurden eingeblendet; Absperrbänder, neugierige Journalisten, Polizeiwagen, Beamte in Uniformen und genervte Anwohner huschten durch das Bild. „Was ist passiert?“, fragte Yuri alarmiert. „Hat Oleg sich das Leben genommen?“ Valentin überließ der Moderatorin das Sprechen. Sie berichtete, dass Oleg sich in Untersuchungshaft befand und dass er eine grausame Tat begannen hatte, aber von Yuri kam erst eine Reaktion, als die Identität der Leiche bekannt gegeben wurde. Er holte erschrocken Luft, hielt sich die Hände vor den Mund, wurde leichenblass und vergaß, dass er nicht alleine war. Seine Stimme zitterte, als er fassungslos flüsterte: „Oh Gott... was hast du getan, Vanya?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)